LOCKVOGEL IN SEIDE - Ben Benson - E-Book

LOCKVOGEL IN SEIDE E-Book

Ben Benson

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Beschreibung

Auf der Luxusjacht Lively Lady lag eine junge Dame im Liegestuhl.

Inspektor Parr ging auf sie zu.

»Miss Montcalm - gestern Abend hat sich vor Ihrem Haus eine Tragödie abgespielt. Ein toter Mann...«

Sie sprang auf, fuhr herum und schlug ihm mitten ins Gesicht...

Der Roman Lockvogel in Seide aus der Feder des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Ben Benson (* 1915 in Boston, Massachusetts; † 1959 in New York) erschien erstmals im Jahr 1955; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1960.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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BEN BENSON

 

 

Lockvogel in Seide

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 187

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

LOCKVOGEL IN SEIDE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Auf der Luxusjacht Lively Lady lag eine junge Dame im Liegestuhl.

Inspektor Parr ging auf sie zu.

»Miss Montcalm - gestern Abend hat sich vor Ihrem Haus eine Tragödie abgespielt. Ein toter Mann...«

Sie sprang auf, fuhr herum und schlug ihm mitten ins Gesicht...

 

Der Roman Lockvogel in Seide aus der Feder des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Ben Benson (* 1915 in Boston, Massachusetts; † 1959 in New York) erschien erstmals im Jahr 1955; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1960.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   LOCKVOGEL IN SEIDE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Als Kriminalinspektor William Parr das Polizeipräsidium in Wellington betrat, war es zehn Minuten nach neun Uhr. Es war ein warmer Mai-Abend.

An der Schranke im Dienstraum wurde soeben ein zerlumpter, ausgemergelter Säufer eingeliefert. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und ein saurer Weingeruch ging von ihm aus.

Parr ging an der Schranke vorbei zu der abgenützten Holztreppe. Es herrschte eine stickige Atmosphäre von Staub und Lysol und kaltem Tabaksrauch in dem Raum. Er ging die Treppe hinauf; die ausgetretenen Stufen knarrten unter seinen Schritten. Im zweiten Stock war der Fußboden mit Zigarettenstummeln und leeren Kaugummipackungen bedeckt. Er verglich in Gedanken das Milieu mit einer Staatspolizeistation, wo alles tipptopp und blitzsauber war. Hier waren die Beamten nicht kaserniert wie bei der Staatspolizei, und man hatte nicht den Ehrgeiz, für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen.

Auf einer Milchglastür standen die Worte: Kriminalabteilung. Parr öffnete die Tür. An einem kleinen Eichenschreibtisch saß ein Kriminalbeamter mit dichten Brauen und derbem Gesicht und tippte mit zwei Fingern einen Bericht. Er war in Hemdsärmeln und hatte ein Achselhalfter umgeschnallt. Das Tippen hörte auf.

Der Beamte sagte: »Gehen Sie nur rein, Inspektor.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die geschlossene Tür am anderen Ende des Raumes. »Captain Madera erwartet Sie.«

»Danke«, erwiderte Parr. Er durchquerte den Raum. An der Wand stand eine Holzbank mit abgegriffenen Lehnen. Längst schon hatten nervöse, ängstliche und verschwitzte Hände den Firnis weggewetzt.

Auf der Bank saß eine Frau. Sie war klein, in den Sechzigern, dicklich, mit einem abgehärmten, runzligen Gesicht und strähnigem grauem Haar. Sie trug einen alten blauen Mantel, der an einem Knopfloch geflickt war. Unter dem Mantel guckte der Saum eines gestärkten Hauskleides hervor. Die flachen Schuhe waren geputzt, aber das Leder war bereits schäbig, die Schnürsenkel waren zerrissen und zusammengeknüpft. Sie hielt die rauen Hände im Schoß, bewegte sie unruhig hin und her, die Knöchel rot und arthritisch. Sie blickte zu Parr auf und betrachtete ihn mit wässrigen, rührend hilflosen Augen.

»Wollen Sie mit mir sprechen?«, fragte sie schüchtern.

