Alles hat seinen Preis - Inge Lempke - E-Book

Alles hat seinen Preis E-Book

Inge Lempke

4,9

Beschreibung

Als Daniel die Augen aufschlug, fühlte er sich sekundenlang wie in einem bösen Traum. Denn das konnte nicht die Wirklichkeit sein ... nicht schon wieder. Er lag in einem mittelgroßen, weiß gestrichenen Raum ohne Fenster. Was war nur passiert? Langsam und behutsam drehte er sich auf den Rücken, bohrte den Blick in die fleckige Zimmerdecke und kramte in seinem Gedächtnis: eine Straßenlaterne ... eine Wiese in der Dunkelheit .... Cherie, die ihm fast abgehauen wäre ... und dann ein Schlag durch den ganzen Körper, als hätte er in eine Steckdose gefasst (zumindest stellte er sich das so vor) - und dann nichts mehr. Das ließ ihm Tränen in die Augen schießen. Er wälzte sich wieder auf die Seite, rollte sich zusammen, hielt sich den schmerzenden Bauch und murmelte schluchzend: "Warum tust du mir das an? Warum?" Ein 13jähriger Junge verschwindet spurlos aus einer Neubausiedlung in Beuel. Die Hauptkommissare Andreas Montenar und Sascha Piel ermitteln und stellen bald fest, dass die Kindesentführung nicht das einzige Verbrechen in dieser Siedlung ist.

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Inge Lempke

Alles hat seinen Preis

Edition Lempertz

Impressum

Mathias Lempertz GmbH Hauptstr. 354 53639 Königswinter Tel.: 02223 / 900036 Fax: 02223 / 900038 [email protected] www.edition-lempertz.de © 2011 Mathias Lempertz GmbH

Kapitel 1

Irgendwo im Großraum Bonn                                                                   Mittwoch, 29. August
Als Daniel die Augen aufschlug, fühlte er sich sekundenlang wie in einem bösen Traum gefangen. Denn das konnte nicht die Wirklichkeit sein ... nicht schon wieder.
Er lag in einem mittelgroßen, weiß gestrichenen Raum ohne Fenster. Über Decken und Wände liefen weiße Rohre, von denen der Lack abblätterte. An einer Wand stand ein Regal mit einem Fernseher. Darunter Bücher und DVDs. In einer Ecke ein blauer Plastikeimer mit Deckel. Neben der groben Holztür auf dem Boden ein Tablett mit einer Flasche Cola, einem Glas und einer Schale voller Schokoladenplätzchen.
Das alles erkannte Daniel im Liegen, denn nach Aufstehen war ihm überhaupt nicht zumute. Eher nach Heulen. In seinem Magen wühlte Übelkeit, in seinem Kopf hämmerte ein dumpfer Schmerz, und sein Gehirn machte Urlaub ... irgendwie konnte er nicht denken.
Daniel war erschüttert. Was war nur passiert? Was war das letzte, an das er sich erinnerte? Langsam und behutsam drehte er sich auf den Rücken, bohrte den Blick in die fleckige Zimmerdecke und kramte in seinem Gedächtnis: eine Straßenlaterne ... eine Wiese in der Dunkelheit … Cherie, die ihm fast abgehauen wäre ... und dann ein Schlag durch den ganzen Körper, als hätte er in eine Steckdose gefasst (zumindest stellte er sich das so vor) - und dann nichts mehr.
Das ließ ihm Tränen in die Augen schießen. Er wälzte sich wieder auf die Seite, rollte sich zusammen, hielt sich den schmerzenden Bauch und murmelte schluchzend: „Warum tust du mir das an? Warum?“
                                                                    *
Bonn-Vilich                                                                            Mittwoch, 29. August     7.15 Uhr
Mareike saß am Küchentisch und schmierte Schulbrote, eins für die sportliche Laura, die noch an ihrem Nutellabrot herumkaute, eins für Tommi, der wie immer auf seinem Stuhl hin und her zappelte und wieder einmal lauthals und wasserfallartig erzählte, was er später alles werden wollte, und ein Schulbrot für Dani, der gerade nicht am Tisch saß, und um den sich Mareike allmählich Sorgen machte.
Wenn er in 15 Minuten nicht auftauchte, würde sie Oliver wecken, damit er nach seinem Sohn suchte. Auch wenn das vermutlich nicht ohne gewaltige Meckerei abginge.
Nachdem Mareike ihre beiden Jüngsten mit Brot, Saft, Äpfeln und Bananen versorgt hatte, sah sie auf die Küchenuhr: halb acht.
„Ok, ihr zwei, jetzt macht euch mal auf die Socken“, drängelte sie und stand auf. „Ich hab’ heute noch was anderes vor.“
„Wo ist Dani?“, nörgelte Laura, die sich besser mit ihrem großen Bruder verstand als Tommi, der (leider, wie Mareike manchmal dachte) mehr auf seinen streitsüchtigen Vater kam.
„Dani kommt nach. So, jetzt macht endlich voran!“
An diesem Morgen warf Mareike ihre Kinder förmlich aus dem Haus, denn ihre Angst wurde mit jeder Minute größer. Sie nahm ihr Handy mit, begleitete die beiden bis vor die Tür und winkte ihnen hinterher. Kaum, dass sie halbwegs außer Sichtweite waren, wandte sich Mareike um und marschierte in die andere Richtung, auf die kleine Wiesen- und Hügellandschaft hinter der Neubausiedlung zu.
Da es schon hell war, würde sie erst einmal alleine suchen. Oliver konnte sie immer noch wecken, falls sie Dani nicht ... nein, sie würde ihn finden! Er lief garantiert hinter dem großen Hügel herum, weil ihm wieder einer der Neumann-Köter ausgebüchst war!
Als sie auf dem gepflasterten Weg angekommen war, versuchte sie zum zehnten Mal, Dani auf seinem Handy zu erreichen. Es war ausgeschaltet. „Er ist hier irgendwo ... er muss hier irgendwo sein ...“, flüsterte sie beschwörend vor sich hin, während sie die gewundenen Wege zwischen den Wiesen entlanglief, die, verbotenerweise natürlich, gerne als Hundeklo benutzt wurden.
Sie begegnete denn auch mehreren Leuten, die betont harmlos mit ihren Viechern durch die Gegend spazierten. Einmal glaubte sie, hinter einem der noch eher mickrigen Bäume Danis blauen Anorak erkannt zu haben. Sie eilte dorthin, traf aber nur auf eine dünne, ältere Frau in blauer Jacke, die eine Zigarette im Mund und einen Pudel an der Leine hatte.
Plötzlich kam Mareike auf die Idee, die Neumanns zu fragen, ob Dani die Hunde schon abgeliefert hatte. Darauf hätte sie wirklich früher kommen können!
Fünf Minuten später stand sie vor dem Haus mit dem protzigen Reetdach, der breiten Doppelgarage und dem piekfein bepflanzten Vorgarten. Es passte ihr gar nicht, jetzt an dieser vermutlich sauteuren Tür zu klingeln, aber es ging um ihren Sohn. Also stieg sie die sauber gefegte Steintreppe hoch und drückte auf den Klingelknopf aus Messing.
