Mörderische Habgier - Inge Lempke - E-Book

Mörderische Habgier E-Book

Inge Lempke

4,9

Beschreibung

Irgendwie schien das Licht im Raum dunkler zu werden ... Gott, sie fiel doch jetzt nicht in Ohnmacht?! Mit kleinen Schritten tastete sie sich rückwärts, bis sie mit dem Hinterteil an einen der Schreibtische stieß. Dort stützte sie sich ab und holte einmal tief und geräuschlos Luft. Es war unheimlich still in der Bank, alles lief ab wie in einem Stummfilm ohne Klavierbegleitung ... weder Gianfranco noch der Bankräuber gaben einen Laut von sich. Niemand hustete, niemand schrie. Dann sah Kareen etwas, das ihr nicht gefiel: Dominik, der neben der Eingangstür vom Bankräuber anscheinend noch nicht bemerkt worden war, griff nach einem schweren Schirmständer aus Metall und hob ihn langsam empor. Wollte er den Bankräuber damit außer Gefecht setzen?! Den Helden spielen? Den Chef beeindrucken? Der Vollidiot - was, wenn das schief ging?! Kareen sah mit zusammengepressten Lippen zu ihm hinüber und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Dominik bekam es nicht mit, dafür aber der Bankräuber, der sich alarmiert umdrehte, gerade als sich Dominik mit drohend erhobenem Schirmständer auf ihn stürzen wollte. Ein Schuss fiel. Laut, unerwartet, schrecklich. Die Hauptkommissare Andreas Montenar und Sascha Piel von der Bonner Mordkommission haben einen kniffligen Fall zu lösen: wie hängen ein Banküberfall, zwei ermordete Männer, zwei tote Frauen und eine Geiselnahme in der Bonner U-Bahn zusammen?

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Inge Lempke

Mörderische Habgier

Impressum

Math. Lempertz GmbHHauptstr. 35453639 KönigswinterTel.: 02223 / 90 00 36Fax: 02223 / 90 00 [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen.

© 2010 Mathias Lempertz GmbH

Umschlagentwurf und Layout: Ralph Handmann

Text: Inge LempkeLektorat: Sabine Becker-BlassPrinted and bound in Germany

Epub ISBN: 978-3-939284-16-1

Die Autorin Inge Lempke wurde 1954 in Bonn-Oberkassel geboren und studierte bis zur Geburt ihrer Tochter Physik an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Bonn.Im Laufe der Jahre schrieb sie zahlreiche Horrorgeschichten und unheimliche Erzählungen, aber heute hat sie sich auf Kriminalromane, deren Handlung in Bonn und Umgebung spielt, spezialisiert.

1

Köln, AltstadtSamstag, 17. März, 1.55 Uhr

Conny zog an seiner Zigarette und sah gleichzeitig auf seine Armbanduhr. Kurz vor zwei. Hoffentlich ließ der Typ ihn nicht zu lange warten – das konnte er auf den Tod nicht ausstehen! Außerdem war es arschkalt in dieser Scheißeinfahrt!

Conny trat aus der zugigen Einfahrt heraus und stellte sich rechts an die Hauswand. Hier war es deutlich wärmer. Alle paar Minuten tauchte ein Auto auf. Gerade fuhr ein unbeleuchtetes Fahrrad klappernd vorbei und ein Pärchen kam lachend und engumschlungen von links heranspaziert. Dann kam ein Mann von rechts. Das könnte er sein.

Conny zog sich wieder in die Einfahrt zurück und trat die Zigarette auf dem Asphalt aus. Der Mann hatte ihn ebenfalls gesehen und folgte ihm.

Obwohl es nicht regnete, hatte er die Kapuze seiner weiten Regenjacke hochgeschlagen und festgezurrt, wodurch nur noch ein kleiner, runder Ausschnitt seines Gesichts zu sehen war. Und das hatte er auch noch mit einer Brille und einem schwarzen, buschigen, verdammt unecht aussehenden Schnauzbart verkleidet.

Conny fand das ziemlich überflüssig. In der Toreinfahrt war es so dunkel, dass sowieso keiner den anderen erkennen konnte.

„Sie haben was zu verkaufen?“ fragte der Typ höflich und mit fester Stimme.

Aus der erstbesten Gosse war der jedenfalls nicht gekrochen. „Ja, hab ich,“ bestätigte Conny und traute sich nicht einmal, seinen `Kunden´ zu duzen. „Haben Sie das Geld dabei? Kann ich mal sehen?“

Der Mann knöpfte die Regenjacke ein Stück auf und griff in eine Innentasche. Zum Vorschein kam ein weißer Umschlag, den er öffnete. Er ließ Conny einen Blick hinein werfen. Sah nach 500 Euro aus.

„Ok. Hier ist die Pistole mit fünf Magazinen.“ Conny hielt ihm eine buntbedruckte Plastiktüte hin.

Der Typ nahm die Tüte entgegen, schaute hinein und reichte Conny den Umschlag. „Danke,“ sagte er wohlerzogen. „Vielleicht brauche ich noch mal was von Ihnen.“

„Kein Problem.“

Conny steckte den Umschlag ein, drehte sich um und marschierte durch den Hinterhof zur nächsten Toreinfahrt. Er kannte sich hier aus. Zu Hause würde er erst einmal überprüfen, ob das Geld echt war. Und wehe, wenn nicht! Er hatte Kumpel, die diesen Typen aufspüren würden! Und zwar über seine verdammte E-Mail-Adresse!

*

Bonn-Beuel, BankfilialeFreitag, 23. März, 8.45 Uhr

Kareen Müller-Richter registrierte besorgt, dass sie nun schon zum fünften Mal an diesem Morgen zur Toilette musste.

Sie warf den Kugelschreiber auf den Kundenvertrag, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Nein, das hielt sie nicht mehr aus! Vermutlich hatte sie sich am Sonntag, als sie abends mit Gaby bis nach zehn Uhr draußen vor dem Restaurant gesessen hatte, die Blase verkühlt.

Sie stand auf und ging Richtung Toilette. Im vorderen Eingangsbereich der Bank hielten sich zu dieser frühen Stunde nur zwei Kunden auf: eine ältere, schick angezogene Frau mit ziemlich weißen Haaren, und ein junger Mann, Jeans, schwarze Jacke, schütteres Haar. Die Frau bediente den Überweisungsterminal, der Mann stand vor dem Kontoauszugsdrucker.

Als Kareen an ihnen vorbeieilte, sah sie aus dem Augenwinkel den Transporter vor der offen stehenden Eingangstür vorfahren, der die Scheine für die Geldautomaten brachte. War der Seiteneingang etwa wieder zugeparkt? Da sollte endlich mal jemand ein Schild aufstellen!

Eigentlich war es ihre Aufgabe, Fahrer Gianfranco mit dem Geld in die hinteren Räumlichkeiten einzulassen, ein wenig mit ihm zu plaudern, ein paar Komplimente über ihre wunderschönen langen Locken und ihre unvergleichlich grünen Augen einzuheimsen und ihn wieder nach draußen zu begleiten.

Aber würde ihre Blase so lange durchhalten? Oder sollte sie nicht lieber Dominik, den aufstrebenden, schleimenden Liebling des Chefs, darum bitten, ihre Aufgabe zu übernehmen? Sie sah, dass Dominik gerade neue Immobilienangebote in den Schaukasten neben der Tür hängte.

Währenddessen eilte Gianfranco in seiner stahlblauen Uniform bereits mit dynamisch federnden Schritten durch den Eingang auf sie zu, ein breites Lächeln unter seinem pechschwarzen Schnurrbart.

Kareen lächelte automatisch zurück ... bis plötzlich dicht hinter Gianfranco jemand im grauen Anzug durch die Tür eilte. Vor dem Gesicht eine Karnevalsmaske, in der Hand eine Pistole.

