ALLES IN EINER NACHT - Ben Benson - E-Book

ALLES IN EINER NACHT E-Book

Ben Benson

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Beschreibung

Es war nun Abend geworden. Ruth Cagle blickte durchs Esszimmerfenster auf die Straße hinaus. Einige Male hatte sie eine hellgelbe Limousine am Haus vorüberfahren sehen. Am Steuer saß ein Mann, den sie nicht erkennen konnte. Sie war beunruhigt. Es würde Dewey Maddox durchaus ähnlich sehen, das Haus beobachten zu lassen, um eine günstige Gelegenheit abzupassen...

 

Der Roman Alles in einer Nacht aus der Feder des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Ben Benson (* 1915 in Boston, Massachusetts; † 1959 in New York) erschien erstmals im Jahr 1960; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1962.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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BEN BENSON

 

 

Alles in einer Nacht

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 262

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

ALLES IN EINER NACHT 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Es war nun Abend geworden. Ruth Cagle blickte durchs Esszimmerfenster auf die Straße hinaus. Einige Male hatte sie eine hellgelbe Limousine am Haus vorüberfahren sehen. Am Steuer saß ein Mann, den sie nicht erkennen konnte. Sie war beunruhigt. Es würde Dewey Maddox durchaus ähnlich sehen, das Haus beobachten zu lassen, um eine günstige Gelegenheit abzupassen...

 

Der Roman Alles in einer Nacht aus der Feder des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Ben Benson (* 1915 in Boston, Massachusetts; † 1959 in New York) erschien erstmals im Jahr 1960; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1962.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   ALLES IN EINER NACHT

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Als er aus dem Tor des Zuchthauses in Norfolk trat, blickte er erst einmal zur Sonne empor. Es lag nicht etwa daran, dass er in den zwei Jahren seiner Haft die Sonne nie gesehen hätte. An jedem schönen Tag hatte er auf dem Hof des Zuchthauses die Sonne zu sehen bekommen. Aber mit einem Unterschied: Das war auf dem Hof gewesen, nicht hier draußen, wo es keine Mauern gab, wo eine andere Sonne zu leuchten schien, eine freie Sonne. Er hatte auch nicht die blasse Haut des Sträflings. Sein Anzug war unscheinbar, aber wenigstens ein Straßenanzug. Er hatte Geld in der Tasche, das er sich im Laufe der zwei Jahre in den Werkstätten der Anstalt verdient hatte. Nicht viel, aber doch etwas. Das einzige, was an die Haft erinnerte, war vielleicht der schlurfende Gang, mit dem er die Stufen herunterkam und auf die Frau zuging, die auf ihn wartete. Es war nicht der weitausholende, zuversichtliche Schritt von ehemals, sondern vielmehr der träge Trott eines Menschen, der es gewohnt ist, Schlange zu stehen, und der missmutig, widerwillig an die Arbeit herangeht, die man ihm auferlegt hat...

Mrs. Ruth Cagle hatte an der Einfahrt zum Parkplatz gestanden. Als sie ihn erblickte, lief sie ihm entgegen. Er blieb jählings stehen.

Sie kam heran und küsste ihn auf derr Mund.

»Wes«, sagte sie schlicht, »du siehst gut aus.«

»Ich fühle mich ausgezeichnet«, sagte er zu seiner Frau. »Wirklich ausgezeichnet.«

Tief atmete er die Frühsommerluft ein. Soeben hatte er gelogen. Er fühlte sich keineswegs ausgezeichnet. Er war deprimiert und verängstigt. Die aufheiternde Wirkung der Freiheit, auf die er sich gefreut hatte, wollte sich nicht einstellen. Er blickte zu-den hohen Zuchthausmauern zurück und kam sich hier draußen nackt und wehrlos vor.

»Jetzt siehst du wieder wie ein Mensch aus«, sagte sie.

Eine Woche zuvor hatte sie ihn im Besuchszimmer im Verwaltungsgebäude gesehen, und seither hatte er sich natürlich nicht verändert. Nur hatte er damals Sträflingskleidung getragen, während er jetzt seinen gewohnten braunen Anzug, Hemd und Schlips anhatte. Im Anzug sah er genauso aus wie jeder beliebige Passant, und sie brauchte sich seiner nicht mehr zu schämen.