»Nein, liebe Frau«, erwiderte Parr. »Mit Captain Madera.«

»Oh!«, flüsterte sie. Sie blickte auf ihre Hände hinunter und presste sie fest aneinander. »Er ist dort drin.«

Parr öffnete die Tür. Der Schreibtisch stand in der Ecke neben dem einen staubigen Fenster. Captain Walter Madera saß dahinter. Er hatte einen hübschen blauen Anzug an und trug eine hübsche blaue Krawatte. Im gelben Lichtschein der Schreibtischlampe sah sein Gesicht bleich aus. Auf den Wangen seines schmalen Gesichts glänzten blauschwarze Bartstoppeln. Er war dreiundvierzig Jahre alt. Sein schwarzes Haar war glatt; es begann schütter zu werden, so dass er schon einen ganz schönen Ansatz zur Glatze hatte. Als Parr hereinkam, hatte er mit halbgeschlossenen Lidern zu Boden geblickt. Nun hob er den Kopf. Seine Augen waren dunkel.

»Hallo!«, sagte er. »Setzen Sie sich, Parr.« Seine Züge waren straff gespannt, die Kinnmuskeln hart. »Ich habe Sie rufen lassen, weil ich vielleicht etwas für Sie habe - in Sachen Peter Augustin.«

»Das habe ich gehofft«, antwortete Parr. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und wartete. Parr, Leiter der Kriminalabteilung der Staatspolizei in Boston, befand sich nun schon seit über einer Woche in der Stadt Wellington im südöstlichen Teil von Massachusetts. Er war der Bitte des hiesigen Staatsanwaltes gefolgt, dessen Personal nicht ausreichte, um die Angelegenheiten des sogenannten Finanzmannes Peter Augustin zu untersuchen. Augustin, der aus Chicago stammte, lebte seit fünf Jahren in Wellington. Mit ihm war ein plötzlicher Zustrom hartblickender Schlägertypen erfolgt, die allmählich in den Kneipen und Nachtlokalen auftauchten. Und zusammen mit dem Auftauchen von Augustin und diesen Schlägern hatte plötzlich ein lebhafter Wucherbetrieb eingesetzt.

Untertags sah man die hartblickenden Burschen vor den Toren der Textilfabriken und der Kabelwerke Whiting herumlungern und ihrem erbärmlichen Geschäft nachgehen - auf der Basis Sechs für Fünf. Ich leihe dir heute fünf Dollar, am Freitag zahlst du mir sechs zurück. Ich leihe dir hundert, du zahlst mir nächste Woche hundertundzwanzig zurück. Kleine Darlehen an kleine Leute. Aber Woolworth hat auch Millionen verdient und anfangs keinen Artikel verkauft, der teurer war als zehn Cent.

Es gab massenhaft kleine Leute, verzweifelte Leute, die Geld brauchten. Die einen brauchten es für den Buchmacher oder fürs Lotto oder für den todsicheren Tip im fünften Rennen in Narragansett. Der andere brauchte Geld für einen Brillantring, weil Doris gesagt hat, wenn ein Mädel verlobt ist, muss sie einen Ring haben, und man verdient nur dreiundfünfzig Dollar die Woche, davon ging ein Teil für Steuerabzüge, Gewerkschaftsbeiträge und Sozialversicherungs-Abgaben drauf. Das waren die Kunden Augustins.

Es gab noch viele andere Kategorien. Zum Beispiel den Versicherungsagenten, der in der einen Woche mit seiner Abrechnung nicht zu Rande kam und bei Augustin ein Darlehen aufnahm, um den Fehlbetrag auszugleichen. In der nächsten Woche steckte er noch tiefer drin. Da war der Mann, dessen Frau operiert werden musste. Da war der kleine Fabrikant, den man in die Enge getrieben hatte. Sein Kredit war erschöpft; er glaubte, wenn er noch drei Monate durchhalten könnte, würden die Geschäfte sich bessern, die Fabrik würde eine zweite Schicht einlegen, die Staatsaufträge würden zunehmen. Da war die junge Hausfrau, die ihr Wirtschaftsgeld beim Pokern verspielt hatte und es ihrem Gatten nicht zu sagen wagte. Das waren Augustins Kunden.