Sofort hob drinnen ein vielstimmiges, hohes Gekläffe an, das von mehrmaligem „Ruhe! Aus! Hört ihr wohl auf!“ übertönt wurde, bevor schließlich ein braun gebrannter, schon sehr munterer Herr Neumann im mokkafarbenen, edel schimmernden Morgenmantel die Tür öffnete.
Für einen kurzen Moment überkam Mareike die Hoffnung, Dani säße mit den Neumanns am Frühstückstisch und hätte einfach die Zeit vergessen.
„Ach Frau Krüger“, wunderte sich Herr Neumann. „Sie wollte ich auch gleich anrufen.“
Darauf ging sie gar nicht ein. Sicher hatte sich der Mann wieder mit Oliver gestritten. „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Daniel noch bei Ihnen ist“, fragte sie schnell und nicht besonders freundlich.
Neumann guckte noch verwunderter, während in irgendeinem Zimmer die Köter weiterkläfften. „Wie kommen Sie denn darauf?! Ich wollte Sie fragen, wieso der Bengel einfach unsere Hunde an einen Baum bindet und dann abhaut!“
Mareikes Herz schien ein paar Sekunden auszusetzen, dann klopfte es aufgeregt weiter. „Nein, so was macht Daniel nicht! Er ist also nicht bei Ihnen? Und wieso sind die Hunde hier?“
„Frau Krumwedel hat sie mir vor etwa einer halben Stunde zurückgebracht. Sie ist -“
Das hörte Mareike schon nicht mehr, denn sie war bereits auf dem Weg zur Krumwedel, die gleich neben Neumanns in einem deutlich kleineren, deutlich älteren Haus wohnte. Mareike zögerte einen Moment, an ihrer Haustür zu klingeln, denn auch die Krumwedel hatte Streit mit Oliver. Dann dachte Mareike an ihren verschwundenen Sohn, überwand alle Bedenken und drückte auf die Klingel.
Die Krumwedel ließ sich Zeit. Mareike musste zwei weitere Male klingeln. Schließlich öffnete sich die Tür, und das nicht eben schmale Gesicht von Frau Krumwedel verfinsterte sich bei ihrem Anblick.
„Ja?“, fragte sie kühl.
„Entschuldigen Sie die Störung. Wissen Sie vielleicht, wo mein Sohn Daniel ist? Haben Sie ihn irgendwo gesehen?“
„Ihren Sohn? Nein, sonst hätte ich nämlich ein Wörtchen mit ihm geredet! Ich habʼ beim Joggen die vier armen Hunde gefunden, die er am Baum festgebunden hat! Das ist wirklich die Höhe! Der Junge scheint ja ganz nach seinem Vater zu kommen! War’s das?“
„Ja“, murmelte Mareike kleinlaut und hatte ein ganz übles Gefühl im Magen.
Sie eilte nach Hause, durchsuchte jedes Zimmer, ohne Daniel zu finden, trieb sich noch eine halbe Stunde zwischen den Hügeln und in den angrenzenden Straßen herum, rief Leute an und erkundigte sich schließlich noch in der Schule. Aber auch dort war Dani nicht.
                                                                    *
Bonn, Polizeipräsidium                                                           Mittwoch, 29. August     9.25 Uhr
Andreas saß am Schreibtisch und las in einer Akte über einen seit zwei Jahren ungelösten Fall.
Sascha recherchierte währenddessen im Internet. Behauptete er jedenfalls. Er machte ein unzufriedenes Gesicht, was Andreas irgendwann zu der Bemerkung veranlasste: „Ist es nicht schön, wie friedlich es im Moment in Bonn ist?“
„Oh ja. Ich langweile mich gerade zu Tode“, beschwerte sich Sascha, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
„Das hört sich an, als seien die hiesigen Mordfälle hauptsächlich dazu da, einen gewissen Herrn Piel bei Laune zu halten.“
„Quatsch!“
„Also ich langweile mich nie. Es gibt immer was zu tun ... diesen Fall hier zum Beispiel, den von dem toten Friedhofsgärtner, den haben wir immer noch nicht geklärt. Willst du nicht mal -“
„Ja, gleich“, fiel ihm Sascha ins Wort. „Ich muss noch was nachprüfen.“
„Was für einen Fall hast du denn da?“
„Einen sehr schwierigen“, murmelte Sascha und schien nicht gewillt, Andreas mehr Informationen zu geben.
Andreas wollte sich gerade wieder mit dem toten Friedhofsgärtner befassen, als es an der Tür klopfte, und eine Sekunde später Manfred den Kopf ins Zimmer steckte.
„Ihr zwei seid doch nicht voll ausgelastet - ich habʼ hier was für euch.“ Mit diesen Worten schob er einen Mann und eine Frau durch die Tür. „Das sind die Krügers. Ihr Sohn wird vermisst.“
„Seid wann?“, fragte Andreas.
„Seit ca. zwei Stunden.“
„Entschuldige mal“, empörte sich Sascha und machte einen weiteren Knopf an seinem blau gestreiften, taillierten Hemd auf, „für so was sind wir nicht zuständig!“
„Klar, weiß ich. Aber hier liegt die Sache etwas anders, hört euch die Geschichte an.“
Sprach’s und zog die Tür zu. Sascha sah Andreas an, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinem Bildschirm.
Andreas seufzte, schloss die Akte und wandte sich an die Krügers. „Kommen Sie doch bitte hier rüber.“ Er wies auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. „Dann erzählen Sie mir mal, was passiert ist.“
Die Frau, vom Gesamteindruck her ein wenig mollig, machte ein besorgtes Gesicht. Der Mann hingegen warf Andreas ein angriffslustiges „Zu gütig, dass sich endlich jemand um uns kümmert!“ an den Kopf, bevor er sich setzte.
„Nichts zu danken“, gab Andreas in mildem Ton zurück. Er kannte diesen Typ Mann: Angst und Sorge wurden bei ihm sogleich in Wut und voreilige Schuldzuweisungen umgewandelt.
Frau Krüger setzte sich ebenfalls. Das Auffälligste an ihr war ihre Nase, deren Spitze ungewöhnlich weit himmelwärts gebogen war, so dass man geradewegs in ihre runden Nasenlöcher hineingucken konnte. Sie legte ihre Handtasche auf Andreas’ Schreibtisch ab, beugte sich weit vor, riss die graugrünen, völlig ungeschminkten Augen auf, und fing an zu berichten.
„Herr Kommissar, wir sind total fertig! Das Gleiche ist vor fast zwei Wochen schon mal passiert! Genau das Gleiche! Und wir haben’s zuerst ja gar nicht gemerkt!“
„Ja, aber nur, weil uns dieses Früchtchen mal wieder angelogen hat!“, knurrte Herr Krüger dazwischen.
Andreas hakte nach. „Ihr Sohn ist also schon mal weggelaufen?“
„Weggelaufen?! Wie kommen Sie denn darauf?!“, fiel Frau Krüger aus allen Wolken. „Er ist entführt worden! Wir haben Lösegeld bezahlt!“
„Nun bitte mal langsam und der Reihe nach.“ Andreas nahm einen Stift zur Hand, und auch Sascha schien jetzt zuzuhören.
