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LILY E-Book

Ben Benson

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Beschreibung

Janice Rhode kam in das Büro von Kriminalinspektor William Parr.

»Ich bin Lilly Paulsens Schwester.«

»Mein herzliches Beileid.«

Mrs. Paulsen, die Frau des Bürgermeisters von Eastern City, war vor kurzem gestorben. Diagnose: Herzversagen.

Janice zündet sich eine Zigarette an. »Ich will mit Ihnen über einen Mord sprechen. Über den Mord an meiner Schwester...«

 

Der Roman Lily aus der Feder des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Ben Benson (* 1915 in Boston, Massachusetts; † 1959 in New York) erschien erstmals im Jahr 1952; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1961 (unter dem Titel Sie liebte das Leben).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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BEN BENSON

 

 

Lily

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 260

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

LILY 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Janice Rhode kam in das Büro von Kriminalinspektor William Parr.

»Ich bin Lilly Paulsens Schwester.«

»Mein herzliches Beileid.«

Mrs. Paulsen, die Frau des Bürgermeisters von Eastern City, war vor kurzem gestorben. Diagnose: Herzversagen.

Janice zündet sich eine Zigarette an. »Ich will mit Ihnen über einen Mord sprechen. Über den Mord an meiner Schwester...«

 

Der Roman Lily aus der Feder des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Ben Benson (* 1915 in Boston, Massachusetts; † 1959 in New York) erschien erstmals im Jahr 1952; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1961 (unter dem Titel Sie liebte das Leben).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   LILY

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war bereits sechs Uhr vorbei, als die junge Dame in den Räumen der Staatsanwaltschaft erschien. Das Personal hatte Feierabend gemacht, und die Büros waren leer. Da die Reinemachefrauen mit ihren Staubsaugern und Tüchern noch nicht angerückt waren, war der Boden mit unzähligen Fußstapfen von des Tages Kommen und Gehen übersät.

Mit erwartungsvoller Miene kam die junge Dame herein. Dann, als sie keinen Menschen erblickte, machte sie ärgerlich und enttäuscht auf den Absätzen kehrt. Sie war hochgewachsen und schön, mit einer vollendet proportionierten Figur und rosigem, gesundem Teint. Ein flacher blauer Samthut saß auf ihrem schimmernden blauschwarzen Haar; an den kleinen Ohrläppchen trug sie Perlenclips. Sie hatte eine gelbe Kaschmirjacke wie ein Cape um die Schultern gelegt.

Sie wollte schon in die Halle zurückgehen und dem diensttuenden Beamten energisch Vorwürfe machen, da hörte sie hinten im Korridor eine Tür zufallen. Wieder drehte sie sich um. Die Ärmel der Jacke flatterten empor und sanken dann schlaff herab.

In einem der Büros war das Licht ausgeknipst worden. Nun kam ein Mann auf sie zu, seinen braunen Hut fest in die Stirn drückend.

Sie wartete. Als er dicht bei ihr war, sagte sie: »Ich suche die Staatliche Kriminalpolizei.«

Der Mann, der eine randlose Brille trug, lächelte schüchtern und verlegen. Er griff zögernd an seinen Hut und nahm ihn ab; glattes braunes Haar kam zum Vorschein. Er machte einen sanften Eindruck; die junge Dame hielt ihn für einen Büroangestellten.

»Ich bin Beamter der Staatlichen Kriminalpolizei«, erklärte er. »Mein Name ist McKenney - Kriminal-Lieutenant McKenney.«

»Nein, nein«, sagte sie ungeduldig. »Sie habe ich nicht gesucht. Ich meine - nicht irgendeinen Kriminalbeamten.« Sie blickte an ihm vorbei zu der Reihe leerer Büros und kniff gereizt die Lippen zusammen. »Ich suche den Beamten aus Boston, der gerade hier ist - Kriminalinspektor William Parr.«

»Ach so...« McKenney drehte den Hut zwischen den Fingern und betrachtete ihn, als ob sein Anblick ihn überraschte. Dann stülpte er ihn wieder auf den Kopf, drehte sich halb herum und deutete mit dem Zeigefinger. »Dort - die zweite Tür links.«

Die junge Dame schritt an ihm vorbei. Die Absätze ihrer blauen Pumps klapperten forsch über die Eichendielen des Fußbodens. Sie kam zu einer Reihe von Büroräumen. An der Wand war ein schwarzer Pfeil und darunter ein Schild: Staatliche Kriminalpolizei. Der erste Raum war finster, aber durch die Milchglasscheibe des zweiten fiel ein Lichtschein heraus. Sie klopfte und öffnete dann die Tür.

