Alles gut - Ralf Frisch - E-Book

Alles gut E-Book

Ralf Frisch

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Beschreibung

Am 10. Dezember 2018 jährt sich der Todestag Karl Barths zum fünfzigsten Mal. Seine Theologie gehört aber mitnichten der Vergangenheit an: Sie reicht weit über das 20. Jahrhundert hinaus. Barth wusste, dass Theologie mit den modernen Wissenschaften nicht konkurrieren kann. So setzte er an die Stelle verzweifelter Plausibilisierungsversuche in grosser Freiheit und Frechheit eine fiktionale Gegenerzählung. Diese Gegenerzählung ist zeitlos und zugleich auf der Höhe ihrer Zeit. Als Barth in seinem "Römerbrief" Theologie in expressionistische Literatur verwandelte, war er avantgardistischer als die Kulturprotestanten. Und als er anderthalb Jahrzehnte später seine "Kirchliche Dogmatik" begann, war er moderner als die literarisch Modernen. Ralf Frisch liest in seinem kühnen, glänzend geschriebenen Buch die "Kirchliche Dogmatik" als theologische Science-Fiction. Anhand der Frage nach Barths Aktualität zeigt er die wichtigsten Grund­entscheidungen von Barths Dogmatik auf und gibt so eine Einführung in seine Theologie. Nicht zuletzt macht er der evangelischen Theologie Mut zu selbstbewussten, überlebensnotwendigen Erzählungen. Wie aktuell Karl Barths Theologie ist, hat einem selten mehr eingeleuchtet als bei dieser Lektüre.

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Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ralf Frisch ∙ Alles gut

Ralf Frisch

Alles gut

Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat

Theologischer Verlag Zürich

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Schweizerischen Reforma­tionsstiftung, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Union Evangelischer Kirchen in der EKD und des Reformierten Bundes.

Der Theologische Verlag Zürich wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

UmschlaggestaltungSimone Ackermann, Zürich

Druckgapp print, Wangen im Allgäu

ISBN 978-3-290-18172-7 (Print)ISBN 978-3-290-18196-3 (E-Book: PDF)ISBN 978-3-290-18752-1 (E-Book: Epub)6. Auflage 2025© 2018 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Hersteller:TVZ Theologischer Verlag Zürich AG, Schaffhauserstr. 316, CH-8050 Zü[email protected]

Verantwortlicher in der EU gemäss GPSR:Brockhaus Kommissionsgeschäft GmbH, Kreidlerstr. 9, DE-70806 [email protected]

Weitere Informationen bezüglich Produktsicherheit finden Sie unter: www.tvz-verlag.ch/produktsicherheit

Für meine Eltern

Gerda und Lothar Frisch

»Heaven is a large and interesting place.«

FBI Special Agent Dale Cooperin der TV-Serie »Twin Peaks«

Vorwort und Dank

Ich empfinde es als große Ehre, dass der Theologische Verlag Zürich zum 50. Todestag Karl Barths und zum Auftakt des Karl-Barth-Jahres 2019 dieses Buch veröffentlicht – ziemlich genau einhundert Jahre nach dem Erscheinen von Barths erstem Römerbrief-Kommentar.

Es fühlt sich gut an, Autor eines Verlags zu sein, in dem die Gesamtausgabe der Werke des bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts erscheint. Zugleich flößt mir die Nachbarschaft der einschüchternd monumentalen Textmassen Karl Barths ein wenig Furcht ein. Ob dieses dürftige Büchlein, dessen Wurzeln bis in meine Studentenzeit reichen, dem kritischen Blick Barths standhalten würde? Ich wage es mir nicht auszumalen, weil ich vermute, dass Barth meine verwegene und durchaus einseitige Interpreta­tion seiner Theologie in der Luft zerreißen würde. Aber wer weiß. Vielleicht würde er ja auch der Frechheit meiner Deutung seines Denkens Respekt zollen und sich köstlich darüber amüsieren. Letzteres wäre das schönste Kompliment für mich. Denn es wäre das Kompliment eines Theologen, der selbst das eindrucksvollste Beispiel dafür war, dass Frechheit siegt und dass unerschütterlicher Humor ein Zeichen großer geistiger Freiheit ist.

Ich beginne dieses Buch, indem ich «Danke!» sage. Vor allen anderen danke ich Lisa Briner, der Verlagsleiterin des TVZ, die von Anfang an ihre Freude an meiner zugespitzten Barth-Interpretation hatte und mir viele inspirierende Anregungen auf dem Weg zur Endfassung gab. Ebenfalls danken möchte ich Prof. Dr. Georg Pfleiderer, der für die Veröffentlichung meines Manuskripts im TVZ nachdrücklich plädierte. Daran, dass er meinen Text überhaupt zu Gesicht bekam, ist meine Kollegin Sandra Bach nicht ganz unschuldig. Auch ihr gilt mein Dank.

Erfreulicherweise haben erhebliche Druckkostenzuschüsse eine Preisgestaltung ermöglicht, die es jenen, die nicht viel Geld für Bücher ausgeben können oder wollen, leichter macht, das Buch zu erwerben – insbesondere Studierenden. Ich danke der Schweizerischen Reformationsstiftung, der Evangelisch-Lutherischen Kir­che in Bayern, der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Union Evangelischer Kirchen in der EKD und dem Reformierten Bund für ihre äußerst großzügige Beteiligung an den Publikationskosten.