Gott im Himmel, war das ein Überfall?! Kareens Herz begann zu rasen, aber ihr Körper schien wie erstarrt. Um Himmelswillen, was tat man bei einem Überfall?! Sie versuchte nachzudenken, doch ihr Kopf war wie leer gefegt. `Was tust du jetzt .... was tust du jetzt´, hallte es durch die Leere.

Gerade rammte der Bankräuber, der Gianfranco im Vorraum eingeholt hatte, diesem seine Pistole in den Rücken. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr. Gianfranco stellte abrupt sein Lächeln ein und blieb ebenso abrupt stehen.

Kareen wagte kaum zu atmen. Und plötzlich purzelten ein paar Gedanken durch ihren Verstand: `Nicht aufs Klo gehen, jetzt nicht den Raum verlassen, sonst schießt er dir in den Rücken, ruhig bleiben, unauffällig bleiben, vielleicht sieht er dich dann nicht, starr nicht so zu ihm rüber, sieh die Kunden an, zeig ihnen, wie ruhig du bist, in einer Minute ist alles vorbei, keine Panik, es wird dir nichts passieren!´

Irgendwie schien das Licht im Raum dunkler zu werden. Oh Gott, sie fiel doch jetzt nicht in Ohnmacht?! Mit kleinen Schritten tastete sie sich rückwärts, bis sie mit dem Hinterteil an einen der Schreibtische stieß. Dort stützte sie sich ab und holte einmal tief und geräuschlos Luft. Es war unheimlich still in der Bank, alles lief ab wie in einem Stummfilm ohne Klavierbegleitung. Weder Gianfranco noch der Bankräuber gaben einen Laut von sich. Niemand hustete, niemand schrie.

Das lag vielleicht auch daran, dass die Kunden bisher gar nichts vom Geschehen mitbekommen hatten: die ältere Frau arbeitete noch an ihrer Überweisung, der junge Mann studierte seine Kontoauszüge – bis er sich auf einmal umdrehte, genau in dem Moment, in dem der Mann mit der Maske Gianfranco den Geldkoffer aus der linken Hand riss. Der Kunde wurde noch blasser, als er sowieso schon war, hielt stumm vor Schreck die Kontoauszüge in beiden Händen vor der Brust und machte keine Bewegung mehr.

Kareens strohblonde Kollegin Anita, die sich im Hauptraum an einem der Schreibtische aufhielt, schien auch erst eben bemerkt zu haben, was los war: ihre Augen waren weit aufgerissen, eine Hand vor den Mund geschlagen. Ob sie den Alarmknopf schon gedrückt hatte?

Der Bankräuber stand immer noch hinter Gianfranco. Mit dem Koffer in der Hand. `Dreh dich um und geh!´ betete Kareen. `Dreh dich um und geh! Nein, du nimmst keine Geiseln! Ich will keine Geisel sein! Bitte! Geh doch einfach!´

Dann sah Kareen etwas, das ihr nicht gefiel: Dominik, der neben der Eingangstür vom Bankräuber anscheinend noch nicht bemerkt worden war, griff nach einem schweren Schirmständer aus Metall und hob ihn langsam empor.

Wollte er den Bankräuber damit außer Gefecht setzen?! Den Helden spielen? Den Chef beeindrucken? Der Vollidiot – was, wenn das schief ging?!

Kareen sah mit zusammengepressten Lippen zu ihm hinüber und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Dominik bekam es nicht mit, dafür aber der Bankräuber, der sich alarmiert umdrehte, gerade als sich Dominik mit drohend erhobenem Schirmständer auf ihn stürzen wollte.

Ein Schuss fiel. Laut, unerwartet, schrecklich.

Es war grotesk: Dominik stoppte in jeder Bewegung, Arme hochgereckt, Schirmständer in der Luft. Er entglitt seinen Händen, sauste haarscharf an seiner Nase vorbei nach unten, polterte zu Boden, während plötzlich Dominiks Arme herabfielen, und er ächzend zusammenbrach.

Der Bankräuber gab Gianfranco einen Stoß in den Rücken, dass der nach vorn auf die Knie fiel, hastete mit dem Koffer in der Hand durch die Eingangstür aus der Bank auf die Straße, wandte sich nach rechts und war weg.

Immer noch herrschte gespenstische Stille. Immer noch hatte niemand geschrieen, niemand sagte ein Wort. Bis Gianfranco, der auch nicht mehr der jüngste war, sich fluchend aufrappelte, sich die Knie rieb, sich umwandte und schimpfend auf die Tür zuhumpelte. Nun endlich trat Herr Wasser, der Chef, in Erscheinung, der vermutlich hinten in seinem Büro erst durch den Schuss aufmerksam geworden war.

„Was ist denn hier los?!“ verlangte er zu wissen, marschierte zum Vorraum, sah Dominik am Boden liegen, durchschaute die Situation erst nicht und rief hinter Gianfranco her: „Mann, bleiben Sie stehen!“

Gianfranco gab die Verfolgung auf und machte kehrt.

„Wieso haben Sie auf Henseler geschossen?!“ fuhr Herr Wasser den Mann an.

„Sie nicht richtig ticken, was?“ rief Gianfranco aus und gestikulierte wild herum. „Da war hinter mir Mann, hat geklaut Geld und erschossen den Dominik!“

Der Chef schaute zu Anita hinüber, die eine Hand auf ihren Magen und die andere auf ihr Herz gelegt hatte und heftig nickte.

„Verdammt noch mal!“ schimpfte Herr Wasser und fragte Anita: „Ist die Polizei alarmiert?“

Wieder nickte Anita, und sie sah aus, als müsse sie sich jeden Moment übergeben.

„Gut, dann rufen Sie auch einen Krankenwagen, aber schnell!“ Der Chef beugte seinen langen Körper zu Dominik hinunter, der auf dem Rücken lag, die Beine halb unter sich begraben. „Du lieber Himmel, ich glaube, er ist tot,“ murmelte Wasser und prüfte mit zwei Fingern den Puls an Dominiks Hals.

Kareen blickte zu der Frau am Terminal hinüber. Vermutlich hatte sie sich umgedreht, als der Schuss fiel. Ihre Hände versuchten, den ausgedruckten Beleg zu falten, aber sie zitterten derart, dass das Papier herunterzufallen drohte. Ihr Mund stand offen, aus ihren Augen sprach das Entsetzen.

Der junge Mann mit den Kontoauszügen bewegte sich erst nicht, doch plötzlich stopfte er mit fahriger Bewegung seine Auszüge in eine Tasche seiner Jacke, zog gleich darauf eine Schachtel aus einer anderen und zündete sich eine Zigarette an.

Wasser, der immer noch mit verzweifelter Hartnäckigkeit nach einem Lebenszeichen bei Dominik suchte, reagierte erst, als er den Qualm roch. Er richtete sich auf und informierte den Kunden höflich, aber bestimmt: „Sie dürfen hier nicht rauchen.“

Der junge Mann nahm noch einen Zug und fuhr ihn an: „Wissen Sie, wie scheißegal mir das im Moment ist?! Aber wenn Sie wollen, kann ich auch nach Hause gehen!“

Wassers Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verärgerung und Verständnis. Letzteres siegte. „Gut, aber Sie bleiben hier! Die Polizei muss alle Zeugen befragen!“

Die erschrockene Kundin kam mit einem Mal zu sich und sagte verunsichert: „Wir müssen hier bleiben? Das kann ich nicht ... ich hab einen Termin ... ich muss ... ich kann nicht ....“ Sie wurde immer blasser um die Nase, taumelte leicht zur Seite und ließ den Beleg fallen, der wie ein Herbstblatt vom Baum langsam zu Boden segelte.