Das Zimmer war klein, der anspruchslose Eichenschreibtisch war klein. Ein kahler Raum, offenbar nur selten benützt. Zwei Eichenstühle standen vor dem Schreibtisch, an der Wand daneben stand auf einem niedrigen Regal ein Tonbandgerät. Auf der gläsernen Tischplatte lag ein Stoß Papiere, sonst nichts. Und der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, sah ganz und gar nicht so aus, wie sie sich ihn vorgestellt hatte.

Sie war darauf gefasst gewesen, dass sie es mit stiernackigen, groben Polizisten zu tun haben würde. Zuerst hatte sie sich über die äußere Erscheinung Lieutenant McKenneys und über sein schüchternes und sanftes Wesen gewundert. Nun verwirrte dieser Mann sie vollends.

Sie hatte bereits von William Parr gehört, denn seine Tätigkeit hatte ihn schon mehrmals nach Eastern City geführt, und die Zeitungen hatten über ihn geschrieben. Sie hatte ihn für hart, rücksichtslos und kalt gehalten, für einen Roboter ohne jede menschliche Regung. Sie hatte sich eine undeutliche Vorstellung gemacht von einem ungepflegten Menschen - wild wie ein Tiger, verbissen wie ein Frettchen. Aber als er sich nun erhob, entsprach er durchaus nicht diesem Bild.

Er war verhältnismäßig jung, groß und breitschultrig. Er trug einen gutgeschnittenen grauen Flanellanzug und ein blaues Hemd mit Oxfordkragen. Das Gesicht war hager und gebräunt, das braune Haar kurz geschnitten. Die braunen Augen, von winzigen Fältchen umgeben, hatten einen freundlichen Ausdruck. Ihr kam er vor wie ein ehemaliger Hochschulsportler, der jetzt eine leitende Stellung in einer großen Reklamefirma bekleidete.

Sie griff nach ihrem Hut, um sich zu vergewissern, dass er richtig saß.

»Inspektor Parr?«, fragte sie zögernd.

»Ja«, erwiderte er und sah sie mit einem fragenden Blick an. »Nehmen Sie bitte Platz.«

Sie setzte sich auf einen der Stühle. Die Tür hatte sie offengelassen. Er ging an ihr vorbei und machte sie zu. Dann setzte er sich wieder hinter den Schreibtisch.

»Ich heiße Janice Rhode«, sagte die junge Dame. Sie hielt inne, weil er über etwas nachzudenken schien. »R-h-o-d-e«, buchstabierte sie dann. »Janice Rhode - Gründerin und Leiterin des Rhode-Instituts hier in Eastern City in der Vermont Avenue. In meinem Institut werden Mannequins ausgebildet.«

»Ja.« Er schrieb es sich auf einen Zettel.

»Wahrscheinlich haben Sie schon von dem Institut gelesen. Vielleicht in der Sonntagsbeilage einer Zeitung. Meine Schülerinnen sind auch schon im Fernsehen auf getreten.«

»Nein«, antwortete Parr, »ich habe leider noch nie von Ihrem Institut gehört oder gelesen. Doch das ist natürlich meine Schuld. Ich bin ja auch nur selten in Eastern City. Die Tätigkeit der Staatspolizei erstreckt sich im Übrigen hauptsächlich auf die ländlichen Gebiete. Bestimmt ist Ihr Institut wohlbekannt, aber ich habe leider keine Zeit, um mich über solche Dinge auf dem Laufenden zu halten.«

Er musterte sie eingehend. Ihre Jacke hatte sie über die Stuhllehne gehängt. Sie trug ein marineblaues Kostüm. Die knapp sitzende Kostümjacke betonte ihren vollen Busen. Ihre ganze äußere Erscheinung schien darauf berechnet zu sein, möglichst viel weiblichen Charme zu betonen.

»Ja, gewiss«, fuhr Parr fort, »Sie sehen ja selbst wie ein Mannequin aus.«

Seine Bemerkung schien ihr zu gefallen. Sie legte ihre blaue Handtasche auf den Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. Straff spannte sich der Rock und ließ die wohlgeformten Knie sehen. Dann zog sie die eleganten Lederhandschuhe aus, öffnete die Tasche und nahm ein goldenes Zigarettenetui heraus.

