Alles grün und gut? - Dirk Maxeiner - E-Book

Alles grün und gut? E-Book

Dirk Maxeiner

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Beschreibung

Denkanstöße für alle, die Umwelt und Natur wirklich schützen wollen.

Die Umweltbewegung kann auf eine enorme Erfolgsgeschichte zurückblicken: Alle trennen Müll, fahren Fahrrad und wollen die Welt vor Klimakollaps und Atomverseuchung retten. Doch inzwischen züchten wir Monokulturen für Biosprit, roden unsere Wälder für Stromtrassen und töten Vögel mit Windrädern. Ist es das, was wir wollen?
Mit Maxeiner und Miersch ziehen zwei der profiliertesten Beobachter der Umweltbewegung Bilanz und zeigen, wo ökologisches Denken heute ansetzen muss.

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Seitenzahl: 474

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Dirk Maxeiner · Michael Miersch

Alles grün und gut?

Eine Bilanz des ökologischen Denkens

Knaus

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1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-14310-7

www.knaus-verlag.de

In Erinnerung an Julian L. Simon

Inhalt

Vorwort

Hurra, alle sind jetzt grün! Aber weiß noch einer, was das bedeutet?

Maxeiners & Mierschs gut gelauntes Ökotagebuch

Kapitel 1– Mensch und Natur

Sind wir Menschen eine Bürde für die Erde?

Was ist das eigentlich, Natur?

Kapitel 2 – Zwischen Eiszeit und Zeitgeist

Eine Anleitung zum Unsichersein

Sollten Klimawissenschaftler zugleich Aktivisten sein?

Das wechselhafte Medienklima

Kapitel 3 – Das Energiedilemma

Energiewende – ein Jahrhundertprojekt im Realitätstest

Wenn Wald der Windkraft weichen muss

Kapitel 4 – Von Menschen und Walen

Wollen wir Symboltiere oder bedrohte Arten retten?

Überlasst Natur- und Tierschutz nicht den Fantasten!

Kapitel 5 – Wachsen und Gedeihen

Wie »öko« ist der Acker von morgen?

Landwirtschaft – eine Zukunftsindustrie für Deutschland?

Wie grün ist Gentechnik?

Kapitel 6 – Leben und leben lassenn

Ist Umweltaktivismus der neue Kolonialismus?

Wer kontrolliert eigentlich die NGOs?

Im Bionade-Biedermeier

Was ist das eigentlich: »nachhaltig«?

Der Zusammenhang von Freiheit und sauberer Luft

Kapitel 7 – Die alltägliche Angst

Unser täglich Risiko

Wo die Untergangspropheten irrten

Der Wald wächst unverdrossen

Kapitel 8 – Nebel der Vergangenheit

Verdrängte Traditionslinien grünen Denkens

Kapitel 9 – Neugierig bleiben

Vom Wert der Dissidenten für das ökologische Denken

Schulen zwischen Bildung und Propaganda

Selbsthilfelektionen: Grünes Denken, aber richtig

Nachwort

Warum die grüne Bewegung den Resetknopf drücken muss

Anhang

Eine Zeitreise durchs Grüne

Literatur

Vorwort

Hurra, alle sind jetzt grün! Aber weiß noch einer, was das bedeutet?

»Früher einmal wusste ich die Antworten –

heute ahne ich die Fragen.«

Heinz Brandt

Als wir beide uns 1985 trafen, um eine neuartige Umweltzeitschrift (»Chancen«) zu entwickeln, war das grüne Denken in Deutschland schon ein Vierteljahrhundert alt. Bernhard Grzimek hatte 1959 mit seinem Film »Serengeti darf nicht sterben« Alarm geschlagen, dass die letzten Naturgebiete der Erde verschwinden. Willy Brandt forderte 1961, der Himmel über der Ruhr müsse wieder blau werden. 1962 sorgte das Buch »Der stumme Frühling« der amerikanischen Biologin Rachel Carson weltweit für Aufsehen, in dem sie den sorglosen Umgang mit Pestiziden anprangerte.

Die Farbe Grün, die in unsere Kindheit noch für Land- und Forstwirtschaft stand, war 1985 längst politisch geworden. Greenpeace, WWF und andere Öko-Organisationen gewannen Zehntausende Unterstützer. Die Grünen saßen seit zwei Jahren im Bundestag, und in Hessen war gerade der erste grüne Minister vereidigt worden. Jeder Student hatte »Die Grenzen des Wachstums« und »Global 2000« im Ikea-Regal. Tankerhavarien und Chemieunfälle, wie der im italienischen Seveso, hatten bewirkt, dass immer mehr Menschen Umweltschutz für das dringlichste politische Ziel hielten. Bis auf ein paar Wissenschaftler, die kein Gehör fanden, glaubte 1985 jeder Deutsche daran, dass der Wald schon sehr bald tot sein wird.

Bevor wir uns dem Thema journalistisch zuwandten, hatten wir kräftig mitgemischt, beim Anti-Atom-Protest in Brokdorf und Gorleben. Oder im Alltag als Anhänger der Alternativbewegung, die Arbeit und Konsum nach grünen Wertvorstellungen ausrichtete. Hautnah und sehr persönlich erlebten wir den Aufstieg der Grünen in Hessen. In jener Zeit entschlossen sich manche Freunde, Politiker zu werden. Wir blieben dann doch lieber Journalisten. Gemeinsam rührten wir bei den Zeitschriften »Chancen« und »natur« (damals das größte Umweltmagazin Europas) die Trommel für Biolandwirtschaft, Atomausstieg und mehr Naturschutz.

Doch es kam – zunächst schleichend, dann heftiger – zur Kollision zwischen journalistischem Anspruch und grüner Überzeugung. Die Recherche stand den apokalyptischen Botschaften immer öfter im Weg. Unübersehbar wurde der Zustand der Umwelt in Deutschland und anderen westlichen Ländern besser. Wir schrieben 1996 das Buch »Öko-Optimismus« und setzten uns damit in die Nesseln. Die grüne Gemeinde exkommunizierte uns. Doch unser Interesse an ökologischen Fragen und den politischen Antworten darauf blieb bestehen. Wir beobachten die Entwicklung der grünen Idee und ihre gesellschaftliche Wirkung bis heute.

Im Herzen blieben wir grün. Der Gesang einer Feldlerche oder der Anblick eines mäandernden Wildbachs bedeuten uns viel. Wir glauben allerdings nicht, dass man Feldlerchen und Bachtälern mit Ideologie und Wissenschaftsfeindlichkeit helfen kann. Und es geht uns mächtig gegen den Strich, dass diejenigen, die die Begriffe »grün« und »ökologisch« für ihre Karriere gekapert haben, den Menschen als Gefahr für den Planeten darstellen und ihn deshalb ständig einschränken und schulmeistern wollen. Zum Glück fanden wir neue Freunde unter jenen grünen Bürgerrechtlern, die die Mauer zu Fall gebracht hatten.

Unbestreitbar ist unser heutiger Zeitgeist grün, zumindest in Deutschland und den meisten anderen westlichen Industrienationen. Und das ist auch grundsätzlich gut so. Grünes Denken hat die Köpfe erobert, und wir müssen immer wieder staunen, wie schnell sich dieser Wandel vollzog.

An dieser Stelle eine kurze Zwischenbemerkung: Wenn wir Worte wie »grün«, »grünes Bewusstsein«, »grünes Denken«, »grüne Bewegung« verwenden, dann ist damit nicht speziell die Partei »Die Grünen« gemeint, auch nicht Organisationen wie Greenpeace oder der BUND. Wir benutzen diese Etiketten im weitesten Sinne für eine Denkweise, von der in Deutschland nahezu die ganze Gesellschaft durchdrungen ist, von Angela Merkel bis Margot Käßmann, von der Deutschen Bank bis zum ADAC. Den Begriff »Ökologismus«, den Sie in diesem Buch lesen werden, verstehen wir als Abgrenzung zu »Ökologie«. Ökologie ist eine Wissenschaft, ein Zweig der Biologie. Ökologismus dagegen benennt den Versuch, aus dieser Wissenschaft eine Weltanschauung abzuleiten.

Eine Bewegung, die es schafft, eine Farbe gleichsam in Besitz zu nehmen, hat einen bleibenden historischen Erfolg errungen. Seit die Sozialisten das Rot für sich reklamierten, hat keine neue soziale Bewegung so etwas mehr geschafft. Rot bedeutet längst nichts mehr, es ist beliebig geworden, ein bloßes Zitat aus der Vergangenheit, das jeder nach Gusto hervorkramt.

Wird es mit dem Grünen genauso gehen? Was bedeutet diese Farbe eigentlich noch? Wir beobachten seit geraumer Zeit, dass man glaubt, grünes Denken überhaupt nicht mehr begründen zu müssen. Wer grün argumentiert, hat immer recht, denn er ist auf der Seite der moralisch Guten. Die grüne Bewegung, ja fast die ganze Gesellschaft, hat es sich abgewöhnt, zu überprüfen, ob die Prämissen, auf denen sie ihre Forderungen aufbaut, überhaupt noch stimmen. Sie ist denkfaul geworden. Mit der Macht kam die Arroganz. Und die ist kein guter Ratgeber für die Zukunft.