„Es war am vorletzten Freitag, da ist -“
„Moment.“ Andreas sah auf einen Kalender. „Am 17. August?“
„Ja genau. Dani - das ist unser Sohn Daniel - also der hat uns gesagt, er wolle bei seinem Freund Max übernachten und ist kurz nach acht Uhr abends aus dem Haus gegangen. Wir haben uns nichts Böses dabei gedacht, bis … also bis wir am Samstagmorgen den Brief in unserem Kasten fanden!“ Frau Krüger warf ihr dunkelbraunes, langes, welliges Haar, das mit einem Haarreif aus der Stirn gehalten wurde, zurück über die Schulter und begann, in ihrer Handtasche zu kramen. Schließlich fand sie, was sie suchte, und reichte Andreas einen weißen Umschlag in DIN-A5-Größe.
Andreas ergriff ihn mit spitzen Fingern (obwohl wahrscheinlich kaum noch brauchbare Spuren vorhanden waren) und holte den darin befindlichen, einmal gefalteten Bogen Papier mit einer Pinzette heraus. In großen, eckigen, handgeschriebenen Druckbuchstaben stand da:
WIR HABEN IHREN SOHN DANIEL. WIR WOLLEN 50.000 EURO. BESORGEN SIE DAS GELD BIS HEUTE ABEND. UND LASSEN SIE UNBEDINGT DIE POLIZEI AUS DEM SPIEL. WIR MELDEN UNS.
Andreas hatte den Text laut vorgelesen. Sascha packte einen Stuhl, setzte sich ebenfalls an Andreas’ Schreibtisch und musterte eingehend den neben ihm sitzenden Herrn Krüger.
„Sagen Sie mal, sind Sie irgendein Promi, den ich nicht kenne?“, fragte Sascha.
„Nein. Wieso?“
„Weil im Regelfall nur sehr selten Kinder von ,Normalbürgern’ entführt werden. Sind Sie denn vermögend, oder wie kamen die Entführer darauf, dass Sie so viel Geld aufbringen können?“
„Vermögend? Sehen wir etwa so aus?!“, erregte sich Krüger. „Wir haben jede Menge Schulden am Hintern!“ Er presste seine enorm schmalen, blassen Lippen aufeinander und starrte Sascha in die Augen. Es sah fast aus, als habe er keinen Mund.
„Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie diese Verbrecher auf uns gekommen sind!“, mischte sich Frau Krüger ein und fummelte mit beiden Händen am Verschluss ihrer Tasche herum. „Können Sie sich den Schock vorstellen, als wir den Brief gelesen haben? Oliver ist erst mal total ausgerastet.“
„Das würde ja wohl jeder Vater machen!“, brummte Krüger.
„Ja ... klar. Ich wollte übrigens lieber die Polizei einschalten, aber Oliver meinte, das ginge meistens schief, und er würde das schon alleine hinkriegen.“
Krüger warf seiner Frau einen verächtlichen Blick zu. „Habʼ ich ja wohl auch!“
„Ja, ja. Also, wir haben zuerst auf Danis Handy angerufen, aber das war ausgeschaltet. Dann haben wir überall rumtelefoniert, ob Dani nicht vielleicht doch bei einem Freund übernachtet hat, aber er war nicht aufzutreiben. Schließlich habe ich meine Eltern wegen dem Geld gefragt, und die hatten Gott sei Dank noch was auf der hohen Kante. Obwohl auch sie lieber die Polizei dabei gehabt hätten.“ Jetzt erhielt Herr Krüger einen vorwurfsvollen Blick.
„Ihre Eltern konnten das Geld sofort flüssig machen?“ Sascha klang überrascht. Vermutlich hatte er noch nie im Leben ein Sparkonto besessen, sondern sein ganzes Geld immer sofort in die neuesten DVDs investiert.
„Ja, konnten sie. Am Nachmittag rief dann einer der Entführer an. Olli, erzähl mal, du warst doch am Telefon.“
„Er wollte wissen, ob wir das Geld schon haben.“ Krüger klang unwirsch. „Dann wollte er, dass ich mir so leuchtende Kieselsteine kaufe.“
„Leuchtende Kieselsteine?“
„Das sind künstliche Steine, die im Dunkeln leuchten“, erklärte Krüger und fuhr mit der Hand einmal seitlich über die Haare, die sehr kurz geschnitten und alle nach oben gebürstet waren, so dass sie auf dem Kopf zu einer Art kleinem, dreieckigem Kamm zusammenstießen. 
„Die Stimme haben Sie aber nicht erkannt?“
„Nee, die klang auch irgendwie verstellt oder so. Na jedenfalls wollte der Kerl, dass ich mit den Steinen und dem Geld um 12 Uhr nachts zum Ennert fahre und dann durch den Wald laufe. Unterwegs sollte ich die Steine einzeln ablegen und am Ende drei Steine auf einmal, und da sollte ich die Tasche mit dem Geld abstellen. Natürlich habʼ ich noch ‘ne Taschenlampe mitgenommen - aber von den miesen Schweinen war nichts zu sehen!“
Krügers Gesicht rötete sich leicht, seine Hände gestikulierten. „Ich sollte dann wieder zurückgehen, mich ins Auto setzen und eine Stunde warten, und dann Dani auf seinem Handy anrufen. Habʼ ich alles gemacht. Mann, ich habʼ echt gekocht vor Wut! Ich dachte, das halt ich nicht aus!“
Krüger schaute ein paar Sekunden zur Decke und dann zum Fenster hinaus. Die Erinnerung schien ihn mitzunehmen. „Eine halbe Stunde später klingelte mein Handy. Dani war dran und redete, als ob er besoffen wär: er sei irgendwo im Wald, ihm wär kotzübel und kalt. Und da wären diese leuchtenden Steine vor ihm, und so habʼ ich ihn gefunden ... und das war’s.“
Andreas notierte sich noch Stichpunkte, als Sascha schon zur Befragung überging.
„Unserer Erfahrung nach“, hob er an und bemühte sich, besonders erfahren zu klingen, „kommen die Täter solcher Entführungen von ,Nicht-Prominenten’ mit vergleichsweise geringen Lösegeldforderungen meist aus dem direkten Umfeld. Haben Sie vielleicht Streit mit irgendwelchen Leuten?“
Eine überraschte Pause, dann lachte Frau Krüger bitter auf. „Oliver hat mit fast jedem, den er kennt, Streit.“
„Was heißt hier Streit?!“, fuhr Krüger seine Frau sofort an. „Ich lass mir doch von den Leuten nicht auf der Nase rumtanzen wie du! Ich sage meine Meinung, auch wenn das den Leuten nicht passt!“
„Gut, Herr Krüger, so kann man es auch ausdrücken“, besänftigte ihn Andreas. „Hat Ihr Sohn Ihnen denn irgendwas über seine Entführung erzählt?“
Frau Krüger ergriff wieder das Wort. „Ja, er hatte an dem Freitagmorgen eine sms gekriegt, angeblich von einem Jungen, der wusste, dass Dani unbedingt so ein blödes PC-Spiel haben wollte. Das ist aber erst ab 18, und der Junge behauptete, er könnte es ihm besorgen und sogar für den halben Preis verkaufen.“
„Wie alt ist denn Ihr Sohn?“
„Gerade 13 geworden. Also hat er sich mit diesem Jungen um 9 Uhr abends irgendwo in Pützchen verabredet, und uns hatte er ja gesagt, er wolle bei seinem Freund Max übernachten ... wovon der gar nichts wusste. In Pützchen kam dann in der Dunkelheit ein Typ um die Ecke, der hat Dani gleich mit so einem Elektroschockgerät voll erwischt. Er ist dann in einem Kellerraum aufgewacht, mit einer Art Gartenliege drin und einem Eimer mit Deckel. Sonst gab’s da nichts, oder?“
„Ein paar Flaschen Wasser“, ergänzte Herr Krüger, „aber zu essen hat er nichts gekriegt!“
„Ja, und in dem Wasser muss was drin gewesen sein, denn als er am nächsten Tag aufwachte, hatte er schlimme Kopfschmerzen, und nachmittags ist er fest eingeschlafen und erst im Wald wieder aufgewacht!“ Nun schien auch Frau Krüger empört.
