Alles für die Katz - Martin Mickan - E-Book

Alles für die Katz E-Book

Martin Mickan

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Beschreibung

Soll es das sein? Alex hadert mit seinem Schicksal. Ein Unfall machte ihn zum Grenzgänger, für den niemand mehr zuständig sein mag. Neben den Zumutungen von Ämtern, Rehabilitationsmaßnahmen und der Liebe landet seine Geschichte immer wieder bei Erinnerungen an seinen verstorbenen Vater. Was bleibt, ist der Humor und die Kunst. Nach einem Unfall ist Alex arbeitsunfähig. Es folgt die deutsche Zumutung von Ämtern, Reha-Maßnahmen und Behindertenwerkstätten. Ein biografischer Roman um Gerechtigkeit, Liebe und den eigenen Wert in der Gesellschaft.

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Seitenzahl: 448

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Alles für die Katz

von

Jonas Bewilogua

und

Martin Mickan

Roman

Frei nach einer wahren Begebenheit

Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Zitat
König Mufasa
Macken
Windflüchter
Alkohol
Rehabilitation
Josephin
Liebe
Ortswechsel
Frohe Ernte
Brummersgel
Antrag
Inklusion
Hügelbeet
Filz
Leistungswandler
Gleichwertigkeit
Subbotnik
Vorleser
Herzschmerz
Gewürge
Unfall
Kochen
Leckermäulchen
Exklusion
MacBeth
Hackepeter
Das Imperium schlägt zurück

© 2023 Ach je Ein Imprint des Amrun VerlagsJürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Carolin Gmyrek - Lektorat WechselseitigCovergestaltung im Verlag

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-527-6Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v2/23

Die Autoren

Jonas Bewilogua: geboren 1989 in Leipzig. Bis zu seinem Unfall Studium der Theaterwissenschaft in Leipzig. Weiterhin als Schauspieler in verschiedenen Theatergruppen aktiv.

Martin Mickan: geboren 1983 in Bautzen. Studium der Amerikanistik und Deutsch als Fremdsprache in Leipzig.

Arbeitet seit 2012 als freier Dozent für Deutsch als Fremdsprache in Sachsen.

Für unsere Mütter

»Aus! Aus kleines Licht! - Leben ist nur ein´ wandelnd Schattenbild;Ein armer Komödiant, der spreizt und knirschtSein Stündchen auf der Bühne und dann nicht mehrVernommen wird; ein Märchen ist´s, erzähltVon einem Blöden, voller Klang und Wut,Das nichts bedeutet.«

(»MacBeth«, William Shakespeare)

König Mufasa

Egal, worüber ich spreche, früher oder später landet die Geschichte bei meinem Papa. Konnte ich als Kind nicht mehr laufen, hob er mich auf seine Schultern und gab mir damit das Gefühl, über den Dingen zu stehen, groß zu sein. Seit ich denken kann, war er für mich Mufasa. Seine angenehm tiefe, eindringliche Stimme, seine starke Präsenz – wie der König der Savanne stand Papa an meiner Seite und trug mich auch dann, als ich schon viel zu groß geworden war. Noch heute könnte ich weinen, wenn ich den Film sehe und mich an ihn erinnere.

Papa half mir, dass ich mich nach meinem Unfall wieder in der Welt zurechtfand. Vor fast zehn Jahren stürzte ich ab und stieß mir den Kopf. »Ein schweres Schädelhirntraum,« lautete die Diagnose. Seitdem begleiten mich psychische Schäden, darunter eine ganze Palette kognitiver Einschränkungen. Laut den Ärzten unterliegen meine Erinnerung, mein Denken, meine Wahrnehmung, meine Stimmung sowie mein Urteilsvermögen starken Schwankungen. Es gibt Probleme mit meiner Konzentration und Merkfähigkeit. Oft verliere ich beim Erzählen den Faden und schweife ab oder bringe Zusammenhänge durcheinander. Schnell bin ich gestresst, überreizt und frustriert. Ich habe depressive Phasen, einen gestörten Gang, auf dem rechten Ohr eine Schwerhörigkeit und meine Selbsteinschätzung differenziert erheblich von der anderer.

Ich war einundzwanzig Jahre, als der Unfall geschah. Gerade als ich dachte, mich einigermaßen gut zu kennen, setzte man mich auf die Werkseinstellungen zurück. Nichts funktionierte mehr. Alles musste von vorn beginnen. Nach dem Koma war ich zwar wach, aber von der Realität weit entfernt. Ich war außerstande, in Worten zu denken. Selbst simpelste Begriffe, die ein Dreijähriger kennt, fielen mir nicht mehr ein, geschweige denn sie fanden den Weg über meine Zunge nach draußen. Zum Gehen bedurfte es in jeder Hand einer Krücke und selbst damit dauerte es lange, bis ich nicht mehr wie ein Betrunkener nach links und rechts schwankte oder jemand mir unter die Arme greifen musste. Essen in meinen Mund zu bekommen, war eine olympische Disziplin. Das Messer richtig halten, mit der Gabel das Stück Fleisch fest genug aufspießen, abschneiden oder eine Suppe ruhig auf dem Löffel halten, nicht alles runtertropfen lassen und vielleicht sogar im Mund behalten und runterschlucken – alltägliches war von meiner Festplatte gelöscht und musste mühselig wiederhergestellt werden.

Nach der ersten Reha funktionierte ich erheblich besser. Doch es sollte erst der Anfang sein. Ständig merkte ich aufs Neue, welche alten Fähigkeiten verloren gegangen waren. Meine Freunde nahmen mich zum Beispiel mit zum Bowlen und dieser nette, kleine Zeitvertreib war plötzlich eine Tortur. Mein Körper fühlte sich mit der schweren Kugel in der Hand völlig fremd an. Der Griff meiner Finger entzog sich meiner Kontrolle. Es fehlte die Kraft und das Vertrauen in mich selbst. Häufig landete die Kugel in der Rinne und verfehlte die Pins. Ein einziger Frust! Papa versprach mir, über die Zeit käme alles wieder. Wir müssten nur mehr bowlen. Obwohl wir uns beide steigerten, bereitete ihm dieser »Ami-Sport« – wie er es nannte – keinen großen Spaß. Er warf nur meinetwegen die Kugeln. Die Inhalte unserer Gespräche auf der Bahn habe ich heute fast alle vergessen. Nicht aber die Gefühle. Ich schätze, dass Papa und ich uns in jeder Lebenslage verstanden. Trotz aller Zumutungen, die mein Unfall und die widrigen Umstände seines eigenen Lebens mit sich brachten.

Heute ist meine Situation eine andere. Papa lebt nicht mehr und aufgrund des Unfalls gelte ich als »erwerbsunfähig«. Ein Dilemma, aus dem ich mich scheinbar nicht heraustrainieren kann. Meine Leistungsfähigkeit liegt nach fast zehn Jahren weiterhin »im Grenzbereich des allgemeinen Arbeitsmarktes«, wie es das Amt formuliert und was so viel bedeutet wie, dass sie mir höchstens drei Stunden am Tag zu arbeiten zutrauen, bevor meine Drähte durchschmoren. Da ich eben nicht über diese Schwelle von drei Stunden komme, ohne zu stolpern, bin ich, in ihren Augen, außen vor. Ein Grenzgänger, für den niemand zuständig ist. Man sieht mich als eine Art neutrale Zone, in der die Waffen schweigen. Als Wesen zwischen Leistungsträger und Schmarotzer oder, wie Tom Liwa es sang, für die linke Spur zu langsam und für die Rechte zu schnell. Also konkret zu behindert, um alleine auf eine Tätigkeit losgelassen und zu fähig, um in ein Heim abgestellt zu werden. Auch eine »Rehabilitation psychisch kranker Menschen«, zwei »Berufsbildungswerke« sowie zahlreiche andere »Inklusionsmaßnahmen« konnten diese Zwickmühle nicht besiegen. Was ich auch tue – meine Kugel landet in der Rinne und verfehlte jeden Pin.

Das Maß meiner Behinderung liegt mittlerweile bei sechzig Grad. Damit gilt man als »schwerbehindert«. Aber das klingt schlimmer, als es ist. Meine Bewegung ist kaum eingeschränkt, meine Allgemeinbildung überdurchschnittlich gut, ich bekomme selbstständig meinen Alltag auf die Reihe und habe ein gesundes Maß an sozialen Kontakten in »der normalen Welt«. Tatsächlich bringt der Ausweis allerlei Vorteile mit sich. Ich komme kostengünstig in den Zoo und darf mich in der Warteschlange vordrängeln. Für mich gibt es einen »Behinderten-Rabatt« beim Kauf eines Neuwagens; oder ich kann einen »Leipzig Pass« beantragen und damit für fünfunddreißig statt siebzig Euro im Monat mit der Straßenbahn fahren. Nur bin ich meistens mit dem Fahrrad unterwegs und kein großer Fan von Zoos.