Nicht zuletzt danke ich meinem Landesbischof, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, für seine herzliche und engagierte Unterstützung auf der Zielgeraden der Veröffentlichung.

Dieses Buch ist den beiden Menschen gewidmet, ohne die ich nicht wäre, was ich bin: meinen Eltern. Ich verneige mich vor ihnen.

München, im Sommer 2018

Ralf Frisch

Vorwort zur zweiten Auflage

Dass die erste Auflage dieses Buches schon nach kurzer Zeit vergriffen war und bereits nach wenigen Monaten eine zweite Auflage erscheinen kann, freut mich sehr. Offenbar kam meine Deutung der Theologie Karl Barths zur rechten Zeit, und offenbar rührt sie an einen Nerv. Wenn die Lektüre meines Buches die zeitlose Notwendigkeit von Barths großer Liebeserzählung Gottes neu ins Bewusstsein von Theologie und Kirche rücken hilft, vergrößert sich meine Freude noch. Unsere nervöse, überstrapazierte und desillusionierte Welt hat Lichtblicke der Hoffnung bitter nötig. Karl Barths Theologie ist ein solcher Lichtblick. Gott sei Dank. – A propos Dank: Viele anerkennende Rückmeldungen und Rezensionen erreichten mich aus der Schweiz und aus Deutschland. Ich bin dafür sehr dankbar. Dankbar bin ich auch für die wertvollen Korrekturhinweise meiner Berner Kollegin Prof. Dr. Magdalene L. Frettlöh. Alle von ihnen habe ich berücksichtigt, sonst aber nicht viel verändert. Es war schlicht nicht nötig. Mir gefällt das Buch noch immer – und hoffentlich auch Ihnen, die Sie es erstmals zur Hand nehmen!

München, im Advent 2018

Ralf Frisch

1. EinleitungFünfzig Jahre nach Karl Barth

Ich sitze an einem warmen Sommerabend in einem Biergarten im Grünen und blicke um mich. Die Menschen genießen ihr Leben. Sie erzählen sich, was sie für erzählenswert halten. Sie sind guter Dinge – oder verstehen es zumindest gut, die bösen Dinge, die sie vielleicht quälen, für sich zu behalten und in diesem Augenblick keine Rolle spielen zu lassen. Sie prosten einander zu. Sie sehnen sich danach, dass alles gut wird. Und obwohl sie ahnen, dass nicht alles gut wird, geschweige denn gut ist, lassen sie Fünfe gerade und den lieben Gott einen guten Mann sein.

Welche Art von Theologie trifft den Nerv dieses Biergartenabends und den Nerv unserer Zeit? Worauf sind die sogenannten normalen, weltlichen Menschen unserer Gegenwart in religiöser Hinsicht wirklich ansprechbar? Was geht sie tatsächlich unbedingt an? Und womit lässt man sie besser in Ruhe? Warum sollten sie der Kirche, deren Turm im Hintergrund der Szenerie aus dem Dorf in den Himmel ragt, einen Besuch abstatten oder ihr gar die Treue halten? Weil sie zum Dorf und zu seiner Tradition gehört? Weil es gut ist, dass man sie im Dorf lässt? Vielleicht genügt es ja, dass sie da steht, nicht verfällt, sondern beharrlich darauf hinweist, dass es nicht nur den sogenannten Boden der Tatsachen, sondern mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Vielleicht sogar einen Gott, der ein Auge auf diese Welt hat.

Vor fünfzig Jahren, am 10. Dezember 1968, starb der Theologe Karl Barth (1886–1968) zweiundachtzigjährig in Basel. Sein Freund Eduard Thurneysen (1888–1974) war der Letzte, der zu Lebzeiten mit Karl Barth sprach. Am Abend des 9. Dezember telefonierten die beiden Theologen. Sie redeten über die Welt­lage. Und Barth sagte: »Ja, die Welt ist dunkel. Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert!«1

Ich vertrete in diesem Buch die These, dass es Karl Barths Theologie ist, die den Nerv unserer Zeit und den Nerv ihrer Menschen trifft wie keine andere Theologie davor und seither. Auch fünfzig Jahre nach Barths Tod und ziemlich genau ein Jahrhundert nach Barths Revolution der Theologie seiner Zeit ist Karl Barths Theologie aktuell – immer noch und immer wieder aufs Neue.2 Insbesondere deshalb, weil sie den Menschen mit Theologie, Kirche und Gott in Ruhe lässt und weil sie nicht das Geringste dagegen hat oder daran zu ändern sucht, dass der Mensch in Frieden und von Religion unbehelligt seiner Wege als Mensch mit Stärken und Schwächen und mit Licht- und Schattenseiten geht. Und nicht zuletzt auch deshalb, weil sie je länger, je mehr unbeirrt zur Sprache bringt, wonach sich die Menschen unserer Zeit und aller Zeiten sehnen: dass alles gut wird. Alles, so Barth, ist gut, weil Gott alles gut gemacht hat.