Seit einiger Zeit beobachten wir, wie der grüne Zeitgeist Risse bekommt. Die Widersprüche verschiedener ökologischer oder vermeintlich ökologischer Ziele werden sichbar. Da kämpfen Wald- und Landschaftsschützer gegen Klimaretter, die Windräder und Sonnenfarmen oder Speicherseen errichten wollen. Wir sehen, dass die Grünen Probleme haben, ihr Thema weiter hochzuhalten. Außerdem beginnen auch Teile der Gewerkschaften zu erkennen, dass aus einer Forderung, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen tatsächlich verbessert hat, durch den geschickten Lobbyismus des öko-industriellen Komplexes eine Umverteilungsmaschine von den Wenigverdienern zu den Wohlhabenden in Gang gesetzt worden ist. Und auch die NGOs, deren Verdienste nicht zu bestreiten sind, rücken für Demokratietheoretiker immer mehr in den Blickpunkt als globale Macht, die ohne Mandat und Legitimation handelt. Was bedeuten Begriffe wie »grün«, »ökologisch« oder »nachhaltig« überhaupt noch? Beliebigkeit breitet sich aus und jeder benutzt diese Chiffren wie sie ihm in den Kram passen – von der Krabbelgruppe bis zum Weltkonzern. Was hat der Windkraftinvestor mit dem Fledermausschützer gemein? An den Rändern des grünen Denkens breiten sich Heilslehren aus, die auch irgendwie »grün« daherkommen, doch mit Ökologie nichts zu tun haben, wie etwa Veganismus.

Es wird also Zeit, Bilanz zu ziehen. Blickt man auf die Anfänge, die zu dem führten, was später »grün« genannt wurde, also auf Grzimeks Appelle, Carsons Warnungen und Brandts Wahlkampf für saubere Luft, ist dieser große gesellschaftliche Paradigmenwechsel nun ein halbes Jahrhundert alt. Was haben uns diese 50 Jahre Umweltbewegung gebracht? Wo stehen wir heute?

Wir können uns gut erinnern, wie wir Grünen einmal angetreten sind. Es ging um den Schutz von Wäldern, Flüssen und Wildtieren. Karikaturisten stellten die junge grüne Partei einst klischeehaft als grünen Frosch dar. Eine Anspielung darauf, dass sogar das Leben von Lurchen für sie Bedeutung besaß. Die alten Parteien und etablierten gesellschaftlichen Institutionen fanden das lächerlich. Wie konnte man Leute ernst nehmen, denen der Erhalt eines Moores wichtiger war als der Bau einer Autobahn? Wir konnten sie ernst nehmen. Ihr Anliegen war sympathisch und ihre Kritik an der Umweltverschmutzung berechtigt. Sich für Amphibien einzusetzen, verdiente Respekt, weil es mutig und unpopulär war. Es gefiel uns, wie sich die verknöcherten Seilschaften der Altparteien über die Grünen ärgerten. Und ganz wichtig: Man konnte eine Autobahn schließlich auch um ein Moor herumbauen.

Heute reiben wir uns die Augen angesichts vertauschter Rollen: Vielen, die unter dem Dach »grün« firmieren, sind die Menschen egal, denen ein Lurch oder ein Rotmilan am Herzen liegt. Die allesamt ergrünten Parteien, die mittlerweile mächtigen Umweltverbände und die industriellen Profiteure grüner Subventionen stehen an der Spitze der Kräfte, die mit reinstem Gewissen die verbliebene Natur plattmachen.

Unser Buch beginnt mit einem Tagebuch aus unserem Öko-Alltag. Es folgt ein Kapitel zu den Fragen: Welches Naturbild und welches Menschenbild wird im grünen Denken transportiert? Dann kommt eine Bestandsaufnahme der großen ökologischen Themen (Klima, Energie, Naturschutz, Landwirtschaft), beginnend mit der Klimadebatte. Was wissen wir? Welche Prämissen haben sich etabliert und werden – oft zu Unrecht – nicht mehr hinterfragt? Danach befassen wir uns mit der gesellschaftlichen Wirkung: ein Blick auf die Gewinner des Wandels und ihren Ökolebensstil und auf die mittlerweile mächtigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Aber auch mit den Verlierern in Entwicklungsländern, die darunter leiden müssen, dass nach ihnen bessere Nahrungsmittel und effiziente Seuchenbekämpfung durch westliche Öko-Eliten zunichtegemacht werden. Der anschließende Buchteil heißt »Die alltägliche Angst« und fragt nach den Folgen der Öko-Apokalyptik auf die Wahrnehmung der Realität. Ein Kapitel über die Wurzeln grünen Denkens zeigt auf, dass diese in Deutschland so starke geistige Strömung nicht aus der politischen Linken stammt, wie allgemein angenommen, sondern ganz im Gegenteil. Und schließlich schildern wir noch, was unsere Kinder in den Schulen über Klimaerwärmung, Biolandbau und andere Umweltthemen eingetrichtert bekommen (Buchteil: Neugierig bleiben!), und warum Zweifel und eigenständiges Denken so wichtig sind.

Im Anhang finden Sie eine »Kleine Geschichte grünen Denkens«, in der wir die Umweltthemen Revue passieren lassen, die Deutschland und die Welt erschütterten und veränderten. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Literaturliste, die zum Weiterlesen anregen soll.

Wir haben keine Patentrezepte. Unsere Richtschnur ist die hartnäckige Frage: Welche Maßnahmen bringen sichtbare und messbare Verbesserungen für die menschliche Gesundheit, die Umwelt, die Tiere und Pflanzen? Und welche schaden mehr, als sie nützen? Es geht um einen besseres Leben und den sozialen Zusammenhalt. Es geht um Resultate statt Ideologie. Effektiver Umweltschutz ist nicht allein eine technische, sondern eine soziale Frage.

Wir glauben an einen pragmatischen und menschenfreundlichen Umweltschutz. Statt visionäre Endzustände zu bemühen, sollten wir lieber auf den tastenden Fortschritt setzen. Um ihn zu ermöglichen, muss der Weg in die Zukunft offen gehalten werden. Nicht Visionen zählen, sondern Zukunftsoptionen. Je mehr Möglichkeiten die Menschen haben, desto besser. Vielleicht wollen unsere Enkel die Autos abschaffen oder die Atomenergie wieder einführen. Sollen sie. Wir sollten ihre Freiheit, selbst zu entscheiden, nicht einschränken, indem wir Optionen zerstören und unumkehrbare Entscheidungen treffen.

Es geht um die Rückkehr zur Vernunft, nicht um einen ökologischen Rollback. Der wäre nicht nur falsch, sondern auch gar nicht durchsetzbar. Die Mülltrennung, das schlechte Gewissen beim Autofahren und – sei’s drum – der Wille zum Ausstieg aus der Atomenergie sind gelernt und in Deutschland gleichsam ein verbindliches Verhaltensmuster. Egal wie man im Einzelnen dazu steht, sind sie als Akt der Selbstzähmung auch eine zivilisatorische Leistung. Doch jenseits davon entsteht immer mehr kontraproduktiver und schädlicher Unsinn im Dienste eines in fernster Zukunft liegenden Großen und Ganzen. Dass der Bürger ein feines Sensorium für solche Auswüchse entwickelt hat, zeigt seine anhaltende Unwilligkeit, den sogenannten Biosprit E10 in seinen Tank zu füllen.

Die technische Intelligenz in Deutschland, die Handwerker, Facharbeiter, Landwirte und Ingenieure, durchschauen so manchen Ökozinnober, weil sie rechnen können. Und mancher, der nicht zu den Besserverdienenden gehört, blickt sorgenvoll auf seine Stromabrechnung. Andere denken im Angesicht riesiger Windparks: »Hier möchte ich nicht wohnen.« Selbst die treuesten der Treuen, die Grünen-Wähler und BUND-Mitglieder der ersten Stunde, zweifeln immer mehr am Verstand ihrer Führungskader, die sich als Lobbyisten des öko-industriellen Komplexes betätigen. All diese Bürger warten auf ein vernünftiges politisches Angebot, auf einen klugen, pragmatischen und sozial verantwortlichen Umweltschutz. Für diese Debatte wollen wir mit diesem Buch Argumente liefern.

Danksagung

Mit wertvollen Informationen und Hinweisen unterstützten uns Gideon Böss, Ellen Daniel, Thomas Deichmann, David Harnasch, Jan-Philipp Hein, Tobias Streck und Alexander Wendt. Herzlichen Dank dafür.

Maxeiners & Mierschs gut gelauntes Ökotagebuch

Grüne Überzeugungen sind mittlerweile überall in unser Alltagsleben eingesickert und beeinflussen viele unserer Handlungen. Beginnen wir unsere Bilanz des ökologischen Denkens mit einem kleinen Ökotagebuch. Wir haben es über zwei Wochen geführt, indem wir aufgeschrieben haben, was uns aufgefallen ist. Einerseits zeigt sich sehr viel Erfreuliches, denn immer mehr Menschen machen sich Gedanken über die Folgen ihres Tuns. Andererseits kommt auch eine Menge Unsinn dabei heraus. Damit verdeutlicht unser Tagebuch das Spannungsfeld, um das es in diesem Buch geht.

Montag

Aufstehen. Der Wecker zeigt sechs Uhr. Eigentlich ist es ja erst fünf Uhr. Aber wir haben Sommerzeit. Am letzten Sonntag im März wird die Uhr jeweils eine Stunde vorgestellt. Das hat man früher schon zu Kriegszeiten gemacht, um das Tageslicht für die Rüstungsproduktion besser auszunutzen. Nach der Ölkrise von 1973 wurde die Idee wieder aufgegriffen. Statt militärischen versprach man sich nun einen ökologischen Nutzen: Die Sommerzeit, die 1980 in weiten Teilen Europas eingeführt worden ist, sollte Energie sparen. Inzwischen wissen wir durch eine parlamentarische Anfrage an die Bundesregierung aus dem Jahr 2005, was dabei herauskommt: nichts.