Linkisch stand er da, Wesley Cagle. Hinter ihm wurden Schritte auf dem Betonweg laut. Schnell drehte er sich um, verkrampft, mit geballten Fäusten.

Ein Mann mit einer Aktenmappe in der Hand ging forsch an ihnen vorbei.

»Was ist denn los?«, fragte Ruth Cagle ihren Mann.

Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nichts, Ruth.«

»Kennst du diesen Mann?«

»Nein.«

»Hör zu, Wes. Denk daran, dass du jetzt heraußen bist. Du hast deine Strafe verbüßt. Du schuldest ihnen allen nichts mehr.«

Er nickte und blickte auf sie hinunter. Sie war klein und rundlich, zwei Jahre jünger als er, vierundzwanzig. Im folgenden Monat hatte sie Geburtstag. Das durfte er nicht vergessen. Er betrachtete ihr weiches braunes Haar, ihre großen braunen Augen und ihre hübschen Beine. Eigentlich hätte er sie heftig begehren müssen. Aber er fühlte nichts. Nichts regte sich in ihm. Stattdessen wollte die Angst nicht weichen. Sie setzten sich in Bewegung.

Der Wagen stand schräg auf dem für Besucher reservierten Parkplatz.

Als sie hinkamen, fragte sie: »Willst du steuern?«

»Das geht nicht«, erwiderte er. »Mein Führerschein ist abgelaufen. Und bevor ich mir einen neuen beschaffe, muss ich die Erlaubnis meines Bewährungshelfers einholen.«

»Daran habe ich nicht gedacht. Das alles werde ich mir merken müssen.«

Er half ihr beim Einsteigen und ging dann an die andere Seite hinüber. Der Wagen war frisch gewaschen. Aber er sah älter und abgenützter aus. Der Lack war verblichen, das Chrom angerostet. Na ja, überlegte er, genauso wie alles andere auch. Zwei Jahre machen etwas aus. Auch die Außenwelt kam ihm gealtert vor.

Er setzte sich zu seiner Frau und knallte die Tür zu.

»Du hast die alte Karre brav gepflegt. Wie läuft sie denn?«

Langsam und vorsichtig stieß Ruth den Wagen nach hinten. »Recht gut. Al hat alles nachgesehen. Er sagt, wir brauchen neue Zündkerzen und neue Pole. Der eine Reifen ist sehr mitgenommen, und wir müssen eine neue Kappe ersetzen lassen. Die Vorderräder flattern ein wenig. Davon abgesehen, ist der Wagen in Ordnung. Ich fahre ohnedies nie sehr schnell.«

Sie bog in die Autostraße ein. Wesley drehte sich auf seinem Sitz um, warf einen letzten Blick auf die hohen Mauern und die Zufahrt. Kein Wagen fuhr hinter ihnen her.

»Willst du auswärts essen?«, fragte sie.

»Warum fragst du?«

»Ich dachte, du möchtest vielleicht im Restaurant essen. Ganz, wie du willst, Wes.«

»Wenn es dir recht ist, fahren wir nach Hause.«

»Gut. Ich habe für alle Fälle ein Huhn gebraten.« Sie hielt inne. »Al will mit dir sprechen.«

»Der Teufel soll ihn holen«, sagte er gleichgültig. »Alle deine Verwandten soll der Teufel holen.«

»Er ist nur mein Schwager, der Mann meiner Schwester. Kein Blutsverwandter.«

»Vor zwei Jahren hätte ich Hilfe gebraucht«, sagte Wesley. »Keiner hat einen Finger gerührt. Der Teufel soll Al und alle deine Verwandten holen.«

»Schön. Schön und gut. Fang nicht wieder damit an.«

Er schwieg eine Weile.                

»Soll das heißen, dass Al zu uns kommt?«

»Wenn du nicht willst, kommt er nicht.«

»Ich will es nicht.«

»Du scheinst etwas zu vergessen«, sagte Ruth.