Der Prozentsatz der zahlungsunfähigen Schuldner war groß. Und der Polyp Augustin, der mit menschlichem Elend handelte, streckte seine Fangarme aus, umschlang das Opfer, erwürgte es  und trat sein Erbe an: die chemischen Reinigungen, die Restaurants, die Bars und Nachtlokale.

Und auch die kleinen Schuldner, die weder Aktiva noch Geschäfte besaßen, zahlten willig. Sie zahlten unweigerlich, was sie Augustin schuldeten. Die fälligen Summen wurden mit Hilfe des Hintergassengerichts für Bagatellsachen eingetrieben. Ein Knie in den Magen, ein Bleiknüppel, ein Schlagring, eine zerschlagene Nase. Es wäre eine schlechte Reklame gewesen, wenn Augustin einem seiner säumigen Schuldner erlaubt hätte, ungeschoren davonzukommen. Die Verwandten bezahlten, oder der Schuldner bestahl seinen Arbeitgeber oder raubte eine Tankstelle aus. Augustin musste so oder so sein Geld haben.

Aber als Parr eine Woche zuvor in Wellington erschienen war, hatte er nichts angetroffen als eine steinerne Mauer des Schweigens, verständnislose Mienen, ein Achselzucken. Wenn er sich auf der Unfallstation des Krankenhauses mit den Opfern schwerer Misshandlungen unterhielt, murmelten sie etwas von unbekannten Tätern, die sie überfallen hätten - bis ihnen die gebrochenen Kinnladen zusammengeflickt wurden und sie ohnedies den Mund nicht mehr aufmachen konnten. Manche erklärten ausweichend, man habe sie berauben wollen. Aber wer einen Raubüberfall begeht, lässt seinem Opfer nicht die Brieftasche. Parr bohrte, flehte, drohte - und erreichte nichts.

Im Laufe von fünf Jahren sagte sich Parr, hatte Augustin die Macht an sich gerissen. Augustin, weise an Jahren und Verbrecherschlauheit, saß fest im Sattel. Die Augustins arbeiteten stets von oben nach unten. Stets gab es irgendwo einen höheren Polizeibeamten oder einen prominenten Politiker, der zu einem Dollar nicht nein sagte. In fast jeder Stadt fanden sich Leute, die sich schmieren ließen. Ohne sie könnte das organisierte Verbrechertum keine drei Tage existieren.

So sah es aus.

Captain Madera holte eine Zigarette hervor. Ein Streichholz flammte auf. Blauer Rauch kräuselte sich empor.

»Sie suchen nach einem Anhaltspunkt, Parr. Egal, was es ist.«

»Egal«, bestätigte Parr. »Nach einem Hebel, mit dem ich den Stein lüpfen kann, unter dem das Gewürm herumkriecht.«

Madera zog an seiner Zigarette.         

»Ich kann Ihnen nur eine vage Vermutung offerieren. Haben Sie die alte Frau draußen sitzen sehen?«

»Ja«, erwiderte Parr.

»Sie heißt Buell. Ihr Mann, Henry Buell, ist seit heute Nachmittag fünf Uhr vermisst. Er schuldet Augustin eine Menge Geld.«

»Wenn Mrs. Buell mit der Sprache herausrückt...«

Madera blies Rauch durch die Nase.

»Sie will mir nichts erzählen. Alle Welt nimmt an, dass die gesamte Wellingtoner Polizei von Augustin bestochen ist. Vielleicht wird sie Ihnen gegenüber gesprächiger sein, Parr. Aber« - er zuckte die Achseln - »vielleicht bedeutet das Verschwinden ihres Mannes gar nichts. Die Krankenhäuser wissen nichts. Ich habe alle Streifen und Verkehrsposten benachrichtigt. Dann wird vielleicht gegen elf der Ehegatte aus einer Sitzung zurückkehren. Er hat vergessen, es seiner Frau zu sagen, oder sie konnte sich nicht mehr erinnern. Das kommt häufig vor.«

»Ich weiß«, sagte Parr. »Aber wir wollen trotzdem mit ihr sprechen.«

 

Als sie ins Zimmer kam, ließ Madera sie auf einem Stuhl neben einer Reihe von grünen Archivschränken Platz nehmen.