»Ich bin Lily Paulsens jüngere Schwester«, erklärte sie unvermittelt.

»Ach so....« Er schien nicht recht zu wissen, was er dazu sagen sollte. Er fügte hinzu: »Mein Beileid, Miss Rhode.«

Lily Paulsen war die Frau des Bürgermeisters von Eastern City, John Paulsen; sie war vor drei Wochen ganz plötzlich an Herzschlag gestorben. Parr hatte sich zu der Zeit im südlichen Teil des Staates aufgehalten, aber auch dort hatten die Zeitungen Aufnahmen von dem imposanten Begräbnis im Regen und dem endlosen Trauergefolge veröffentlicht, Bilder von dem Grab und einem Meer von Regenschirmen. Zahlreiche führende Persönlichkeiten aus der Politik, der Gesellschaft, der Geschäftswelt, aus Gewerkschafts- und Vereinskreisen hatten teilgenommen.

Janice Rhode öffnete das Etui und nahm eine Zigarette heraus.

»Ich will mit Ihnen über einen Mord sprechen«, sagte sie.

Sie steckte langsam die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an. Dann schob sie das Etui über die Glasplatte des Schreibtisches.

Parr ignorierte die einladende Geste.

»Wer wurde ermordet?«, fragte er.

»Lily«, erwiderte sie. »Meine Schwester.«

Seine Füße scharrten auf dem Boden, und der Drehstuhl knarrte, als er sich zur Seite wandte und nach hinten langte. Aus dem Dunkel brachte er eine kleine Messingschale zum Vorschein, die er auf den Schreibtisch stellte.

»Ich muss gestehen, ich war einen Augenblick verblüfft«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob das ein Scherz sein soll oder...«

Sie unterbrach ihn schroff. »Ich muss doch sehr bitten...! Es ist kein Scherz.« Sie stieß heftig den Rauch aus. »Trauen Sie mir zu, dass ich grausige Scherze über den Tod meiner Schwester mache - drei Wochen nach dem Begräbnis?«

»Nein, nein - natürlich nicht«, entgegnete er hastig. »Ich habe mich falsch ausgedrückt.«

Er stand auf und lehnte sich gegen die Wand.

»Sie müssen sich irren, Miss Rhode. Die Zeitungen berichteten, Ihre Schwester sei an Herzschlag gestorben.«

»Lily war erst dreiunddreißig Jahre alt. Sie ist nicht an Herzschlag gestorben.«

»Das Alter spielt da keine Rolle«, bemerkte Parr. »Soviel ich weiß, war sie herzleidend.«

»Ihr Leiden war nicht ernst.«

»Aber sie befand sich in ärztlicher Behandlung?«

»Bei Doktor Barony.«

»Ein guter Arzt?«

Sie überlegte eine Weile, das Kinn emporgereckt, die Zigarette zwischen den Fingern.

»Barony? Er gilt als der beste - oder jedenfalls als einer der besten. Er ist alt, distinguiert und sehr in Mode.«

»Und welche Todesursache hat er festgestellt?«

»Das, was in den Zeitungen stand: Herzschlag.«

»Hat Doktor Barony den Totenschein ausgestellt?«

»Ja.«

»Meinen Sie denn da nicht auch, dass Sie sich irren, Miss Rhode? Sie werden doch wohl nicht einen der besten Ärzte der Stadt einer Fehldiagnose beschuldigen wollen?«

»Doch!«

»Und warum?«

»Weil ich fest überzeugt bin, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Meiner Meinung nach hat man sich verschworen, die wahre Todesursache geheimzuhalten.«

»Verschworen? - Inwiefern?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb komme ich zu Ihnen. Sie sind Kriminalbeamter. Ich verstehe davon nichts.« Sie begann ungeduldig zu werden. Nervös klopfte sie mit der Fußspitze auf den Boden. »Wir haben es hier mit politischen Zusammenhängen zu tun. Im Herbst finden Wahlen statt, und John Paulsen wird für den Posten des Gouverneurs kandidieren. Natürlich bemüht man sich aus Leibeskräften, einen Skandal zu vertuschen.«