„Waren Sie mit ihm beim Arzt?“
„Nein, wollte er nicht ... er sagte, er sei ok. Er ist eben doch kein Weichei!“, verkündete Krüger.
„Schade. Ein Arzt hätte vielleicht rausgefunden, womit Ihr Sohn betäubt wurde, und daraus hätten wir Rückschlüsse auf den Täter ziehen können“, meinte Andreas. „Gut, das war die erste Entführung. Und Sie glauben, Ihr Sohn ist heute Morgen ein zweites Mal entführt worden?“
„Ja, natürlich!“, rief Krüger aus. „Der Dreckskerl meint wahrscheinlich, er kann alle zwei Wochen meinen Sohn entführen und noch mehr Geld aus mir rauspressen!“
„Wo befand sich Ihr Sohn denn heute morgen, als er ,entführt’ wurde?“
„Lassen Sie sich das von meiner Frau erzählen! Ich gehe raus, eine rauchen!“ Krüger stand auf und wollte gerade gehen, als Sascha ihm nacheilte. 
„Warten Sie, hier haben Sie einen Aschenbecher, stellen Sie sich damit ans Fenster.“
Krüger kramte Zigaretten aus einer Jackentasche, zündete sich eine an und blies Rauch aus dem offenen Fenster.
Derweil holte Frau Krüger weiter aus. „Also, Dani geht jeden Morgen um Viertel nach sechs mit den Hunden von Neumanns Gassi, auf den Wiesen hinter der Siedlung. Er verdient sich damit 10 Euro die Woche. Und heute -“
„Ist das nicht Ausbeutung von Kindern?!“, ließ sich Krüger vom Fenster her vernehmen. „Bloß damit die noblen Herrschaften ihren fetten Arsch nicht so früh aus dem Bett bewegen müssen! Die haben nun wirklich genug Kohle! Die könnten auch locker 50 Euro die Woche springen lassen!“
„Sagst du nicht immer, Geld verdirbt den Charakter? Jetzt lass mich mal weiterreden!“ Und sie erzählte Sascha und Andreas von ihrem verschwundenen Sohn, von den vier an den Baum gebundenen Hunden und von Frau Krumwedel, die die Hunde beim Joggen gefunden und den Neumanns zurückgebracht hatte.
„Wissen Sie, was mich wundert?“, fragte Andreas, als sie fertig war. „Dass Sie beide nach der ersten Entführung anscheinend keine Probleme damit hatten, Daniel zu dieser Uhrzeit im Dunkeln allein durch menschenleere Wiesen laufen zu lassen.“
            „Oh nein, das stimmt so nicht!“, protestierte Frau Krüger. „Ich habʼ mir dauernd Sorgen gemacht, wenn er weg war! Aber der Junge lässt sich nicht einsperren ... und ganz ehrlich, Herr Kommissar, man geht doch davon aus, dass einem so was nur einmal im Leben passiert.“ Frau Krügers Augen wurden feucht.
Andreas zeigte Verständnis. „Ja, das kann ich nachvollziehen. Und der Junge hatte nach seinem furchtbaren Erlebnis auch keine Angst allein im dunklen Park?“
„Dani ist doch kein Feigling!“, entrüstete sich Herr Krüger am Fenster.
Andreas verkniff sich einen Kommentar zu Krügers Männerbild und schaute Frau Krüger an, die auch etwas hatte sagen wollen.
„Ich glaube ja, dass Dani die Sache ganz schnell verdrängt hat. Vielleicht auch, weil er kaum was mitbekam. Jedenfalls wollte er nach zwei Tagen überhaupt nicht mehr darüber reden.“
 Für Andreas klang das nach keiner gesunden Reaktion. Eher wie eine, die dem Vater imponieren sollte. „Herr und Frau Krüger, ich muss das jetzt noch mal fragen, denken Sie bitte ernsthaft nach: sind Sie vollkommen sicher, dass Ihr Sohn nicht einfach nur weggelaufen ist?“
„Ja!“, tönte Krüger sofort, und nach kurzem Zögern antwortete auch seine Frau: „Ja, ganz sicher.“
Andreas aber war noch nicht überzeugt. „Haben Sie denn eine zweite Lösegeldforderung erhalten?“
„Nein, bis jetzt nicht.“ Frau Krüger schaute verzweifelt. „Aber ich weiß einfach, dass er entführt wurde!“
„Also gut, gehen wir von einer zweiten Entführung aus“, meldete sich Sascha zu Wort. „Wir sehen uns gleich den möglichen Tatort an und nehmen die Spurensicherung mit, vielleicht finden die was. Haben Sie jemandem von der ersten Entführung erzählt?“
„Ich nicht!“, versicherte Herr Krüger, drückte die Zigarette aus und setzte sich wieder.
„Ich auch nicht!“, schickte Frau Krüger schnell hinterher.
„Hat vielleicht Daniel mit seinem besten Freund darüber gesprochen?“
„Woher sollen wir denn das wissen?!“ Krüger redete sich schon wieder in Rage.
„Jetzt bleiben Sie doch mal ruhig, Herr Krüger!“, verlangte Andreas streng und leicht ungnädig. „Wir übernehmen hiermit offiziell den Fall, und wir werden Ihren Sohn finden! Aber Sie müssen schon mitarbeiten, statt uns dauernd ans Bein zu pinkeln!“
Krüger schloss den Mund, den er bereits wieder geöffnet hatte, und lehnte sich stumm und demonstrativ aus dem Fenster schauend auf seinem Stuhl zurück.
„Jetzt sage ich Ihnen mal, was ich vermute: wie mein Kollege Piel schon festgestellt hat, spricht einiges für einen oder mehrere Täter aus dem sozialen Umfeld, zum Beispiel auch die Tatsache, dass der oder die Entführer die Handynummer Ihres Sohnes kannten. Er hat doch eine sms bekommen, nicht wahr? Und wie war das mit dem Lösegeldbrief? Kam der mit der Post?“
„Nein, da war keine Marke drauf“, erinnerte sich Frau Krüger. „Ich hatte .... also ehrlich gesagt ... als ich ihn aus dem Briefkasten holte, hatte ich Angst, dass es wieder eine anonyme Beschimpfung einer unserer Nachbarn ist.“
„Na sehen Sie, Frau Krüger, da sind wir doch endlich am richtigen Punkt angelangt“, freute sich Sascha und verzog seinen breiten Mund zu einem künstlichen Lächeln. „Nämlich bei der Nachbarschaft! Erzählen Sie uns doch mal was über die Leute.“
Das Reden tat Frau Krüger sichtlich gut, es lenkte sie von ihren Befürchtungen ab. „Also wir wohnen da in dem Neubaugebiet in Vilich, und die haben die Siedlung direkt an den alten Ortsteil drangebaut. Wir wohnen also hier in der einen Straße“, sie nahm die Hände zur Verdeutlichung zu Hilfe, „und in der Parallelstraße wohnen die Neumanns und die Krumwedel und so weiter, und unsere Gärten stoßen hinter unseren Häusern quasi aneinander.“ 
Sie erläuterte noch ein paar bauliche und gartentechnische Einzel- und Besonderheiten, und als sie anfing, jeden Nachbarn mit Namen, Alter, Beruf, Familienverhältnissen, finanzieller Situation und Religionszugehörigkeit aufzuzählen, zog Andreas die Notbremse.