»Mrs. Buell, das ist Kriminalinspektor Parr von der Staatspolizei. Wollen Sie ihm von Ihrem Mann erzählen?«

Ihre Hände umkrampften die kleine Handtasche.

»Die Staatspolizei?«, fragte sie. »Warum denn die Staatspolizei? Ist Henry etwas passiert?«

»Nein, liebe Frau«, erwiderte Parr. Er stand vor den Archivschränken. »Wir haben noch nichts gefunden. Vielleicht können Sie uns sagen, wann Sie zum letzten Mal mit Ihrem Mann gesprochen haben.«

Sie rang die Hände. Ihre Augen waren verweint.

»Heute Nachmittag um halb fünf. Er rief mich vom Laden aus an.«

»Was ist das für ein Laden, Mrs. Buell?«

»Wir haben einen kleinen Schnellimbiss im Winthrop Building, gleich neben der Halle im ersten Stock. Nur für die Büroangestellten. Henry sperrt jeden Tag um fünf Uhr zu.«

»Arbeitet er dort allein?«, fragte Parr.

»Allein. Wir können uns keine Hilfskraft leisten. Es ist nicht leicht. Henry ist fünfundsechzig, und es tut ihm nicht gut, den ganzen Tag auf dem kalten Betonfußboden zu stehen. Aber was soll er machen? Er kann schon jetzt kaum zurechtkommen.«

»Was sagte Ihr Mann, als er um halb fünf anrief?«

»Er sagte, er würde Punkt fünf zusperren. Er ruft mich immer an. Heute Abend hatte ich ein besonderes Essen für ihn - Schmorfleisch. Seit sechs Monaten haben wir kein Schmorfleisch gehabt. Nachdem er angerufen hatte, setzte ich die Kartoffeln auf. Er isst sie gern als Brei mit brauner Tunke...«

Madera beugte sich vor und sagte: »Ihr Mann hat um fünf Uhr das Winthrop Building verlassen. Das haben wir nachgeprüft, Mrs. Buell. Vielleicht war er irgendwo verabredet?«

»Das hätte er mir doch gesagt! Er geht nie wohin, ohne es mir zu sagen.«

»Er könnte es vergessen haben«, bemerkte Parr sanft.

»Nein.« In stummer Angst schüttelte sie den Kopf. »Er hätte es mir gesagt. Er hat es mir immer gesagt. Mein Gott, warum vergeuden Sie so viel Zeit? Warum rufen Sie nicht Mr. Augustin an? Fragen Sie ihn, was er mit meinem Mann gemacht hat.«

»Peter Augustin?«, fragte Parr. »Warum vermuten Sie, er könnte mit der Sache zu tun haben?«

»Weil Henry«, antwortete sie tonlos, »der Augustin Finance Company viertausend Dollar schuldet. Sagen Sie Mr. Augustin, dass wir das Darlehen zurückzahlen werden. Wir haben zwar nicht das Geld, aber er kann den Laden übernehmen.«

»Das Darlehen wurde für den Laden gegeben?«

»Ja. Viertausend Dollar. Und Henry plagte sich wie ein Wilder, nur um die Zinsen zahlen zu können. Die Zinsen sind so hoch, dass wir bereits Zinseszinsen schulden. Das ist Augustins System. Nie werden wir das Darlehen zurückzahlen können. Nie!« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Mr. Augustin verlangt jetzt das ganze Geld zurück. Wir haben es nicht. Die Geschäfte gehen schlecht. Aber Mr. Augustin hat Henry ermahnt, nur ja prompt zu zahlen! Es war eine Drohung.«

Parr kam näher. Er beugte sich vor.