Viele Theologen unserer Gegenwart bestreiten allerdings nachdrücklich, dass Karl Barths Theologie bleibend aktuell ist oder ihre beste Zeit noch vor sich hat. Zwar zählt die Theologie Barths »zu den außereuropäisch am breitesten und vor allem stark kulturübergreifend rezipierten und erforschten Entwürfen des 20. Jahrhunderts«3. Im deutschsprachigen Theologieraum ist Barth jedoch derzeit eher out. Viele halten Barths Denken heute für nicht mehr vermittelbar. Dass es anschlussfähig an die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurse unserer Zeit sein könnte, gilt als ausgeschlossen. Das Einzige, was an Barths letzten überlieferten Worten jenes Dezemberabends vor fünfzig Jahren aktuell zu sein scheint, ist nicht die Überzeugung des alten Theologen, dass alles gut ist, sondern seine Einschätzung der Dunkelheit der Weltlage.

Die Sehnsucht nach Stabilität und Ordnung, nach Freiheit und Sicherheit war in der europäischen Gegenwart des »Achsenjahr[es]«4 1968, des letzten Lebensjahres von Karl Barth, ebenso ein Thema, wie sie ein halbes Jahrhundert später ein Thema ist – freilich unter ganz anderen welt- und gesellschaftspolitischen Vorzeichen. Den Bewohnern unserer Gegenwart steht innerhalb und außerhalb von Europa in ähnlicher Weise vor Augen, was Terror und irregeleitete Herrschaft in der Welt anrichten können, wie es Karl Barth seinerzeit vor Augen stand. Barth ging in zwei Weltkriegen und an mindestens zwei totalitären Regimen das Licht auf, dass nur auf eine Gestalt der Herrschaft und nur auf ein Regime wirklich Verlass ist: auf das Regiment des freien Gottes, der den Menschen aus Liebe in die Freiheit frührt. Barth wusste, was Feinde der Freiheit und was Autokraten sind. Er wusste, welches Unwesen entfesselte totalitäre Gewalt auf Erden treiben kann. Er wusste, dass die Macht der herrenlosen Gewalten5, die nie­mandem dienen und als Formen nackter Selbstdurchsetzung auf Kosten anderer nur herrschen, gewaltig ist. Aber er hatte schon früh den menschlichen, den christlichen und den theologischen Respekt vor ihnen verloren.

Die Geschichte der Theologie Karl Barths begann, als Barth um die Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges herum an der Theologie seiner theologischen Lehrer irre wurde, die den Krieg nicht nur begrüßten, sondern theologisch rechtfertigten. Viele von ihnen hatten das sogenannte »Manifest der 93«6 unterzeichnet – jenen Aufruf an die Kulturwelt, der die Vorwürfe bestritt, die die Kriegsgegner und die Alliierten gegen Deutschland erhoben. Das »Manifest der 93«, die den Krieg als Selbstverteidigung und Notwehr rechtfertigten, wurde von der »Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches«7 vom 14. November 1914 noch übertroffen. Der evangelische Theologe Reinhold Seeberg (1859–1935) hatte sie verfasst. 3000 Professoren unterschrieben. Mit ihrer Unterschrift erklärten sie den Ersten Weltkrieg zum Verteidigungskampf der deutschen Kultur, an deren Wesen die Welt genesen sollte – und sei es mit Gewalt.

Wenn man so will, war der junge Schweizer Pfarrer, der sich unter dem Eindruck dieses Sündenfalls der Generation seiner Väter in der Arbeitergemeinde Safenwil im Kanton Aargau eines Tages mit anderen Augen der Theologie zuwandte, eine Art theologischer Achtundsechziger seiner Zeit. Einer allerdings, dessen Revolution der Verhältnisse sich im Denken, anders gesagt: durch ein Andersdenken des Vertrauten ereignete – im Sinne des griechischen Wortes »metanoia«.8Denn »metanoia«heißt Umdenken.

Dieses Umdenken hatte bereits begonnen, als sich Barth in beständigem Austausch mit Eduard Thurneysen an den Versuch machte, »bei einem erneuten Erlernen des theologischen ABC noch einmal und besinnlicher als zuvor mit der Lektüre und Auslegung der Schriften des Alten und Neuen Testaments einzusetzen. Und siehe da: sie begannen zu uns zu reden – sehr anders, als wir sie in der Schule der damals ›modernen‹ Theologie reden hören zu müssen gemeint haben.«9