„Ich denke, Frau Krüger, das reicht erst mal. Wir kommen gleich mit Ihnen mit und sehen uns vor Ort um. Herr Krüger, was sind Sie eigentlich von Beruf?“
„Krankenpfleger“, sagte er stolz. „In der Uni-Klinik.“
Dazu fiel Sascha sofort eine Frage ein. „Haben Sie zufällig kürzlich auch mit Kollegen oder Patienten Streit gehabt?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Und wie sieht’s mit Verwandten aus? Da ergeben sich ja auch manchmal schwere Konflikte.“
Andreas entging keineswegs der Blick, mit dem Frau Krüger ihren Ehemann bedachte. Ein böser Blick. Aber sie sagte nichts.
Krüger antwortete. „Wir haben nicht so viel Kontakt zu unseren Verwandten.“
„Aha“, meinte Andreas. „Wir schicken den Lösegeldbrief sofort zur Untersuchung und die Kollegen von der Spurensicherung zum Tatort. Sie sollen auch die Stelle der Lösegeldübergabe im Wald unter die Lupe nehmen. Frau Krüger, würden Sie noch mal versuchen, Ihren Sohn zu erreichen? Vielleicht ist er längst zu Hause.“
Sie zückte ihr Telefon und wählte mehrmals Daniels Nummer. Aber sein Handy blieb ausgeschaltet. Ihre gerade noch hoffnungsvolle Miene verdunkelte sich. Andreas fand es an der Zeit aufzubrechen. 
Unten auf dem Parkplatz stiegen die Krügers in ihren dunkelroten, nicht mehr ganz neuen Kombi und fuhren über den Kreisel auf die Königswinterer Straße, Richtung Beuel. Sascha folgte ihnen.
                                                                    *
Bonn-Beuel                                                                                                                  10.45 Uhr
Sascha hasste diese Art der Fortbewegung! Jemandem hinterherfahren! Eine Zumutung! Außer natürlich, es handelte sich um eine Verfolgungsjagd. 
Also nutzte Sascha die Zeit, um mit Andreas über die Krügers zu diskutieren. „Erinnerst du dich, je von einem Fall zweifacher Entführung gehört zu haben?“
Andreas schwieg ein paar Sekunden, bevor er antwortete. „Außer bei Sorgerechtsfällen eher nein. Aber das kann natürlich auch am Gedächtnisverlust im Alter liegen.“
„Natürlich. Auf jeden Fall scheinst du alt genug zu sein, um dauernd mit deinem Alter zu kokettieren. Tu mir einen Gefallen und sag mir Bescheid, wenn ich mit so was anfange.“
Dazu sagte Andreas erst einmal gar nichts. Bevor sich die Stille ausbreiten und Saschas eigenen, eher trüben Gedanken Raum geben konnte, ergriff er wieder das Wort. 
„Lass uns doch mal die Möglichkeiten durchgehen. Erstens: der Knabe kommt in die Pubertät, wollte mal von allem seine Ruhe haben und hat sich irgendwo verkrochen. Zweitens: es gibt jemanden, der Vater Krüger so sehr hasst, dass er seinen Sohn zunächst entführt, um Geld zu erpressen, und ihn dann noch mal entführt, um ... was weiß ich ... um Krüger eins auszuwischen. Falls es nicht zwei verschiedene Täter gibt, was ich allerdings für sehr unwahrscheinlich halte.“
Eben fuhren sie an einem bekannten amerikanischen Restaurant vorbei.
„Ich komme jetzt zur dritten und schlimmsten Möglichkeit“, kündigte Sascha an. „Es könnte ja sein, dass da im Park kein Entführer auf Daniel gewartet hat, sondern ein Triebtäter, der den Jungen längst vergewaltigt, umgebracht und irgendwo verscharrt hat.“
„Alles möglich. Hast du nicht die Außerirdischen vergessen?“
„Das wäre meine vierte Option gewesen“, versicherte Sascha und verspürte ein gewaltiges Kribbeln in der Nase. Er nahm sogar kurzfristig den Fuß vom Gas, bevor er einen kräftigen Dreifach-Nieser von sich gab.
„Gesundheit!“ Andreas klang verdrossen. „Und danke für all die netten Viren! Ich fühle mich sowieso schon die ganze Woche leicht angeschlagen.“
Sascha zog die Nase hoch. „Das liegt nur daran, dass du in letzter Zeit unterfordert warst. Aber das wird sich ja jetzt ändern.“
„Natürlich“, brummte Andreas.
Vor ihnen bog Krüger nach rechts in die Siegburger Straße ab. Sascha raste noch eben bei Hellrot über die Kreuzung und folgte Krüger weiter die Straße entlang, bis der Mann bald darauf nach links in die Maria-Montessori-Allee hineinfuhr, obwohl Linksabbiegen an dieser Stelle gar nicht erlaubt war. Was Sascha allerdings mehr beunruhigte war die Tatsache, dass sich Andreas einer tadelnden Bemerkung enthielt.
Zu beiden Seiten der ,Allee’ standen anfangs nette Einfamilien- und Doppelhäuser, weiter hinten begann rechts das Neubaugebiet, in das Krüger seinen Kombi lenkte, schön langsam, denn ständig kamen einem diese Verkehrsberuhigungserhebungen vor die Reifen. 
Krüger bog noch ein paarmal ab, immer tiefer hinein in ein Labyrinth aus Straßen mit Reihenhäusern, die sich alle verdammt ähnlich sahen, und Sascha meinte mehr zu sich selbst: „Ob wir hier je wieder rausfinden?“
„Es wäre besser gewesen, du hättest Brotkrumen gestreut. Jetzt ist es zu spät, wir sind da.“ Andreas’ Kommentar klang leicht genervt.
Krüger fuhr auf einen Stellplatz vor seinem Häuschen, und Sascha parkte quer hinter ihm. In diesem Teil der Siedlung gab es ein paar kurze Straßen, die nicht rechtwinklig angelegt waren, jedenfalls reihten sich in dieser Straße nur vier Häuser aneinander, und das der Krügers war das zweite von links.
Graublauer Putz, schmucklos, ein paar Fenster nach vorne heraus, moderne Glastür. Der Vorgarten war gerade groß genug für einen Autostellplatz, zwei schmale Blumenbeete an den Seiten, den Weg zur Haustür und die 275 verschiedenen Mülltonnen. An diesem Morgen war kaum ein Mensch auf der Straße zusehen.
„Gucken Sie bitte im Haus nach, ob Daniel zurück ist, wir lassen mal die Gegend auf uns wirken“, ordnete Andreas an, der aus dem Wagen gestiegen war, die Hände in die Taille stemmte und um sich blickte, als halte er nach einem versteckten Scharfschützen Ausschau.