»Das wollen wir eben wissen, Mrs. Buell! Wann wurde Ihrem Mann gedroht?«,

»Vorige Woche.«

»Haben Sie Augustin selbst die Drohung aussprechen hören?«

»Nein. Wie sollte ich ihn denn hören? Er rief Henry im Laden an. Aber als Henry nach Hause kam, hat er mir davon erzählt. Er war so erschrocken, dass er kaum sprechen konnte. An diesem Abend hat er keinen Bissen gegessen. Er starrte nur immerzu die Tür an, als erwarte er jeden Augenblick, Mr. Augustin würde hereinkommen und ihn umbringen.«

»Wussten Sie nicht, dass Augustin ein Wucherer ist?«, fragte Parr. »Ein ehemaliger Großgangster aus Chicago?«

»Ja, das wussten wir«, sagte sie in abweisendem Ton.

»Trotzdem haben Sie ihn um ein Darlehen gebeten.« Parr holte tief Atem. »Was für Zinsen hat Augustin Ihnen berechnet?«

»Drei Prozent monatlich.«

»Sechsunddreißig Prozent im Jahr. Etwa dreißig Prozent mehr, als eine Bank berechnet. Wenn die Zinsen nicht pünktlich gezahlt werden, wird ein Zuschlag erhoben. Man schuldet ihm immer mehr. Man zahlt ihm Tausende an Zinsen und kommt nie zur Rückzahlung des Darlehens. Zum Donnerwetter, Mrs. Buell, haben Sie das nicht gewusst?«

»Was sollten wir denn tun? Wir hatten etwas Geld von der Wellington National Bank bekommen. Wir brauchten mehr. Die Bank wollte es uns nicht geben - wir hatten keine Sicherheiten. Ohne Mr. Augustins Geld hätten wir den Laden nicht aufmachen können.«

»Es wäre klüger gewesen, Sie hätten es nicht getan«, bemerkte Parr. »Jede Bank hätte Ihnen das gesagt. Jeder Finanzberater.«

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Aber es ist vorbei - zu spät. Jetzt geht es mir nur um Henry.« .

»Jetzt! Und vorige Woche? Als Augustin ihm drohte - warum haben Sie sich da nicht sofort an die Polizei gewandt?«

Sie zögerte lange mit ihrer Antwort. Ihr gegenüber hing an der Wand ein Reklamekalender von einer Autowäscherei mit einem Girl in einem Bikini. Das Mädchen hielt einen Gartenschlauch in der Hand, im Hintergrund war ein gelber Cadillac zu sehen. Das Lächeln des Mädchens hatte etwas kokett Herausforderndes. Das Bild passte so gar nicht in dieses kahle, schlecht eingerichtete Dienstzimmer.

Mrs. Buell betrachtete Madera, der regungslos hinter seinem Schreibtisch saß. Dann wandte sie sich an Parr.

»Polizei?«, sagte sie bitter. »Fragen Sie den Herrn, der da sitzt! Die Beamten kommen in den Laden und wollen gratis bedient werden. Fragen Sie ihn, ob man Augustin je ein Haar gekrümmt hat! Fragen Sie jeden beliebigen Menschen, der mit Augustin zu tun gehabt hat. Fragen Sie die Leute, ob sie sich an die Polizei wenden dürfen!«

Madera drückte heftig seine Zigarette in dem Aschenbecher aus.

»Haben diese Leute sich bei der Polizei beklagt, Mrs. Buell?«, fragte er sie mit harter, brüchiger Stimme. »Ist einer von ihnen zu mir gekommen? Auch nur ein einziger?«

»Weil sie Angst haben«, erwiderte Mrs. Buell. »Augustin würde sich an ihnen und an ihren Angehörigen rächen.«

Sie senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht.

Parr ging hin und klopfte ihr auf die gebeugte Schulter.