»Im Hinblick auf den Energieverbrauch bietet die Sommerzeit keine Vorteile«, heißt es lapidar in der Antwort. Der Grund: Was am Licht gespart wird, verbraucht die Heizung zusätzlich, weil sie frühmorgens öfter eingeschaltet wird. Ein klassischer ökologischer Sockenschuss. Die Techniker nennen das auch »Racheeffekt«. Ein einfaches Beispiel für so einen Racheeffekt sind die starren, eng anliegenden Skistiefel, die die Zahl der Knöchel und Schienbeinbrüche erfolgreich gesenkt haben. Allerdings mit einem kleinen Nachteil: Der Fortschritt geht nun auf Kosten des vorderen Kreuzbandes im Kniegelenk. Übrigens ereignen sich am Montag nach der Umstellung der Uhren im Frühjahr mehr Verkehrsunfälle als an jedem anderen Tag im Jahr. Viele Menschen sind anfangs morgens müde und abends finden sie keinen Schlaf. Dennoch wird die Sommerzeit uns höchstwahrscheinlich noch viele Jahre erhalten bleiben. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass behördlich veranlassten Maßnahmen in der Regel ein ewiges Leben beschieden ist, auch wenn sich ihre Unwirksamkeit herausstellt. Das Abschaffen der Sommerzeit wäre wohl komplizierter als das Beibehalten, es müssten sich nämlich alle EU-Staaten darauf einigen. Immerhin hat die Umstellung inzwischen einen gewissen folkloristischen Wert, besonders im Herbst, wenn uns eine Stunde »geschenkt« wird. Vermutlich würde uns ohne Sommerzeit auch etwas fehlen.

Dienstag

Der Gepäckkorb des Fahrrads ist voll Müll. Viele Städte verknappen das Angebot an öffentlichen Abfallkörben aus pädagogischen Gründen. München beispielsweise ließ vor einigen Jahren Hunderte kommunaler Müllgefäße abmontieren. Daraufhin suchte sich der Müll andere Wege. Siehe Racheeffekt. Das freut zumindest die Tierwelt. Machten sich früher die Spatzen über den Pferdedung her, so ernähren sich heute tagsüber Tauben und Krähen, nachts die Ratten von Döner- und Hamburgerresten. Geschickt öffnen sie Plastikbehältnisse und Alufolien.

Fahrt zum Bahnhof, Zugtickets kaufen. Auf dem Vorplatz stehen die Fahrräder der Pendler in wilden Knäueln und sind an Zäunen und Laternen verkettet. Das Fahrrad hat in Deutschland eine beispiellose Karriere hingelegt. Wer cool, jung und schick ist, fährt Fahrrad. Und wer es nicht ist, auch. Also beispielsweise wir beide. Der Fahrradboom ist eine ökologische Revolution von unten – ganz ohne staatliche Bevormundung. Derzeit gibt es in Deutschland etwa 70 Millionen Fahrräder. In vier von fünf aller Haushalte ist mindestens ein Fahrrad, häufig sind sogar mehrere Fahrräder vorhanden. Laut der Studie »Mobilität in Deutschland« hat die Anzahl und Länge der mit dem Fahrrad zurückgelegten Wege enorm zugenommen, lediglich der öffentliche Nahverkehr hat bei der Anzahl der Wege noch mehr zugelegt. Deutschland, allgemein als Autonation verortet, ist heimlich, still und leise zu einer großen Fahrradnation herangewachsen.

Mittwoch

Müslifrühstück. Unsere persönliche ökologische Wende in den Frühstücksgewohnheiten begann irgendwann in den Achtzigerjahren. Das Müsli hatte aus der Schweiz kommend zunächst die Landkommunen erobert und gehörte bald zum Lebensstil der sogenannten »Alternativbewegung«. Heute wird es wie selbstverständlich im Ritz und im Adlon serviert. »Müsli« war ja auch eine Zeit lang ein Schimpfwort für alternativ lebende Menschen. Auf Wikipedia fanden wir gar ein Standardwerk »Die Moral auf dem Teller«, das die geistige Unterfütterung für den Müslikult so beschreibt: »Dargestellt an Leben und Werk von Max Bircher-Benner und John Harvey Kellogg, zwei Pionieren der modernen Ernährung in der Tradition der moralischen Physiologie, mit Hinweisen auf die Grammatik des Essens und die Bedeutung von Bircher-Mueslis und Cornflakes. Aufstieg und Fall des patriarchalen Fleischhungers und die Verführung der Pflanzenkost.«

Die Ernährungsreformer haben den Marsch durch die gastronomischen Institutionen und in die Supermarktregale erfolgreich abgeschlossen. Das Schöne am Müsli ist: Man kann es auch ohne ideologischen Überbau genießen, und wir tun es.

Ein leicht schlechtes Gewissen kommt dennoch auf, denn die Milch für den Kaffee steht in praktischen kleinen Einwegdöschen auf dem Tisch. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt hat diesen Dingern sogar eine Morgenandacht im Deutschlandfunk gewidmet: »Muss das wirklich sein? … Ist das kleine Plastikmilchbehältnis nicht auch ein Symbol dafür, wie unbedarft wir oftmals mit Rohstoffen umgehen?«, fragt sie und predigt weiter: »… wenn aus einem kleinen Symbol großer Ernst wird: Ölpest, Atomkatastrophe und Klimawandel.« Die Kirchenglocken in Deutschland mögen verstummen, die Morgenmesse wird uns erhalten bleiben. Katrin Göring-Eckardt: »Auch das Kleine – und wenn es nur das verrückte Milchdöschen ist – ist nicht gleichgültig, wenn es um das Große, um die gesamte Schöpfung geht. Die kleinen Umweltsünden zu ignorieren, sie sozusagen einfach zu begraben, ist keine Lösung.«

Als wir Kinder waren, galten Dosen übrigens noch als echte Errungenschaft. Was sie prinzipiell auch noch sind: Ohne Kühlung werden darin Lebensmittel jahrelang konserviert. Außerdem lassen sie sich prima recyceln. Die Ökobilanz von Dosen muss nicht schlechter sein als die anderer Verpackungen, das Nähere regelt wie immer der Einzelfall. Wir erinnern uns an ein schwer despektierliches Titelbild des Satiremagazins »Titanic«. Es zeigte ein blechernes Kruzifix mit der Titelzeile: »Ich war eine Dose«. Worauf nicht die Kirche, sondern die deutsche Weißblechindustrie das Blatt verklagte. Das war allerdings 20 Jahre vor Katrin Göring-Eckardt.

Donnerstag

Einkauf in einer Filiale von Aldi-Süd. Die Bioprodukte haben die Aldi-Regale schon vor vielen Jahren erobert, und jetzt gibt’s sogar Fairtrade-Waren: »Fairer Handel zum Wohle aller«. Nicht schlecht, wer bei Aldi ganz vorne im Regal steht, der ist wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das gilt nicht nur für das sensorische, sondern auch für das mentale: »Auch wir von Aldi-Süd übernehmen Verantwortung und engagieren uns dafür, dass sich die Situation der Kleinbauern und Arbeiter in den ärmeren Ländern der Südhalbkugel dauerhaft positiv verändert.«

Doch leider gibt es auch auf diesem Feld Racheeffekte. Denn Fairtrade ist gut gemeint, tatsächlich aber ist es eher dazu angetan, die schlechte Lage armer Landarbeiter zu zementieren, statt sie zu verbessern. Diese Erkenntnis verdanken wir nicht etwa einem neoliberalen Thinktank, sondern der in London ansässigen »School of Oriental and African Studies«, die traditionell zu einer sozial orientierten Weltsicht tendiert. Die Wissenschaftler untersuchten die Situation von Landarbeitern in Äthiopien und Uganda. Ergebnis: In Gebieten mit konventionellen Betrieben verdienen die Menschen, die ganz unten sind, deutlich besser als dort, wo Fairtrade-Organisationen vorherrschen.

Was ist da los? Zunächst einmal kann Fairtrade die ökonomischen Gesetze nicht aushebeln. Man unterstützt aus ideologischen Gründen vor allem kleine Betriebe mit wenig Maschinen und viel Handarbeit. Doch die sind schlicht unproduktiver als Konkurrenten mit besserer Technik. Die Großen erzielen höhere Gewinne – und zahlen ihren Landarbeitern oft bessere Löhne – ganz ohne altruistische Motive. Obendrein neigen Fairtrade-Betriebe dazu, die Qualität ihrer Produkte zu vernachlässigen, weil der Sozialbonus sie vom Konkurrenzdruck befreit.

Arme Landarbeiter sind in modernen Betrieben produktiver und können deshalb – zumindest potenziell – besser entlohnt werden. Und wem nutzt der Fairtrade-Obolus unter diesen Umständen am meisten? Zunächst natürlich unserem guten Gewissen. Und dann den Helfern aus den Industrieländern, die westliche Mittelklasselöhne erhalten, um Fairtrade zu organisieren. Wer den Armen etwas Gutes tun will, spendet wohl besser direkt an entsprechende Organisationen, über deren Arbeit er sich vorher gut informiert hat.

Freitag

Fahrt nach Stuttgart im ICE. Dank Probe-Bahncard 25 ist die Fahrt »CO2-frei und klimaneutral mit 100 Prozent Ökostrom«. Doch warum fahren die anderen, die eine normale Fahrkarte besitzen, nicht klimaneutral? Wir sitzen doch im selben Zug. Wir fragen uns schon lange, wie es möglich ist, dass in Deutschland aus derselben Steckdose, aus der vorher Atomstrom kam, nach einem Wechsel zum Ökoanbieter plötzlich Windpower unsere Espressomaschine speist. Und siehe, dahinter verbirgt sich eine Welt voller gedanklicher Wunder: Man nehme ein idyllisches Flusstal, ziehe eine Staumauer aus Beton hindurch und flute die ganze Sache. Dabei kommt dann Ökostrom heraus. Auch jeder Seeadler oder Rotmilan, der von einem Großwindrad geschreddert wird, stirbt für die gute Sache. Gar nicht geschätzt wird hingegen Atomstrom. Das hat die Betreiber von Atomkraftwerken nicht ruhen lassen. So gibt es eine wunderbare Tauschbörse namens »Renewable Energy Certificate System« (RECS). Ein Windradbetreiber deklariert seinen Strom dabei als konventionellen Strom. Ein Atomkraftwerksbetreiber bezahlt ihm dafür einen Aufpreis – und darf die gleiche Menge Atomstrom umgekehrt als Ökostrom etikettieren. Salopp gesagt: Das Atomkraftwerk zahlt seinen Windkraft-Tauschpartner dafür, dass er die Vogelwelt schreddert – und endlich wird aus Atomstrom Ökostrom.