Auch Sascha schaute sich um: diese Siedlung erinnerte ihn an das Neubaugebiet in Vinxel, in dem er jetzt seit gut 8 Monaten mit Annika wohnte: kaum große Bäume, die Gärten noch nicht so üppig begrünt. 
Der Gedanke an Annika führte schnurstracks zu einer unangenehmen Erinnerung an den Dienstag vor zwei Wochen, als er mit ihr vor dem Schreibtisch dieser schwer blondierten, pummeligen Ärztin saß, die ein außerordentlich hässliches Wort aussprach. Sascha sei zurzeit nur eingeschränkt zeugungsfähig. Das hatte er nicht erwartet. Das hatte richtig wehgetan. Obwohl er ja eigentlich noch gar keine Kinder -
„Er ist nicht da!“, vermeldete Frau Krüger, die mit verzweifelter Miene aus dem Haus trat. 
War nicht genau das Schicksal dieser Frau ein weiterer wichtiger Grund dafür, warum er keine Kinder in die Welt setzen sollte? Wo doch gerade er noch mehr ins Visier von Verbrechern geraten konnte? Mal abgesehen davon, dass er zurzeit sowieso nur eingeschränkt zeugungsfähig war?!
Auch Andreas furchte sorgenvoll die Stirn. „Frau Krüger, sehen Sie doch bitte mal in ihren Briefkasten. Gibt’s eine neue Lösegeldforderung?“
Frau Krüger öffnete den Briefkasten neben der Eingangstür und schüttelte den Kopf. „Nein.“
    „Dann wollen wir mal mit der Suche anfangen ... die Kollegen sind auch schon da. Ach, Frau Krüger, haben Sie für uns vielleicht ein neueres Foto von Ihrem Sohn?“
Sie verschwand erneut im Haus, kam nach zwei Minuten wieder heraus und reichte Andreas ein Foto. Auch Sascha sah sich Daniel an: normal schlank, schmales, zartes Gesicht mit tiefblauen Augen und leichter Stupsnase (glücklicherweise hatten die mütterlichen Nasengene nicht völlig die Oberhand gewonnen), blondes, fransiges, schulterlanges Haar mit längerem Seitenpony, hinter dem man sich zur Not verstecken konnte. Der Vater war sicher alles andere als begeistert von der Frisur.
„Ein sympathischer Junge“, merkte Andreas an. „Können Sie uns noch eben beschreiben, was er heute Morgen anhatte?“
Sascha notierte es sich: helle Jeans, rotes T-Shirt, blauer Anorak, Turnschuhe.
„Danke. Und jetzt zeigen Sie uns doch bitte, wo Ihr Sohn verschwunden sein soll.“ Andreas wandte sich der Wiese zu, die am Ende der Straße lag.
„Ich weiß nicht, an welchen Baum Dani die Hunde gebunden hat, da müssen Sie die Krumwedel fragen!“ 
„Gut, dann mache ich das, und du, Sascha, nimmst dir mal die Hundebesitzer vor.“
Während gut zwei Dutzend uniformierte Kollegen sowie die Leute von der Spurensicherung in den Wiesen hinter der Siedlung ausschwärmten, führte Frau Krüger Andreas und Sascha durch eine Seitenstraße in eine auf den ersten Blick völlig andere Gegend: hier standen hauptsächlich sehr individuell gestaltete Häuser, deutlich älter als die in der Reihenhaussiedlung, manche in Topzustand, andere leicht renovierungsbedürftig.
Ebenso wie das grau verputzte Häuschen von Frau Krumwedel, durch dessen bescheidenen, nicht gerade gepflegten Vorgarten Andreas auf die altertümliche Haustür mit den drei schmalen Scheiben zuschritt.
Sascha marschierte noch ein Haus weiter, auf das Anwesen der Neumanns zu. Es besaß ein hierzulande und heutzutage selten anzutreffendes Reetdach und bestand nur aus Erd- und Dachgeschoss. Von der Breite des Grundstücks her zu urteilen, musste der Garten hinter dem Haus mindestens doppelt so groß sein wie der der Krumwedel.
Aber hier wohnte ja auch jemand, der sich einen Hundesitter leisten konnte. Hoffentlich hatte dieser Jemand seine Viecher im Griff. Als Sascha auf die Klingel drückte, ging eine Sekunde später ein wildes Gekläff los. Das klang nach kleinen bis winzigen Hunden. Gut.
Jetzt rief jemand „Aus! Hört ihr wohl auf!“, dann wurde innen eine Tür zugeschlagen, danach öffnete sich die Haustür.
Herr Neumann, ein nicht eben großer, dafür braun gebrannter Mittsechziger mit verdächtig vollem, dunklem Haar, sah Sascha fragend an. „Ja?“
Sascha zeigte ihm seinen Ausweis. „Kann ich kurz reinkommen? Ich habʼ ein paar Fragen.“
Neumann nickte, ging voraus ins Wohnzimmer und bat Sascha in der Essecke einen Stuhl an. Die Einrichtung war überwiegend in Beige und Braun gehalten und sah teuer aus. Saschas Geschmack war das nicht. Dafür passte Neumann mit seinem schokobraunem Polo-Shirt perfekt in die Umgebung.
„Es geht um den Sohn von Herrn Krüger, der Ihre Hunde -“
Neumann fiel ihm ins Wort. „Ich weiß auch nicht, was der Bengel sich dabei gedacht hat!“ Er machte eine Pause und musterte Sascha mit seinen ebenfalls braunen Augen. „Wieso kommt die Polizei zu mir? Ist dem Jungen was zugestoßen?“
In seinem Blick war irgendetwas, das Sascha aufmerksam werden ließ. „Was könnte ihm denn beim Spazierengehen mit den Hunden zugestoßen sein?“, fragte er zurück.
„Vielleicht wurde er von einem Radfahrer über den Haufen gefahren, oder von einem Drogensüchtigen niedergeschlagen und ausgeraubt.“
Wie kam der Mann denn auf so etwas? „Und der Radfahrer und der Drogensüchtige binden vorher oder nachher Ihre Hunde ordentlich an einen Baum?“ Sascha hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als ihm klar wurde, was er da gerade gefragt hatte: warum sollte denn ein Entführer die Hunde anbinden?! Ein Entführer, der es eilig hatte fortzukommen, und dem fremde Hunde doch herzlich egal sein konnten?!
Hatte etwa Neumann, dem die Hunde sicher nicht egal waren, etwas mit der Entführung zu tun? Hatte Sascha hier schon eine heiße Spur?
Er bemühte sich um einen betont nichtssagenden Gesichtsausdruck, als er Neumann jetzt die gewünschte Information gab. „Daniel Krüger wird vermisst, und wir befürchten, dass er entführt wurde.“
„Wer ist entführt worden?“, fragte plötzlich eine leicht rauchige Frauenstimme von rechts.
Sascha wandte sich um. Eine ebenfalls braun gebrannte Mittsechzigerin, blondierte Haare, hochgesteckt, gewagt enge Hose, beigefarbenes Shirt mit sensationellem Ausschnitt, goldene Ringe an den Fingern, rot lackierte Krallen, stand in der Tür: das Klischee einer vermögenden Gattin, die durch die Welt reist und nichts als ihr eigenes Aussehen im Kopf hat.