Der Chef eilte auf die Frau zu, packte sie am Ellbogen, stützte sie und forderte sie mit beruhigender Stimme auf: „Kommen Sie, wir gehen jetzt alle weg von der Leiche, dort hinüber, da hinten können Sie sich setzen und einen Schluck Wasser trinken. Kommen Sie bitte alle mit.“

In dem Moment erinnerte sich Gianfranco daran, dass er ebenfalls Raucher war, denn mit den Worten: „Ich brauche jetzt auch eine, ich hab im Wagen!“ lief er, immer noch leicht humpelnd, nach draußen, sah sich nach allen Seiten um und war eine Minute später mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern wieder zurück.

Aber nicht nur er, auch die ersten Neugierigen, die draußen etwas mitbekommen hatten, betraten hinter Gianfranco die Bank.

Wasser schritt ein. Er komplimentierte die Leute hinaus, schloss die Eingangstür ab und kehrte zurück zu dem Häufchen Zeugen, das im hinteren Teil der Bank schweigsam beisammen saß, den Schock noch verdauen musste und mit ungläubigem Schrecken im Blick auf die Polizei wartete.

Gianfranco und der junge Mann rauchten eine Zigarette nach der anderen, wohingegen Anita jetzt wahrscheinlich gern ein Schnäpschen zu sich genommen hätte. Kareen am liebsten auch.

Doch auf einmal meldete sich ihre Blase. Wenn gleich die Polizei kam und sie stundenlang verhörte, musste sie unbedingt vorher zur Toilette! Also stand sie auf und ging davon, obwohl hinter ihr eine aufgeregte Stimme rief: „Frau Müller-Richter! Wo wollen Sie denn hin?! Sie können doch jetzt nicht –“

Aber Kareen konnte nicht nur, sie musste.

*

Bonn-OberkasselFreitag, 7.50 Uhr

Wie jeden Morgen war Andreas zu Fuß unterwegs zum Polizeipräsidium. Er spazierte die verkehrsberuhigte Königswinterer Straße entlang Richtung Norden, immer geradeaus. Ein kühler Wind blies ihm unter dem graubedeckten Himmel entgegen.

Seine Gedanken waren abwechselnd bei Sabine und bei seiner Mutter. Er mit Sabine im Restaurant, er mit Sabine im Kino, im Konzert, beim Spaziergang, er mit Sabine im Bett. Alles ungezwungen und für beide Seiten zufriedenstellend. Und da fragte ihn doch am Vorabend seine Mutter, wann er denn die Absicht habe, ihr diese Sabine endlich vorzustellen!

„Vorläufig gar nicht,“ hatte er geantwortet. „Wir wollen weder heiraten noch Kinder zeugen. Wir bringen uns gegenseitig nur ein wenig Freude in unseren grauen und grausamen Alltag. Ich hab keine Ahnung, wie lange so was hält.“

Seiner Mutter hatte es, was selten vorkam, die Sprache verschlagen. Allerdings nur vorübergehend. Sie hatte ihn angesehen, als habe er sie schwerwiegend beleidigt, und ihn schließlich wissen lassen: „Entschuldige, dass ich es gewagt habe, mich auf so ungeheuer schreckliche Weise in dein Privatleben einzumischen und mich für deine Freunde und Freundinnen zu interessieren!“

Dieser nicht ganz untypische Wortwechsel hatte im Treppenhaus stattgefunden, und innerhalb von Sekunden hatte sich jeder in seine eigene Wohnung verdrückt.

Andreas bog nach links in die Heinrich-Konen-Straße ab und nahm einen Seiteneingang ins Gebäude. Als er sein Büro betrat, staunte er: Sascha war heute nicht als erster da. Was mochte ihm zugestoßen sein? Annika in Unterwäsche?

Andreas hängte seine neue Jacke auf, nahm die Kaffeemaschine in Betrieb, setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug die Akte vom Vortag auf: eine sehr verärgerte Ehefrau hatte ihren Ehemann („Der Mistkerl betrügt mich seit fünf Jahren, und ich hab es nicht mal gemerkt!“) im Schlaf erstochen („Als er wieder anfing zu schnarchen, ist das Fass übergelaufen!“), hatte dann mit großer Mühe seine Leiche in mehrere Teile zersägt, in der Tiefkühltruhe gelagert („Wohin denn sonst damit?! Hätte ich ihn kochen und essen sollen?!“) und alle zwei Wochen je einen Körperteil des Ehemanns in der Restmülltonne entsorgt („Da gehört er hin – in den Müll!“). Bei den ersten beiden Teilen verlief die Beseitigung problemlos, der dritte Teil war in der Tonne mehrere Stunden der schon starken Märzsonne ausgesetzt, und der Geruch machte sogar die Männer von der Müllabfuhr misstrauisch. Sie sahen nach und riefen die Polizei. Die Frau gestand sofort.

Als Mann sollte man sich heutzutage gut überlegen, mit welcher Frau man zusammenleben wollte, und wenn –

Die Tür ging auf, und herein kam Sascha in seiner Jeansjacke und mit betont sachlichem Ausdruck im Gesicht. „Morgen,“ grüßte er und wandte sich gleich der Kaffeemaschine zu.

„Morgen. Für deine Verhältnisse kommst du recht spät,“ stellte Andreas fest. „Was ist passiert?“

Sascha goss sich Kaffee in einen feuerroten Becher. „Nichts Besonderes. Annika und ich haben uns gestritten ... und anschließend mussten wir uns wieder versöhnen.“

Andreas nickte verständnisvoll. Seit er diese lockere Beziehung zu Sabine hatte, empfand er gar keinen Neid mehr, wenn Sascha solche Bemerkungen machte. „Worüber habt ihr denn gestritten?“

„Das verstehst du nicht. Du kannst ja in deinem Badezimmer machen, was du willst.“

„Ach komm, jetzt sag schon – was hast du Schlimmes verbrochen?“

Sascha setzte sich ebenfalls an seinen Schreibtisch, fuhr mit der Hand einmal über sein kurz geschnittenes, hellblondes Haar, strich mit dem Finger über eine Seite seines kaum sichtbaren Errol-Flynn-Bärtchens, und sein Gesichtsausdruck entglitt ihm vorübergehend zu missmutig. „Ich hab ein paar Bartstoppeln im Waschbecken liegen lassen. Annika fand das natürlich ekelhaft.“

„Ist es ja auch. Aber die Grundbedingung fürs Zusammenleben ist nun mal eine schier grenzenlose Toleranz.“

Sascha prostete Andreas mit seinem Kaffeebecher zu. „Komisch, irgendwie hab ich noch im Ohr, dass du vor Monaten das genaue Gegenteil behauptet hast.“

„Geh mal zum Ohrenarzt,“ murmelte Andreas und schlug die Akte zu. „Was macht der Fall `Krause´?“

„Du meinst den angeblich absichtlich angefahrenen Rentner? Keine neuen Hinweise oder Spuren. Aber du weißt ja selbst, wie Zeugenaussagen sind: der eine hat einen roten Sportwagen mit Münchner Kennzeichen gesehen, der andere einen grünen Last-wagen aus Bochum.“

„Lass uns trotzdem noch mal alles durchgehen, ok?“

Das taten sie sorgfältig wie immer, bis gegen neun Uhr die Nachricht hereinkam, in Bonn-Beuel habe ein Bankraub mit einem Toten stattgefunden.

„Da fahren wir hin,“ entschied Sascha.

Andreas war einverstanden und verschwand für zwei Minuten auf der Toilette, um sein Haar zu kämmen und die Fingernägel sauberzumachen. Kurz darauf saßen sie im Auto und fuhren am Kreuz Bonn Ost auf die A 59 Richtung Köln.