»Ich weiß, er hat mir Arbeit angeboten, und deshalb wurde ich bedingt entlassen. Der barmherzige Samariter.«

»Sonst wärst du nicht so schnell freigekommen. Du würdest noch immer sitzen.«

»Ich werde mich bei ihm für seine Nächstenliebe bedanken müssen.«

»Er ist ein angesehener Geschäftsmann und hat für dich gebürgt.«

»Er hat mich immer schäbig behandelt. Schon bevor ich ins Kittchen kam. Was glaubst du, wie er mich jetzt behandeln wird?«

»Du bist zu empfindlich. Im Leben muss man auf so etwas gefasst sein.«

»Weil er Geld hat und ich keines habe? Hör zu, ich kenne seine Steuerschwindeleien und seine Geschäftspraktiken. Was ich weiß, hätte genügt, um ihn schon längst ans Messer Zu liefern.«

»Zehn Minuten«, sagte sie. »Noch bist du keine zehn Minuten aus dem Zuchthaus raus, und der Streit geht schon wieder los. Um Gottes willen, Wes, was verlangst du denn von mir?«

»Schon gut«, brummte er. Der Wagen kam zu einer Kreuzung und schlug die Richtung nach Wrentham ein. Wieder sah sich Cagle um. Ein Auto näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Wesley wurde ganz steif. Das Auto überholte sie, raste mit flackerndem Blinklicht vorbei und verschwand um eine Biegung.

Es war ein Funkstreifenwagen der Staatspolizei gewesen.

Wesley atmete auf.

»Al möchte heute Abend mit dir sprechen«, sagte seine Frau.

Wesley Cagle bemühte sich, seinen Zorn zu bezähmen. Alfred Weaver, der Schwager. Al Weaver, klein und vierschrötig, mit der dicken Zigarre und dem hellbraunen Stetsonhut. Besitzer von drei großen Wagenwäschereien in den Villenvorstädten Bostons. Weavers Wagen-Wäschereien. Das Schlucken fiel ihm schwer.

»Gut. Ich bin für sein Angebot dankbar. Was erwartet er von mir? Dass ich ihm

Sie unterbrach ihn. »Sei nicht so verbittert, das hat keinen Zweck. Du hast dich immer mit AI vertragen.«

»Solange ich mich von ihm hunzen ließ. Und bis ich ihn damals um ein Darlehen bat.«

»Das ist vorbei.« Ihre Hände schlossen sich fester um das Steuerrad. »Jetzt gibt er dir Arbeit. Es war schon recht schwer für mich - ohne dich.«

»Ja, ja«, warf er hastig ein. »Wir wollen uns nicht zanken.«

»Du vergisst, dass du noch immer Geld schuldest.«

»Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen«, entgegnete er schroff.

»Und wenn Al nicht wäre...?«

»Freilich, freilich.« Er kämpfte gegen seinen wachsenden Zorn an. »Schön, ich bitte um Verzeihung.«

Sie kamen nach Summerton und bogen an der Verkehrsampel links ab. Die Stadt machte einen schäbigeren Eindruck als vor zwei Jahren. Schmutziger, rußiger. Im Zuchthaus hatte er sich Summerton immer ganz anders vorgestellt, hell und blank wie eine neugeprägte Münze.

Als sie vor dem kleinen, grauen, zweistöckigen Haus hielten, erschrak er. Es schien zusammengeschrumpft zu sein, sah abgeschabter und verwahrloster aus. Er blickte zu dem Laden am oberen linken Fenster hinauf. Der Laden war noch immer lose und hing schief herab.

Wesley stieg aus. Bis auf ein kleines Kind in einem Laufstall im Vorgarten, drei Häuser weiter vorne, war die Straße menschenleer. Sorgfältig und lauernd sah er sich um. Seine Frau gesellte sich zu ihm.