„Sie sind sicher Frau Neumann“, säuselte Sascha und stand sogar auf, um sie zu begrüßen. „Gestatten, Kommissar Piel von der Kripo Bonn. Wir gehen davon aus, dass Daniel Krüger entführt worden ist.“
Ihre fast schwarzen Augen weiteten sich kurz, sie legte erschrocken eine Hand vor den Mund, aber schon fing sie sich wieder und stellte ihre eigene Theorie auf. „Dani ist weg? Der ist doch garantiert nur abgetaucht, um mal Ruhe vor diesem schrecklichen Vater zu haben! Also wie die arme Frau es mit dem Mann nur aushält! Was habʼ ich doch für ein Glück gehabt mit meinem Walterchen!“ Sie warf ihrem Mann mit gekonntem Augenaufschlag einen neckischen Blick zu.
Auf solchen Heile-Welt-Quatsch reagierte Sascha zurzeit allergisch. Gerade noch rechtzeitig schluckte er eine giftige Bemerkung hinunter. „Frau Neumann, setzen Sie sich doch zu uns, und erzählen Sie mir mal ein bisschen was über die Krügers ... haben Sie Streit miteinander?“
„Wir haben mit niemandem Streit, aber der Mensch schikaniert ja alles, was im Umkreis von einem Kilometer wohnt!“
„Genau“, stimmte Neumann zu. „Der hat was gegen unsere Hecke, die ist ihm dauernd zu hoch, und gegen unseren Kastanienbaum, der seinen Pflanzen angeblich die Sonne wegnimmt! Und natürlich sind ihm die Hunde zu laut!“
Auch jetzt noch hörte Sascha hin und wieder gedämpftes Kläffen. Aber solange sich zwischen ihm und den Viechern eine Tür befand, hatte er keine Probleme damit.
„Ja, und angeblich hat sich unsere Cherie mal unter den zwei Zäunen durchgebuddelt und drüben ein paar Sitzkissen zerfetzt und eins von den Krüger-Kindern in den nackten Zeh gebissen!“
Frau Neumann gestikulierte aufgeregt. „So ein Unsinn! Und gezeigt hat er uns weder ein zerfetztes Kissen noch einen angebissenen Zeh!“
„Nee, natürlich nicht, dass war ja nur ‘ne blöde Begründung dafür, dass er ein Loch in unsere Hecke geschnitten und die Hunde mit Steinen beworfen hat! Unser Samson musste sogar zum Tierarzt! Er hätte fast ein Auge verloren!“, fügte Neumann erbost hinzu und fasste sich ein paarmal an die Goldkette, die um seinen Hals hing.
„Haben Sie ihn deswegen angezeigt?“
„Ich ihn?!“, rief Neumann bitter aus. „Er uns! Er hat uns wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Ruhestörung angezeigt!“
„Und wer hat Recht bekommen?“
„Die Sache läuft noch.“
„Mich wundert nur“, meinte Sascha, „dass Krüger seinem Sohn erlaubt hat, für Sie zu arbeiten.“
„Wenn’s ums Geld geht, verkauft der seine Oma“, behauptete Neumann. „Wahrscheinlich spart der sich so das Taschengeld für den armen Jungen.“
„Haben Sie selbst gesehen, dass Krüger Steine nach dem Hund geworfen hat?“
Jetzt druckste Neumann ein bisschen herum, seine Frau antwortete für ihn. „Nee, aber unser Nachbar, der alte Limbach, der hat das zufällig mitbekommen.“
„Dieser Herr Limbach ist also auch nicht gut auf Krüger zu sprechen?“
„Die beiden haben gerade mal zwei bis drei Meter Zaun gemeinsam, aber glauben Sie mir, bei denen ist immer was los. Da ist einer so kleinkariert wie der andere. Der Limbach nörgelt auch gerne mal bei uns rum ... wegen der Hunde und so. Na ja, der hat ja auch nichts anderes zu tun, als Leute zu beobachten und sich aufzuregen.“ Frau Neumann lachte einmal dunkel auf. „Der kann einem schon leid tun ... wenn der nicht gerade zum Sport weg ist, sitzt er den ganzen Tag alleine zu Hause rum.“
Sascha bedankte und verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zur Wiese hinter den Häusern, wo er kurz darauf einen langen, dünnen Mann mit ergrauendem Haar und eine ziemlich groß und kräftig gebaute Person neben ihm entdeckte: Andreas und eine Frau um die Fünfzig, mit blondem Pferdeschwanz.
Die beiden gingen über einen der gepflasterten Wege des Parks, blieben immer wieder stehen, und die Frau blickte sich suchend um. Konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, an welchem Baum sie die Hunde gefunden hatte?
Andreas stellte sie einander vor. „Kommissar Piel, und das ist Frau Ute Krumwedel, sie hat den Neumanns die Hunde zurückgebracht.“
„Ja, seit ein paar Wochen gehe ich hier jeden Morgen so um 7 Uhr joggen“, erklärte die Krumwedel mit sehr schöner, samtigdunkler Stimme und traurigem Lächeln.
Vermutlich war sie traurig, weil das Joggen sie noch nicht von ihren Pfunden befreit hatte, die man in der schwarzen Jogginghose und der darüberfallenden Bluse durchaus erahnen konnte.
„Und Sie meinen nun, es könnte der Baum da hinten gewesen sein, Frau Krumwedel?“, fragte Andreas nach und zeigte auf ein ,Bäumchen’, das erst noch ein Baum werden wollte.
„Zu 89 % ja.“
Auch Sascha schaute sich um: viele Wiesen, viele halbwüchsige Bäume und Büsche, gepflasterte Wege und Trampelpfade durch die Wiesen und weiter hinten ein stattlicher, vermutlich künstlich aufgeschütteter Hügel, von dessen Spitze man sicher einen weiten Rundumblick hatte.
Ein Kollege stand schon oben und suchte mit einem Fernglas die Umgebung ab. Die Sicht musste gut sein, denn die Sonne schien von einem fast zu klaren Himmel, auch wenn die Temperaturen gerade mal um die 15 Grad herumdümpelten. Die übrigen uniformierten Kollegen durchkämmten, den Blick auf den Boden geheftet, die Wiesen und Wege. Renate und Wilfried von der Kriminaltechnik suchten mit. Gefunden hatten sie anscheinend noch nichts.
„Frau Krumwedel, wir sind vorhin kaum dazu gekommen ... darf ich Ihnen noch ein paar persönliche Fragen stellen?“ Andreas lächelte auf einmal so charmant, dass die Krumwedel unmöglich nein sagen konnte.
„Ja, natürlich“, sagte sie.
Schnell holte Sascha Stift und Block heraus, um sich Notizen zu machen.