Die Fahrt führt durchs Land, kaum ein Bauer verzichtet mehr auf großflächige Solarzellen auf Scheune, Stall und Wohnhaus. Diese Stromerzeuger haben jedoch einen kleinen Nachteil: Die Feuerwehr kann sie im Brandfall nicht löschen. Sie produzieren Gleichstrom, und das nicht zu knapp – selbst kleinere Anlagen auf Einfamilienhäusern. Und das auch bei bedecktem Himmel, es braucht keine Sonne, sondern nur Licht. In der Nacht reicht sogar die Einsatzbeleuchtung der Feuerwehr, um die Stromproduktion einzuleiten. Löscht die Feuerwehr die Solaranlage mit Wasser, leitet es und setzt alles unter Strom – die Retter und die Bewohner eingeschlossen. Der Einsatz von Schaum bringt nicht viel, weil er von der Schmutz abweisenden Beschichtung abrutscht. Und die noch schlechtere Nachricht: Die Anlagen sind nicht abschaltbar. Auch die Leitung zwischen den Modulen und dem Wechselrichter steht – selbst bei gezogener Hauptsicherung – weiter unter Strom. Ein Ratgeber für Feuerwehren empfiehlt daher ein Vorgehen wie bei »Hochbrand« und »Hochspannung«. Das heiße in der Regel ein »kontrolliertes« Abbrennenlassen, denn »Stand heute gibt es keine sinnvolle Methode, um im Ernstfall eine Photovoltaikanlage auszuschalten«.

Kurz vor der Ankunft in Stuttgart passieren wir Bad Cannstatt. Die Deutsche Bahn lässt dort Gentests an Mauereidechsen durchführen, die im Bereich des geplanten Abstellbahnhofs in Stuttgart-Untertürkheim leben. Im Erbgut soll sich zeigen, ob die Echsen Ausländer sind, die eventuell Gene italienischer oder französischer Verwandter in sich tragen, welche einst als blinde Passagiere in Güterzügen ankamen. Das wäre nützlich für die Bahn, denn Bürgerinitiativen könnten den Bau nicht mit Berufung auf geschützte Eidechsen hinauszögern, geschützt sind nämlich nur die autochthonen deutschen Echsen.

Samstag

Beim Duschen im Hotel versprüht der neue Sparduschkopf nur noch einen feinen Feuchtigkeitsnebel. Und bloß nicht beim Zähneputzen den Wasserhahn laufen lassen. Längst vorbei sind die bedenkenlosen Wasserorgien der Vergangenheit. Auch die Spartaste der Toilette wäre für unsere Eltern noch eine rätselhafte Idee gewesen. Wassersparen ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, sogar unseren Kindern haben wir es eingebläut. »Ist doch toll, dass man zu zweit Spaß in der Badewanne haben kann und dabei auch noch ein gutes Gewissen«, heißt es frohgemut in Maxeiners heimatlicher Zeitung »Augsburger Allgemeine«.

Aber es gibt Probleme: Die Kanalisation funktioniert vielfach nicht mehr, weil alle versuchen, Wasser zu sparen. Während die Sparweltmeister oben zu zweit in der Badewanne sitzen, jagt das Wasserwerk unten gewaltige Mengen zusätzliches Trinkwasser ins System, damit die Rohre frei bleiben, nicht vermodern und nicht zum Himmel stinken. Wassersparen ist obendrein ein teurer Spaß: Je weniger Wasser verbraucht wird, desto höher ist die Umlage pro Liter für die Infrastruktur der Wasserwerke. Und deshalb sparen die Leute noch mehr, woraufhin der Preis des kühlen Nasses immer weiter in die Höhe schießt. Ein Teufelskreis. Wassersparen hat eine verflixte Logik: Je mehr du sparst, desto teurer wird es. Schon wieder so ein Racheeffekt.

Dazu muss man wissen: Deutschland ist eines der glücklichen Länder, die Wasser im Überfluss haben. Nur ein kleiner Bruchteil des zur Verfügung stehenden Reservoirs wird überhaupt genutzt. »Eine politisch geforderte weitere Reduzierung des Wasserverbrauchs ist nicht sinnvoll«, heißt es beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. In vielen Gegenden steigt sogar der Grundwasserspiegel, weil die deutschen Haushalte immer weniger Wasser benötigen. Hausbesitzer fürchten schon feuchte Keller. In Berlin ist der Verbrauch seit der Wiedervereinigung um etwa die Hälfte zurückgegangen und der Grundwasserspiegel um ein bis drei Meter angestiegen. Noch drastischer sind die Einsparungen bei der Industrie. Und der Clou: Die Abwässer der Industrie sind oftmals sauberer als das, was in den Produktionskreislauf hineingeflossen ist. Viele Industriebetriebe sind nebenbei Wasserreinigungsbetriebe.

Die Erfolge beim Wassersparen zeigen, in welch drastischem Maße ein Industrieland Ressourcen durch gemeinsame Anstrengungen und moderne Technik einsparen kann. Mal ganz abgesehen davon, ob dies nun beim Wasser in Deutschland sinnvoll ist. Die Argumentation, wir seien ein Vorbild, an dem sich andere orientieren könnten, stimmt beim Wasser sogar. Und es stimmt auch, dass das gesammelte Knowhow exportfähig ist. Die Technologie für die Wasserversorgung in trockenen Ländern ist für deutsche Firmen eine große Chance. Fassen wir die Verhältnisse hierzulande daher als Trainingslektion auf, beispielsweise für den nächsten Spanienurlaub. Zu den großen Agrarregionen und den Hotelkonglomeraten am Mittelmeer wird das knappe Wasser oft über Hunderte von Kilometern lange Rohrleitungen aus Flüssen und Talsperren im Landesinneren herangeschafft, wodurch es zu großen ökologischen Problemen kommt. Davon, dass die Deutschen Wasser sparen, haben die Spanier direkt aber nichts, es sei denn, die Deutschen tun es im Spanienurlaub.

Sonntag

Die Glocken der katholischen Kirche nebenan läuten. Im katholischen Bayern ist das eine weitgehend akzeptierte Gewohnheit, anderswo wird es zunehmend als Lärmbelästigung empfunden. Das Wasser ist sauberer geworden, die Luft ebenfalls, aber Lärm ist weiterhin eine Belastung, von der besonders viele Menschen betroffen sind. Dabei geht es meist um den Verkehr, etwa Startbahnen, Autobahnen oder Eisenbahntrassen, beispielsweise auf der von Güterzügen besonders geplagten Rheinstrecke. Das Dilemma liegt darin, dass alle gerne diese Einrichtungen nutzen, aber keiner nebenan wohnen will. Und da der Bürger inzwischen gut darin geschult ist, gegen lärmmachende Projekte die Gerichte zu bemühen, geht es allmählich auch dem guten alten Kirchengeläut an den Kragen. Im rheinhessischen Udenheim wurde das Landesamt für Umwelt, Wasserwirtschaft und Gewerbeaufsicht Rheinland-Pfalz in Marsch gesetzt, um die Zulässigkeit des örtlichen Kirchengeläutes zu messen. Ergebnis: Die Dezibelwerte waren unzulässig hoch. Jetzt ist ein Kulturkampf zwischen Kirchengeläut-Genervten und -Befürwortern entbrannt, der vor 25 Jahren ebenfalls noch vollkommen undenkbar gewesen wäre. Laut der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« wurden daher an den Klöppeln bereits »lärmmindernde Maßnahmen« vollzogen.

Vielleicht bringt die Zukunft eine elektronische Kirchenglocke, die nur noch bei denen läutet, die es wünschen. Für den Auto- und Flugverkehr werden wohl Hybrid- und Elektroantriebe Linderung verschaffen. Zur Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes bringt das Elektroauto rein gar nichts, wenn es mit Kohlestrom betrieben wird. In Sachen Lärm ist es aber ein echter Fortschritt. Bei der Bahn könnten gedämpfte Schienen sowie neue Räder und Bremsen den Krach vermindern. »Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest«, prophezeite Robert Koch schon im Jahre 1910, als Verbrennungsmotoren und Dampfmaschinen allmählich den Sound unserer Städte zu verändern begannen.

Montag

Alle Fenster weit auf. Stoßlüften. Seit der staatlichen Verordnung der Wärmedämmung gehört das fachmännische Lüften zu den Pflichten des Mieters. Da der frische Sauerstoff fehlt, der früher noch durch die eine oder andere Ritze in den Wohnraum gelangte, fangen die Wände sonst sofort an zu schimmeln. Schon wieder so ein Racheeffekt: Der Schimmelpilz ist der ganz große Gewinner der Energieeinsparverordnung (EnEV). Fungus-EnEV gehört zu den sich in Deutschland am prächtigsten entwickelnden Gewächsen, jeden Tag werden ihm neue Biotope errichtet.

So hat jede Zeit ihre Bausünden. Mit Grausen erinnern wir uns an die Glasbausteine, die einst zur Sanierung von Fachwerkhäusern herangezogen wurden, auf dass mehr Licht ins Innere gelange. Beinahe genauso flächendeckend verlief später die Verkleidung der Wetterseiten durch widerstandsfähige Faserzementplatten, die, da asbesthaltig, inzwischen als Sondermüll entsorgt werden müssen. Hat die Menschheit aus diesen Irrwegen etwas gelernt? Nicht doch: Inzwischen sind deutsche Hausbesitzer geradezu von einem Dämmrausch erfasst, keine noch so schöne Fassade ist vor der Verpackung in einen monströsen Schaumstoffmantel sicher. Fenster sehen aus wie Schießscharten.