Da ich keiner Arbeit nachgehen darf, kommt mein Leben nicht vorwärts. Im Gegensatz zu meinen Freunden verharre ich auf einer Stelle. Anton, mein bester Freund seit der Schulzeit, scheint von meinen Problemen mittlerweile genervt. Ich kann es ihm wahrhaft nicht verübeln. Er beendete vor zwei Jahren sein Studium und hat eine Festanstellung gefunden. Trotz der vielen Überstunden hat er Spaß. Er verdient gut – verglichen mit meiner »Stütze« von 420 Euro plus Miete sogar ein Vermögen. Seine Freundin ist schwanger und sie suchen eine Immobilie außerhalb der Stadt. Sie verändern sich. Neue Themen treten in ihr Leben: Verträge, Termine, Elternsorgen. Zudem Stress, Zeitnot und andere Prioritäten. Ich frage mich, ob er bei so viel Veränderung noch Zeit für seinen behinderten Freund haben wird.

Seit einem halben Jahr habe ich auch eine Freundin – meine Josephin. Sie hat ihre eigenen Probleme und Einschränkungen. Ich liebe sie und möchte nicht wissen, wo ich ohne sie wäre. Doch, wie es so unromantisch heißt, der Mensch lebt nicht von Luft und Liebe allein. Letzte Woche schickte ich deshalb einen »Antrag auf Teilhabe am Arbeitsleben« ab. Das ist ein zehnseitiges Monster von Formularpaket, welches gesundheitlich angeschlagenen Menschen die »Eingliederung ins Berufsleben« ermöglichen soll. Wie bei etlichen solcher Monster der letzten Jahre zuvor, ging das nur mit Mamas Hilfe.

»Weiter kämpfen!«, mahnt sie mich, wenn ich angesichts der ganzen Bürokratie resignieren will. Mama versteht genau so wenig wie ich, warum mich das Amt abgeschrieben hat. »Such dir doch eine kleine Stelle, was auf Teilzeit, irgendeine Nebentätigkeit wie Pizzabote oder Parkplatzeinweiser im Belantis und eventuell kommst du dort dann richtig unter.«, schlägt sie vor, wenn auch ihr »meine Sache« zu viel wird. Dann erkläre ich ihr wieder, dass selbst die niederschwelligsten Arbeiten für mich »verboten« sind – ganz zu schweigen vom »richtig unterkommen«.

»Mama«, erwidere ich dann, »ich werde nicht arbeiten können, solange die ARGE das nicht erlaubt. Nirgendwo.«

Obwohl sie das alles selbst weiß, leiere ich ihr – vermutlich zu meiner eigenen Rechtfertigung – die Gründe immer und immer wieder runter. Täte ich es trotzdem und die bekämen von meiner Arbeit Wind, gäbe es für den Chef wie für mich eine saftige Strafe. Hinzu käme eine Streichung des Sozialgeldes und was weiß ich noch alles mehr. In dieser Hinsicht ist das Amt sehr kreativ. Diesen Ärger will man sich nicht einbrocken. Davon abgesehen, wäre kein Arbeitgeber der Welt so verrückt, einen Behinderten einzustellen und eigenständig zu versichern. Die Versicherung müsste stets das Amt übernehmen und bereits da würde die ganze Farce auffliegen.

»Aber trotzdem darfst du nicht aufgeben, Alex!« kontert sie, als gäbe es irgendein Schlupfloch, dass sich mit ausreichend Anstrengung finden ließe. Sie meint es nur gut – ich weiß – und sie hätte wohl auch Besseres zu tun, als sich mit mir durch diese Formulare zu quälen. Nur deshalb akzeptierte ich diesen neuesten Coup mit der »Teilhabe«. Ich möchte, dass die Agentur für Arbeit, die mir durch den medizinischen Dienst den Status »erwerbsunfähig« verlieh, mir eine Arbeit in »der Krippe« finanziert.

Ja, jetzt haben sie mich so weit. Die Umstände haben es geschafft, dass ich mich bereit erkläre, bei einem dieser kirchlichen Sozialdienste anzufangen. So ein Hort für all jene Ausgestoßene und Zukurzgekommene der Gesellschaft. Dort gibt es eine WfbM – eine »Werkstatt für behinderte Menschen«. Josephin meint, die Arbeit sei für mich zu anspruchslos. Aber es bleibt mir nur dieser eine Weg übrig. Irgendwie werde ich mich damit abfinden müssen. Allein die Bearbeitung – dieses Mal durch das »Team Rehabilitation« – wird sicher wieder ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Genug Zeit, um sich darauf einzustellen, dass Alexander Bewolius, einst Student der Theaterwissenschaft, nun in einer Behindertenwerkstatt sein Dasein fristen wird.

Bis es jedoch so weit ist, besuche ich Orte meiner Erinnerung. Wie den Marienplatz, der sich unweit meiner und Papas ehemaliger Wohnung befindet. Einen so grünen Platz vermutet man nicht im Leipziger Zentrum Ost. Doch die Wiese mit Sträuchern, Bänken und Springbrunnen ist eine kleine Oase, die einem inmitten von Wohnblöcken und vierspurigem Berufsverkehr ein wenig zur Ruhe kommen lässt.

Am Abend vor meinem Unfall saß ich dort mit Papa auf der Bank rechts neben der großen Sommerlinde. Ich klagte ihm meinen Unmut über das Studium, die WG und meine Theatergruppe. Mit meiner besten Freundin Sophia sollte ich in »Kabale und Liebe« mitspielen und fand Stück wie Inszenierung einfach furchtbar. Wir sollten bald Premiere haben und es tat gut, zu hören, dass auch Papa das Drama nicht sonderlich mochte. Für einen Augenblick war ich meine Sorgen los. Belanglose Sorgen aus heutiger Sicht. Aber der Marienplatz behielt für mich bis heute eine väterlich tröstende Aura.

In den Sommern kurz vor seinem Tod wurde der Marienplatz für Papa zur Enklave des Rückzugs. Hierhin floh er, um sich fernab des Behandlungsalltags ungestört mit flaschenweise Wein oder Sekt volllaufen zu lassen. Sehe ich jene Bank heute vor mir, denke ich unweigerlich an die vielen Stunden, die er da allein verbrachte. Anton und ich trafen uns an ihr zwei Tage nach Papas Tod. Nachdem wir uns von seiner Wohnung und dem darin Erlebten verabschiedet hatten, gingen wir zum Späti um die Ecke und kauften Bier. Wir setzten uns bewusst auf jene Bank rechts neben der Sommerlinde, auf der ich Papa meine Probleme geschildert hatte. Damals waren es andere Probleme und andere Gefühle.

Später lud ich Tina, eine Bekanntschaft aus einem Praktikum, dorthin ein, um den Zauber dieses Ortes wieder zu spüren. Wem das zu kitschig klingt, dem sei gleich gesagt, dass ich jenen Zauber mit ihr eben nicht wahrnehmen konnte. Der kehrte erst zurück, als mich Josephin begleitete. Wir verschonten unsere neu gekaufte Decke und setzten uns nicht ins Gras, sondern lieber auf eine der Bänke. Es war ein warmer Tag und die Schmuckpflanzen um den Springbrunnen blühten farbenfroh. Ich las ihr »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« vor und es war wunderbar. So ist es immer, wenn ich nun zum Marienplatz gehe. Es fehlt etwas, doch er ist auf andere Weise schön.

Morgen vor einem Jahr starb Papa. Heute vor einem Jahr besuchten Anton und ich Papa auf der Palliativstation und spielten gemeinsam Rommé. Kurz bevor er sein Leben verlieren sollte – so viel Anstand besaß das Schicksal – gewann Papa das letzte Spiel haushoch. Anton und ich hatten die Hände noch voller Karten, da hatte er all seine abgelegt. Dieses Bild will mir nicht aus dem Kopf gehen.

Die Erinnerung schmerzt. Ich fühle mich heute allein. Trotz Josephin, Mama und toller Freunde. Etwas fehlt. War ich früher allein, war Papa da. Er war eben Mufasa. Als ich ein Kind war, war er es zumindest. Später – in der Wirklichkeit – ist er es nicht gewesen. Er konnte es gar nicht sein. Doch das erkannte ich erst Jahre später, als meine Augen größer waren. Papa rettete mich viele Male, aber leider nie aus dieser Wirklichkeit. Und leider konnte er sich selbst am wenigsten retten.