»Na, na!«, sagte er. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Buell. Vielleicht ist Ihr Mann schon wieder zu Haus, und Sie wissen es gar nicht.«

»Ich habe bei den Nachbarn Bescheid hinterlassen«, flüsterte sie mit tränenfeuchten Augen. »Ich habe ihm ein paar Zeilen hinterlassen, dass ich hier bin.«

»Wir bringen Sie nach Haus«, sagte Parr. »Hier herumsitzen ist nicht sehr angenehm. Haben Sie jemanden, der Ihnen Gesellschaft leisten kann?«

»Nein. Ich habe eine Tochter, aber sie ist Krankenschwester in San Francisco. Sonst habe ich niemanden.« 

»Na, wenn wir nach Haus kommen, ist vielleicht Ihr Mann schon wieder da.«

»Nein«, murmelte sie tonlos. Sie drückte die Hand aufs Herz. »Ich fühle es hier drin: Henry ist tot.«

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Es war ein senfgelbes, dreistöckiges Mietshaus mit langgestreckten, hässlichen Balkonen an der ganzen vorderen Fassade. Das Treppenhaus war finster, eng und schlecht beleuchtet. Mrs. Buell führte sie schwer atmend in den dritten Stock hinauf. Mit unsicheren Fingern sperrte sie auf.

»Henry!«, rief sie.

Keine Antwort. Mrs. Buell tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür. Es wurde hell.

Parr stellte rasch fest: eine Lampe mit einem Schirm aus Brokat, mit altmodischen Quasten. Plüschpolstermöbel. Ein tadelloses, reich verziertes Klavier. Ein altes Grammophon. Schwere, alte Samtvorhänge. Alles sehr alt, alles blitzsauber.

Mrs. Buell ging von einem Raum in den anderen und rief ihren Mann. In der Küche blieb sie stehen und lehnte sich gegen den blankpolierten schwarzen Herd.

»Das Schmorfleisch«, sagte sie fast unhörbar. »Seit langem haben wir uns darauf gefreut. Jetzt ist es verbrutzelt. Aber ich kann Ihnen Tee machen. Bitte - bleiben Sie bei mir.«

»Bedaure«, erwiderte Parr. »Wir können nicht bleiben. Sie müssen doch Nachbarn haben, Mrs. Buell...«

»Warum sollte ich sie belästigen? Ich komme allein zurecht.«

»Wir bleiben mit Ihnen in Verbindung, Mrs. Buell«, sagte Madera. »Und wenn Ihr Mann nach Haus kommt, bevor Sie von uns hören, dann rufen Sie uns bitte an.«

Sie nickte stumm, ihre Hände hingen hilflos herab, ihre Blicke wanderten durch die leere Wohnung.

 

Parr und Madera verließen das Haus. Der uniformierte Polizeichauffeur öffnete die Tür des Dienstwagens. Nachdem Madera auf dem Hintersitz Platz genommen hatte, sagte er: »Was nun?«

Parr stieg zu ihm ein, nur halb hinhörend. Er antwortete nicht. Er dachte an die Sauberkeit, die in der Wohnung der Buells herrschte, an die alte, geliebte Habe. Schließlich bemerkte er: »Sie ist ganz allein, Madera. Das gefällt mir nicht.«

»Ich werde einen Mann herschicken«, erwiderte Madera. »Was noch?«

Parr sah auf seine Armbanduhr. Sie zeigte 21.45 Uhr. »Ich möchte mit Peter Augustin sprechen.«

Madera sah ihn lange an.

»Warum? Was haben Sie davon?«

»Ich gar nichts, aber wenn Augustin noch nichts unternommen hat und etwas beabsichtigt, wird er vielleicht zurückschrecken.«

Madera zündete sich eine Zigarette an, wobei er das Streichholz in der hohlen Hand hielt.

»Wollen Sie ihm das ins Gesicht sagen, Parr?«

»Ja.«

Madera dachte einen Augenblick nach.