So wandte sich Barth im Jahr 1916 also dem Römerbrief des Apo­stels Paulus zu, um die »damals moderne« Theo­logie durch eine kritische Theorie der Moderne10 aus den Angeln zu heben, die kritischer, fundamentaler und avantgardistischer in Erscheinung trat als die Theo­logie seiner Zeit. Kulturell gesehen war Barths neue Theologie geradezu state of the art. Wie Isaac Newton (1643–1727), den angesichts eines fal­lenden Apfels im Jahr 1660 die Idee der Gravitation überwältigt haben soll, revolutionierte auch Karl Barth »un­ter einem Apfelbaum«11das Weltbild sei­ner Zunft. Gott wollte ihm auf ein­mal nicht mehr als Inbegriff der religiösen, ethischen und kulturtechnischen Fähigkeiten des Menschen erscheinen, sondern trat als Kri­tiker und Richter alles Bestehen­den, als Revolutionär von senkrecht von oben auf den Plan. In expressioni­stischem Pathos erschütterte Karl Barth die schöne Form, die wertstabilen Grundfesten, die humanen Überzeu­gungen und die kulturprotestantischen Identitätsbildungen der Theologie seiner Zeit. Barths Römerbriefkommentar, insbesondere dessen zweite, drei Jahre nach der Erstauflage von 1919 nochmals radikalisierte Fassung aus dem Jahr 192212, brachte die akademische Theologie ins Wanken. Mit diesem »Römerbrief« brach im zweiten Jahrzehnt des noch jungen Jahr­hunderts das 20. Jahrhundert in der Theologie an. Vor allem eine Erkenntnis war für den theologischen Revolutionär Karl Barth dabei leitend: Wenn sich Gott derart leicht, wie dies in der Theologie seiner Väter geschehen war, für menschli­che Zwecke und für die Überhöhung menschlicher Macht funktionalisieren und instrumentalisieren ließ, dann konnte das, was Barths theolo­gische Lehrer als »Gott« bezeichnet hatten, nicht der wahre Gott sein. Wenn eine komplette Generation theologischer Hochschullehrer imstande war, sich restlos in »geistige 42 cm Kanonen«13 zu verwandeln, wie Barth am 4. Januar 1915 in einem Brief schrieb, dann konnte es mit der kritischen Zeit­geistesge­genwart der evangelischen Theologie nicht weit her sein.

Barth wurde klar: Falls er theologisch irgendwie dagegenhalten wollte, musste er die Differenz zwischen Gott und Mensch so stark betonen wie nur möglich. »Wenn ich ein ›System‹ habe«, so Barth im Vorwort zu seinem zweiten »Römerbrief«, dann»besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den ›unendlichen qualitativen Unterschied‹ von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. ›Gott im Himmel und du auf Erden‹.«14– Mit dieser Erkenntnis kam die sogenannte dialektische Theologie zur Welt. In Wahrheit war sie eher eine negative Theologie, weil sie Gott als Negation und als Krise aller menschlichen Kultur ins Feld führte. Durch diese Strategie der Negation suchte Barths Theologie der Krise die Gottheit Gottes allen menschlichen Zugriffen und allem menschlichen Missbrauch zu entziehen. Sie stellte also eine konsequente Kritik der instrumentellen theologischen Vernunft dar.

Karl Barths Theologie war von Anfang an auch Machtkritik. Jahrzehnte nach dem »Römerbrief« brachte er diese Machtkritik in der sogenannten Erwählungslehre seiner »Kirchlichen Dogmatik« eindrucksvoll auf den Punkt: »Der Macht als Macht steht der Mensch als Mensch frei gegenüber. Er kann ihr erliegen, er kann von ihr vernichtet werden. Er ist ihr aber kei­nen Gehorsam schuldig und eben zum Gehorsam kann ihn auch die über­legenste Macht als solche nicht zwingen. Macht als Macht hat keinen göttli­chen Anspruch und wenn sie noch so imponierend, noch so wirksam wäre. Gegen die Macht als Macht sich selbst vorzubehalten, und wäre es im ei­genen Untergang, ist nicht nur des Menschen Möglichkeit, ist nicht nur die Behauptung seines Rechtes und seiner Würde, sondern die Pflicht, die er mit seiner Existenz als Mensch zu erfüllen hat […]. Prometheus hat nun einmal recht gegen Zeus.«15

Gottes Macht ist Barth zufolge die einzige Macht der Welt, die den Menschen nicht unterwirft, sondern erhebt, aufrichtet und befreit. – Dass Barth Gott als Gegen­macht gegen die totalitären Mächte der Welt zur Sprache brachte, die insbesondere im Dritten Reich ihr teuflisches Unwesen trieben, brachte ihm bizarrerweise den theologischen Vorwurf16 ein, seinerseits totalitär geworden zu sein und den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben zu haben. Allerdings trägt die Gegen­macht aller Mächte in Barths Theologie den Namen Jesus Christus, dessen wahre Göttlichkeit sich gerade in sei­nem Gang in die Fremde, also in das Elend und in die Niedrigkeit des Menschseins zeigt. Gott kann Karl Barth zu­folge daher eben gerade nicht via eminentiae als ins Absolute gesteigerte Macht theo­logisch zur Sprache gebracht werden. Dennoch legt der Vor­wurf der Barth-Kritiker einen Finger in die Wunde von Karl Barths Theolo­gie. Denn Barth unterstrich die Autorität Gottes, wo er nur konnte, und argumentierte daher in der Tat zuweilen sehr autoritär. Er wollte Recht haben, was sich an einer drolligen Begebenheit illustrieren lässt, die Barths Freund Thurn­eysen als typisch empfand und daher überliefert hat. In einem Ge­spräch be­gehrte der Theologe Gottlob Wieser (1888–1973) einmal gegen Barth auf und hielt ihm vor: »Du willst immer recht haben, Karl!« Barth ent­gegnete darauf la­chend: »Nein. Ich habe halt immer recht!«17