„Sie haben angedeutet, dass Sie Witwe sind?“
„Ja, mein Mann hatte vor etwa 15 Jahren einen schweren Autounfall.“ Ihre angenehm dunkle Stimme zitterte ein wenig. Ihr Blick schweifte durch den ,Park’. „Er war mit unserem Sohn am Nürburgring. Sie haben sich ein Formel-1-Rennen angeguckt, und auf dem Rückweg ist es dann passiert.“
„Sie haben Ihren Mann und Ihren Sohn damals verloren?“
„Ja.“
„Wie haben Sie das denn verkraftet?“
Frau Krumwedel lächelte noch trauriger. „Schlecht. Ich habʼ noch ein paar Jahre lang stundenweise unterrichtet, aber irgendwann ging das nicht mehr. Ich bin jetzt frühpensioniert.“
Sascha schrieb das auf. Vielleicht sollte er auch die Rente beantragen, jetzt, wo sich herausgestellt hatte, dass er nur eingeschränkt -
„Das tut mir leid, Frau Krumwedel.“ Andreas rückte seine Brille zurecht, die ihn so gut aussehen ließ, dass der auch nicht mehr taufrische Richard Gere möglicherweise vor Neid grün angelaufen wäre. „Was haben Sie denn unterrichtet?“
„Englisch und Mathematik.“ Das klang nach verhaltenem Stolz.
„Na so was, ich habʼ auch ein paar Semester Mathe studiert“, gab Andreas bekannt und schenkte der Frau ein bezauberndes Lächeln.
Ihre graugrünen Augen strahlten. „Ist Mathematik nicht etwas Wunderschönes?“
„Ja, da haben Sie allerdings Recht“, stimmte Andreas zu und schaute sie (vielleicht ein bisschen zu lange) an. „Aber in meinem Beruf bekomme ich ab und zu ja auch mal was Wunderschönes zu Gesicht.“
Ach Herrgott, Andreas und Komplimente machen! Sascha verkniff sich ein Grinsen. 
Selbst die Krumwedel lächelte jetzt ein wenig angestrengt. „Ihr Beruf hat vermutlich viele interessante Seiten, Herr Kommissar. Aber wahrscheinlich auch viele schreckliche und belastende.“
„Ja, aber darüber wollen wir doch jetzt nicht reden.“ Andreas wurde ernst. „Haben Sie eigentlich Streit mit Herrn Krüger?“
Frau Krumwedels Augen blickten an Andreas vorbei und zwinkerten ein paarmal. Sascha  wusste sofort, dass sie etwas verschweigen würde.
„Na ja,“ begann sie zögernd, „wir hatten die eine oder andere Auseinandersetzung wegen meiner Katze. Angeblich hat sie in Krügers heiß geliebten Blumenbeeten herumgescharrt und mehrfach Häufchen auf seiner Wiese hinterlassen. Aber hier gibt’s weiß Gott genug andere Katzen, die frei rumlaufen!“
„Und, hat er Sie angezeigt?“
„Angezeigt?“ Sie lachte unnatürlich und steckte sich mit beiden Händen am Hinterkopf eine Haarsträhne fest, die aus ihrem Pferdeschwanz gerutscht war. „Nein, mich hat er nicht angezeigt, er hat ja keine Beweise, aber Sie sollten mal mit den Familien Holz und Schwab reden, die Ärmsten wohnen in den Häusern direkt neben ihm!“
„Danke, Frau Krumwedel, das werden wir tun.“
Die Frau wandte sich ab und ging langsam auf die gut zwei Dutzend Schaulustigen zu, die sich bereits am Rand der Wiese versammelt hatten und der Polizei bei der Arbeit zusahen. Die Krumwedel wurde sofort von mehreren Leuten in Beschlag genommen. Vermutlich wusste innerhalb von 5 Sekunden die ganze Siedlung Bescheid, was hier los war.
Die Krügers hingegen hatten sich zurückgezogen, was angesichts der laufenden Handykameras wohl auch besser war. Was gab’s eigentlich beim Privatfernsehen für denjenigen, dessen Filmchen als erstes gesendet wurde? 
Sascha fragte sich gerade, ob er, als einer der ersten an vielen Tatorten, nicht ein bisschen Geld nebenher verdienen konnte (falls ihm nicht Peer oder Wilfried immer einen Schritt voraus waren), als Andreas ihm zuraunte: „Komm, lass uns da hinten rum zu den Nachbarn gehen, ich habʼ jetzt keine Lust, gefilmt zu werden!“ Er zeigte auf einen Weg, der von den Neugierigen wegführte.
                                                                    *
Bonn-Vilich                                                                                                                 11.30 Uhr
Walburga Holz war gerade mit dem Stillen fertig, als es an der Tür klingelte. Wer konnte das sein? Der Postbote?
Sie packte Jana wieder in ihr Tragetuch und ging in den Flur. Durch die Glastür konnte sie zwei Männer erkennen: einen langen, dünnen und einen etwas kleineren, kräftigen. Sollte sie überhaupt aufmachen? Was, wenn die beiden sie überfallen und ausrauben wollten? Es gab zwar nicht viel zu rauben, aber das wussten die Männer ja nicht.
     Walburga legte sicherheitshalber die Kette vor, auch wenn sie sich vor den Männern ein bisschen für ihre Angst und ihr Misstrauen schämte. Sie öffnete einen Spalt und fragte: „Ja bitte?“
Die beiden zeigten ihre Ausweise vor, während der Ältere, Lange meinte: „Guten Tag, Frau Holz. Piel und Montenar von der Kripo Bonn. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für uns?“
Ein Schreck fuhr schmerzhaft durch ihren Körper, durch ihr Herz, durch ihren Verstand. „Um Gottes willen! Ist den Kindern was passiert?! Oder meinem Mann?!“
Der Kommissar runzelte die Stirn. „Nein, wir kommen nicht wegen Ihnen ... haben Sie denn von der Suchaktion draußen noch nichts mitbekommen?“
„Suchaktion? Ist eins meiner Kinder verschwunden?!“
„Frau Holz, beruhigen Sie sich - es geht nicht um Ihre Kinder, das sagte mein Kollege doch schon!“, mahnte Kommissar Piel. „Der Sohn Ihres Nachbarn, Daniel Krüger, wurde möglicherweise entführt.“
Der Sinn dieser Aussage tröpfelte nur langsam in Walburgas Gehirn, das immer noch mit der Angst um ihre Kinder beschäftigt war ... und mit dem Anblick von Piels schmalem Oberlippenbärtchen, über das er mehrmals mit dem Finger strich.
„Entführt?“, fragte sie ungläubig nach. „Wieso denn das?“
„Das ermitteln wir gerade.“
„Ja, gut, kommen Sie rein.“
Als sie die Tür hinter den Kommissaren zumachte, fuhr draußen ein Polizeimannschaftswagen vorbei. Eine Entführung, wie schrecklich.
Walburga ging voraus ins Wohnzimmer, wo noch das Bügelbrett und ein Korb mit Wäsche standen. Überall lag Spielzeug herum, aber musste man sich in einem Haushalt mit vier Kindern dafür schämen? Nein.
„Setzen Sie sich doch bitte. Möchten Sie einen Kräutertee?“
Schnelles, entschiedenes Kopfschütteln beider Kommissare.
„Nein, danke. Frau Holz, Ihr Mann ist bei der Arbeit?“, wollte der Ältere wissen, der eine modische Brille trug und kragenlanges, welliges Haar hatte, in dem feine, weiße Strähnen zu sehen waren.
„Ja, er arbeitet in Sankt Augustin als Betreuer in einer Behinderteneinrichtung.“ Jana, die in dem Tuch vor ihrer Brust lag, wollte nicht einschlafen, sondern nörgelte leise vor sich hin. Sicher wieder Blähungen nach dem Trinken.