Manchmal, wenn ich eine Dose Schulle zu viel gekippt habe und der Himmel verrücktspielt, packt mich die Sentimentalität und ich wünschte, Papa würde erscheinen. Wie Mufasa zu Simba, spräche er aus einer Wolke zu mir. »Hör auf dein Herz Alex.«, würde er sagen, »Du bist zu etwas anderem bestimmt. Du musst deinen Platz im ewigen Kreis einnehmen.« Dann würde ich meine Bierdose beiseitestellen und ihn aufgelöst fragen, wie ich dies denn bewerkstelligen könnte, da ich nun auch nicht mehr derselbe wäre. »Vergiss niemals, wer du bist! Du bist mein Sohn! Der wahre König! Du musst dich wieder daran erinnern.«

Dann verschwindet die Wolke und ich bleibe allein im Sessel zurück. Ich denke daran, wie gern ich meinen Platz wieder einnehmen würde. Doch wie stark auch immer ich mein demoliertes Hirn zermartere, mir will nicht einfallen, wer ich bin und was mein Ziel sein soll.

Macken

Jedes Mal, wenn ich meine Wohnung verlasse, drücke ich nach dem Zuschließen noch einmal gegen die Tür. Ich möchte sichergehen, dass sie auch wirklich zu ist. Manchmal muss ich den Schlüssel ein weiteres Mal ins Schloss stecken, um zu prüfen, ob die Tür tatsächlich zweimal abgeschlossen ist. Das macht mich verrückt und ich fluche über mich selbst, aber es bringt nichts, sich darüber aufzuregen. Mich traktiert eine Unruhe wie ich sie früher nur vor einer Klausur oder dem Auftritt im Theater kannte.

Mittlerweile verschwindet meine Unsicherheit über die nicht abgeschlossene Tür auch nicht mit der ersten Kontrolle. Ich muss den Vorgang des Drückens und Abschließens mehrmals wiederholen. Es ist furchtbar lästig. Gilt dieses Verhalten bereits als »behindert«, frage ich mich dann. Oder ist das »nur« eine Beeinträchtigung? Wann wird aus einem Verhalten eine Beeinträchtigung und daraus eine Störung und daraus wiederum eine Behinderung? Wo verläuft die Grenze? Ab wann ist man »nicht mehr normal«?

»Normal ist, was alle machen.«, behauptet Anton.

»Das klingt beängstigend,«, antwortete ich.

»Ja, vielleicht. Aber so ist die Welt nun mal.«

Und während ich darüber nachdenke, wie »nicht normal« mein Verhalten ist, schließe ich die Tür noch einmal auf, um zu kontrollieren, ob ich in der Wohnung wirklich alles ausgemacht habe. Dann überprüfe ich den PC, das Licht im Bad, den Fernseher und sogar das Radio, das sowieso nur äußerst selten benutzt wird. Ich achte darauf auch, meine Katze Juli in den Blick zu bekommen und mich ein weiteres Mal gebührend von ihr zu verabschieden.

Juli kennt den Ablauf mittlerweile. Bei meinem Hereinpoltern kippen ihre Ohren nach hinten und sie wirft mir einen genervten Blick zu. Wahrscheinlich schnurrte sie zufrieden, den Alten endlich fort zu wissen, als plötzlich die Tür wieder aufplatzt und das Abklappern der Wohnung ihre begonnene Mußestunde unterbricht. Will ich ihr im Vorbeihuschen den Kopf tätscheln, zieht sie ihn ganz gegen ihre Gewohnheit weg und fährt stattdessen ihre Krallen aus.

»Es ist alles gut hier! Geh endlich du Depp!«, scheint sie zu sagen.

Vielleicht will sie mich packen, um mir eine zu verpassen. Um mich wieder zur Besinnung zu bringen. Schläge auf den Hinterkopf sollen schließlich das Denken fördern. Ich hätte da so einige Beweise, die das widerlegen könnten. Aber Katzen gelten ja als unbelehrbar.

Meine Macken sind stärker als Juli. Ich schimpfe erst leicht mit ihr, weil ich jedes Mal über ihre Reaktion erschrecke, entschuldige mich aber dafür und für den ganzen anderen Blödsinn. Dann verschwindet sie und sucht Ruhe unter dem Bett.

Ich stehe wieder vor der Tür und die Episode beginnt von vorne.

Mit meinem Fahrrad ist es das Gleiche. Ich prüfe mehrmals, ob es richtig angeschlossen ist, und nehme es dann trotzdem mit hoch in meine Wohnung, da mir das Abstellen im Keller nicht sicher erscheint. Es passierte zu oft, dass etwas fehlte oder jemand sich in unseren Keller »verirrte«, der da gar nicht hingehörte.

Was mir in letzter Zeit häufig widerfährt: Ich erwähne Sachen mehrfach. »Ach, das hast du mir doch letztes Mal schon erzählt.«, werfen mir die Leute entgegen, wenn ich meine, etwas Neues verkünden zu können. Oder ich entschuldige mich permanent. Selbst für die kleinsten Patzer bitte ich inständig um Vergebung. Wobei, das hatte ich auch vor dem Unfall getan. Vor allem als Kind. Doch nun nimmt es über Hand. Sitze ich falsch, stehe ich im Weg oder sage ich etwas Unpassendes – sofort überschütte ich den aus meiner Sicht schwer Gekränkten mit einem Schwall an »es tut mir leid!«s. Wahrscheinlich geht das meinen Mitmenschen wahnsinnig auf den Geist. Dazu kommt eine Sorge, von den Leuten wegen meiner Fehler nicht gemocht zu werden, und dann entschuldige ich mich dafür, dass ich mich zu viel entschuldige.

Mama fiel auch auf, dass ich nicht mehr aufhöre, mich zu bedanken, wenn mir jemand hilft oder ich etwas angeboten bekomme. Vermutlich verhält es sich wie mit dem vorherigen Punkt: Ich übertreibe es bei Dingen, die mir auffallen und unterlasse es da, wo es angemessen ist. Schuld an all dem ist, was die Ärzte »Frontalhirnsyndrom« nennen. Es fehlt die Analyse, Nützliches von Unnützem zu unterscheiden.

Zuweilen geschehen für mich sogar unerklärliche Phänomene. Eben liege ich im Bett. Juli hat sich am Fußende friedlich zusammengerollt. Plötzlich kommt mir das Gefühl, Sophia würde sich gleich melden. Gerade noch verdränge ich den Gedanken, da klingelt mein Telefon – und Sophia ruft an. Wie seltsam. Immer, wenn ich denke, dass etwas noch passieren könnte, tritt es ein. Ist das ein weiterer überflüssiger Tick? Führte mein Dachschaden zu ungeahnt hellseherischen Fähigkeiten? Habe ich nun ein Talent für Telepathie? Bin ich behindert und als Medium auserwählt? Vielleicht gleicht das Durcheinander in meinem Kopf eher einem Kaleidoskop, das Muster und Formen sieht, wo andere nur über Kleckse staunen?

Weder noch, wie mir Sophia schnell vermittelt.

»Sag mal Alex, spinnst du jetzt total?!«, reagiert sie auf mein fröhliches »Hallo, was gibt´s so spät noch?«

»Hast du Mike erzählt, ich sei schwierig und ihm Tipps gegeben, wie er mit mir umgehen soll?«, fährt sie mich an.

Natürlich ist sie der Umstände entsprechend wütend und ich hätte mit ihrem Anruf rechnen müssen. Es ist somit keine höhere Begabung, die sich mir offenbart, sondern wohl mein im Unterbewusstsein anklopfendes schlechtes Gewissen. Ihr Freund Mike war vor kurzem bei mir zu Besuch und nach ein paar Bieren sprachen wir etwas offener über Sophia. Ich kenne sie seit der Schulzeit, aber die beiden hatten sich gerade erst kennengelernt. Nun hatte Mike einige Probleme mit den – sagen wir – Eigenheiten ihres Charakters. Da mir diese wohlbekannt sind, dachte ich, würden ihm meine Erfahrungen das Leben etwas leichter machen.

»Ja, das habe ich. War das schlimm?«, erwidere ich Sophias Frage.

»Schlimm? Das ist das allerletzte Alex!«

»Sorry, aber ich wollte doch nur, dass eure Beziehung funktioniert!«

»Danke, aber das brauchst du nicht! Ich bin kein kompliziertes, technisches Gerät, für das man eine Gebrauchsanweisung benötigt!«

»Es tut mir wirklich leid, Sophia. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin dir damit in den Rücken gefallen. Das war Mist!«, sage ich so laut, dass Juli ihren Kopf hebt.