Weil die Theologie nicht über die Beweis- und Evidenzsicherungsverfahren der sogenannten exakten Wissenschaften verfügt, pochen theologi­sche Fundamentalisten nicht selten auf Autorität und Gehorsam. Auch Barth war davor leider nicht gefeit. An Andersdenkenden ließ er selten ein gutes Haar, weil er offenbar nur so seine Mission der Reinigung der Theo­logie und der Kirche vom Unglauben erfüllen zu können glaubte. Vom Menschen, insbe­sondere von den Leserinnen und Lesern seiner »Kirchlichen Dogmatik«, die zwi­schen 1932 und 1967 entstand, dreizehn Bände auf fast 10 000 Seiten umfasst und dennoch unvollendet blieb, forderte Barth zwar in religiöser und in ethischer Hinsicht nichts – weder Frömmigkeit noch Moral. Oder besser gesagt: fast nichts, außer eben Anerkennung und Gehorsam. Aber dass Barth ebenso wie jener politi­sche »Führer« seiner Zeit, den er zutiefst verabscheute, diesen Gehorsam forderte, macht sein Denken anfällig für jene Kritiker, die seine Theologie für autoritäre, ja totalitäre Theologie halten18, weil sie dem Menschen die Botschaft des seinem Wesen nach antiautoritären und befreienden Evan­geliums hinwirft wie einen Stein und zu diesem Men­schen sagt: »Friss, Vogel, oder ­stirb!«19

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) kämpfte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso wie Karl Barth theologisch und politisch ge­gen den menschenverachtenden Nationalsozialismus und dessen totalitäre Gewaltherrschaft. Auch Bonhoeffers Theologie artikulierte sich als Macht- und Herrschaftskritik. Deutlicher als Karl Barth stellte er allerdings Gottes Ohnmacht ins Zentrum seines Denkens. In seinen unter dem Titel »Widerstand und Ergebung« veröffentlichten Briefen aus dem Tegeler Gefängnis be­tonte Bonhoeffer, dass nur der leidende und ohnmächtige Gott helfen könne.20 In den Tagen des missglückten Attentats auf Adolf Hitler (1889–1945) am 20. Juli 1944 floh Bonhoeffer gewissermaßen unter das Kreuz Jesu Christi. Was gute Macht ist und was gute Mächte sind, erkennen wir nach Bonhoeffer nur, wenn wir auf den gekreuzigten Christus blicken. Er, der aus der Welt herausgekreuzigt wird21 und dessen Macht ganz anders ist als die Macht, die die Welt regiert, unterdrückt und zerstört, ist der Ein­zige, der es mit den Mächten der Welt wirklich aufnehmen kann.

»Es wird regiert.« – Bei Barth, der nie an der Königsherrschaft des aufer­standenen Christus zweifelte, sichtlich machtvoller und ungebrochener als bei Bonhoeffer. Und so ist es kein Wunder, dass Bonhoeffers theologische Machtkritik vielen näher ist als Barths siegesgewisse Theolo­gie – vor allem jenen, denen angesichts der Katastrophen des 20. und 21. Jahrhunderts die Kritik des theologischen Dogmas und die Kritik vollmundiger theologi­scher Metaphysik eher an der Zeit scheint als die Idee, dass Gott siegreich im Regimente sitzt und alles wohl führt.

Dass Gott mächtiger ist als alle Mächte dieser Welt und dass er ganz von oben, vom Himmel her, sein Heilswerk ver­richtet und vollendet, wurde aber nicht erst nach dem Zusammenbruch der Humanität in Verdun, Auschwitz, Dresden und Hiroshima fraglich. Seit Beginn der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist die Gottes­skepsis integraler Bestandteil des gesellschaftlichen und des wissenschaftlichen Diskurses. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und in der revolutionär elektrisierten geistigen Atmosphäre der Sechzigerjahre erfasste sie auch die Theologie zumal in Deutschland mit voller Wucht. Viele Theologinnen und Theologen begannen Theorien zu miss­trauen, die starke theologische Be­hauptungen machten und wie Karl Barth von Gottes Wirklichkeit und Gottes Macht redeten, als wäre nichts gesche­hen und als stünde eine ungebrochene Theologie der Herrlichkeit des sie­genden Jesus22 nicht in eklatantem Widerspruch zum Geist ihrer Zeit. Ande­rerseits waren es gerade die Schüler Karl Barths, die aus Barths Theologie die Legitimation einer sozialistischen Revolu­tion aller gesell­schaftlichen Verhältnisse herauslasen. In einer Kurzzusammenfassung von Karl Barths theologischem Ansatz schrieb der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) am Ende des Registerbandes der »Kirchlichen Dogmatik« im Gestus des Achtundsechzigers, Barths Theologie wolle der »Vorbereitung« von »dringend für nötig gehaltenen politi­schen Klärungen dienen. Diese sind ihr erklärtes Ziel.«23 Marquardts Habilita­tionsschrift über Karl Barth als Sozialist24 geriet zum politischen und theo­logischen Skandal. An der Kirchlichen Hochschule Berlin wurde sie mit knapper Mehrheit abgelehnt, woraufhin Helmut Gollwitzer (1908–1993), Barths ehemaliger Doktorand und Nachfolger auf dessen Bonner Lehrstuhl, seinen Lehrauftrag an der Kirchlichen Hochschule aus Protest niederlegte. Gollwitzer selbst war der Seelsorger der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof (1934–1976) und hielt die Trauerrede für sie.