Es war recht kühl und grau an diesem Morgen. Letzte Woche hatte man noch glauben können, der Frühling sei im Anmarsch mit blauem Sonnenhimmel und Temperaturen um die 15°, aber am Sonntag hatte es gegen Abend einen Temperatursturz und ein Gewitter mit Hagel gegeben – gerade als Andreas Sabines Wohnung in Königswinter verlassen hatte. Fast 15 Minuten musste er im Auto sitzen bleiben, bevor er sich traute loszufahren. Aber wenn es nötig gewesen wäre, hätte er auch im Wagen übernachtet. Jedenfalls nicht in ihrem Schlafzimmer! Die Vorstellung, mit irgendjemandem ein Zimmer zum Schlafen zu teilen, war für ihn ebenso absurd wie die, Sascha könne zum Angeln fahren und stundenlang reglos und schweigsam an einem See hocken!

Jedenfalls hatte das Thermometer draußen am Küchenfenster heute morgen kaum 4° angezeigt. Das waren Wintertemperaturen, und das –

„Sollten wir nicht eine Fahndung einleiten?“ fragte Sascha unerwartet.

„Ja, ok. Gib mir mal den Wagentyp, Farbe und Kennzeichen, dann erledige ich das.“

„Haben wir nicht? Also gut, reden wir von was anderem. Was haben du und deine Altenpflegerin denn letztes Wochenende so gemacht?“ Sascha überholte schimpfend sechs Lastwagen, die hintereinander in Kolonne fuhren.

Andreas hielt sich am Griff über dem Fenster fest und versuchte, nicht nach rechts auf die riesigen, rollenden Räder zu starren, an denen sie vorbeizogen. War Kolonnefahren nicht verboten?!

Er sah geradeaus. „Nichts, was auch nur im Entferntesten mit deinen Action- und Horrorthrillern konkurrieren könnte.“

„Wenn es um dein Liebesleben geht, schraube ich meine Erwartungen natürlich zurück. Also, was habt ihr gemacht?“

„Brauchst du Anregungen oder was? Wir sind spazieren gegangen, haben irgendwo eine Kleinigkeit gegessen, sind später zu Sabine nach Hause gefahren und haben uns Klaviermusik angehört und ein Gläschen Rotwein dazu getrunken. Anschließend sind wir uns ein bisschen nähergekommen.“

Letzteres erschien Sascha nicht weiter erwähnenswert, aber er fragte verwundert: „Rotwein zur Klaviermusik? Was für Klaviermusik?“

Andreas überlegte kurz, ob er dazu etwas sagen sollte, denn Sascha hatte für diese Art von Musik garantiert keinerlei Sinneszellen. Aber ein Hauch von Kultur konnte niemandem schaden.

„Klassische Klaviermusik. Übrigens ist Klassik nicht gleich Klassik,“ belehrte er Sascha. „Es gibt da verschiedene Stilrichtungen: z. B. Barock, Klassik, Romantik, Spätromantik, Impressionismus.“

„Ich entnehme deinen Ausführungen, dass du dich in das Thema bereits eingelesen hast,“ bemerkte Sascha, und es klang, als amüsiere er sich.

Andreas sah ihn an: ja, Sascha grinste. „Nicht nur gelesen, sondern auch gehört,“ stellte er klar. „Sabine steht besonders auf diese hochemotionalen Klavierkonzerte der Spätromantik, Tschaikowsky, Brahms, Grieg, du weißt schon.“

„Ich? Auf dem Gebiet bin ich ein Komplett-Ignorant.“

„Was hörst du dir denn an? Metallica?“

„Dir ist ja wohl auch kein Klischee zu abgedroschen, was? Ich höre keine Musik, weil ich selbstverständlich meine gesamte Freizeit vor der Glotze verbringe!“

„Ach, stimmt ja ... aber eigentlich bist du, als Widder, wie geboren für Heavy Metall. Hör doch mal rein.“

„Danke für die Beratung, aber ich habe meinen eigenen Geschmack.“

„Was denn? Na, nun sag´s schon!“

„Nein.“

„Komm schon, mit mir kannst du über alles reden. Deutscher Schlager?“

„Nein.“

„Um Gotteswillen, Sascha, du wirst doch nicht etwa Volksmusik hören?!“

„Nein.“

„Was dann? Lionel Richie?“

Sascha schaute ihn an, schweigend und viel zu lange.

„Mann, guckst du wohl auf die Straße!“ Andreas umklammerte den Griff fester.

Sascha fuhr an der Ausfahrt Pützchen von der Autobahn. „Du kannst dich wieder entspannen. Und reiß den Griff nicht ab.“

Andreas rückte seine Brille zurecht, obwohl das bei der neuen gar nicht mehr nötig war. Er wusste es und tat es trotzdem. „Deine Fahrkünste bringen uns noch ins Grab!“

„Welche Planetenkonstellation ist eigentlich zuständig für übertriebene Ängstlichkeit und maßlose Übertreibung?“

„Tolles Ablenkungsmanöver.“

Sascha war endlich auf der Pützchens Chaussee gelandet und suchte rechts nach der Marktstraße. „Jetzt mal ehrlich: gefällt dir klassische Musik wirklich, oder hörst du das Zeug nur wegen Sabine?“

Schwang da etwa ein Quäntchen Interesse mit in der Frage? „Mit Sabine hat das nichts zu tun. Ich hab mich mit ein paar von Beethovens Klaviersonaten angefreundet: die sind technisch brillant und erfreuen das Herz, ohne allzu schwer aufs Gemüt zu schlagen.“

Wie schade, dass die Bank gerade in Sicht kam, sonst hätte Andreas ihm noch weitere Empfehlungen gegeben.

In der Seitenstraße, die vor der Bank nach rechts führte, standen bereits zwei Streifenwagen und ein Krankenwagen. Auf der Hauptstraße zu parken war unmöglich, also bog auch Sascha nach rechts ab und fuhr auf den Parkplatz hinter der Bank. Vor der Bank hatten sich gut zwei Dutzend Schaulustige eingefunden, die von drei Streifenbeamten im Zaum gehalten werden mussten.

Vor dem Haupteingang an der Vorderseite verschaffte sich Andreas einen groben Überblick: das Bankgebäude besaß, wie so viele andere auch, eine breite Fensterfront, die noch nach links um die Ecke ging und mit bodenlangen Vorhängen ausgestattet war. Die automatische Eingangstür stand weit offen und führte in einen Vorraum mit Kontoauszugsdrucker, Terminal und Geldautomat.

Andreas trat ein. Mitten in diesem Vorraum lag ein Mann auf dem Rücken, dessen Alter schwer zu schätzen war, denn sein Gesicht war durch Blut und Gewebeteile nicht zu erkennen: anscheinend hatte die Kugel seine Nase zerfetzt. Er trug einen hellen Anzug mit zartblauem Hemd, und beides war mit roten Spritzern übersät. Er lag leicht verdreht auf seinen Beinen, neben ihm ein leerer Metallschirmständer.

Andreas sah von der Leiche hoch in den hinteren Hauptraum. Dort saßen drei Frauen, neben einer von ihnen hockte der Notarzt in seiner orange-weiß gestreiften Jacke und schien den Blutdruck zu messen. Zwei weitere Männer lehnten, Zigaretten rauchend, an einem Schreibtisch, während ein dritter Mann, lang und schlank von Gestalt, im dunkelgrauen Anzug, mit schwarzer, breitrandiger Brille und einem unsicheren Lächeln im Gesicht, mit ausgestreckter Hand auf ihn zueilte.

„Guten Morgen, ich bin Filialleiter Sigmund Wasser. Sie sind von der Mordkommission? Ich hab hier ein paar Augenzeugen, die können Sie befragen, was vorgefallen ist.“

Er packte Andreas´ dargebotene Hand und drückte sie, als wolle er sie zerquetschen.

„Guten Morgen. Ich bin Andreas Montenar von der Bonner Kripo, und das ist mein Kollege Sascha Piel.“ Er entzog Herrn Wasser seine Hand, die dieser anscheinend gar nicht mehr hergeben wollte, und bewegte unauffällig die Finger. Nein, nichts gebrochen. „Herr Wasser, wer ist denn der Erschossene hier auf dem Boden?“

Sascha hatte bereits Notizblock und Stift gezückt, während Wassers Gesicht ernst wurde.