Mir wird klar, wie dämlich es war, derart über meine beste Freundin zu sprechen.

»Kann man wohl so sagen, Alex. Es nervt!«

Sophia atmet aus.

»Da hast du natürlich recht. Bitte entschuldige nochmals!«

»Ja, von mir aus. Du brauchst dich jetzt nicht wieder tausendmal entschuldigen. Ich weiß ja, dass du nicht ganz dicht bist!«

»Jo, das stimmt!«

Wir müssen beide lachen.

Dann berichtet Sophia mir, dass unsere ehemalige Klassenlehrerin vom Gymnasium an einem Herzinfarkt verstorben sei. Ich setze mich im Bett auf, hebe vom Tisch neben mir meinen Laptop auf den Schoß und suche online nach ihrer Traueranzeige. Ihr Tod liegt noch nicht lange zurück. Ein Klassenkamerad hat die Anzeige auf Facebook geteilt und es finden sich bereits zahlreiche digitale Kondolenzsprüche darunter. Ich kann nicht genau sagen, was ich beim Lesen jener Kommentare fühle. Sie können die Nachricht nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern müssen ihren Senf dazugeben. Und wenn sie schreiben »Wie schrecklich! Ich bin voll traurig!«, gefolgt von einem Smiley mit Träne unterm Auge oder anderen Emojis, ist es schwer, sie ernst zu nehmen. Manch einer klickt auf »gefällt mir« und ist sich des faden Beigeschmacks, die ein Daumen hoch unter einer Traueranzeige erzeugt, wohl nicht bewusst – oder mochte unsere Lehrerin tatsächlich nicht. Scheinbar setzt sich ein jeder anders mit dem Tod und der damit verbundenen Gefühle auseinander.

Als Papa starb, hatte ich nichts zu kommentieren. Es war bereits alles gesagt worden. Ich konnte mir die Beileidssprüche nicht mehr anhören. Es war immer das Gleiche.

»Mensch, der Raik hat so viel geschafft!«, hörte man Leute sagen, die Papa von früher kannten. Sie taten bestürzt, hatten aber Jahre schon keinen Kontakt mehr gehabt. Manchmal ist der Mensch von hinten rum ein Arschloch. Ein ehemaliger Student, später Lehrer, ließ in der Zeitung einen halbseitigen Nachruf für Papa schalten. Er schwärmte in den höchsten Tönen über ihn als »Künstler«, »Schöngeist«, der »immer nah am Menschen« war und »bis zum Schluss mit wachen Augen und hellem Verstand« blieb. Schöne Worte, aber auch er kannte Papas Situation lange nicht mehr. Mama war bedrückt – natürlich – hatte aber mit ihm bereits vor Jahren abgeschlossen. Papas letzter Freund wich bis zum Ende nicht von seiner Seite und schien tatsächlich betroffen.

Zudem, dachten wohl viele, war Papas Tod absehbar und somit erträglicher, als wenn jemand plötzlich verstarb. Schließlich habe man so Gelegenheit gehabt, sich zu verabschieden und letzte Angelegenheiten zu regeln. Man konnte mit dem Sterbenden besprechen, welche Dokumente wo in den Kommoden liegen, wer was erhalten soll, was weg kann, wo er bestattet werden und welches Hemd er dabei tragen möchte. Die Leute wissen einen Scheiß.

»Wollen wir morgen was zusammen machen?«, fragt Sophia, nachdem wir etwas ausführlicher über unsere Lehrerin gesprochen haben.

»Morgen ist Papas erster Todestag.«, erwähne ich leise.

»Ich weiß, Alex. Deshalb frage ich ja.«

Wir treffen uns am nächsten Nachmittag am Kulki, dem Kulkwitzer See im Leipziger Westen. Es ist der gefühlt hundertste Sonnentag hintereinander. Einmal mehr strahlt der Himmel schamlos blau, während die Stadt unter der Hitze ächzt. Halb Grünau tummelt sich hier am Strand.

Sophia kommt – wie üblich – zwanzig Minuten zu spät. Das wird jedoch nicht thematisiert und sie sieht sich zu keiner Entschuldigung genötigt. Gordon, ihr Hund, springt mich zur Begrüßung an. Er ist auf der Straße aufgewachsen. Irgendwo in Rumänien. Er ist ein umgänglicher Hund, versteht sich bestens mit anderen Menschen und Tieren. Aber er ist auch eigensinnig und ignoriert Kommandos, wenn er ein Abenteuer wittert. Sophia ist klein, aber kräftig genug, den mittelgroßen, schäferhundähnlichen Rüden an der Leine zu halten. Lässt sie ihn los, bringt er sie manches Mal in Bredouille.

Jetzt prescht er aufgeregt über die große Wiese und hält Kurs auf zwei Picknicker, die es sich im braungebrannten Gras gemütlich gemacht haben. »Hau ab!«, rufen sie unerschrocken und scheuchen Gordon weg. Dieser schlägt einen Haken zum Strand. Er schert sich nicht um Sophias Pfiffe und wirft sich zu Boden. Mit allen Vieren von sich gestreckt wälzt er seinen Rücken über den Untergrund und wirbelt dabei jede Menge Sand auf. Eine Dame, die sich auf einem Badetuch wenige Meter daneben sonnt, trifft es besonders. Sie zieht ihre Sonnenbrille hoch und blickt gestört auf das Tier neben ihr. Ich schäme mich für »unseren« Hund. Sophias grüne Augen treten unter ihrem selbstgeschnitten, kurzen Pony hervor. Sie stampft nach dem dritten vergeblichen »Gor-don! Hier her!« mit dem Fuß auf. Endlich springt er auf, schüttelt sich und kommt herangetrabt. Seine Zunge hängt. Er hechelt und sabbert.

Wir setzen uns auf eine Bank abseits des Strandes. Trotz geringer Bewegung läuft mir der Schweiß aus allen Poren. Angesichts der Temperaturen trifft mein Übergewicht wenig Schuld.

»Was hast du heute gemacht?«, fragt Sophia und lässt ihren Blick über den See schweifen.

»Nichts weiter. Wie jeden Tag.«

»Hast du schon etwas von deinem Antrag gehört?«

»Nein,« winke ich ab. Nicht einmal eine Eingangsbestätigung oder sonstige Vergewisserung der Bearbeitung kam bisher an.

»Zum Kotzen ist das mit denen!«, merkt sie an und ich lächele.

»Um ehrlich zu sein, bin ich etwas verkatert.«, gebe ich zu.

Wie vor Gericht stehend, gestehe ich, gestern nach unserem Telefonat noch ein paar Biere getrunken zu haben. Ihr bestürzter Gesichtsausdruck trifft mich mehr als erwartet.

»Alex,« fährt sie mich an, »hast du wieder gesoffen?«

»Nee, nur bisschen über´n Durst.«, beschwichtige ich und öffne eine Cola.

Sophia sorgt sich, wenn ich trinke. Sie ist Ergotherapeutin und studiert seit zwei Jahren Psychologie. Sie weiß, welche Auswirkungen Alkoholkonsum bei einem Schädel-Hirn-Trauma haben kann und teilt mir das gerne mit. Alkohol setzt im Blut Harnsäure frei, die mein arg in Mitleidenschaft gezogenes Gehirn zusätzlich belastet. Sie meint, es wäre wie Regen auf einem rostigen Dach. Ich pflichte ihr jedes Mal bei. Welche Gegenargumente habe ich? Sie hat einfach recht.

»Und trotzdem tust du´s! Sorry, aber ich kann das ganz schlecht nachvollziehen. Vor allem in der Häufigkeit!«, tadelt sie mich.

Nach dem Unfall und noch mehr nach Papas Tod nahm mein Trinken an Fahrt auf. Mehrere Dosen Bier am Tag sind mittlerweile nicht selten. Nach den Mahlzeiten gerne ein Bonekamp. Statt »Verdauerli« kommen dann ein paar Gläser Wodka oder – noch effektiver – Bozkov Mandlovy hinzu. Besonders wenn ich alleine bin, tut es gut, nicht ganz nüchtern sein zu müssen.

»Es tut mir ja leid. Heute Morgen bin ich aufgestanden und als mein Blick auf die leeren Schulle-Dosen fiel, tat mein Kopf gleich doppelt weh.«

»Gut so!«

Ich blicke Sophia verletzt an.

»Ach Alex, bitte, bei deinem Papa hast du dich immer aufgeregt, wenn er gesoffen hat und jetzt …« Sophia bringt den Satz nicht zu Ende.