»Man? - Wer ist das?«

»Ich weiß es auch nicht. Politiker - irgendwelche Politiker. Ich will es herausbekommen. Meiner Meinung nach wurde Lily ermordet. Ich will, dass der Mörder gefasst und bestraft wird.«

Parr setzte sich wieder hin und stützte die Ellbogen auf die Glasplatte des Schreibtisches. »Gibt es Gründe, die jemanden veranlasst haben könnten, Ihre Schwester zu ermorden? Hatte sie Feinde? Hatte man sie bedroht? War sie in ein Verbrechen verwickelt?«

»Ach, das ist ja absurd!«, erwiderte sie voller Verachtung. »Nichts dergleichen.«

Parr schüttelte langsam den Kopf.

»Außerdem entsteht hier noch ein anderes kleines Problem. Eastern City gehört nicht zu meinem Amtsbereich. Ich begreife nicht, warum Sie sich gerade an mich wenden.«

»Weil Sie Kriminalbeamter sind. Und weil Sie als tüchtig gelten. Außerdem sind Sie jetzt gerade hier in Eastern City.«

»Nur, weil auch die Bezirksbehörden von Yorkshire hier ihren Sitz haben. Unsere Tätigkeit erstreckt sich auf die ländlichen Gebiete, wo die Kräfte der örtlichen Polizeibehörden nicht ausreichen.«

»Ich habe mich informiert. Die Staatspolizei ist berechtigt, auch in den Städten einzugreifen. Stimmt das?«

»Ja. Aber wir greifen nicht ein, solange die Stadtpolizei für Ruhe und Ordnung sorgt. Eastern City hat eine ausgezeichnete Polizei.«

»Sie weichen mir aus«, sagte sie kalt. »Sie sind schon mehrmals in Eastern City gewesen und haben Verbrechen aufgeklärt.«

»Nur in Sonderfällen. Und dann hatte der Fall meistens außerhalb begonnen.«

»Es hat keinen Sinn, dass Sie mir widersprechen«, sagte sie in scharfem Ton. »Ich war bereits bei der Stadtpolizei. Ich habe mich mit Captain Springer vom Morddezernat unterhalten.«

»Und was hat Captain Springer gesagt?«

Nun geriet sie ein wenig aus der Fassung. Ihre Wangen färbten sich rot. Sie paffte hastig an der Zigarette.

»Erriet mir, nach Haus zu gehen und eine Beruhigungstablette zu nehmen. Der Tod meiner Schwester habe mich eben zu sehr aufgeregt.«

»Vielleicht hat der Captain recht, Miss Rhode.«

Nun blitzten ihre Augen. Mit zitternden Fingern legte sie die Zigarette weg, holte tief Atem und flüsterte heiser: »Sie sind also genauso einer! Ich soll nicht dran rühren. Alles schön vergraben und die Erde festklopfen. Ihr habt Angst - Sie, Captain Springer, unser großartiger Staatsanwalt Tinkham -, ihr alle mit einander. Aber ich werde es ausgraben! Ünd ich werde solchen Krach schlagen, dass alle Welt es hören muss!«

»Einen Augenblick, Miss Rhode!« Parr runzelte die Stirn. »Sie haben mit Mr. Tinkham gesprochen? Hier im Haus?«

»Ja. Vor ungefähr einer Woche. Er weigerte sich, etwas zu unternehmen.«

»Er muss seine Gründe gehabt haben. Vielleicht gibt es keinerlei Indizien. Außerdem handelt es sich hier um eine Angelegenheit, bei der der Staatsanwalt sich vor übereilten Schritten hüten wird. Sie scheinen zu vergessen, dass Ihr Schwager Bürgermeister von Eastern City ist.«

»Das weiß ich. Und deshalb wagt ihr nicht einzugreifen!«

»Was sollen wir tun?«, fragte Parr geduldig. »Lassen wir alle politischen Erwägungen beiseite. Ihre Schwester ist allem Anschein nach eines natürlichen Todes gestorben. Sie sind anderer Meinung. Sie haben sich an die Ortspolizei, an den Staatsanwalt und schließlich auch an mich gewandt. Aber Sie haben nichts weiter vorzubringen als einen unbestimmten Verdacht. Es muss doch zumindest ein Ausgangspunkt vorhanden sein, wenn ich mich entschließen soll, Ermittlungen anzustellen. Irgendwelche Beweise...«

Sie dachte eine Weile nach, ohne den Blick von ihm zu wenden.