„Das ist einer unserer Mitarbeiter, Dominik Henseler, 30 Jahre alt, gerade Vater geworden ... mein Gott, wie soll ich das nur seiner Frau beibringen!“

„Das werden wir schon übernehmen. Wie ist das überhaupt passiert?“

„Tut mir leid, das weiß ich nicht, ich saß dort hinten im Büro und bin überhaupt erst durch den Schuss auf den Überfall aufmerksam geworden.“ Er runzelte die Stirn. „Das ging alles rasend schnell, als ich hier ankam, war der Bankräuber schon zur Tür hinausgelaufen. Aber die Frau Müller-Richter, die hat alles von Anfang an gesehen.“ Er zeigte hinter sich. Die restlichen fünf Leute schauten bleich und angespannt herüber.

Andreas runzelte die Stirn. „Ist jemand von den Leuten dort drüben verletzt worden?“

„Nein, nein, das ist mehr der Kreislauf und so.“

„Gut, dann sagen Sie mir mal, wie viel Geld gestohlen wurde.“

„Wochentags kriegen wir normalerweise 30.000 € für den Automaten, aber heute war das Geld für´s Wochenende dabei, also rund 60.000 €.“

„Nicht übel. Dann schicken Sie bitte diese Frau Müller zu mir.“ Andreas zog es vor, mit Zeugen einzeln zu reden, damit sie nicht durcheinander plapperten und sich gegenseitig beeinflussten.

„Wäre es nicht besser, Sie sprechen in meinem Büro mit den Leuten? Da sind Sie ungestört ... und vor allem die Damen müssten sich die Leiche nicht noch mal ansehen,“ schlug Wasser vor, und Andreas hielt das für eine vernünftige Idee.

Allerdings machte der Filialleiter Anstalten, mit ihnen ins Büro zu gehen, nahm aber nach einem überraschten Blick von Andreas davon Abstand. Kurz darauf saßen sich Andreas und Frau Müller-Richter auf modernen Chromstühlen an Wassers Schreibtisch gegenüber. Sascha blieb stehen und machte sich Notizen.

Kareen Müller-Richter war 29 Jahre alt, kinderlos verheiratet und wohnte in Beuel. Sie arbeitete seit vier Jahren in dieser Bankfiliale und zwar gerne, wie sie betonte. Dann warf sie mit anmutiger Handbewegung zwei lange, braune, lockige Haarsträhnen, die von strassbesetzten Spangen aus dem Gesicht gehalten wurden, nach hinten und berichtete, dass sie um kurz vor neun auf dem Weg zur Toilette den Geldtransporter habe ankommen sehen, und dass sie kurz stehen geblieben sei, um Gianfranco mit dem Geldkoffer in Empfang zu nehmen.

„Der Geldtransporter kommt immer um die gleiche Zeit?“ wollte Sascha wissen.

„Ja, je nach Verkehr zwischen 8.45 und 8.55 Uhr.“

„Und er hält auf der Hauptstraße vor der Bank?“

„Ab und zu schon, wenn nämlich der Seiteneingang zugeparkt ist.“

Da sollte doch mal jemand nachgucken. Andreas verließ kurz den Raum und beauftragte einen der Streifenbeamten nachzusehen, ob und wodurch der Seiteneingang verstellt war. Danach fuhr er mit der Befragung von Müller-Richter fort.

„Der Fahrer, dieser Gianfranco ...“

„Massini.“

„Wie lange arbeitet Herr Massini schon für die Transportfirma?“

„Mindestens so lange, wie ich in der Bank arbeite.“

„Aha. Erzählen Sie doch bitte weiter.“

Frau Müller-Richter begann am Kragen ihrer weißen Bluse zu nesteln. Ihr hübsches Gesicht war gerötet, sie wirkte jetzt nervöser als vorhin.

„Der Bankräuber war ungefähr mittelgroß und irgendwie ... dick. Er hatte so eine Plastikkarnevalsmaske auf, so ein hässliches Schweinegesicht“ sagte sie mit etwas wie Ekel in der Stimme. „Und er trug einen grauen Anzug, irgendwie altmodisch ... und er sah darin aus wie ... ich weiß auch nicht, und schwarze Handschuhe, und natürlich hatte er eine Pistole. Er kam direkt hinter Gianfranco in die Bank, als hätte er draußen auf ihn gewartet. Dann war er bei ihm und murmelte ihm von hinten etwas ins Ohr, aber was konnte ich nicht verstehen. Gianfranco blieb stehen, und der Mann riss ihm den Koffer aus der Hand. Gianfranco trägt ihn immer mit Links, damit er die rechte Hand frei hat für seine eigene Waffe, hat er mir mal erklärt.“

Sie schwieg für einen Moment, bevor sie auf einmal klagte: „Ich bin schuld, dass Dominik erschossen wurde! Er stand direkt hinter der Tür und wollte dem Bankräuber mit dem Schirmständer eins überziehen ... aber ich dachte, das ist doch viel zu gefährlich, und habe zu ihm hingeschaut und nur ein ganz kleines bisschen den Kopf geschüttelt, um ihn davon abzuhalten. Aber das hat der Bankräuber auch gesehen, und der dreht sich um und drückt einfach ab! Mein Gott ... ich hab Dominik auf dem Gewissen!“ Sie presste eine Hand auf den Mund, ihre schönen, grünen Augen füllten sich mit Tränen.

„Frau Müller-Richter, Sie befanden sich in einer absoluten Ausnahmesituation, und da tut man nicht immer das Richtige,“ versuchte Andreas sie zu beruhigen. „Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen.“

Müller-Richter nahm die Hand vom Mund und rieb sich mit den Fingern in den Augenwinkeln herum, was ihrem Make-up nicht gut bekam.

„Geht´s wieder?“ fragte Andreas. Die Frau nickte. „Der Bankräuber ist also, nachdem er geschossen hat, aus der Bank gelaufen?“

„Ja ... nein, er hat erst noch Gianfranco, bevor der sich umdrehen konnte, einen Stoß in den Rücken gegeben, so dass er zu Boden stürzte, und weg war der Bankräuber.“ Frau Müller-Richter rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Kann ich jetzt gehen? Ich muss zum Arzt, ich hab ein Problem mit der Blase.“

„Ja, sicher, gute Besserung. Schicken Sie mir doch bitte Herrn Massini herein.“

Die Frau schien es wirklich eilig zu haben. Sie sagte nur „Wiedersehn“ und hastete aus dem Raum.

Herein kam allerdings zehn Sekunden später nicht Massini, sondern der Polizist, der den Seiteneingang hatte in Augenschein nehmen sollen.

„Also, Herr Kommissar,“ begann er und verschränkte die Arme, „da ist kein Fahrzeug. Aber quer über die Tür wurde ein Kreuz aus zwei dünnen Latten befestigt, mit doppelseitigem Klebeband, so als sei der Eingang verschlossen.“

„Mit Klebeband?!“ staunte Andreas. „Ja klar, es musste schnell gehen. Ist eigentlich die Spurensicherung schon da?“

„Vor einer Minute eingetroffen.“

„Dann sagen Sie bitte dem Mann, der draußen wartet, er soll hereinkommen.“

Gianfranco Massini marschierte herein, ein drahtiger, mittelgroßer Mann um die Fünfzig in dunkelblauer Uniform, mit schwarzen Haaren und schwarzem, buschigem Schnauzbart. Verheiratet, drei Kinder, wohnhaft in Siegburg, gab er an. Er sprach mit kaum hörbarem, italienischem Akzent, wenn auch grammatikalisch nicht immer einwandfrei.

Er lamentierte temperamentvoll darüber, dass ihm so etwas noch nie passiert sei, und dass er den Bankräuber überhaupt nicht gesehen habe, weil der immer hinter ihm war, und dass er, als der Schuss fiel, dachte, er sei getroffen worden, und dass er viel zu wenig Geld für einen so gefährlichen Job bekam, und dann schimpfte er gleich in einem Aufwasch über die deutsche Justiz, die viel zu lasche Strafen verhänge.