»Was ist denn los?«, fragte er. »Wo stecken sie denn alle?«

»Die Nachbarn wollen dich begrüßen«, erwiderte sie, »aber ich habe sie gebeten zu warten.«

»Welche Nachbarn?«

»Mrs. McNawara, Addie Holt, Dora Ladd und die Sawyers. Sie sind hier gewesen. Aber am ersten Tag - na, du weißt. Sie dachten, du würdest dich erst wieder eingewöhnen wollen.«

»Ja, freilich. Wo ist deine Schwester?«

»Sie kommt später.«

Sie gingen die Stufen hinauf, und Ruth sperrte auf. Drinnen war das Haus so tadellos sauber wie eh und je. Aber schäbiger. Wesley betrachtete die verschossenen Gardinen. Der abgetretene Fleck auf dem Teppich war größer geworden. Er hängte sein Jackett in die Flurgarderobe und lockerte den Schlips. Sie ging in die Küche. Er folgte ihr.

»Ich werde uns jetzt etwas zum Essen richten«, sagte sie.

Er nahm ein Glas aus dem Schrank. Es war ein altes Marmeladenglas. Er drehte den Wasserhahn auf. Nicht einmal anständige Trinkgläser hat man im Haus, dachte er.

»Im Kühlschrank steht Bier«, sagte seine Frau.

»Ich trinke Wasser.«

Sie sah ihm zu, wie er trank. Sein Adamsapfel zuckte auf und ab.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Hat jemand angerufen?«

»Ja, der Bewährungshelfer - Mr. Tallino. Er sagt, er würde im Laufe des Nachmittags zu dir kommen.«

»Sonst noch jemand?«

»Nein, niemand, der dich sprechen wollte.«

Er dachte eine Weile nach. Dann drehte er sich zu ihr um. Die Junisonne fiel durchs Küchenfenster und streute einen hellen Schimmer auf ihr Haar.

»Du siehst gut aus, Ruth. Ich meine, du hast dich wirklich gut gehalten.«

»Ja, was hast du denn erwartet? Eine alte Hexe? Ich bin erst dreiundzwanzig.«

Er lächelte. »Nächsten Monat wirst du vierundzwanzig.«

»Aber heute bin ich erst dreiundzwanzig. Und du bist sechsundzwanzig.« Sie nahm seine längliche, knochige Hand. »Wir haben noch das ganze Leben vor uns, Wes.«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte er. »Ich komme mir wie vierzig vor. Es war eine lange Zeit, Ruth. Ich könnte sie nicht noch einmal ertragen.«

»Auch für mich war es eine lange Zeit«, sagte sie. »Wir sollten daran denken, uns Kinder anzuschaffen, Wes.«

»Daran habe ich soeben gedacht.«

Die Türklingel schrillte. Er warf Ruth einen hastigen Blick zu.

»Vielleicht ist es der Bewährungshelfer«, sagte sie.

Er ging ins Esszimmer und spähte durch die Gardine. »Dein Schwager Al. Mit seiner dicken, fetten Zigarre. Mach nicht auf, dann fährt er wieder weg.«

»Er hat den Wagen gesehen«, erwiderte Ruth. »Ist meine Schwester dabei?«

»Nein.«

»Mach ihm auf. Du kennst seine misstrauische Art, Wes.« Wesley ging hin und öffnete die Haustür. Al Weaver trat ein. Sein weißes Hemd war frisch gestärkt, die Krawatte sorgfältig geknüpft, der graue Kammgarnanzug frisch gebügelt. Die schmalen schwarzen Boxcalf-Schuhe waren schön geputzt. Auf seinem Kopf saß ein breitrandiger Stetson.

Sie reichten einander die Hände. Al Weaver nahm gar nicht erst den Hut ab. Sein Haar begann schütter zu werden, es zeigte sich der Ansatz einer Glatze - und in diesem Punkt war er äußerst empfindlich.

»Morgen, Morgen, Wes!«, sagte Al Weaver. »Du siehst prächtig aus. Wann bist du nach Hause gekommen?«

»Soeben.«

»Wie fühlst du dich, Wes?«

»Gut.«

»Ein schönes Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Hoffentlich störe ich nicht.«

»Durchaus nicht«, sagte Wesley Cagle.

Al Weaver lächelte. Seine kleinen weißen Zähne wurden sichtbar. »Na ja, ich kann nicht lange bleiben. Ich möchte dich nur bitten, heute Nachmittag ein paar Stunden zu arbeiten.«

»Das wird nicht gehen«, erwiderte Wesley Cagle. »Ich habe anderes zu tun.