»Es ist Dienstagabend. Augustin dürfte im Pink Elephant sein. Das ist eines seiner Lokale.«

»Dann können Sie mich dort absetzen?«

»Soll ich nicht mitkommen?«

»Doch, Madera«, sagte Parr. »Ich dachte nur, Sie hätten vielleicht etwas anderes vor...«

»Nein, nein, ich komme mit, Parr. Ich will dabei sein, wenn Sie mit Augustin sprechen. Vielleicht wird es mir Spaß machen. Vielleicht wird es mir erspart, mich im Spiegel anzuspucken.«

»Ist es so schlimm, Madera?«

»Du lieber Himmel, sooft ich zu Augustin komme, putze ich mir sorgfältig die Schuhe ab und halte den Hut in der Hand. Anders lässt es sich nicht machen - verstehen Sie? Ich würde sofort als Revierbeamter in die finsterste Vorstadt versetzt werden.«

»Ich verstehe«, sagte Parr. »Madera, ich frage Sie nur ein einziges Mal danach, dann wollen wir es beide vergessen. Und wenn Sie meine Frage nicht hören, werde ich es Ihnen bestimmt nicht verübeln.«

»Ich weiß, was Sie mich fragen wollen, Parr. Aber ich kenne die Antwort nicht. Ich soll Ihnen sagen, wer hinter Augustin steht. Ich weiß es nicht. Ein großes Tier, jemand an der Spitze. Aber es wird zu gut vertuscht. Ich weiß nicht einmal, wie und wo sie sich treffen. Vielleicht außerhalb.« Madera warf seine Zigarette zum Fenster hinaus. »War das Ihre Frage?«

Parr lächelte. »Ja. Und nun auf zu Peter Augustin!«

 

Groß und massig stand der Portier unter dem Vordach des Pink Elephant. Parr, der mit Madera ausgestiegen war, kam dicht heran und betrachtete das rote Gesicht des Mannes, die himmelblaue Uniform mit den goldenen Litzen.

Madera fragte: »Ist Mr. Augustin da, Hugo?«

»Jawohl, Captain«, erwiderte der Portier spöttisch mit schludriger Stimme. Er gähnte betont und blockierte den Eingang. »Gehört dieser Herr zu Ihnen, Captain?«

»Ich liebe keine Witze, lieber Hugo!«, sagte Parr, von plötzlicher Wut gepackt. »Lass diesen verdammten spöttischen Ton sein, sonst erwürge ich dich mit deinen goldenen Litzen!«

Hugos Miene veränderte sich im Nu. Mit einem Satz war er an der Tür und öffnete sie stumm. Parr blieb einen Augenblick stehen. Er drehte sich um und musterte die schnittigen schwarzen Wagen mit ihren niedrigen Nummern, die in zwei Reihen am Bordstein geparkt waren.

Madera, der ihn beobachtete, sagte: »Schauen Sie sich gut um, Parr! Jetzt wissen Sie, was ich unter Beziehungen verstehe.«

Sie gingen hinein. Es roch nach Zigarren- und Zigarettenrauch und teuren Likören. Der Oberkellner, in einem tadellosen Frack, stand hinter der Samtschnur an seinem Pult. Er drehte sich um und musterte die beiden mit einem irritierten Stirnrunzeln. Rasch kam er heran.

»Philip«, sagte Madera, »ich möchte gern Mr. Augustin sprechen. Es ist wichtig.«

»Mr. Augustin ist beschäftigt«, erwiderte Philip und verzog missbilligend den Mund. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Captain.«

Der Oberkellner entfernte sich.

Madera schüttelte erbittert den Kopf. »Daraus ersieht man, wie groß ein Mann ist. Aus der Art, wie sich seine Lakaien benehmen.«

Aus dem Speisesaal kam lautes Gelächter. Parr ließ seine Blicke zu den Tischen rechts von dem spiegelblanken Tanzparkett wandern. Dort stand ein Tisch für zwölf Personen. Ein Mann im Frack war auf einen Stuhl geklettert, ein kleiner, untersetzter Mann mit gerötetem Gesicht. Er flatterte mit den Armen wie ein Vogel. Man schrie: »Bravo!« und applaudierte.