Ein Volk, das mehrheitlich Plastiktüten beim Einkaufen als problematisch empfindet, hat diese jetzt als Wohnform entdeckt. Man schweißt die Altbausubstanz freiwillig in Kunststoff ein – und wundert sich, dass es feucht tropft und der Schimmel an den Wänden blüht. In den USA haben erste Bundesstaaten diese Form von Dämmung aus gesundheitlichen Gründen verboten. In Deutschland schreibt der Staat sie vor und animiert die Bauherren zusätzlich mit beinahe zinslosen Krediten zur Vollverschalung ihrer Häuser. Im Gegensatz zum beharrlichen Schimmel ist der Zeitgeist allerdings ein flüchtiges Wesen: Wer als Kreditlaufzeit 20 Jahre veranschlagt hat, wird die Platten womöglich herunterreißen, bevor sie bezahlt sind. Das ist der Sondermüll von morgen.

Auch neue Passivbauten (ein Gebäude, das aufgrund seiner Dämmung angeblich praktisch keine herkömmliche Heizung benötigt) kommen allmählich ins Gerede. In Frankfurt ist diese Bauweise für städtische Gebäude vorgeschrieben, weshalb unter anderem eine Feuerwehrwache als Passivhaus errichtet wurde. Es ergaben sich laut arbeitsmedizinischem Dienst »erhebliche gesundheitliche Belastungen des Personals«, weil die Nasenschleimhäute durch die trockene Luft angegriffen würden. Die defätistische Bemerkung wurde dann laut »Frankfurter Allgemeine« auf Betreiben der Grünen aus einem entsprechenden Magistratsbericht gestrichen.

Dienstag

Im Kaffeehaus. Auf dem Tisch hat jemand eine »Bild«-Zeitung liegen lassen. Darin Fotos einer fröhlichen Herrenrunde in einem Striplokal. Es ist der Chef des Energie-Unternehmens Prokon Carsten Rodbertus mit Geschäftspartnern, die Firma hat 1,44 Milliarden Euro von Anlegern für Windenergieprojekte eingesammelt. Laut »Bild« ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Firmengründer Carsten Rodbertus wegen Anlagebetrug und Untreue. Wie überall, wo viel Geld und staatliche Subventionen winken, treten alsbald windige Gestalten auf den Plan. Es ist im Prinzip also nichts Besonderes, dass Abzocker inzwischen auch im grünen Gewande unterwegs sind. Und doch ist es besonders peinlich. Einfach wegen des hohen moralischen Anspruchs, der von Vertretern der grünen Wirtschaftszweige so häufig bemüht wird.

Die Bösen sind doch eigentlich immer die anderen. Der Soziologieprofessor Aaron McCright von der Universität Michigan ging beispielsweise der Frage nach, wie es sein kann, dass Menschen die Realität einer künftigen Klimakatastrophe nicht erkennen. Seiner Studie gab er den charmant ironischen Titel: »Coole Typen: Klimawandelleugnung unter konservativen, männlichen Weißen in den Vereinigten Staaten«. Weiße Mittelstandsmänner, also Menschen ohne Glamour, ohne Minderheitenbonus und ohne den Adel des Besonderen, sind offenbar besonders schlimme Zeitgenossen. Wir möchten allerdings darauf hinweisen: Auch Politiker, die Klimasteuern erheben, Bauern, die ihre Subventionen jetzt für Energiepflanzen bekommen, Institutschefs, die von alarmistischen Prognosen leben, sind in der Regel männlich, weiß und Mittelmaß. Genau wie die Betonköpfe in den Industrien, die die Welt zur Klimarettung mit Windparks, Solarmodulen oder Biogasanlagen zustellen. Oder ihre Öko-Milliarden mit Stripperinnen feiern. Und wir beide sind natürlich auch langweilige, weiße Mittelstandsheinis.

Nach den krawalligen Schlagzeilen von »Bild« greifen wir zur »Zeit«, die im Zeitschriftenständer liegt. Doch auch dort stoßen wir auf einen Bericht über windige Geschäfte mit angeblich grünen Geldanlagen. ForestFinance heißt das Unternehmen des ehemaligen BUND-Geschäftsführers Harry Assenmacher. Er verspricht Anlegern Traumrenditen für Parzellen in Panama, auf denen er Bäume pflanzen lässt. 13 000 deutsche Kleinanleger haben bereits 70 Millionen Euro »ökologisch« und »fair« investiert. Leider sagen die von der »Zeit« befragten Experten, das Finanzprodukt von ForestFinance sei »maßlos überteuert, die in Aussicht gestellten Renditeziel realitätsfern«.

Mittwoch

Blick aus dem Fenster: Ein Nachbarhaus wird mit Styropor ummantelt und neuen Fenstern versehen. Während der Mensch im Klimaschutzdschungel den Überblick verliert, hat sich die Tierwelt bereits damit arrangiert. Wir verstehen beispielsweise nicht, warum wir unsere Häuser mit dicken Schaumstoff-Dämmplatten arktisch verpacken müssen. Es wird doch angeblich immer wärmer? Die Spechte aber haben es längst kapiert. Unter den cleveren Kerlchen hat sich herumgesprochen, dass man in den Schaumstoff spielend leicht Löcher hacken kann. Und darin bauen sie sich ein Nest mit zuschussfähigem Niedrigenergiestandard.

Später Müll raustragen, heute kommt die Müllabfuhr. Mittlerweile gibt’s bei uns in Bayern vier verschiedene Tonnen: Restmüll, Wertstoffe, Papier und Biotonne. Die Wertstoffe werden in der Müllverbrennungsanlage dann wieder in den Restmüll gekippt, damit er besser brennt. Das nennt sich »thermische Verwertung«. Kunststoff besteht ja überwiegend aus Erdöl. Das stört aber niemanden. Eigentlich will keiner das akribische Mülltrennen missen. Es hat sich zu einem kathartischen Alltagsritual entwickelt. Die Spülung des Joghurtbechers entspricht in gewisser Weise der biblischen Fußwaschung. Der Mensch braucht solche Rituale, sie strukturieren das Leben und fördern das Gemeinschaftsgefühl.

Außerdem ist ein wilder Konkurrenzkampf um jede Tonne Müll entbrannt. Viele Kommunen haben in der Vergangenheit Müllverbrennungsanlagen gebaut. Doch geht die Restmüllmenge zurück. Der in den Achtzigerjahren befürchtete Müllnotstand ist tatsächlich eingetreten, allerdings genau umgekehrt, wie man es damals erwartet hat: Es gibt nicht zu viel Müll, sondern zu wenig. Deshalb wird Müll jetzt nach Deutschland importiert, schwer beladene Sonderzüge karren Hundertausende von Tonnen aus dem Ausland heran. Zum Glück sind Länder wie Albanien oder Italien mit dem Müll nicht so konsequent wie wir, sonst könnten sie uns nicht mit ihrem rettenden Unrat aus der Patsche helfen.

Der gemeine Bürger erlebt wiederum einen ganz anders gearteten Müllnotstand: Mancher Müll passt weder in die eine noch die andere Tonne – aber wohin damit? Nachts mutieren brave Bürger dann zu Müllguerillas und entsorgen ihren Abfall in fremde oder – wo noch vorhanden – in öffentliche Müllbehälter. So wie jene Freundin, die nach mehreren Anrufen bei den Stadtwerken in Erfahrung brachte, dass sie sich für legale (gebührenpflichtige) Entsorgung eines kaputten Wäscheständers einen halben Tag Zeit nehmen müsse. Sie schlich sich dann nachts zu der allseits beneideten King-Size-Mülltonne in der Nachbarschaft.

Ein anderer Anwohner hat sich ein Stampfwerkzeug gebastelt, mit dem er den Müll in die Tonne presst, weil er sich als Rentner eine zweite nicht leisten kann. In Kellern und auf Speichern stapeln sich alte Fernseher und Kühlschränke, die ohne Neukauf keinem Händler aufs Auge gedrückt werden können. Legal sind solche Teufelsmaschinen nicht unter zwei Urlaubstagen plus Spesen zu entsorgen, weshalb sich die Not andere Wege sucht. Wer anlässlich einer Wohnungsrenovierung einen Schuttcontainer vor dem Haus abstellt, sollte mindestens zwei Wachleute mit Schießbefehl daneben postieren.

Donnerstag

Auf in den Elektrogroßmarkt. Der alte Staubsauger ist kaputt. Nachdem die Europäische Union klimarettende Glühbirnen und wassersparende Duschköpfe vorschreibt, gilt jetzt für Staubsauger eine Ökodesignverordnung. Die gute Nachricht zuerst: Im Gegensatz zum Glühbirnengesetz darf jedermann weiterhin den Staubsauger seiner Wahl kaufen. Es wird diesmal kein Verbot geben, sondern nur verordnete Desinformation. Jetzt wird jeder Staubsauger ab Fabrik mit einem bunten Schild verziert, auf dem der Energieverbrauch angegeben ist. Gute Idee, sollte man meinen. Doch wo die Brüsseler Schildbürger werkeln, kommt regelmäßig Murks heraus. Der Blickfang auf dem Schild ist ein großes grünes »A«. Das steht für niedrige Wattzahl. Spart also Strom, denkt der Käufer und greift zu. Böse Staubsauger mit hoher Wattzahl werden mit einem roten »G« markiert.

Doch mit Energieeffizienz hat dieses EU-Siegel leider gar nichts zu tun. Denn die gelobten Geräte mit dem grünen »A« saugen wesentlich schwächer. Wer seinen Teppich sauber kriegen will, muss bis zu viermal häufiger mit der Kehrdüse darüberstreichen. »Das ist Verbraucherirreführung per Gesetz. Ineffiziente Geräte werden mit einem EU-Label belohnt«, sagt der Ex-Europaabgeordnete der FDP Holger Krahmer. Die Saugleistung ist auf dem Aufkleber zwar ebenfalls verzeichnet, aber eher unauffällig, rechts unten in Schwarz-weiß.