»Ja, das weiß ich. Aber in Dedham fehlt es mir an Personal. Los, ich fahre dich hin.«

»Bedaure, Al. Mein Bewährungshelfer will mit mir sprechen. Wie ich schon sagte, trete ich morgen früh an.«

»Mach keine Ausflüchte«, sagte Al Weaver barsch. »Ich ersuche dich um einen Gefallen, und du kommst mir mit lauter Geschwätz. Es ist für mich genügend riskant, dass ich dich bei mir anstelle. Vergiss das nicht.«

»Du wirst schon dafür sorgen, dass ich es nicht vergesse«, sagte Cagle. »Morgen früh trete ich an.«

Ruth Cagle mischte sich ein. »Wirklich, Al! Er erwartet den Bewährungshelfer.« Weaver biss die Zähne hinter der Zigarre zusammen. Eine Weile schwieg er. Dann: »Komm morgen sehr früh, Wes. Um halb acht.«

»Und wenn es regnet?«, fragte Ruth. »Dann gibt es ja nichts zu tun.«

»Er muss auf jeden Fall erscheinen.«

»Wird er dafür bezahlt?«, fragte sie.

»Wenn er was tut, kriegt er bezahlt. Ohne Arbeit kein Geld. Aber er muss da sein.«

»Al«, sagte sie in ruhigem Ton, »deine übrigen Angestellten behandelst du anders.«

»Richtig«, antwortete er. »Aber es sind ja auch nicht allzu viele ehemalige Zuchthäusler bei mir beschäftigt.« Langsam und entschlossen ging Wesley auf ihn zu. Schnell trat seine Frau dazwischen. Al Weaver stand mit gespreizten Beinen da, die kleinen Füße fest gegen den Boden gestemmt. Sie wusste, dass Al es absichtlich darauf anlegte, ihren Mann zu reizen, um seine Macht zu zeigen. Als einziger in der Familie hatte er es zu etwas gebracht. Wes war der Handwerker, der Arbeiter, der Mechaniker. Er hatte bei Wardwell Tool recht gut verdient, aber eben nur den Arbeitslohn. Nun hatte er seinen Dienstaltersanspruch eingebüßt, und Wardwell Tool stellte ihn nicht wieder ein. Es würde viele Monate dauern, bis er dort an die Reihe kam - falls sie ihn überhaupt jemals wieder einstellten. Inzwischen wäre Wesley ohne Beschäftigung gewesen und hätte folglich keine Möglichkeit gehabt, die bedingte Entlassung zu beantragen. Al hatte ihm eine Anstellung als Wagenwäscher in einer seiner Wagen Wäschereien mit einem Stundenlohn von 1,25 Dollar zugesichert. Bei Regenwetter keine Bezahlung. Es war kärglich genug, aber Wes blieb keine Wahl. Ohne Arbeitsplatz keine Entlassung.

»Hört doch auf, ihr beiden!«, sagte Ruth.

Ihre Schwester Louise, die Frau Als, hatte ihr schon öfter geholfen, mit Al fertig zu werden. Louise war groß und deftig und regierte das Haus mit fester Hand, einschließlich des Ehegatten.

»Hör zu, Ruth!«, stieß Al wütend hervor! »Ich brauche mir von ihm nichts gefallen zu lassen. Meinetwegen kann er gleich wieder nach Norfolk zurückkehren.«

»Vielleicht sollte ich dir eine in die Fresse hauen und zurückkehren!«, schrie Wesley Cagle. »Dann wäre ich auch nicht viel schlimmer dran.«

»Na, dann mach schon und geh!«, sagte Al. »Geh zurück! Ich pfeife auf Louises Getue. Ich gebe ihrem Schwager eine Chance, und zum Dank dafür will er mir eine in die Fresse hauen. Ich habe es bis hierher satt. Ich will von dir nichts mehr wissen. Schluss mit der Anstellung! Sag das deinem Bewährungshelfer.«

»Nein«, erklärte Ruth in entschiedenem Ton. »Das alles haben wir schon erlebt.« Fest drückte sie Al Weavers Hand. »Wes hat dir doch nichts getan. Er hat einen Moment lang den Kopf verloren. Eben erst ist er entlassen worden. Er ist innerlich noch ganz verkrampft.«

»Er hat mich bedroht!«

»Das bedauert er, nicht wahr, Wes?«

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Wes Cagle: »Ich bedaure es.«

Al Weaver strich das Jackett glatt. »Das klingt schon besser. Er muss begreifen, dass ich der Boss bin. Solange er für mich arbeitet, ist er ein Angestellter, weiter nichts.«

»Das begreift er sehr gut«, sagte Ruth.