»…und jetzt, saufe ich selber zu viel, schon klar.«

Sophia ruft Gordon heran. Nach ein paar Wiederholungen, die sich in ihrer Lautstärke und Tonlage steigern, kommt er auch. Wir laufen das Ufer entlang zu dem kleinen, am See beginnenden Wäldchen. Kaum ein Strandbesucher verirrt sich dahin. Es liegt abseits des Tumults und der See ist hier durch Schilf und Steine unzugänglicher.

»Warum wolltest du dich eigentlich hier am Kulki treffen?«, fragt mich Sophia, nachdem sie dem wasserscheuen Gordon ein zuvor im Flug abgedriftetes Stöckchen zwischen hohen Rohrkolben aus dem See gefischt hat.

»Weil ich die frische Luft mag…«, erkläre ich und ergänze nach einer Pause, »…und weil Papa oft mit uns hier war, als wir noch in der Nähe lebten.«

»Verstehe. Hier verbergen sich sicher schöne Erinnerungen an ihn, oder?«

»Ja, auf jeden Fall. Wusstest du, dass meine Mama wollte, dass ich vor der Einschulung, also noch vor dem eigentlichen Schwimmunterricht der dritten Klasse, schwimmen lerne?«

»Nee, wieso das denn? Dann haben sie dich zu einem dieser Vorschulschwimmkurse geschickt?«

»Ja, und schon nach einigen Stunden habe ich diesen Unterricht nur gehasst.«

Ich erzähle Sophia von den Anweisungen der alten Schwimmlehrerin, die mir vorkamen, als seien wir Kinder wie Soldaten im Feld und die Verteidigung des Vaterlandes obliege allein unserer Fähigkeit, für die schlecht gelaunte Trillerpfeife die Beckenränder abzuklatschen. Sie spuckte mir ein »Alexander, klammer nicht so am Brett, du Angsthase!«, oder »Pappnase, streck die Beine weiter auseinander, wenn du vom Fleck kommen willst!«, nach dem anderen entgegen. Scheinbar gefiel es ihr, ihren Frust an uns Kindern auszulassen. Vor lauter Panik, ihren Groll auf mich zu ziehen, fand ich nie die nötige Ruhe, die richtigen Schwimmzüge auszuführen. Einmal geschah es, dass mir die hölzerne Schwimmhilfe aus den Händen rutschte und ich mich nicht mehr über Wasser halten konnte. Anstatt aber selbst vom Beckenrand zu springen und mich vor dem Ertrinken zu retten, griff die Schwimmlehrerin zu einem hinter ihr liegenden, etwa zwei Meter langen Stab. Mit diesem fischte sie im Wasser nach mir. Während ich im Becken wild um mich schlug, kommandierte sie mich trocken: »Alexander, du musst schon zupacken, wenn du nicht absaufen willst!«

»Oh Gott,« empört sich Sophia, »hast du das deinen Eltern erzählt?«

»Natürlich, sie haben mich daraufhin aus dem Kurs genommen.«

»Gut!«

»Ja, aber leider geschah dies noch innerhalb der ersten Schwimmstufe, so dass ich bis dato nicht mehr gelernt hatte als mit meinen Beinen ins Wasser zu treten.«

»Und dann bist du in den Kulki gefallen und hast alleine schwimmen gelernt, stimmt´s?«, Sophia hat Gordon mittlerweile angeleint. Ein grimmiger Muskelmann mit Muskelhund tauchte vor uns auf und sie will nicht, dass Gordon in die Fänge eines solchen Fleischwolfs gerät.

»Nicht ganz,« lache ich und erzähle weiter, dass meine Eltern natürlich darauf bestanden, dass ich vor dem Schuleingang schwimmen lernte.

Eines warmen Tages nahm Papa mich mit zum Kulkwitzer See. Dort, wo sich jetzt neben dem Pier einer der Taucheinstiege befindet, stand er bis zu seiner Hüfte im Wasser und legte mich mit dem Bauch nach unten auf seine ausgespreizten Hände. Etwa knapp bis unter die Oberfläche. Mit ruhiger Stimme wies er mir die Bewegungen meiner Arme und Beine an.

»So Alex, jetzt kannst du schwimmen!«, verkündete er nach einer Weile.

Langsam entfernte er die Hände unter meinem Bauch. Ich führte die Anweisungen weiter aus und – das Wasser trug mich. Ich konnte schwimmen.

»Das hat er toll gemacht.«, lobt Sophia.

»Ja, Papa war der beste Lehrer!«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Sophia, da sie etwas abwesend auf ihrem Handy eine Nachricht eintippt. Ich redete dennoch ungerührt weiter.

»Ab da dauerte es nicht lange, bis Papa meine Schwester Nadja und mich regelmäßig in seinen Renault setzte und mit uns ins ›Poseidon Freizeitbad‹ fuhr. Ich schwamm aber weniger, sondern liebte die blaue Wasserrutsche. Schnell wurde es unsere Routine, nach dem Planschen mit Papa Pommes zu essen. Ja, das war toll!«

»So hört es sich auch an, Alex,« Sophia lächelte und schaut von ihrem Display zu mir auf.

»Du, ich habe vergessen, dass ich noch mit Mike verabredet bin und mit Gordon und Fahrrad dauert es etwas länger in die Innenstadt. Bei der Hitze will ich ihn nicht so hetzen.«

»Kein Problem.«, meine ich und bin fast froh, nach dem Ausgraben dieser Episoden noch Zeit für mich am See zu haben.

»Ich melde mich später bei dir!«, verspricht mir Sophia, steigt auf ihr Rad. Sie hält den Lenker mit der rechten Hand, den angeleinten Gordon mit links im Griff und rollt los. Sie ist bereits ein Stück geradelt, da wirft sie ihren Kopf zurück und ruft für mich Halbtauben kaum wahrnehmbar: »Wir müssen etwas besprechen, was dir vielleicht hilft, die Warterei auf den Antrag zu verkürzen.«

Ohne eine Ahnung, was sie planen könnte, laufe ich zum überfüllten Strand und setze mich auf ein Stück sandiges Ufer. Ich öffne eine mitgebrachte, vor Sophia aber verheimlichte Dose Schulle aus dem Aldi und schaue auf das Geschehen um mich herum. Laut und unbeschwert toben die Strandbesucher. Junge Kerle grölen um eine Luftmatratze. Das Wasser steht ihnen bis zum Bauch. Sie protzen mit ihren durchtrainierten Armen. Mädchen kichern über ihr Imponiergehabe und spornen sie an. Die aufgedrehte schlechte Musik kommt bestimmt von ihrem Platz.

Und während ich mich umschaue und sich das »feinherbe Edelpils« meinen Rachen hinunter ergießt, verbinden sich in meinem Kopf die Bilder von Papa aus der Zeit unbeschwerten Badespaßes mit jenen, die wehtun. Papa im Krankenbett. Schwach und hilflos. Es tauchen Gesichter auf, die viel mit Papa zu tun hatten. Pflegepersonal und Ärzte der Palliativstation. Plötzlich stehe ich vor unserem Wohnhaus auf der Antonienstraße, nicht unweit von hier. Ein geschwächter Papa im Patientenhemd vor der Eingangstür. Um seinen Kopf einen Verband. Er trägt jedoch weder Schuhe noch Socken. Er greift sich ein Fahrrad vor der Hauswand und möchte seiner vermeidlich jungen Familie versichern, dass er kräftig genug sei, um mit ihr an den See zu radeln.

Während seiner Erkrankung musste Papa ständig demonstrieren, dass die Krankheit ihm nichts anhaben konnte. Alle redeten auf ihn ein, er brauche nichts zu beweisen. Wie bei meiner letzten Geburtstagsfeier, als er plötzlich Fahrrad fahren wollte, um die Frage nach seiner körperlichen Verfassung anschaulich zu beantworten. Niemand konnte ihn davon abbringen. Papa begab sich trotz großer Probleme auf das Rad, drehte wacklig eine Runde um den Block und hielt die verwirrten, aufgesetzten »Oh, toll!«-Rufe wohl für echte Bewunderung. Dabei verstanden die meisten nicht, was dieser Auftritt sollte. Ich verstand es – und Papa tat mir leid, obwohl er nur beabsichtigte, für die Unterhaltung der anderen zu sorgen.