Über Karl Barth, der immer Recht haben wollte und ganz genau zu wis­sen schien, wie es um Gott und seine Macht bestellt ist, kursiert ein so lie­bevoller wie entlarvender Witz. Karl Barth, Paul Tillich (1886–1965) und Ru­dolf Bultmann (1884–1976) kommen in den Himmel und haben sich vor Gott zu verantworten. Zuerst wird Rudolf Bultmann ein­gelassen, während die beiden anderen vor der Himmelspforte warten. Nach wenigen Minuten kommt Bultmann heraus, hebt Abbitte leistend die Hände und sagt: »Ich wi­derrufe alles. Wie konnte ich mich so über Gott und die Welt täuschen!« Als Zweiter tritt Paul Tillich ein. Immerhin eine Viertel­stunde nimmt sich Gott für ihn Zeit. Als Tillich gesenkten Hauptes wieder herauskommt, seufzt er klein­laut: »Ich Idiot! Was habe ich nur für einen Unsinn gedacht und geschrieben!« Schließlich darf Karl Barth vor Gott treten. Eine Stunde vergeht. Zwei Stunden vergehen. Drei Stunden vergehen. Nach sechs Stunden kommt Karl Barth entnervt heraus, schüttelt den Kopf und rauft sich die Haare: »Er versteht es nicht! Er versteht es einfach nicht!« – Wollte also Karl Barth Gott am Ende doch besser verstehen, als Gott sich selbst versteht? Und ver­strickt sich seine Theologie des ganz anderen, jeder Theologie gegenüber freien Gottes dadurch nicht in ei­nen tiefen Selbst­widerspruch?

Der romantische Dichter Novalis (1772–1801) bemerkte mehr als einhundert Jahre vor Barths theologischer Wieder­entdeckung der Theologie der Reformatoren, dass wir in einer Zeit leben, in der »der unmittelbare Ver­kehr mit dem Himmel nicht mehr statt[findet]«25. Es sieht nicht so aus, als sei diese Zeit vor­über. Und so scheint eine Theologie, die wissensgewiss und unverblümt vom Himmel kündet, der Vergangenheit anzugehören und nicht wiederbelebt werden zu können. Offenkundig führt kein Weg zurück in das Kinderland des Glaubens, in dem Menschen bereit sind, das Mär­chen vom starken und lieben Gott für wahr zu halten, das Karl Barth in den dreizehn Bänden seiner »Kirchlichen Dogmatik« erzählt. Barths Gottesstory mit Happy End ist einfach zu schön, um wahr sein zu können. Aber wenn sie nicht so wahr ist, wie natur-, human- oder kulturwissenschaftliche Weltbeschreibun­gen und theologische Reformulierungen dieser Weltbeschreibungen wahr zu sein be­anspru­chen, inwiefern ist sie dann wahr? Inwiefern ist sie überhaupt wahr? Inwiefern hielt sie Barth selbst für wahr? Und wie kann ich behaup­ten, dass Karl Barths Theologie, die auf die modernen Weltbeschreibungs- und Wahrheitsetablierungsverfahren pfeift und einfach theologisch drauf­los erzählt, heute noch und vielleicht gerade heute aktuell ist?

Damit meine These von der bleibenden Aktualität Karl Barths wirklich ihre Plausibilität entfalten kann, muss ich Barth ein wenig gegen den Strich bürsten und neu lesen. Denn ich gehe nicht davon aus, dass die einzige ge­genwartsaktuelle Pointe von Barths theologischer Kritik aller menschli­chen Verhältnisse darin besteht, Theologie als Kritik aller gesellschaftlichen und aller politischen Verhältnisse zu treiben. So sehr diese Kritik auch und gerade heute, fünfzig Jahre nach Karl Barth, nötig und sinnvoll ist, so sehr bin ich doch auch davon überzeugt, dass es in einer anderen Zeit auch andere Pointen von Barths Theo­logie geben muss.

Natürlich fragt es sich, ob es überhaupt möglich ist, Barth neu zu lesen, da ja eigentlich schon alles über Karl Barth geschrieben wurde. Wer könnte die Frechheit besitzen, mit dem Anspruch daherzukommen, noch etwas Neues über diese alt gewordene Theologie zu Tage fördern zu wollen? – Andererseits hat Karl Barth selbst wie gesagt jahrzehnte­lang vorgemacht, dass Frech­heit siegt und dass man als Theo­loge manchmal ein Draufgänger sein und das Kind mit dem Bade ausschütten muss, um sichtbar zu machen, was auf dem Grund der Dinge und auf dem Grund des Redens von Gott verborgen liegt. Und so wage ich denn in den folgenden Kapiteln den Versuch einer Relecture der Theologie Karl Barths. Ich weiß, dass sie einseitig ist. Aber weil Überspitzungen oft die interessantesten Diskussionen auslösen, ziehe ich die Überzeichnung der Weichzeichnung und die Zuspitzung der Aus­gewogenheit vor.