Da allerdings fiel ihm Andreas ins Wort. „Herr Massini, Sie parken sonst immer vor dem Seiteneingang?“

„Ja, genau. Heute ich bin in die Seitenstraße gefahren, ich habe gesehen, dass Tür ist vernagelt. Ich denke, was ist das? Bauarbeit? Dann ich habe gewendet und gehalten vor Haupteingang.“

„Könnte man Sie nicht genauso gut am Seiteneingang überfallen?“

Massini warf ihm mit schwarz funkelnden Augen einen Blick zu, als halte er diese Frage für die dämlichste, die je im Universum gestellt worden war. „Seitentür jemand muss aufmachen für mich, ich geh rein, Tür fällt zu, keiner kann folgen. Haupteingang ist immer offen. Sie sehen, was passiert!“

„Ja, danke für Ihre Erklärung. Und Sie haben nichts von dem Bankräuber gesehen?“

Massini wirkte ein wenig gereizt. Seine Hände hoben sich in einer ungeduldigen Geste. „Ich sage doch, nein! Er war hinter mir, und dann er hat mich gestoßen, dass ich bin gefallen auf Knie! Ich lasse mich krankschreiben! Ich muss mich erholen von diese Schock!“

„Das ist eine gute Idee, Herr Massini,“ befand Andreas. „Wir wünschen Ihnen gute Besserung.“

„Danke. Sie werden bald fangen diese dumme Mann!“

„Wieso `dumm´?“

„Er weiß nicht, dass er wird nicht haben viel Spaß mit Geld. Ist doch mit Farbe markiert!“

„Ach, das war ein Koffer mit Farbauslösemechanismus?“ meldete sich Sascha zu Wort.

„Natürlich, was sonst?“ Massini grinste. „Wenn ich lasse los Griff, ohne zu deaktivieren, peng - platzt Farbpatrone! Farbe ist auf Geldscheine! Kriegst du nicht ab!“

Sascha ließ ein skeptisches Lächeln sehen. „Prima, dann wollen wir hoffen, dass unser Bankräuber demnächst auf die Idee kommt, das Geld auszugeben.

„Danke, Herr Massini,“ verabschiedete sich Andreas von ihm. „Ich gebe Ihnen meine Karte, falls Ihnen noch was Wichtiges einfällt.“

Als nächste befragte Andreas die andere Bankangestellte, die den Alarmknopf betätigt hatte. Eine pummelige Mittvierzigerin mit blondierter Dauerwellfrisur und reichlich Make-up im Gesicht, die so ziemlich das gleiche erzählte wie Frau Müller-Richter.

Anschließend erkundigte sich Andreas beim Notarzt, ob er die Kundin mit den weißen Haaren vernehmen könne, aber der Arzt hielt es zumindest für angebracht, seine bleiche Patientin in Wassers Büro zu begleiten. Dort lauschten alle interessiert der Aussage der Frau, die sich in nichts von den bisherigen Aussagen unterschied.

Doch dann erwähnte sie etwas, das Andreas aufhorchen ließ. Irgendwie habe der Mann so ausgesehen als sei er nicht wirklich dick, sondern als habe er seinen Anzug nur ausgestopft ... ja, so sei es ihr vorgekommen.

*

Mit zittrigen Händen zündete sich Christoph die wer-weiß-wie-vielte Zigarette an und sah zu, wie der Arzt auf der einen und der Kommissar auf der anderen Seite die ältere Frau beim Arm nahmen und sie in dieses Bankbüro führten.

Er selbst war das reinste Nervenbündel. Mann, was für eine Scheiße! Er hatte noch nie einen Toten gesehen! Oder einen Erschossenen! Einen Ermordeten!

Christoph blies den Rauch weg von den beiden Banktypen, die ihn immer wieder anstarrten, als wär er ein Penner, der sich in ein Luxushotel verirrt hatte. Keiner redete. Er sah auf seine Uhr. Verdammt, Felix dachte sicher, er würde nicht mehr kommen. Christoph holte sein Handy aus der Jackentasche, rief seinen Freund an und erzählte, was passiert war. Felix versprach, zur Bank zu kommen.

Christoph steckte sein Handy ein, drückte die Zigarette aus, stieß sich vom Schreibtisch ab und spazierte ein paar Schritte im hinteren Teil des Raums herum. Im vorderen Teil hatte sich die Spurensicherung breit gemacht.

Vor einem vergitterten Fenster, durch das man auf den Parkplatz gucken konnte, blieb Christoph stehen ... aber sein Blick ging irgendwie ins Leere. Er war sich so gut wie sicher, dass er den Bankräuber erkannt hatte. Die große Frage war nun, ob er das der Polizei sagen oder nicht lieber Kapital aus seinem Wissen schlagen sollte.

*

Andreas bedankte sich bei Frau und Notarzt und bat den letzten Augenzeugen herein, einen jungen Mann namens Christoph Heisterbach, 23, abgebrochene Elektrikerlehre, zur Zeit arbeitslos, der in Dottendorf zu Hause war und nur deshalb seine Kontoauszüge in der Beueler Bankfiliale geholt hatte, weil er sich mit einem Freund treffen wollte, der zwei Querstraßen weiter wohnte.

Heisterbach trat gelassen auf, aber Andreas roch den Zigarettengestank, von dem der ganze Mann eingehüllt war. Wer derart viel rauchte, konnte unmöglich so gelassen sein, wie er vorgab.

Während sich Andreas den Überfall aus Heisterbachs Sicht schildern ließ, musterte er ihn eingehend: der junge Mann hatte ein nichtssagendes Gesicht, schmale Lippen, kleine, blassblaue Augen und für sein Alter reichlich dünnes, dunkelblondes Haar mit einer Frisur, als hätte sich irgendjemand an einem modisch fransigen Schnitt versucht. Auffallend war einzig seine gerötete, klobige Nase.

Seine Aussagen unterschieden sich kaum von denen der anderen Zeugen, was beim wenig komplexen Verlauf des Geschehens nicht überraschte. Doch plötzlich meinte er: „Wissen Sie, was mir am Täter auffiel?“

Sein Gesicht wirkte bei dieser Frage angespannter als vorher, und Andreas wurde das Gefühl nicht los, dass Heisterbach im Begriff war, ihm etwas zu erzählen, das nicht ganz stimmte.

Er kratzte sich nämlich an der unförmigen Nase und schaute dann seine Hände an. „Ich hab den Täter ja nur von der Seite gesehen ... der stand ja keine drei Meter von mir entfernt ... also, der hatte da so einen kleinen, silbernen Totenkopfstecker im Ohrläppchen.“

„Das ist eine sehr interessante Beobachtung, Herr Heisterbach.“ Andreas tat begeistert. „Das bringt uns vielleicht weiter.“ Und vor allen Dingen würde er diesen jungen Mann genauer unter die Lupe nehmen. War es nicht doch ein wenig verdächtig, dass er gerade heute, am Tag des Banküberfalls, in einer fremden Filiale Kontoauszüge holte?

Andreas entließ ihn und begab sich mit Sascha im Gefolge zurück in den Hauptraum der Bank, wo er Wasser fragte, ob er wohl die Aufzeichnungen der Überwachungskameras mitnehmen könne, um sie sich im Präsidium in Ruhe anzusehen.

Wasser eilte davon, um das Gewünschte zu besorgen, und Andreas sprach Peer an, der mitten zwischen den Schreibtischen stand, Hände in die Hüften gestützt, und sich stirnrunzelnd umsah.

„Morgen,“ grüßte Andreas.