»Und er soll sich vor seinem Jähzorn in acht nehmen. Sonst sitzt er eines Tages in der Tinte.«

»Er wird sich in acht nehmen«, erwiderte Ruth. »Möchtest du zum Essen bleiben, Al?«

»Nein, ich muss zurück.«

»Komm doch mit Louise heute Abend zu uns.«

»Vielleicht«, antwortete er. »Wollen sehen.«

Er drückte den Hut fester auf den Kopf und stapfte davon.

Als die Tür zufiel, wandte sich Ruth Cagle zu ihrem Mann.

»Warum sträubst du dich? Du weißt, dass du nicht siegen kannst. Er besitzt alle Trümpfe.«

»Ist er oft hier gewesen?«, fragte Cagle.

»Ein, zwei Male. Aber er hat nie...«

»Schau, ich weiß, was er im Sinn hat. Ich weiß, wie er zu dir steht.«       

»Er hat mich nie angerührt. Nie. Er hat Angst, ich würde es Louise erzählen. Du musst Al verstehen. Er ist anders als du. Er hat so wenig Männliches an sich, dass er sich aufspielen muss. Zu Hause ist er ein Niemand. Das weißt du.«

»Reden wir nicht mehr über ihn«, erwiderte Wesley. »Was ist mit Maddox? Hat er angerufen?«

»Nein, er hat nicht angerufen. Hast du damit gerechnet?«

»Er sollte gestern Abend etwas hier hinterlassen.«

»Er hat nicht angerufen«, wiederholte sie.

»Er wird anrufen.«

»Aus einem Stein kann man kein Blut herauspressen.«

»Aber aus mir kann er Blut herauspressen.«

»Er will Geld haben«, sagte Ruth. »Blut ist kein Geld.«

»Doch - für Dewey Maddox. Wenn er mir’s durchgehen lässt, ist das eine schlechte Reklame. Er wird es mir nicht durchgehen lassen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe es im Zuchthaus gehört. Von einem Häftling.«

»Dann geh zur Polizei.«

»Zur Polizei?« Er lachte kurz auf. »Machst du Witze? Was würde die Polizei unternehmen?« Er hob gekreuzte Finger hoch. »So steht Dewey mit der Polizei und mit den Politikern.«

»Egal. Wir werden etwas ausdenken. Jetzt wollen wir essen.«

»Ja, warum nicht...«, sagte Cagle. - Sie kehrten in die Küche zurück. Kaum waren sie dort, da klingelte das Telefon.

Ruth sah ihn an.

»Ich gehe ran«, sagte er hastig. Er eilte in den Flur und nahm den Hörer ab.

Ruth konnte von der Küche aus seine Stimme hören, aber er sprach leise, und was er sagte, war nicht zu verstehen. Sie ging in den Korridor hinaus, um besser zu hören. Er erblickte sie und kehrte ihr den-Rücken. Er sagte noch ganz schnell etwas und legte auf.

»Wer war denn das?«, fragte sie.