Ich profiliere Karl Barth in diesem Buch als ei­nen Denker, der die kulturellen Umbrüche des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts auf eine theologisch sehr eigentümliche und einzigartige Weise verarbeitet und dabei Ernst ge­macht hat mit der conditio moderna, also mit der Verfasstheit der moder­nen Welt und der modernen Welterkenntnis. Karl Barths Theologie ist mitnichten eine offenbarungstheologische Totalverweigerung ge­genüber dem Geist seiner Zeit.26 Sie verweigert sich nur gegenüber einer Theologie, die im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ihre Zeit bereits hinter sich hatte.

Ich behaupte ferner, dass Barths Theologie insbesondere als ästhetisches Ereignis von Belang ist. Ich deute den großen Denker vor allem als großen Erzähler. Mit einem Seiten­blick auf die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926–1973) und auf einen anderen großen Erzähler, den Sprachwissenschaftler John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973), werde ich zeigen, worin das besondere theologische Potenzial der erzählenden Fiktionalisierung besteht.

Diese beiden Deutungsaspekte widersprechen der nicht selten vertre­tenen These, Barth habe ge­radezu naiv einen übernatürlichen Gott voraus­gesetzt und in über­natürlicher und voraufgeklärter Weise von Gott und der Welt gere­det. Ich glaube, dass dem mitnichten so ist. Der Schein trügt. Barth war alles andere als ein Supranaturalist. Er nahm den Geist seiner Zeit auf eine höchst realistische Weise in den Blick. Weil er um die Kraft von Narrativen wusste, erzählte er eine große Gegen­geschichte zu den Narrati­ven seiner Zeit. Es ist auch eine Gegengeschichte zu den Narrativen unse­rer Zeit. Und weil das Anderssehen der eigenen Zeit um einer geistesge­genwärtigen Zeitgenossenschaft willen eigentlich immer an der Zeit ist, ist Barths Gegengeschichte auch heute an der Zeit.

Dass wir Bewohner des 21. Jahrhunderts Barths Theologie allenfalls als schöne Ge­schichte lesen können, liegt also nicht nur in der Natur des Welt­bildes unserer aufgeklärten Gegenwart, sondern auch in der Na­tur der Theologie Karl Barths selbst. Denn der große Theologe war nicht zuletzt als großer Geschichtenzerstörer27 und als großer Geschichtenerzähler groß. Seine Theologie ist ein Sprachereignis – auch und gerade im literarischen Sinn der Weltschöpfung durch das Wort.

Mein Buch entfaltet aber nicht nur die These der Modernität und der Fiktionalität der Theologie Karl Barths. Es führt auch die wichtigsten Grund­entscheidungen von Barths Dogmatik im Licht der Frage nach Barths Ak­tualität vor Augen. Was ich geschrie­ben habe, ist also in gewisser Weise auch als Einführung in die unbändige Theo­­logie Karl Barths lesbar. Auch, wenn dieses Buch nicht didaktisch aufgebaut ist, son­dern sich eher krei­send vorwärtsbewegt, sollten es Studierende ebenso lesen können wie nicht-akademische und nicht-theologische Leserinnen und Leser, die allen Unkenrufen zum Trotz ja vielleicht auch heute noch an substanzieller Theologie inter­essiert sind – und zwar an einer Theologie, die sich nicht in Religionsphä­nomeno­logie, Kulturtheorie, politischer und ethischer Bildung und auch nicht in reflexionsar­mer spiritueller Erbaulichkeit erschöpft.

Nicht, dass ich das erwarten würde: Aber vielleicht fällt dieses Buch ja sogar einem jener Menschen in die Hände, die mich eines sommerlichen Abends beim Bier auf die Idee gebracht haben, mir selbst die Frage zu stellen, wie man Theologie treiben muss, um den Intensitäten und Norma­litäten des wirklich gelebten Lebens gerecht zu werden oder diesem Leben zumin­dest nicht theologische Gewalt anzutun.