„Morgen, ihr beiden. Hier werden wir wohl außer der Patronenhülse und der Kugel, die sich noch im Schädel des Toten befinden muss, nicht viel finden,“ meinte Peer. Seine wulstigen, gut durchbluteten Lippen boten einen reizvollen Kontrast zu dem grasgrünen Pullover, den er trug. „Allerdings sagte man uns, dass heute morgen vor dem Öffnen der Bank der Boden gesaugt wurde ... den untersucht Renate jetzt auf Spuren, die von den Schuhen des Täters hereingeschleppt worden sein könnten.“

Ach ja, die hellblonde Renate. Andreas schaute ihr kurz dabei zu, wie sie auf Knien den grauen Teppichboden in der Nähe der Eingangstür absuchte, gerade etwas mit einer Pinzette aufklaubte und in ein Plastikröhrchen gab. Die Frau hatte noch einmal gute 10 Kilo abgenommen und konnte inzwischen vermutlich in Kleidergröße 44/46 schlüpfen. Aber machte sie das tatsächlich attraktiver als vorher?

Jedenfalls hielt sie, seit sie gehört hatte, dass Andreas eine Freundin hatte (und wer hatte das nicht gehört?), Distanz zu ihm. Das war auch besser so. Sie sah auf, als hätte sie gespürt, dass jemand sie beobachtete. Ohne zu lächeln nickte sie Andreas und Sascha zu.

„Hallo, schon was gefunden?“ sprach er Renate an und setzte ein freundliches Lächeln auf.

Sie suchte weiter den Boden mit Blicken ab. „Ja, ein paar Pflanzen- oder Blütenfasern und Schmutzkrümel. Vielleicht können wir irgendwas dem Täter zuordnen.“

„Wie ich euch kenne, könnt ihr das bestimmt.“

Da sich Renate von diesem Lob nicht weiter beeindrucken ließ, nahm Andreas Kurs auf die Eingangstür, die immer noch offen stand. Spannungen am Arbeitsplatz konnte er nicht leiden. Draußen hatten inzwischen zwei Streifenbeamte eine Absperrung aus rotweißem Band befestigt, die die wachsende Menge Schaulustiger zurückhielt.

Andreas rief einen der Polizisten zu sich und beauftragte ihn, die Leute zu fragen, ob jemand dem Bankräuber in die Arme gelaufen war, als der das Gebäude verlassen hatte, und denjenigen dann zu ihm in die Bank zu schicken.

Zunächst aber trafen ein Polizeipsychologe und ein Seelsorger ein, um sich um die zu kümmern, die den Überfall und den Mord miterlebt hatten.

Zwei Minuten später eilten - Andreas stand gerade bei Peer im Hauptraum - zwei Männer, zwei Frauen und eine Jugendliche auf ihn zu, die alle behaupteten, wertvolle Hinweise geben zu können. Andreas nahm sie sich in Wassers Büro einzeln vor. Es stellte sich schnell heraus, dass die zwei Frauen und einer der Männer lediglich glaubten, etwas von weitem gesehen zu haben, das aber bei den Ermittlungen nicht im Geringsten weiterhalf.

Die Jugendliche hingegen war vom Bankräuber beinah über den Haufen gerannt worden. Der Mann sei mit einem silberfarbenen Koffer aus der Bank gestürmt und habe sich - die Pistole noch in der Hand haltend - mit einer schnellen Bewegung etwas vom Gesicht gerissen. Dadurch habe er sie wohl nicht gesehen, jedenfalls habe er einen knappen Meter vor ihr abgebremst und sei nach links in die Seitenstraße hinein gehastet. An dieser Stelle nun erhoffte sich Andreas eine richtig gute Personenbeschreibung.

Julia, 15 Jahre alt, für Ihr Alter sehr groß, kurze, schwarze und rot gefärbte Haare, sehr schwarze Kleidung, verzog leicht angewidert den schwarzbemalten Mund. „Der Typ sah echt komisch aus ... der hatte so `ne schmale Brille mit schwarzem Rand an ... und unter der Nase so `nen schwarzen Schnauzer, also der war bestimmt nicht echt, weil auch die anderen Haare mehr so braun waren . Ach ja und dann hatte er noch so Haare hier – wie heißen die Dinger noch mal?“ Sie führte ihre Zeigefinger auf beiden Seiten des Gesichts von den Ohren bis fast ans Kinn hinunter.

„Meinst du Koteletten?“ warf Sascha ein.

„Ja, dieser Elvis Presley, der hatte doch auch mal so was, so richtig lang, und bei dem Typ waren sie auch noch so struppig!“ Man konnte ihr den Widerwillen förmlich ansehen und anhören.

Andreas ärgerte sich: das klang ja fast nach einer Verkleidung unter der Verkleidung! Wie umsichtig!

„Wie alt und wie groß war der Mann ungefähr?“

Julia kniff die Augen ein wenig zusammen und neigte den Kopf nach rechts. „Keine Ahnung vierzig oder fünfzig? Sehr groß war der nicht, aber dick.“

„Wie sieht´s aus, Julia, musst du heute noch zur Schule?“ wollte Sascha wissen. „Wir schicken dich nämlich gleich ins Polizeipräsidium, damit du dir ein paar Fotos ansiehst, und dann kannst du uns helfen, ein Phantombild zu erstellen. Du kriegst natürlich für deine Lehrer eine Entschuldigung.“

„Krieg ich auch `ne Belohnung, wenn ihr den Kerl schnappt?“ erkundigte sie sich vorsorglich.

„Dafür sind wir nicht zuständig, da musst du mit der Bank reden.“ Sascha notierte sich ihre Personalien.

Beim zweiten Zeugen handelte es sich um einen Herrn Kirsch, 52, Inhaber eines Fliesenfachgeschäfts, der gerade dabei gewesen war, die Seitenstraße zu überqueren, um zu seinem Auto auf dem Parkplatz hinter der Bank zu gelangen, als der Bankräuber aus dem Gebäude kam, etwas aus dem Gesicht entfernte, etwas in die rechte Anzugtasche stopfte und die Straße entlang trabte.

Er beschrieb den Täter wie Schülerin Julia auch: unförmig, mittelgroß, heller, altmodischer Anzug, schwarzer, unecht wirkender Bart, schwarze Brille, lange, braune, buschige Koteletten (wie Mungo Jerry in seinen wildesten Zeiten, schwärmte Kirsch), Koffer, keine Pistole.

„Sehr schön, Herr Kirsch,“ lobte Andreas seine Beobachtungsgabe. „Dann können Sie uns sicher auch sein Auto genau beschreiben.“

Kirsch, der wohl den halben Winter auf der Sonnenbank verbracht hatte und eine schwere Goldkette um den Hals trug, guckte überrascht. „Sein Auto? Welches Auto? Ich kann Ihnen sein Fahrrad beschreiben.“

Sascha verdrehte die großen Augen gen Himmel. „Auch das noch!“

Andreas nickte missmutig. „Na, dann beschreiben Sie mal das Fahrrad und erzählen Sie uns, wie es weiterging.“

Kirsch kratzte sich in den kurzen Haaren und konzentrierte sich. „Das Rad war türkisfarben und hatte kleine Räder, mehr konnte ich leider nicht erkennen. Es stand nämlich in der Seitenstraße neben der Bank, ganz weit hinten, noch hinter dem Wendehammer. Da ist ein Durchgang zur nächsten Straße, da sind zwei oder drei Pfosten, damit da kein Auto durchkommt ... und genau da ist der Mann hergefahren.“

Sascha hatte alles mitgeschrieben, strich sich über sein blondes Bärtchen und gab einen Kommentar ab. „Eine Fahndung nach `dickem Mann auf Fahrrad´ können wir uns also schenken. Der hat bestimmt sein Auto irgendwo geparkt, sein Klapprad eingeladen, sich seine tolle Verkleidung vom Gesicht gerissen und rast jetzt als brillen- und bartloser Magersüchtiger Richtung Autobahn.“

„Möglich,“ murmelte Andreas. „Herr Kirsch, hatten Sie den Eindruck, dass sich der Bankräuber den Anzug mit irgendwas ausgestopft hatte, um dicker zu wirken?“

Kirsch holte sich anscheinend den Anblick des Täters ins Gedächtnis zurück, denn es dauerte ein paar Sekunden, bis er antwortete. „Ja, kann gut sein. Als er da so die Straße entlang trabte, kam er mir recht fit vor und gar nicht außer Atem und sein Gesicht wirkte auch nicht besonders dick.“

„Können Sie uns was zum ungefähren Alter des Mannes sagen?“

„Na ja, schätzungsweise zwischen 25 und 35.“

„Danke, Herr Kirsch, das hilft uns zwar alles nicht weiter, aber jetzt wissen wir wenigstens, warum.“ Andreas verließ zusammen mit Kirsch und Sascha das Büro.