»Unser ehrenwerter Bürgermeister«, sagte Madera eisig. »Homer Essex. Gleich wird er uns vormachen, wie ein Schwan taucht. Sein Tischnachbar ist Staatssenator George Westingham, einer unserer bedeutendsten Anwälte. An der anderen Seite sitzen zwei Stadträte wie dressierte Hunde, die auf die Brosamen warten.«

Parr sah, wie der Oberkellner sich hinabbeugte und einem großen, dicken Mann etwas ins Ohr flüsterte. Der Mann trug einen Smoking mit schmalem Schalkragen. Er hob die Hand und zupfte an seiner breiten Nase. An seinem rechten Ringfinger funkelte ein großer Brillant im Lampenlicht. Sein Teint war gelblich verfärbt und fahl, das Gesicht durch einen dunkelroten, geschwulstartigen Fleck an der linken Wange entstellt, das Haar dicht und schwarz.

»Augustin«, sagte Madera leise.

Peter Augustin schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Parr hatte sich durch den massigen Oberkörper täuschen lassen. Die Beine waren kurz; der Mann war unter Mittelgröße. Gleichzeitig mit ihm stand eine junge Dame auf. Sie trug ein elegantes Kleid, war groß und schlank und hatte herausfordernde Brüste. Ihr platinblondes Haar war auf dem Scheitel aufgetürmt.

»Augustins Freundin?«, fragte Parr.

»Eine seiner Freundinnen«, erwiderte Madera mit gedämpfter Stimme. »Melanie Jewel. Sie tritt hier als Sängerin auf. Augustin hat in Chicago eine Frau und drei Kinder.«

Augustin kam ihnen ins Vestibül entgegen. Das junge Mädchen blieb im Hintergrund stehen. Mit einem freundlichen Lächeln legte Augustin die Hand auf Maderas Schulter.

»Was wünschen Sie, Captain?«

»Ich?«, erwiderte Madera. »Nichts, Mr. Augustin. Aber hier ist ein Beamter der Staatspolizei, der Sie gern kennenlernen möchte: Kriminalinspektor William Parr.«

»So, so«, sagte Augustin. »Habe bereits gehört, dass die Staatspolizei einen Beamten hierhergeschickt hat.« Er fasste Parr am Arm. »Kommen Sie an unsern Tisch! Ich lade Sie ein. Augustin lädt immer ein.«

»Nein, danke«, erwiderte Parr. »Ich kann nicht lange bleiben.«

Augustin drehte sich um und winkte dem Mädchen.

»Mel!«, rief er. »Komm mal her!«

Langsam näherte sie sich mit wiegenden Hüften.

»Mel«, sagte Augustin, »darf ich dir ein großes Tier aus Boston vorstellen? Das ist Kriminalinspektor Parr von der Staatspolizei.«

Sie musterte Parr; ihr Gesicht war unbewegt - wie eine wächserne Maske.

Sie lächelte flüchtig und sagte nichts.

Augustin prahlte: »Mel spricht kein Wort, wenn ich es ihr nicht befehle. Gut dressiert, was?«

Parr sagte: »Ich möchte einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mr. Augustin. Allein, bitte.«

»Sicher«, erwiderte Augustin, mechanisch den Fleck auf der Wange betastend. »Mel, geh an den Tisch zurück und kümmere dich um die Gäste.«

Sie ging weg.

Augustin fuhr fort: »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie in Wellington sind, Inspektor. Meine Freunde haben es mir berichtet.«

»Hat man Ihnen auch berichtet, warum ich hier bin?«

Augustin zuckte die Achseln. »Gerüchte, weiter nichts.«

»Dem Staatsanwalt sind Beschwerden zugeleitet worden, Mr. Augustin. Die Menschen sind komische Tiere. Ich glaube, die einzigen Tiere, denen man mehr als einmal das Fell über die Ohren ziehen kann.«

Augustin lachte, dass ihm die Tränen über die Wangen rollten.

»Witze macht er auch! Fein. Hab’ ich gern.« Er zog ein weißes Seidentaschentuch hervor und schneuzte sich. Dann wischte er sich die Stirn ab. »Ich ziehe niemanden das Fell über die Ohren. Ich fühle mich aber geehrt, dass Sie mir Beachtung schenken. Ich bin nur ein kleiner, ehrbarer Geschäftsmann.«