2. Radikal modernDie Unbegründbarkeit theologischer Gewissheit

Karl Barths Theologie ist radikal modern – und zwar deshalb, weil sie radikal Ernst macht mit der Unmöglichkeit, Gottes Sein und sein Wesen unter den Erkenntnisbedingungen neuzeitlicher Wissenschaft plausibilisieren zu kön­nen. Es gibt keine experimentelle, logische, mathematische, natur- oder humanwissenschaftliche Falle, die man Gott stellen könnte. Es gibt keine Versuchsanordnung, die Gott in ähnlich unzweifelhafter Weise detektieren könnte, wie man Gravitationswellen oder die Ablenkung von Sternenlicht durch die Nähe massiver Körper in der Raumzeit detektieren kann. Ich erwähne diese beiden Vor­hersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins (1879–1955) deshalb, weil dessen weltbilderschütternde physikalische Theorie nahezu zeitgleich mit Karl Barths Erschütterung der Theologie durch seine revolu­tionäre Auslegung des Briefes des Apostels Pau­lus an die Römer entstand. Exakt einhundert Jahre, nachdem Einstein vorhergesehen hatte, dass gi­gantische beschleunigte oder kollidierende Massen Wellen schlagen, die die Raumzeit verformen, als wäre sie eine Wasseroberfläche, auf die ein Stein trifft, wurde seine Vorhersage experimentell bestätigt. Davon können Kulturwissenschaftler, Philosophen und Theologen nur träumen. Übli­cher­weise dürfen sie höchstens darauf hoffen, dass ihre Gedanken nach einem Jahrhundert noch nicht gänzlich verfallen sind und dass sich Men­schen der Zukunft eines Tages nicht nur aus historischem Interesse mit ih­nen beschäftigen. Im Blick auf kulturwis­senschaftliche Prognosen und Theo­rien lässt sich allenfalls irgendwann sa­gen, dass sie sich eine Zeitlang bewahrheitet haben – wie etwa Samuel Huntingtons (1927–2008) Theorie der Konfrontation der Kulturen und Reli­gionen im 21. Jahrhundert28 – oder dass sie fehlgingen – wie etwa die These des US-amerikanischen Politikwis­senschaftlers Francis Fukuyama (*1952) vom Ende der Geschichte29 im Ka­pitalismus. Nur wenige große philosophische Denkgebäude trotzen beharr­lich der Erosion und sind von zeitloser Gültigkeit. Gehört Barths Theologie dazu? Oder blüht ihr das Schicksal, das fast alle Avantgarden durch ihr Altern irgendwann ereilt? Was Barth dachte und schrieb, könnte zu seiner Zeit an der Zeit gewesen sein und seine Zeit gehabt haben, aber nach seiner Zeit nicht mehr an der Zeit sein.

Und dennoch: Trotz aller Vergänglichkeit geistiger Theo­riebildung steht außer Zweifel, dass nicht nur Gravitationswellen und physikalische Theo­rien, sondern auch die Kul­turwissenschaften und die Theologie die Welt verformen, in der wir leben. Nur tun sie dies anders. Das heißt nicht, dass sie weniger wirkmächtig wä­ren. Theologische Weltbildverformungen sind nur eben weniger spekta­kulär, weil sie jener direkten und unmittelbaren Nachweis­barkeit entbeh­ren, die wir den mathematischen und naturwissenschaftlich-experimentel­len Wahr­heitssi­cherungsverfahren zu­sprechen. Was ins Netz der Physiker30 und Mathemati­ker geht, halten viele für wirklicher als jene Wahrheiten, die die Dichtung, der Mythos oder die Spekulation über Gott und die Welt zu Tage fördern. Was durch soziologische oder medizinische Verfahren empirisch messbar, evaluierbar und diagnostizier­bar ist, über­zeugt die meisten Menschen unmittelbarer als das, was andere glaubend für wahr halten. Was nicht durch Beweise »erhärtet« werden kann, obwohl es vielleicht in­stinktiv und intuitiv einleuchtet, ist für viele nicht wirk­lich real. Die theologische und die philosophische Spekulation muss mit dem Vorwurf der exakten Natur- und Humanwissenschaften leben, ein weiches Element zu sein, in das sich – mit dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) gesprochen – alles Beliebige einbilden lässt. Einen »harten« Beweis dafür, dass es Gott gibt und dass er so ist, wie irgendein Theologe ihn gedacht hat, muss auch die ausgeklügeltste Theologie bis in alle Ewig­keit schul­dig bleiben. Und wenn eine Falle gestellt werden könnte, in der sich Gott einfangen ließe, dann wäre jene Wirklichkeit, die in diese Falle ginge, ver­mutlich nicht Gott, sondern ein Gottessurrogat, mit dem sich aber ja viel­leicht diejenige moderne Theologie abzufinden bereit ist, die es aufgege­ben hat, von jenem Gott zu reden, der so schwer zu fas­sen ist.

Das Credo Karl Barths bestand in jedem Augenblick seiner jahrzehnte­langen theologischen Gedankenproduktion in ebendieser Überzeugung, dass kein Mensch Gott eine Falle stellen kann und dass ein Gott, der in eine solche Falle ginge, kein Gott wäre. Genau diese Erkenntnisproblematik führte Barth aber nicht dazu, die Theologie aufzugeben – im Gegenteil: Er machte es sich zur Aufgabe, dennoch von Gott zu reden. Was, wenn nicht das Wort Gottes, sollte die Aufgabe der Theologie sein? In seinem Vortrag »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie« brachte Barth im Jahr 1922 seine Erkenntnismaxime und deren Konsequenz in seinen vielleicht berühmtesten Sätzen auf den Punkt: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Kön­nen, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsre Bedrängnis. Alles Andre ist daneben Kinderspiel.«31

Karl Barth war ein reformierter Theologe. Insbesondere in der Phase seiner radikalen negativ-dialektischen Theologie hielt er sich an eines der zentralen erkenntnistheoretischen Axiome des calvinistischen refor­mierten Protestantismus:»Finitum non capax infiniti«. Das Endliche kann das Un­endliche nicht fassen. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch ist kate­gorial. Man könnte Barths Satz, der das Verhältnis von Gott und Welt grundsätzlich und ewiggültig zu beschreiben beansprucht, natürlich hin­terfragen. Woher wussten Johannes Calvin (1509–1