»Niemand Wichtiger. Ein alter Bekannter.«

»Was denn für ein alter Bekannter?«

»Du kennst ihn nicht.« Seine Arme hingen schlaff herab, schwer, resigniert. Dann hob er langsam die Hände, befestigte den Kragenknopf und zog den Schlipsknoten fester. »Der Mann hat erfahren, dass ich entlassen worden bin. Er hat vielleicht Arbeit für mich.«

»Was für eine Arbeit?«

»Das hat er nicht erwähnt. Lass das Essen sein, Ruth. Ich werde unterwegs einen Bissen zu mir nehmen.«

»Wo willst du hin, Wes?«

»Ich muss für eine Weile weg.«

»Wohin? Der Bewährungshelfer kommt zu uns.«

»Sag ihm, ich bin bald wieder da.«

»Wes!« Ihre Stimme überschlug sich. »Das war Dewey Maddox, nicht wahr?«

»Nein.«

»Sag es mir doch. Es war Maddox, nicht wahr?«

»Nein.« Er griff nach seinem Jackett. »Er hat nichts mit Maddox zu tun. Tschüs - ich bin bald wieder da.«

Er nahm seinen Hut und verließ das Haus. Ruth blieb an der offenen Tür stehen und sah ihn die Stufen zur Straße hinuntergehen. Er ging am Auto vorbei zur Bushaltestelle an der Ecke. Dort zündete er sich eine Zigarette an und blickte zum Haus zurück.

Ruth schloss die Tür und stellte sich ans Esszimmerfenster. Sie sah den Bus herankommen und halten. Wesley stieg ein. Der Bus fuhr los und verschwand. Ruths Mund war ausgedörrt, ihr Herz schlug rasch. Sie wusste, dass es Dewey Maddox gewesen sein musste, der anrief. Aber sie wusste nicht, was sie tun sollte.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Wesley Cagle kam ins Präsidium der Staatspolizei in Boston. In seiner Begleitung befand sich der Chef der Ortspolizei von Summerton, Matt Hruska.

Sie warteten eine Weile am Auskunftsschalter. Dann wurden sie in das Zimmer eines hochgewachsenen, hageren, bebrillten Kriminal-Lieutenants namens McKenney gewiesen. Von dort aus gingen sie zusammen mit McKenney in den Korridor hinaus und setzten sich auf eine Bank vor dem Amtsraum des Leiters der Kriminalabteilung. McKenney trennte sich von ihnen und ging hinein.

Sie warteten fünf Minuten. Dann steckte Lieutenant McKenney den Kopf zur Tür heraus und gab ihnen ein Zeichen einzutreten.

Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mit kurzgeschnittenem hellblondem Haar und mattblauen Augen. Wesley Cagle schätzte sein Alter auf Ende der Dreißig. Der Mann erhob sich. Cagle sah, dass er groß und hager war. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor und reichte dem Polizeichef Matt Hruska die Hand.

»Wie geht es, Matt?«

»Recht gut, Inspektor«, erwiderte Hruska. »Das ist Wesley Cagle aus Summerton. Wes, das ist Inspektor William Parr.«

Parr reichte Cagle die Hand, sagte dann: »Nehmen Sie bitte Platz.«

Cagle setzte sich. Lieutenant McKenney blieb am Fenster stehen. Hruska lehnte sich an die hintere Wand des Zimmers. Parr begab sich wieder an den Schreibtisch und ließ sich in seinem Sessel nieder. Nun, da die Tür zu war und alle Anwesenden Zivil trugen, war die Polizeiatmosphäre verschwunden. Sie erinnerten Cagle an eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten, die höflich, aber zurückhaltend und distanziert beisammen saßen. Er wusste, dass Hruska sich bereits telefonisch mit Inspektor Parr unterhalten hatte.

»Ihre Geschichte interessiert uns sehr«, sagte Parr zu Cagle. »Erzählen Sie uns doch selbst einige Einzelheiten.«

Cagle sah sich um. Hruska hatte sich jetzt auf einen Stuhl gesetzt und den Schuh hinter das eine Stuhlbeingeklemmt. McKenney blickte auf die Commonwealth Avenue hinaus.

»Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt«, begann Cagle. »Ich kam in Fitchburg zur Welt und bin dort aufgewachsen. Meine Eltern starben, als ich noch klein war. Ich wurde von einem Onkel erzogen. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Ich habe das Wentworth Institut in Boston besucht und die Werkzeugschlosserei gelernt. Dann habe ich meinen Militärdienst absolviert und eine junge Bostonerin namens Ruth Hoyt geheiratet. Das war vor vier Jahren, als ich zweiundzwanzig war.«

»Was hat Sie dazu bewogen, sich in Summerton niederzulassen?«, fragte Parr.