Windflüchter

Wieder zu Hause setze ich mich an meinen Laptop, öffne eine weitere Schulle und schaue mir mehr Bilder an. Während ich an der Dose nippe, klicke ich mich durch die Erinnerungen. Auf einem Foto, kurz nach seiner Diagnose aufgenommen, sitzt Papa in einem Zugabteil. Sein Kopf ist leicht gesenkt und er bestaunt angewidert einen angebissenen Cheeseburger in seiner rechten Hand. Mit der linken streckt er der Kamera die Papiertüte mit der Aufschrift »have it your way!« entgegen. Ich muss lachen. Papa liebte es, die Welt um ihn herum durch den Kakao zu ziehen. Besonders bei Eskapaden in der Mode konnte er sich nie zurückhalten.

»Hey Jack!«, rief er einmal einem Ostseeurlauber zu, der sich an einem Bratwurststand stärken wollte und eine robuste, wattierte Jack-Wolfskin-Jacke trug. »Hey Jack!«, wiederholte er freudig, als der Mann uns verwundert anschaute und kommentarlos mit seiner Bratwurst in der Hand weiterlief. Papa lachte und machte diesen Spaß bei jeder Gelegenheit. In der Stadt fand er es besonders lustig, wenn er Menschen in exzessiven Wetterschutzjacken antraf.

»Die sehen aus, als ob sie sich auf eine Himalaya-Expedition vorbereiten würden.«, scherzte er und rief gleich ein »Viel Erfolg, Jack!« hinterher. Papa fand es lächerlich, so dick in der Kleidung aufzutragen, denn »schließlich sind wir nicht in Sibirien!«. Er wunderte sich, wieso die Menschen diesen und jeden anderen blöden Trend so gefällig mitmachten.

Ich bewege die Maus zurück in den Hauptordner und öffne einen namens »Früher«. Irgendwann hatte ich die Bilder meiner Kindheit eingescannt. Papa sieht auf ihnen glücklich aus.

Auf einem Bild stehen wir vor einem rapsgelben Bulli. Das muss 1992 an der Ostsee gewesen sein. Papa liebte das Meer. Besonders die Ostsee. Oft liefen wir zu zweit die Küste von Warnemünde entlang, pausierten an einer Düne und nahmen an unserem Ziel, der Wilhelmshöhe, eine Kleinigkeit zu uns. Papa bestellte sich, falls er keine Piccolo Flasche Rotkäppchen in seinem Rucksack mitführte, einen Sekt bei einem Imbiss. Unser Lieblingsimbiss stand unmittelbar am Kliff und empfing die Gäste mit einem Blick weit über das Wasser. Den Sonnenuntergang konnte man von da aus ausgiebig genießen. Das Wetter spielte aber keine Rolle. Meistens führte uns der Rückweg am Küstenwald mit seinen pittoresken Windflüchtern vorbei. Windflüchter nennt man die Bäume und Sträucher, die vor dem heranbrausenden Wind der See zu flüchten versuchen und dabei schief und krumm wuchsen. Wir fanden ihre Formen auf abstrakte Weise schön und fotografierten sie gern.

Den Bulli borgten wir uns von Papas Kabarettgruppe »die Musterknaben«. Papa kam 1981 aus der Nähe von Dresden zum Studium an die Pädagogische Hochschule, die PH, nach Leipzig. Von 1983, damals war er zweiundzwanzig Jahre alt, bis 1992 war er der Leiter des 1960 gegründeten Kabaretts. Die Bühne war Papas Element. Wenn das Licht anging und der Saal ihm gehörte, glühte sein Gesicht vor Freude. Papa konnte nachdenkliche Töne oder Blödeleien wie in »The Egg«, wo der Englischlehrer dem Zuschauer erklärte, was der Unterschied zwischen einem Tennisball und einem Ei sei. Der Sketch endete mit:

»Und was haben wir in unserer heutigen Sendung gelernt? Auch in England kann man in Sportartikelläden keine Eier kaufen.«

Manchmal durfte ich Teil der Auftritte sein. Im letzten Stück der Truppe, »Irre erfolgreich« von 2002, schubste ich Papa in den Zuschauerraum und erklärte ihm ruppig, dass er nun in eine Anstalt müsse. Das waren meine ersten Bühnenerfahrungen und Papa weckte damit in mir die Leidenschaft für das Theater.

Natürlich lag das Hauptaugenmerk der »Musterknaben« auf politischer Satire. Nach 1990 trugen die Stücke Titel wie »Teutanic – ein Schiff sinkt« oder »Wende gut – alles gut?«. Sie beschäftigten sich mit dem realexistierenden Kapitalismus vor der Haustür, der Wählerverarsche aller »blühenden Landschaften«. Angela Merkel hatten sie auf dem Schirm, bevor sie Kanzlerin wurde. Dolly Buster war ein Phänomen, ebenso die Sprache Reich-Ranickis, die ein Kollege grandios parodierte.

Papa erklärte mir die Unterschiede zwischen dem Theater in der DDR und des nun neuen Deutschlands. Er meinte, dass »Kabarett in der DDR den Staat subtiler vorführten. Sie mussten jene SED-Greise umschiffen, die 1988 den Vertrieb der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« einstellten, da selbst dieses systemtreue Blatt zu systemkritische Beiträge enthielt. Später schauten wir gemeinsam im Fernseher den Auftritt von Wolf Biermann im Deutschen Bundestag zu fünfundzwanzig Jahre Mauerfall. Papa wurde wegen seines plumpen Zeigefingers schlecht.

»Diesen Wolf Biermann kannste in die Tonne kloppen!« Er winkte seinen Auftritt ab und drehte sich zu mir.

»Wir haben intellektuell gearbeitet, intellektuell den Staat kritisiert. Mussten wir auch, damit die alten Idioten von der Zensur nichts verstanden und unseren Stoff für die Bühne freigaben. Einer wie Biermann konnte sich moralisch überlegen fühlen, aber was hat das den Leuten genutzt? Schon in den Siebzigern haben sie ihn rausgeschmissen!«

»Dagegen führten wir,« Papa hatte Biermann leiser gestellt und beanspruchte unsere gesamte Aufmerksamkeit, »noch 1989 unser ›Was, Ihr wollt?!‹ vor begeisterten Leuten auf und halfen, Luft zu schaffen. Aufrecht zu gehen, wenn man so will. Laut sangen wir auf der Bühne ›Wissen, was wir wirklich wollen!‹«

Papa setzte das Lied an und schwang die Hand mit der Fernbedienung in der Luft. Das Theater galt ihm als vollendete Form der Kritik am Status quo. Für alles andere hatte er nichts übrig. Papa war immun gegen die Verlockungen eines treuen Parteigenossen und es war ihm zuwider, auf der Straße laut »Wir sind das Volk!« zu brüllen. Er lehnte das ab. Bis zuletzt glaubte er daran, dass es den Menschen im Staat der DDR doch »vergleichsweise gut« ging und man seine Kritik zum System äußern konnte, so lange es eben intellektuell erfolgte. »Ruhig und nur in gewissen Kreisen seine Meinung kundtun,« meinte er zu mir, »ist auch heute weiter wichtig, wenn man nicht zum Biermann werden möchte.«

Tatsächlich hatte Papa aber gar keine Zeit für Revolution. Denn im April 1989 kam ich zur Welt und hatte einen Nystagmus sowie ein Megakolon im Gepäck. Den Nystagmus erbte ich von meinem Opa mütterlicherseits. Er führt dazu, dass meine Augen bei Aufregung unkontrolliert wackeln. Wie vom Blitz getroffene Murmeln zucken die Augäpfel hin und her. Gelegentlich rollen sie in eine Ecke und springen dann zurück zum Ausgangspunkt. Damit sah ich bereits vor meinem Unfall für viele behindert aus.

»Was is`n mit dein´ Oogen? Hat dir eener gegen den Nischel getreten?«, fragte mich Mike, als wir uns kennenlernten.

Die Herleitung war zwar falsch, aber traf dennoch zu. Jetzt, mit den anderen Schäden obendrauf, krönt es meine Gesamterscheinung. Formvollendet in Inhalt und Gestalt sozusagen.

Jedenfalls produziert das Gehirn klare Bilder, aber es kann zu Seheinschränkungen kommen. Deshalb erhalten Leute mit Nystagmus keinen Führerschein. Wenn einem bei Tempo hundertdreißig plötzlich die Augen von der Fahrbahn driften, könnte das unangenehme Folge haben. Selbst vom Fahrradfahren raten die Ärzte ab. In der DDR konnte mein Opa übrigens trotz Nystagmus Polizist werden – inklusive Streifenwagen fahren und Waffe führen.