Walter von der Spurensicherung stand mitten im Vorraum der Bank und hielt nach einem Betätigungsfeld Ausschau. Peer fingerte am Kopf der Leiche herum, Renate untersuchte den Teppichboden, und die Zeugen waren entlassen. Die Zahl der Schaulustigen vor der Bank hatte allerdings zugenommen, wie Andreas bemerkte, als er mit Sascha aus dem Gebäude kam. Ein paar Fernsehsender sowie Radio Bonn-Rhein-Sieg waren hinter der Absperrung auch schon da, und hielten ihnen von weitem Mikrofone entgegen.

Andreas schüttelte den Kopf und rief ihnen zu: „Unser Pressesprecher wird Ihnen nachher was dazu sagen.“

Sie schritten die Seitenstraße hinunter bis zum Wendehammer, und wie beschrieben führte die Straße gewissermaßen geradeaus weiter, war aber durch drei Pfosten gegen das Durchfahren von Autos gesichert.

„Machen wir einen kleinen Spaziergang und sehen nach, wo wir rauskommen,“ ordnete Andreas an.

Ein paar Minuten später landeten sie auf der Siegburger Straße.

„Der hatte garantiert hier irgendwo sein Auto geparkt,“ mutmaßte Sascha, schaute nach rechts, schaute nach links, als halte sich der Bankräuber noch in der Nähe auf, ganz wild darauf, endlich von der Polizei verhaftet zu werden.

Andreas holte Sascha in die raue Wirklichkeit zurück. „Der Mann kann sein Auto genauso gut ein paar Kilometer weiter Richtung Siegburg oder Bonn abgestellt haben. Lassen wir es gut sein.“

Also spazierten sie zurück zum Tatort und nahmen das aufgezeichnete Material aus den Überwachungskameras, das Wasser ihnen aushändigte, an sich.

„Wir fahren zum Präsidium und gucken uns an, was die Kameras aufgenommen haben,“ informierte Andreas Peer, nachdem dieser auch nicht viel zu berichten hatte – schließlich war klar, wer der Tote war, und wie er zu Tode kam.

Kurz darauf saßen sie im Wagen, und Sascha hatte ernsthaft Mühe, aus der Seitenstraße herauszukommen, in der sich nun ebenfalls die Neugierigen drängten. Er schaffte es bis auf die Marktstraße, ohne jemanden zu überfahren, was er, seinen Verwünschungen zufolge, wohl gern getan hätte. Er bog nach rechts ab und gab Gas.

Sie fuhren nun, da Sascha inzwischen gemerkt hatte, dass dieser Weg kürzer war, über die Königswinterer Straße zurück.

Unterwegs begann Sascha in seinem reichhaltigen Filmwissen über Banküberfälle zu kramen, was aber letztlich nirgendwohin führte, da Filmbanküberfälle meistens furchtbar spektakulär und voller Action waren (er erwähnte `Stirb langsam 3´, den Andreas natürlich nicht gesehen hatte) und oft auch äußerst raffiniert ausgeklügelt, wie die Raubzüge des `Danny Ocean´. Wer um Himmelswillen war `Danny Ocean´?!

Der vorliegende Fall schien eher einfach gestrickt zu sein. Allerdings bewies die Sache mit der verbarrikadierten Tür, der Flucht mit dem Fahrrad, dem möglicherweise ausgestopften Anzug und der doppelten Maskierung, dass der Mann intelligent war. Was wiederum im Gegensatz zu Massinis Bemerkung stand, der Mann sei dumm. Hatte dieser Widerspruch etwas zu bedeuten? Andreas notierte sich diese Frage im Hinterkopf.

Zwanzig Minuten später sahen sie sich im Präsidium die Kameraaufzeichnungen an. Die eine Kamera überwachte den Vorraum mit dem Geldautomaten, die andere den Hauptraum mit den Angestellten. Die Aufnahmen bestätigten die Zeugen und gaben leider noch weniger her als deren Aussagen.

Eine Fahndung anhand dieser Aufnahmen in Zeitung und Fernsehen hielt Andreas für ziemlich sinnlos.

Zurück im Büro ließen sie sich auf ihren Schreibtischsesseln nieder, lehnten sich zurück, schwiegen und dachten nach. Wie und wo konnte man ansetzen? Das Motiv war klar: der Mann brauchte Geld, aber dieses Motiv hatte er mit gut der Hälfte der Deutschen gemein. Sascha prüfte nach, ob gegen Heisterbach, Massini oder einen der anderen Leute aus der Bank etwas vorlag, aber alle hatten eine weiße Weste.

Das einzige, was Andreas sonst noch einfiel, war nachzusehen, ob einer ihrer einschlägig vorbestraften `Kunden´ als Täter in Frage kam.

Plötzlich verkündete Sascha: „Ich werde mal unsere Bonner Bankräuber unter die Lupe nehmen. Vielleicht finden wir Übereinstimmungen.“

„Die Idee hatte ich auch gerade.“

„Ach was, ich dachte, du hättest bessere Ideen.“

„Danke, aber manchmal bin sogar ich ratlos,“ gab Andreas zu, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und reckte und dehnte seinen verspannten Rücken. „Vielleicht sollten wir die gewaltbereiten Räuber der näheren und/oder weiteren Umgebung dazupacken.“

„Du redest vom Großraum Köln/Ruhrpott? Dem Ballungszentrum des Verbrechens? Dem Mekka für Mörder, Räuber, Zuhälter und korrupte Politiker?“

„Bitte? Das ist Diskriminierung. Das klingt ja, als sei hier bei uns nichts los!“

„Jetzt, wo du´s sagst.“ Sascha trank mit leicht abwesendem Blick seine Tasse leer. „Vielleicht sollte ich mich in meine alte Heimat versetzen lassen.“

„Ja, geh zurück nach Bochum, dann hast du gar keine Freizeit mehr.“

„Stimmt auch wieder: du bist ja hier derjenige, der keine Freizeit braucht. Also dann, überprüfen wir unsere Bankräuber!“

Sascha schien auf einmal schwer motiviert, holte zwei Tassen frischen, heißen Kaffee, und dann machten sie sich an die Arbeit. Gegen fünf Uhr nachmittags waren sie auf insgesamt drei Straftäter gestoßen, die eventuell, vielleicht, unter gewissen Umständen in Frage kommen könnten.

Und so schickte Andreas Petra, Jörg und Ulli los, um die drei Vorbestraften zu befragen.

*

Königswinter-VinxelFreitag, 17.20 Uhr

Sascha war auf dem Heimweg. Er kroch im Schneckentempo hinter einem Tanklaster die Langemarckstraße hinauf. Das machte ihn wahnsinnig. Ähnlich wahnsinnig machte ihn zur Zeit Annikas Besessenheit, die neue Wohnung mit österlichem Schmuck zu verunstalten.

Wohin man sah und trat, überall Osterhäschen, Osterglocken, Osterküken, kunstvoll von ihr selbst bemalte Ostereier, mit Ostermotiven beklebte Fensterscheiben. Noch hatte sie sein Zimmer verschont.