»Ich habe keine Verwandten. Ruths Schwester wohnt in Summerton, und ich bekam Arbeit bei Wardwell Tool als Werkzeugmacher. Deshalb sind wir dorthin übersiedelt. Wir kauften ein altes Haus.«

»Kinder?«

»Nein, Sir. Keine Kinder.«

»Auf welche Weise sind Sie mit Dewey Maddox in Berührung gekommen?«

»Na ja - ich habe bei Wardwell Tool recht schönes Geld verdient, aber ich spielte gern. Das war der Jammer. Glücksspiel und Lotterie aller Art. Toto, Hunderennen, Karten, Lotto, was es nur gibt. Es war wie eine Krankheit. Die Spielleidenschaft. Man könnte es als eine Zwangshandlung bezeichnen. Nach kurzer Zeit hatte ich unsere ersparten Groschen und alles Geld, das ich im Betrieb leihen konnte, verputzt. Ich wollte jetzt nur noch die Verluste aufholen und dann sofort Schluss machen.«

»Ich weiß«, sagte Parr.

Der Mann, dachte Parr, ist schlaksig und hager, fast ausgemergelt. Er hat einen hervorstehenden Adamsapfel, der beim Sprechen auf und ab hüpft. Und er ist offensichtlich verängstigt...

Cagle fuhr fort: »Ich begann bei Dewey Maddox Wetten abzuschließen, und er gewährte mir Kredit. Im Handumdrehen schuldete ich ihm tausend Dollar, und er hängte mich ab. Wenn er mir die Chance gegeben hätte, meine Verluste aufzuholen...«

»Weiter«, sagte Parr.

»Dewey wollte sein Geld haben. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen, Inspektor. Er ist Buchmacher, notiert Wetten. Sein Revier umfasst Summerton, Norwood, Westwood.«

»Wir haben von ihm gehört«, sagte Parr.

»Dewey fing an, mich zu Hause und auch im Betrieb anzurufen. Er wollte sein Geld haben. Ich sagte ihm, wenn er mich im Betrieb belästige, würde ich vielleicht fliegen. Das war ihm egal. Er sagte, nächstens würde er mich zum Krüppel schlagen. Dazu wäre er auch imstande. Er ist groß und war früher einmal Schwergewichtsboxer. Er wollte sein Geld haben, egal, auf welche Weise.«

»Konnten Sie sich nicht an Freunde, an Verwandte wenden?«, fragte Parr.

»Ich habe es versucht. Es nützte nichts.«

»Deshalb begingen Sie einen Raubüberfall«, sagte Parr.

»Ja, Sir«, erwiderte Cagle. »Sie kennen wohl die Fakten. Ich habe die Tankstelle an der Bundesstraße eins überfallen.«

»Unter erschwerenden Umständen«, warf Parr ein. »Sie waren bewaffnet.«

»Ja, Sir.«

»Sie nahmen dem Mann hundertsechzig Dollar ab«, sagte Parr mit einem Blick auf die Papiere, die vor ihm lagen.

»Ja, Sir. Und als ich weg wollte, wurde ich von einem Beamten der Staatspolizei gefasst.«

»Sie widersetzten sich der Verhaftung.«

»Ich geriet in Panik«, antwortete Cagle. »Ich hatte schreckliche Angst. Der Beamte schlug mich zusammen.«

»Weil Sie ihn mit der Pistole auf den Kopf gehauen hatten. Stimmt das?«

»Ich bereue es ehrlich.«

»Ja. Und jetzt haben Sie sich an den Chef der Ortspolizei von Summerton, Matt Hruska, gewandt - wegen eines telefonischen Anrufs. Sie bitten um Hilfe.«

»Ja, Sir. Ich brauche dringend Hilfe. Dewey Maddox hat mir wieder gedroht.« Cagle rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Mein Gott, Inspektor, jetzt geht er noch weiter, jetzt droht er auch damit, meiner Frau etwas anzutun.«

»Er weiß, dass Sie das Geld nicht haben. Was meint er denn, wie Sie sich’s verschaffen sollen?«