Ernster war das Megakolon. Das bedeutete, mein Dünndarm funktionierte bei der Geburt nicht einwandfrei. Ich konnte nichts verdauen. Es drohte ein Platzen des Darms und damit eine innere Vergiftung, die zum Tod führen würde. Heute bekommen die Mediziner das leicht in den Griff, aber zu jener Zeit stand es kritisch um mich. Es war nicht gewiss, dass ich auf die OP ansprechen würde, und ich verbrachte mein gesamtes erstes Lebensjahr im Krankenhaus. Während auf der Straße das Volk protestierte, ein System einstürzte und ein ganzer Staat von der Landkarte verschwand, bangten Papa, Mama und meine Schwester am Krankenbett darum, dass mein Leben überhaupt beginnen würde.

Gleichzeitig sorgte die Wende dafür, dass Papas Karriere endete, bevor sie richtig begonnen hatte. 1988 promovierte er an der Pädagogischen Hochschule in Germanistik zum Thema »Theoretische Ästhetik«. Was das genau ist, damit möchte ich niemanden langweilen. Nur so viel: es wird versucht, Schönheit zu analysieren und theoretisch zu erfassen. Ein Unsinn! Ich denke, man kann Kunst, oder eher Schönheit, nicht in einer Theorie abhandeln – Schönheit hat keine eindeutige Definition.

Papa war darin aber ein Meister und hätte 1990, so der Plan, eine Professur erlangen sollen. Dazu kam es nicht. Die Geschichte fiel ihm in den Rücken und mischte die Karten neu.

Nach dem Mauerfall wurde umstrukturiert und die PH, die in der DDR autark und somit keine Fakultät der Universität war, wurde 1992 in die Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Uni Leipzig integriert. Sie wurde, wie Papa es ausdrückte, »abgewickelt«. Das hieß, alle Mitarbeiter, gleich welcher Position und Errungenschaften, mussten sich neu bewerben. Auch Papa. Viele Stellen wurden gestrichen und die meisten bekamen, wie Papa, keine Anstellung mehr.

»Aber du hattest doch ein so hohes Ansehen an der PH - wieso haben sie dich nicht mehr genommen?«, fragte ich ihn, nachdem Biermann schon längst abgeschaltet war und wir uns auf dem Sofa vor dem Fernseher weiter unterhielten.

»Alex, überleg doch mal – Pä-da-go-gische Hochschule!«

Papa verdrehte die Augen, weil mir das Offensichtliche nicht auffiel. Er erklärte dann für mich verständlich:

»Da dachten sich die Wessis doch gleich, wir hätten nichts Besseres zu bieten als die Leute mit Sozialismus vollzupumpen. Solche Leute konnte man doch nicht auf die Schulkinder loslassen! Und um ja keinen faulen Apfel im schönen neuen Körbchen zu haben, warfen sie uns vorsichtshalber gleich alle raus.«

Papa zündete sich eine Zigarette an. Kurz war es still, dann setzte er nach:

»Und wenn die BRD davon quatschte, sie würde uns zu einer neuen Arbeit verhelfen, war das alles eine glatte Lüge! Der Kapitalismus regiert die BRD. Und in der Uni setzten sie die Leute ein, die für sie passend waren. Und ich,« Er streckte mit Zigarette im Mund und trotzigem Blick die Arme aus, »war eben nicht passend.«

Papa passte tatsächlich nicht in die neue Zeit. Er lehnte es ab, in diesem anderen System einen Platz zu finden. Er war glücklich, wo er vorher gewesen war. Die Verehrung der Kollegen an der Fakultät, die Leitung des Kabaretts, seine kleine Familie – es lief gut für ihn und plötzlich wurde es schwieriger, ernsthafter. Stellenabbau, Verlust von Prestige, verletzter Stolz, die Unnachgiebigkeit des Neuen, Not durch Orientierungslosigkeit – Papa begann stärker zu rauchen, zwei bis drei Schachteln pro Tag waren keine Seltenheit. Er trank mehr und ernährte sich zunehmend ungesund.

Sprach Papa vor seiner Erkrankung über »Wessis«, scherte er alle über einen Kamm. Das war wie ein rigoroser Reflex. Genau wie ich nicht ohne zig Kontrollen aus meiner Wohnung komme, kam Papa nicht umhin, seine Abneigung gegen den Westen zu äußern. Zu schlecht waren die Erfahrungen, die er nach der »sogenannten Wiedervereinigung« gemacht hatte.

»`Feindliche Übernahme`- das wäre der passendere Begriff für all das, was da lief«, redet er sich ein.

Wenn Papa mir früher diese Erlebnisse schilderte, war seine Antipathie für mich mehr als nur nachvollziehbar. Das führte so weit, dass auch ich mich über Menschen aus Westdeutschland aufregte. Ohne vorher überhaupt einen Menschen »aus dem Westen« kennengelernt zu haben, übernahm ich Papas Sichtweisen.

Wenn ich ihn doch einmal belehren wollte, dass unter den Westdeutschen auch nette Leute sein können, winkte er ab. Auch wenn Papa selbst wissen musste, dass die Erfahrungen, die er mit den verschiedenen Delegierten und Abenteurern aus der alten Republik machen musste, nicht für die gesamte Bevölkerung sprechen sollten, hatte er keine Lust, an seiner Sichtweise zu rütteln.

Der Krebs verstärkte seine Ansichten, doch ich bemerkte, dass seine Aggressionen auf Menschen aus der Vergangenheit ruhten. Er unterschied zwischen alter und neuer Generation. Antons Freundin Jule stammt aus Nordrhein-Westfalen und sie begegnete Papa auf seiner Geburtstagsfeier zum ersten Mal. Das war ein halbes Jahr nach der Diagnose. Es war Mitte Juli und wir grillten im Hof. Viel wurde erzählt und gelacht. Jule fand Papas »Jack!«-Rufe so witzig, dass sie sich beim Lachen an einem Stück Grillkäse verschluckte. Papa genoss es, im Mittelpunkt des Geschehens eine gute Figur abzugeben.

Am nächsten Morgen traf ich ihn in der Küche. Ich nahm ein Handtuch und half beim Abtrocknen des Geschirrs.

»Und? Wie fandest du es gestern?«, fragte ich ihn und griff mir ein nasses Bierglas.

»Ach das war eine willkommene Abwechslung, Alex. Ich fand ja auch diese Jule vom Anton richtig nett.« Papa lächelte, während er Teller mit einer Bürste schruppte.

»Die erste Wessi, die du nett findest, oder?«

Ich grinste ihn an. Papa unterbrach das Schruppen.

»Alex, denke bitte nicht, dass ich nicht zwischen heute und gestern unterscheiden könne. Ich hoffe wirklich, dass das, was Ost und West angeht, eine Generationenfrage bleibt. Ihr solltet euch nicht mit unserem Mist rumquälen, sondern eigene Erfahrungen sammeln.«

Papa richtete seine Augen wieder auf die Spüle und nahm sich mit der Bürste einen verkrusteten Teller vor.

»Das hoffe ich auch«, sagte ich und stellte das trockene Bierglas in den Schrank. Als Nächstes sollte ein Weinglas von Wasser und Schaum befreit werden.

Mit »Vorsicht Alex, lass die Weingläser mal lieber«, stoppte Papa aber meine Aktion, denn zu viele gingen unter dem nur grob regulierten Druck meiner Hände zu Bruch. Er drückte mir stattdessen einen abgewaschenen Teller ins Tuch und fuhr fort.

»Weißt du: Nach neunzig gab es gute und schlechte Entwicklungen. Was mich störte und immer noch stört, war und ist, …« Er unterbrach erneut das Abwaschen und drehte sich zu mir.

»… dass unsere Errungenschaften, also die der DDR, wie zum Beispiel bei mir in der Bildung, keinen Pfifferling mehr wert waren. Gerade in der Pädagogik waren wir denen drüben weit voraus,« sagte Papa und zuckte mit dem Arm ruckartig nach vorn, dass der verbliebende Schaum an seiner Hand an die Fliesen der Wand spritzte.

»Ja«, stimmte ich ihm zu, »bei dem, was die Schulen heute machen - Pisa und dem ganzen Quark – bin ich froh, noch ein paar DDR-Lehrer gehabt zu haben.«

»Das kannst du auch!«, bestätigte Papa und wischte mit dem Schwamm den Schaum von den Fliesen.

Auch wenn mir bis heute ein Verständnis für die ganz großen Zusammenhänge jener Zeit fehlen, ärgert es mich, dass Anstrengungen und Leistungen von Papas Generation nicht nur keine Rolle spielten, sondern von der Geschichte schlichtweg negiert wurden. Papa beschäftigte dies bis zu seinem Tod.