Die großen Hersteller haben sich dem Unfug übrigens schnell gefügt. Bis auf die Firma Vorwerk, die sich mit besonders saugkräftigen Modellen einen Namen gemacht hat. Die gelten von nun an als böse Stromfresser. Pech für Vorwerk. Als Nächstes propagiert die EU übrigens Wasserspartoiletten. Aber auch damit verbundene Probleme lassen sich durch häufigeres Spülen leicht lösen.

Freitag

Imbiss bei McDonald’s. Der Bulettenkonzern hat die Hintergrundfarbe seines Logos vor einiger Zeit von Rot auf Grün umgefärbt. Als Nachfolger des wieder abgeschafften Gemüse-Mac offeriert der Bulettenbrater einen »Veggieburger«. Eine vegane Ergänzung der Speisekarte ist wohl nur eine Frage der Zeit. Große Konzerne, die im Geschäft bleiben wollen, wittern gesellschaftliche Erschütterungen wie Ameisen das nächste Erdbeben. Man holte sich sogar einen ehemaligen Greenpeace-Chef als Berater. Praktisch verdanken wir dem grünen Zeitgeist immerhin, dass wir auch einen Salat bekommen, weil wir gerade keinen Appetit auf einen Big Mac haben.

Samstag

Nach dem »Sportstudio« schalten wir den Fernseher gewohnheitsmäßig komplett aus, mit der kleinen Taste hinter dem Bildschirm. Keinesfalls per Fernbedienung auf Standby, das haben wir gelernt. Wenn wir dem geballten Sachverstand der von Medien zitierten Experten folgen, dann hängt das Schicksal des Planeten unmittelbar von diesem Gerät ab. Weil der Deutsche in seinem Sessel lümmelt und zu faul ist, zum Einschalten der Glotze aufzustehen, treten Flüsse über die Ufer und wüten Stürme. Ja sogar von der Atomkraft sind wir nur deshalb abhängig, weil der Fernbedienungs-Junkie zu viel Strom verbraucht.

Vor ein paar Jahren veröffentlichte die »Bild«-Zeitung ein Katastrophenpotpourri mit Hurrikans, Sintfluten und Vogelgrippe. Sie fragte den Klimaforscher Mojib Latif: »Wie können wir unsere Erde retten?« Die Antwort kam prompt: »Jeder Einzelne kann helfen, zum Beispiel den Standby-Schalter seines Fernsehers ausschalten. So könnte ein großes Kraftwerk eingespart werden.« Nur nebenbei bemerkt: Wenn das zuträfe, dann könnten wir alternativ auch auf den Bau mehrerer Tausend Windräder verzichten, ein pädagogisch nicht zu unterschätzendes Argument.

Die Sache mit dem Kraftwerk klingt im Übrigen sehr plakativ, ist rechnerisch aber nicht so richtig nachvollziehbar. Es gibt ja noch nicht einmal verlässliche Daten darüber, ob der Standyby-Modus tatsächlich genutzt wird. Angesichts hoher Strompreise dürften viele längst darauf verzichten. Tun wir auch, ist ja nur vernünftig. Allerdings: Audio- und Videoanlagen machen nur einen Teil der Geräte aus, die ständig unter Strom stehen. Es kommen Dinge wie Telefon oder Fax hinzu, die naturgemäß immer betriebsbereit sein sollen. Auch Computer haben einen wachsenden Anteil am Standby-Verbrauch. Was viele allerdings nicht wissen und was zu Recht kritisiert wird: Viele Haushaltsgeräte sind nur scheinbar ausgeschaltet, verbrauchen aber konstruktionsbedingt munter weiter Strom, solange der Stecker in der Dose steckt. Der Besitzer merkt es allenfalls auf der Stromrechnung.

Sonntag

Licht an. Der Vorrat an 100-Watt-Glühbirnen geht allmählich zu Ende. Dann bleibt nichts anderes übrig, als die neuen Energiesparlampen reinzuschrauben. Studien zufolge könnten etwa 25 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr vermieden werden, wenn sie in Haushalten und in der Dienstleistungsbranche durch Energiesparlampen ersetzt würden. So weit, so gut. Und jetzt der Racheeffekt: Die Energiesparlampen enthalten Quecksilber. Und dem hat die Europäische Kommission bis in kleinste Spuren den Kampf angesagt. Selbst quecksilberhaltige Thermometer und Messgeräte sind inzwischen weitgehend verboten, sogar Kleinsthersteller von historischen Geräten für Sammler werden ihre Produktion wohl schließen müssen. Die EU-Berichterstatterin zum Thema sagte: »Quecksilber und seine Verbindungen sind hochgiftig für Menschen, Ökosysteme und wild lebende Tiere.« Da stoßen sich die Dinge doch hart im Raume: Dieselben europäischen Institutionen, die das Quecksilber auf den Index gesetzt haben, machen seinen Einsatz jetzt zur Pflicht für jeden Haushalt. Und wir werden wohl einen Handzettel für die Entsorgung giftiger Sparbirnen im Apothekerschränkchen bereit haben müssen. Beispielsweise den des Herstellers Osram:

Bleiben Sie ruhig! Eine Leuchtstofflampe enthält nur sehr wenig Quecksilber.Wenn die Lampe in einer Leuchte zerbrochen ist, trennen Sie zuerst die Leuchte vom Stromnetz, um Stromschläge zu vermeiden.Da sich Quecksilber bodennah verbreitet, sollten Kinder den Raum gleich verlassen.Lüften Sie den Raum mindestens 15 Minuten. Wenn möglich, sorgen Sie für Luftdurchzug.Ziehen Sie Einweg- oder Haushaltshandschuhe an, so vermeiden Sie, sich an den Glasscherben zu schneiden.Nach dem Lüften sammeln Sie alle Teile der Lampe in einem dichten Behälter (z.B. Konservenglas, Kunststoffbeutel) und verschließen diesen gut.Den Behälter mit den Lampenresten sollten Sie zur nächsten Sammelstelle für Altlampen bringen. Falls Sie ihn in der Zwischenzeit lagern müssen, tun Sie dies möglichst im Freien.«

Schlafen. Endlich. Wer schläft, sündigt nicht. Der Kreislauf wird heruntergefahren und der CO2-Ausstoß unserer menschlichen Verbrennungsprozesse wird reduziert. Wer sich ökologisch korrekt verhalten will, bleibt am besten im Bett. Das wusste schon der Geheimrat Goethe: »Mein Rat ist daher, nichts zu forcieren und alle unproduktiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu verschlafen, als an solchen Tagen etwas machen zu wollen, woran man später keine Freude hat.«

Kapitel 1– Mensch und Natur

Sind wir Menschen eine Bürde für die Erde?

»I hear babies cry,

I watch them grow

They’ll learn much more,

Than I’ll ever know

And I think to myself

What a wonderful world«

Louis Armstrong

Es gibt Berufserlebnisse, die bleiben auf Dauer im Gedächtnis haften. Dazu zählt für uns eine Reportage über 100-Jährige Menschen, die wir auf verschiedenen Kontinenten besuchten. Zwei der, inzwischen verstorbenen, Alten sind uns besonders in Erinnerung geblieben. Da war zunächst einmal Elsa Büttner aus dem sächsischen Zwickau. Die rüstige Rentnerin saß zuhause auf ihrem Sofa und hatte Erinnerungen auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet. Ihr Zeugnis der »öffentlichen Handelslehranstalt« der Kaufmannschaft Zwickau lag obenauf, daneben ein Foto einer jungen Dame in einem Matrosenkostüm, die lässig hinter dem Steuer eines Horch 10/50 aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts posiert.

»Das Kostüm habe ich selbst geschneidert, der Stil war damals total modern«, erinnerte sie sich, »und mit dem Zeugnis habe ich mich bei Horch beworben.« Elsa Büttner wurde am 30. Mai 1909 geboren: »morgens um viertel vor sieben«. Die Industrie- und Bergarbeiterstadt Zwickau war damals »ein stinkendes Loch«, wie Elsa Büttner es prosaisch formuliert. Die riesigen Räder der Minentürme rotierten rund um die Uhr und senkten eine Schicht Kumpel nach der anderen in die Tiefe. Die frühen Erscheinungsformen der Industrialisierung waren von rauchenden Schloten, verschmutzter Luft und stinkenden Abwässern gekennzeichnet. Jeden Morgen steckten Tausende ihre Karten in die Stechuhren ihrer Arbeitsplätze. Die Tage, Stunden und Minuten von Ingenieuren, technischen Zeichnern, Buchhaltern, Sekretären und Telefonisten wurden von den Zeigern exakt tickender Uhren bestimmt. Die Fabrikantenvillen, heute noch eindrucksvolle Zeugnisse großen Wohlstandes, wurden von den Mietshäusern mit teilweise noch verheerenden hygienischen Zuständen kontrastiert. »Von acht Geschwistern haben nur drei die ersten Jahre überlebt«, erinnert sich Frau Büttner, »es kam damals ja kein Arzt ins Haus.«

Sie bewarb sich als junges Mädchen auf eine Anzeige im »Zwickauer Tageblatt« beim Autohersteller Horch und wurde für die Abteilung Karosseriebau eingestellt. »Es gab damals acht Tage Urlaub«, erinnert sie sich, »aber ich habe meine Arbeit immer gemocht.« Später in der Abteilung »Absatz« (heute heißt das wohl »Verkauf«) lernte sie ihren Mann kennen. Und dort entstand auch das vergilbte Foto der 18-Jährigen hinter dem Steuer des offenen Horch-Automobils. »Es war für mich damals gar nicht daran zu denken, einen Führerschein zu machen, ich habe nur für den Fotografen posiert, bei dem ich einen Stein im Brett hatte.«