Ich bin dankbar, durch Papa auf diese Geschehnisse aufmerksam gemacht worden zu sein. Auch wenn nicht alle »Ossis« seinen Standpunkt teilen oder vielleicht mehrheitlich schöne Erfahrungen nach der Wende machten, so war das, wovon Papa berichtete, nun mal von ihm erlebt.

Manche meiner Freunde finden meine Sicht auf Papas Vergangenheit komisch, thematisieren es aber nicht. Vielleicht deuten sie es als eine weitere vererbte Störung oder einen Knacks, den mir der Unfall zufügte. Viel Gegenwind bekomme ich nicht. Nur Anton schüttelt mit dem Kopf, wenn ich Papas Leben in der DDR zu schillernd darstelle.

»Hast du dir mal überlegt ...«, begann er das letzte Mal, als das Thema zwischen uns beiden aufkam, »wie es gewesen wäre, hättest du deinen Unfall und all die damit verbundenen Nachwirkungen in der DDR gehabt? Wie dann deine Versorgung mit Reha und dem ganzen Drumherum abgelaufen wäre?«

»Hätte, wäre, könnte, Anton – das bringt gar nichts!«, antwortete ich.

Natürlich machte ich mir diesbezüglich durchaus Gedanken, aber sie endeten meist in zu großen Spekulationen und nützen nichts.

»Aber du musst doch zugeben, dass deine Situation in der DDR eine Schlechtere gewesen wäre, oder?«, setzte Anton nach, als ich nicht lautstark »die BRD ist der DDR überlegen« rief. Aber das war nicht mein Punkt.

»Nein, das muss ich nicht zugeben.«

»Aber Menschen mit Behinderung waren in der DDR doch von der Gesellschaft ausgeschlossen.«

»Na und? Wie sieht es denn heutzutage aus?«

»Ja, aber es gibt schon mehr Maßnahmen.«

»Aha, und wohin haben mich diese Maßnahmen gebracht?«

»Das ist in deinem Fall richtig, aber …«

Er wusste nicht weiter und ich verspürte den Drang, noch deutlicher zu werden.

»Um es kurz zu sagen: meine Situation sähe doch genauso aus – ob ich nun in der DDR oder BRD, ob es nun 1985 oder 2017 wäre.«

Anton winkte ab, wie Papa, wenn er Biermann sah. Um ihn zu ärgern, setze ich aber nach: »Vielleicht ginge es mir in der DDR sogar besser – denn es war ja ein Arbeiterstaat und da hätte man sicher auch für mich Arbeit gefunden, anstatt mich – wie jetzt – in meiner Wohnung sitzen zu lassen.«

Spätestens mit dem nächsten Bier wechselten wir das Thema.

Das Gestern kommt im Vergleich zum Heute manchmal ungeschorener davon. Zuweilen frage ich mich beim Betrachten dieser eingescannten Bilder, was wohl mit Papa ohne die Wende oder ohne ein Ende der DDR passiert wäre? Wäre er heute an der Pädagogischen Hochschule ein hohes Tier? Hätte er mehr auf sich geachtet und keinen Krebs bekommen? Kann man seinen frühen Tod der Wende in die Schuhe schieben?

Als wir die DDR im Gemeinschaftsunterricht durchkauten, interviewte ich dafür Papa zusammen mit einer Klassenkameradin. Der Unterrichtsstoff kam bei Papa nicht sonderlich gut weg, da seine Erlebnisse darin kaum vorkamen.

»Was ich euch erzählt habe, werdet ihr nicht in der Schule hören«, beendete er unser Gespräch.

Was die Lehrerin selbst über unseren Vortrag und damit indirekt über Papas Thesen dachte, erfuhren wir nicht. Sie äußerte nicht mehr, als ein »gut gemacht.«

Meine Schulle neigt sich dem Ende und ich will das Album schließen, da erscheint in der Galerie ein Bild, wie ich im Frotteeschlafanzug vor unserer Modelleisenbahn stehe. Das muss im Grundschulalter gewesen sein. Dies war der Einzige, mir bekannte Moment, in dem Papa mit mir die Geduld verlor.

Er zeigte mir seine mit zahlreichem Zubehör bestückte Platte, nachdem Mama mit einer Zugfahrt von Leipzig nach Riesa meine Begeisterung für die Eisenbahn geweckt hatte. Liebevoll schmückten Bäume, Schilder, Häuser, Passanten und alles, was ein buntes Treiben simulierte, seine Szenerie. Doch es war ein Fehler von Papa, mich mit dieser Platte allein zulassen. Wie er sich genau fühlte, als er mich inmitten seiner zerstörten Landschaft fand, weiß ich nicht mehr. Nüchtern entsorgte er die kaputten Teile.

Beim nächsten Weihnachtsfest fand sich unter meinen Geschenken dann eine große Pressspanholzplatte inklusive Gleisen in der passenden Spurbreite H0 für Papas DDR-Lokomotiven. Ich wusste wenig davon, wie viel Arbeit der Aufbau erforderte. Ich dachte, wenn die Teile erst einmal vor einem liegen, sei der Rest ein Klacks. Außerdem war Papa da! Gleich am Weihnachtsabend legten wir im Wohnzimmer los. Es musste Gras angebracht, Häuser gebastelt, Wälder geleimt und Gleise über Erhöhungen geführt werden. Heute hätte ich nicht im Ansatz das Geschick, geschweige denn die Nerven, all die kleinen Elemente zu platzieren. Damals strahlte ich vor Freude.

Zu Beginn interessierte Papa sich auch dafür. Doch dieser Moment verging rasch. Bald reagierte er gereizt, wenn die Schienen nicht auf Anhieb ineinanderpassten oder Zubehör nicht auf ihren begrasten Plätzen stehen blieben.

»Mach das mal alleine weiter!«, sagte er, stand auf und ging.

Ich verstand nicht, was passiert war, doch Papa umtrieben in jenen Tagen ganz andere Sorgen. Während ich von einer Fahrt mit meiner Lok träumte, ging seine Ehe und damit unsere Familie zu Bruch.

Alkohol

Die vierhundertzwanzig Euro, mit denen ich meinen Monat bestreite, nennt man allgemein »Existenzminimum«. Der Begriff ist passend. Als die Politik die Sätze festlegte, errechnete sie nicht, was der Mensch brauchte, um zu leben, sondern, was er brauchte, um zu überleben. Das heißt, was der Staat geben muss, um sich nicht am frühen Ableben eines Bürgers zu versündigen. Bei mir fließt das Geld in Toastbrot, Margarine, Aufstrich, Sprudelwasser, Toilettenpapier, Zahnpasta, Hackfleisch mit Haltungsstufe eins, geräucherte Makrelen und Katzenfutter für Juli. Ich lese gelegentlich den Eulenspiegel und kaufe mal eine gebrauchte DVD. Das ist meine Beteiligung am kulturellen Treiben. Meine Klamotten hängen schon lange an mir und wenn ich meine Gewichtszunahme nicht bald in den Griff bekomme, wird es eng – mit dem Stoff und dann auch mit dem Geld.

Ein Politiker der Sozialdemokratie verteidigte das Existenzminimum einmal, indem er einen Speiseplan für arme Leute aufstellte. Das Essen sollte dabei gesund und günstig sein. Das schließt sich zwar aus, aber amüsanter fand ich, dass er diesen Speiseplan unter die Voraussetzung stellte, dass kein Geld für Alkohol ausgegeben werden dürfe. Am Knochen nagen lassen und dann nicht saufen sollen – wie weltfremd! Niemand kann seine Tage vergammeln sehen und bei klarem Verstand bleiben. Entweder wird man verrückt oder ertränkt die Sorgen im Fusel. Ein dazwischen gibt es nicht.

Das trifft auch auf mich zu. Um mit meiner Situation über die Zeit zu kommen, braucht es eben hin und wieder einen Schluck. Oder mehrere. Wobei auch in meiner Lage gilt, was für alle Existenzler gilt: Flaches Portemonnaie macht flaches Bier. Natürlich habe ich nicht vergessen, was ein gutes Bier ist. Meine Geschmackssensoren überstanden den Unfall unbeschadet. Doch ein tschechisches Lager oder feinere Schaumkronen schielen auf die Leistungsträger der Gesellschaft. Dazu gehöre ich leider nicht und muss dankend ablehnen.

Wenn ich trinken will, was ich trinken will, muss der Preis stimmen. Zum Glück haben die Supermärkte die Nöte der materiell Marginalisierten längst erkannt und lassen uns nicht im Stich. Hart kämpfen sie um unsereiner Gunst und unterbieten sich mit immer erschwinglicheren Gebräuen. Eine große Auswahl offenbart sich dem durstigen Armen über unzählige Regale.