»Man wechselte die Firma nicht«, erzählte sie, »ich habe erst bei Horch gearbeitet, dann wurde daraus die ›Auto-Union‹, später zu DDR-Zeiten ›Sachsenring‹.« Die Arbeitswelt und die damit verbundenen Lebensentwürfe haben sich im Laufe ihres langen Lebens gründlich geändert: »Man trat damals in ein Unternehmen ein und blieb dort bis zur Rente, heute gibt es das nicht mehr.« Und sie fügte hinzu: »Man kannte es einfach nicht anders.«

Die alte Dame, die zwei Weltkriege und zwei Diktaturen durchlebte, strahlte bei der Schilderung ihrer Sicht auf die Welt eine in sich ruhende Gelassenheit aus. Bescheidenheit paarte sich mit einer Dankbarkeit für die Fortschritte, die das Leben in ihrer Zeitspanne trotz aller Rückschläge gebracht hat. Elsa Büttner glaubt nicht, dass früher alles besser war. Sie hat erlebt, dass das Leben oft zwei Schritte voran macht und dann wieder einen zurück. Insgesamt aber haben sich die Dinge zum Besseren gewendet, in der ehemaligen DDR seit der Wende 1989 sogar ganz wörtlich. Eine Lebensspanne von 100 Jahren hilft offenbar, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, echte Katastrophen und Pseudokatastrophen zu unterscheiden und die Sinne für die wirklich entscheidenden Parameter des Lebens zu schärfen.

Das gilt auch für die Umwelt. Die von Kohleheizung und Zweitaktmotoren verseuchte Luft ist in Zwickau dank Umstiegs auf Gasheizung und moderne Autos wieder sauber. Die Mulde war bis in die Neunzigerjahre durch die Einleitung zunehmender Mengen schlecht oder nicht geklärten, teils schwermetallhaltigen Abwassers vor allem in den unteren Abschnitten so hoch belastet, dass die Fischfauna nahezu erloschen war, jetzt erholt sie sich langsam wieder. Die Wasserqualität der meisten Flüsse und Seen hat sich durch die Stilllegung zahlreicher industrieller Anlagen nach der Wiedervereinigung Deutschlands erheblich verbessert.

Was es bis heute gibt, stand in Elsa Büttners Küche: Es ist das Spülmittel »fit« aus Zittau, mit dem angeblich auch Angela Merkel nach wie vor ihre Tassen und Gläser abwäscht. Während der Klassiker mit den drei kleinen Buchstaben früher einfach nur eine Plastikflasche mit grüner Seifenlauge drin war, ist es heute ein Ökovorzeigeprodukt mit umweltfreundlichen Aufdrucken. So erfährt man, dass es auf Basis nachwachsender Rohstoffe hergestellt wird. Außerdem trägt es das »Europäische Umweltzeichen« – eine Art Pusteblume mit Sternenkreis und Eurozeichen in der Mitte.

Nun könnte man argumentieren, die positive Einstellung der alten Dame zum Fortgang der Welt liege möglicherweise im deutschen Wohlstands- und Sozialstaat begründet. Doch eine ähnliche Haltung zeigt sich auch bei Menschen, die noch auf diese Segnungen der westlichen Industrieländer hinarbeiten. Kundar Diwan beispielsweise, ein 100-Jähriger, den wir im indischen Mumbai besuchten, strahlte eine ähnliche neugierige Menschenfreundlichkeit aus wie Elsa Büttner. Daran änderte auch nichts, dass Teile von Mumbai heute so aussehen wie Zwickau vor 100 Jahren.

Der alte Mann empfing uns im Kreise seiner Kinder und Enkelkinder. Das kleine Wohnzimmer im vierten Stock der Mietskaserne war brechend voll, und Kundar Diwan fühlte sich sichtlich wohl. Er trug einen traditionellen weißen Leinenanzug und blickte uns durch seine dicken Brillengläser neugierig an. Die Deckenlampe flackerte auf und alle waren erleichtert, weil der ausgefallene Strom wieder da war. »Manche Dinge ändern sich nur langsam«, erläuterte sein Sohn, und der Vater lächelte dazu.

Die Familie war mächtig stolz auf den weisen Mann in ihrer Mitte. Auf einem Tisch vor dem Fenster hatten sie sein Lebenswerk ausgelegt. In 40 Büchern, darunter solche mit 1000 Seiten Umfang, sowie in unzähligen Zeitungsartikeln hat er sich mit den verschiedenen Weltreligionen und ihrer Bedeutung für die Menschen beschäftigt. »Ist die Welt in den vergangenen 100 Jahren nun besser oder schlechter geworden?«, wollten wir von ihm wissen. Das war aber keine Kategorie, in der unser Interviewpartner dachte. »Die Welt ist ein Zyklus ohne Anfang und Ende, immerwährende Gleichzeitigkeit von hier und jetzt«, sagte er freundlich, ohne direkt auf unsere Frage einzugehen. Und dies, obwohl er viel dazu beigetragen hat, Indien zu einem besseren Ort zu machen.

Als Kundar Diwan geboren wurde, hatte ein gewisser Mahatma Gandhi gerade das Buch »Hind Swaraj« (»Indische Selbstverwaltung«) verfasst, in dem er eine Strategie zur Beseitigung der britischen Kolonialherrschaft über seine Heimat ausarbeitete. Das britische Joch könne nur durch Verweigerung der Zusammenarbeit abgeschüttelt werden. Wie sollten einhunderttausend Briten ein Land von damals 300 Millionen Indern beherrschen, wenn diese einfach die Zusammenarbeit verweigern? Schon mit zehn Jahren trat Kundar Diwan in den Aschram von Wardha ein, wo er, wie viele andere spätere Freiheitskämpfer, mit Gandhi und seinen Lehren in Kontakt kam. Die Jahre mit Gandhi zählen zu den glücklichsten in seinem Leben, und der gewaltlose Freiheitskampf wurde sein zentraler Lebensinhalt.

Als Herausgeber der Zeitschriften »Dharmachakra« und »Sevak« half er, die junge indische Elite für Gandhis Ideen zu gewinnen. Gandhis Konzept »Satyagraha«, das beharrliche Festhalten an der Wahrheit, beinhalte neben »Ahimsa«, der Gewaltlosigkeit, noch weitere ethische Forderungen wie etwa »Swaraj«, was sowohl individuelle als auch politische Selbstkontrolle bedeutet. 1947 wurde das Land in die Unabhängigkeit entlassen. »Erst danach habe ich mir erlaubt zu heiraten«, erklärte Diwan freundlich. Eiserne Disziplin gegen sich selbst, Aufstehen um vier Uhr im Morgengrauen, strikter Vegetarismus und Anspruchslosigkeit prägten seinen Alltag. Kundar Diwan war sein Leben lang dem Menschen zugewandt – und diese Einstellung half ihm, die Welt ein bisschen besser zu machen.

Der fromme Hindu Kundar Diwan unterscheidet nicht zwischen Mensch und Umwelt, sondern sieht beide als Teil des Universums. Für ihn ist nicht nur das Leben heilig, sondern jedes Lebewesen. Wie die meisten gläubigen Hindus geht er davon aus, dass Leben und Tod ein sich ständig wiederholender Kreislauf sind, und glaubt an eine Reinkarnation. Wir müssen oft an diesen philanthropischen 100-Jährigen aus Mumbai denken, wenn Menschen, die die Welt retten wollen, den Menschen als Spezies verachten.

So kursiert in umweltbewegten Kreisen bisweilen folgender »Ökowitz«: »Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Sagt der eine: ›Du siehst aber schlecht aus. Fehlt dir was?‹ Sagt der Zweite: ›Ach, mir geht’s gar nicht gut. Ich habe Homo sapiens.‹ Tröstet ihn der andere: ›Mach dir keine Sorgen, das geht schnell vorbei.‹« Bei einer Podiumsdiskussion zu ökologischen Problemen ist es meist nur eine Frage der Zeit, bis im Publikum jemand aufsteht und sagt: »Was Sie vorschlagen, ist doch alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass sich die Menschen nicht weiter vermehren!«

Wir sind manchmal regelrecht erschrocken über die Radikalität, mit der solche Ansichten vertreten werden. Auf einem Blog der Wochenzeitung »Die Zeit« schrieb ein Leser: »Wir haben die Wahl zwischen harten, aber humanen Geburtenstopp-Maßnahmen, die das Übel an der Wurzel packen – und unserem selbstverschuldeten elenden Dahinsiechen.« In den Kommentarspalten von »Spiegel Online« verirrte sich ein anderer bei seiner Zuschrift zum Thema Walfang gar in diese Aussage: »Menschen sind widerliche Parasiten. Eine Krankheit, von der die Erde hoffentlich bald geheilt wird. Wo man auch hinschaut, nur kaputtmachende, Leid verbreitende Fleischhaufen. Wir Menschen gehören ausgerottet.«

Der amerikanische Autor Alan Weisman hat den Gedanken an einen Planeten ohne Menschen in einem Bestseller zu Ende gedacht: »Die Welt ohne uns – Reise über eine unbevölkerte Erde«. Noch interessanter als das Buch selbst war die Rezeption dieses »Gedankenexperiments«: Für den Rezensenten der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« war es »ein unerhörter Zukunftsentwurf der Generation Klimaschock«, für Reiner Klingholz, Geschäftsführer des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, »eine Generalabrechnung mit unseren ökologischen Schandtaten«. Solche Aussagen haben eine Tradition. Alexander King, einer der Gründer des Club of Romeund Initiator der Studie »Die Grenzen des Wachstums«, meinte einst zum Thema der Malariabekämpfung: »Mein Problem ist, dass es die Überbevölkerung verstärkt.« Der Verhaltensforscher und Umweltaktivist Konrad Lorenz bekannte in einem seiner letzten Interviews: »Gegen Überbevölkerung hat die Menschheit nichts Vernünftiges unternommen. Man könnte daher eine gewisse Sympathie für Aids bekommen.« Und er fügte hinzu: »Es zeigt sich, dass die ethischen Menschen nicht so viele Kinder haben und sich die Gangster unbegrenzt und sorglos weiter vermehren.«

Der Biologe Paul R. Ehrlich veröffentlichte 1968 sein berühmtes Buch mit dem Titel »The Population Bomb« (»Die Bevölkerungsbombe«), dessen Geist heute noch weht. Das Titelbild zeigt eine Bombe mit Zündschnur kurz vor der Explosion. Ehrlich beklagte darin die rasante Zunahme der Kinderzahl und sagte voraus, dass die Hälfte der Menschheit verhungern werde. Die Wissenschaftshistorikerin Sabine Höhler nennt Ehrlichs Publikation ein Beispiel für die »Radikalität des Umwelt- und Bevölkerungsdiskurses der 1960er- und 1970er-Jahre«. Ehrlich stellt das Bevölkerungswachstum als eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe dar, seine Vorschläge zur Abwendung sind schlicht menschenverachtend (hier ist der Ausdruck tatsächlich einmal angebracht).

Ehrlich verlangte, die Familienplanung als erfolglose, individualistische Form der Geburtenkontrolle durch eine übergreifende Bevölkerungskontrolle abzulösen. So sollte sich die Zahl der Menschen nach einem kontrollierten Massensterben (»die-back«) bei etwa zwei Milliarden einpendeln: »Kennzeichnend für die damalige Bevölkerungsdebatte ist es, dass Ehrlich Geburtenraten ausschließlich nach verursachten gesellschaftlichen Kosten bewertete«, schreibt Sabine Höhler dazu, »Familien mit mehr als zwei Kindern bezichtigte er der Verantwortungslosigkeit«. Sie hätten ihre finanziellen Belastungen künftig selbst zu tragen, etwa durch »Luxussteuern« für Babyausstattungen. »Nötigung? Vielleicht, aber zum Wohle der Genötigten«, rechtfertigte Ehrlich seine Vorschläge, schließlich gehe es um das schiere »Überleben« der Menschheit auf einem begrenzten Globus.

Wer nun glaubt, dass solche totalitären Zukunftsfantasien heutzutage zu einem gesellschaftlichen und medialen Aufschrei führen würden, täuscht sich. Unter einem anderen Etikett feiert Paul R. Ehrlich Auferstehung. Das mag ein Aufsatz verdeutlichen, den die Wissenschaftszeitschrift »Climatic Change« veröffentlichte. Jedes Baby, so die Forscher, werde Treibhausgase produzieren und damit zum Klimawandel und in der Folge zur Schädigung der Gesellschaft beitragen. Für Industrieländer taxieren sie die Kosten eines kleinen Klimaschädlings auf 28 200 Dollar, in einem Entwicklungsland auf 4400 Dollar. Galt es in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts als ausgemacht, dass die Welt so viele Menschen niemals ernähren könne, so wird heute mit der gleichen Überzeugung argumentiert, die große Zahl der Menschen und ihr Ressourcenverbrauch würden das Klima ruinieren und den Planeten unbewohnbar machen.

Zum Glück sind die aufstrebenden asiatischen Länder längst selbstbewusst genug, um sich nicht mehr verrückt machen zu lassen. Statt in Hunger und Depression zu verfallen, entschlossen sich die bitterarmen asiatischen Länder in den Siebzigerjahren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Sie legten eine beispiellose Erfolgsgeschichte hin. Indien zählt heute über eine Milliarde Menschen und kann sie auch ernähren, China ebenfalls. Seit den Siebzigerjahren haben diese Länder keine großen Hungersnöte mehr heimgesucht, weil die landwirtschaftliche Produktivität viel schneller wuchs als die Bevölkerung. Eine Ausnahme von der asiatischen Erfolgsgeschichte bildet lediglich Nordkorea, dessen Machthaber das Land vollkommen nach außen abgeschottet haben und eine erfolgreiche Entwicklung verhindern.

Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Bildungshunger der Menschen in Asien (und nicht nur dort). »80 Prozent der Menschen auf der Welt können lesen und schreiben«, sagt der Stockholmer Mediziner und Professor für internationale Gesundheit Hans Rosling. »In Europa glauben die Leute laut Umfragen aber, dass 60 Prozent der Menschen Analphabeten sind.« Vier Milliarden Menschen seien somit sehr viel weiter, als man sich das hierzulande vorstelle: »Viele Europäer haben einfach eine falsche Vorstellung, was im Rest der Welt vor sich geht. Sie sind schlicht ignorant.«

Seit Jahrhunderten beschäftigt die Wissenschaft sich mit der Frage: Wie viele Menschen kann der Planet Erde ernähren? Und bei der Antwort spielt bis heute der britische Geistliche und Ökonom Thomas Malthus eine große Rolle. Viele umweltbewegte und wohlmeinende Menschen argumentieren in seinem Sinne – ohne Malthus überhaupt zu kennen, geschweige denn, sich mit seinem problematischen Wirken beschäftigt zu haben. Was als fürsorglicher Vorschlag zum Umgang mit dem Planeten daherkommt, entpuppt sich bei näherer Analyse als brachialer Antihumanismus.

Zu seiner Zeit, im 18. Jahrhundert, sah Thomas Malthus sich von Armut und Hunger umgeben. Die Zahl der Slums um die großen Städte wie London und Manchester nahm erschreckend zu, die Angehörigen der Unterschicht stellten bis zu 70 Prozent der Stadtbewohner, über ein Drittel der Engländer waren unterernährt, die Verzweiflung produzierte Hungeraufstände. Malthus suchte nach den Ursachen und formulierte seine Gedanken 1798 in seinem »Essay on the Principle Population«(»Das Bevölkerungsgesetz«). Darin stellte er die herrschende Sicht, dass Bevölkerungswachstum segensreich für die Entwicklung eines Landes sei, radikal in Frage. Seine Kernthese lautete stattdessen, dass Bevölkerungszahl und Nahrungsmittelproduktion sich naturgesetzlich auseinanderbewegen. Während sich die Ernte allenfalls linear steigern lasse, vergrößere sich die Bevölkerungszahl exponentiell. Die Bevölkerung wächst Malthus zufolge in einer exponentiellen Reihe 1,2,4,8,16 und so fort, die Lebensmittelproduktion aber nur linear 1,2,3,4. Deshalb müssten viele Menschen an Hunger sterben, wenn es nicht gelinge, die Geburtenrate signifikant zu senken.

In einem ewigen Wechsel fordere die Natur ihren Tribut, die verarmten und geschwächten Menschen würden durch Hungersnöte und Seuchen dahingerafft, bis sich schließlich ein Zustand einstelle, an dem die Nahrungsmittel für die Überlebenden wieder ausreichten. Thomas Malthus hatte durchaus richtige Beobachtungen gemacht. Bevölkerungsentwicklung und Getreidepreise korrelierten in der Zeit vor der Industrialisierung auffällig, denn die beiden Größen unterlagen parallelen Schwankungen. Im 14. Jahrhundert waren beispielsweise in Deutschland sowohl das Niveau der Einwohnerzahl als auch das der Getreidepreise hoch. Dann schlug in mehreren Wellen die Pest zu und reduzierte die europäische Bevölkerung um ein Drittel, etwa 28 Millionen Menschen starben. Die Getreidepreise begannen daraufhin allmählich und lange anhaltend zu sinken. Im 16. Jahrhundert nahm die Bevölkerung dann wieder rapide zu, und auch der Preis für Getreide bewegte sich nach oben. Der Dreißigjährige Krieg mit seiner gewaltigen Opferzahl setzte dann wieder den gegenläufigen Mechanismus in Gang.

In einigen europäischen Regionen wie Brandenburg oder Pommern wurden während dieses Krieges etwa drei Viertel der Menschen getötet. Die Entvölkerung war so dramatisch, dass sogar der Wolf sich wieder vermehrte. In England, das vom mörderischen Krieg auf dem Festland verschont blieb, kam es zu einem starken Anstieg der Kindersterblichkeit, woraufhin sich die Getreidepreise ebenfalls wieder nach unten bewegten. Malthus vermutete Mechanismen, die ein Bevölkerungsgleichgewicht gewaltsam wiederherstellten, und nannte sie »positive checks« (»nachwirkende Hemmnisse«). Darüber hinaus lässt sich im vorindustriellen Europa beobachten, dass in schlechten Zeiten später und weniger geheiratet wurde – was sich wiederum in einer niedrigeren Geburtenrate widerspiegelt. Dieses Phänomen nannte Malthus »preventive checks« (»vorbeugende Hemmnisse«).

Sein Essay trug ihm schon damals viel Kritik ein. Es wurde ihm vorgeworfen, er wolle den Armen das Heiraten untersagen und begrüße den Tod durch Pest und Pocken als willkommene Entlastung für die Überlebenden. Statt auf Fortschritt durch den freien Markt (»laissez faire«) setze er auf »laissez mourir« (sterben lassen). Nahezu alle Sozialphilosophen des 19. Jahrhunderts gingen hart mit Malthus ins Gericht. Von Friedrich Engels über die Sozialreformerin Florence Nightingale bis zu Charles Dickens. Nach ihrer Ansicht rechtfertigte die Malthus’sche Doktrin schlichtweg das Nichtstun und Wegsehen gegenüber Hunger und Armut, da dies ja gewissermaßen naturgesetzliche Zustände seien. Der inhumane Grundgedanke seines Werkes, dass der Mensch selbst das Problem der Menschheit sei, fand dennoch in den privilegierten, nicht von Hunger geplagten Kreisen rasch Anklang.