»Ich lasse mich nicht abwimmeln, Inspektor. Ich habe Beweise - schlüssige Beweise. An dem Tag, an dem Lily starb, haben sich gewisse mysteriöse Vorfälle ereignet.«

»Nämlich?«

»Lily rief mich vormittags im Institut an. Sie müsse sofort mit mir sprechen. Ihr Leben sei in Gefahr. - Haben Sie gehört, Inspektor, was ich sagte? Ihr Leben sei in Gefahr! Finden Sie das interessant?«

»Ja - das könnte interessant sein. In welchem Ton hat sie diese Worte geäußert?«

»In welchem Ton?«

»Ja. Ich möchte wissen, ob sich ihre Worte wirklich auf ihr Leben und nicht nur auf ihren Gesundheitszustand bezogen.«

»Ich erinnere mich an jedes einzelne ihrer Worte. Lily meinte bestimmt nicht ihren Gesundheitszustand. Sie sagte: Mein Leben ist bedroht, Janice! Ich erwiderte: Was? Sei doch keine dumme Gans, Lily! Warum soll denn dein Leben bedroht sein? Und sie sagte: Doch! Und du musst so schnell wie möglich zu mir kommen! Ich sagte: Jetzt kann ich nicht weg, weil ich unterrichten muss. Auf keinen Fall geht es vor vier Uhr.« Janice Rhode blickte auf ihre tadellos geformten Beine hinunter, die Unterlippe ein wenig vorgestreckt - eine volle, sinnliche Lippe. Ihr Mund begann leicht zu zucken.

»Um zwei Uhr wurde Lily tot gefunden. Wenn ich...« Sie verstummte, weil sie die Worte nicht über die Lippen bringen konnte. »Wissen Sie...« - sie schien nach einer Erklärung zu suchen -, »...das Institut ist mein ein und alles. Es ist eine sehr schöne Aufgabe, doch die ganze Last ruht auf mir. Die elegante Welt spricht bereits von meinem phänomenalen Aufstieg und Erfolg. Das Institut beansprucht jede Minute meiner Zeit...«

»Darauf werden wir später zurückkommen«, warf William Parr ein. »Wann hat Ihre Schwester Sie angerufen?«

»Gegen elf Uhr vormittags.«

»Und Sie hatten keine Ahnung, was für eine Gefahr gemeint sein konnte?«

»Natürlich nicht. Sonst hätte ich doch etwas unternommen.«

»Wo war der Bürgermeister?«

»Im Rathaus.«

»Warum hat Ihre Schwester Sie angerufen und nicht ihren Mann?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum haben nicht Sie den Bürgermeister angerufen?«

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich hatte so viel zu tun. Ich habe nicht daran gedacht.«

»Obwohl Ihre Schwester sich bedroht fühlte?«

»Nun ja - Lily hat auch noch etwas anderes geäußert. Und das konnte ich ihrem Mann nicht sagen.«

»Was war das?«

Janice Rhode fingerte an ihren weichen Handschuhen herum, knüllte sie zusammen, glättete sie wieder.

»Ich möchte natürlich jeden Skandal vermeiden, aber... Lily sagte mir, sie beabsichtige John zu verlassen. Sie sagte, es sei etwas Schreckliches passiert, und sie wolle von ihm Weggehen.«

»Hatten Ihre Schwester und ihr Mann sich oft gestritten?«

»Nie. Deshalb ist ja das Ganze so verwirrend.«

»Haben Sie eine Ahnung, was passiert sein könnte?«

»Nein.«

»Wie wurde die Tote aufgefunden, Miss Rhode?«

»Die Haushälterin fand sie um zwei Uhr nachmittags im Schlafzimmer.«

»Angekleidet?«                              

»Ja. Sie lag auf dem Bett. Die Haushälterin, Mrs. Druse, rief sofort Doktor Barony an und auch meinen Schwager im Rathaus. Der Arzt kam zuerst. Er sagte, Lily sei kurz vorher an Herzschlag gestorben.«

»Und wie wirkte ihr Tod auf Ihren Schwager?«

»Das können Sie sich wohl vorstellen. Er hat Lily sehr geliebt. Und er ist immer um ihre Gesundheit besorgt gewesen. Zwei Tage zuvor hat sie einen leichten Herzanfall gehabt. Es ist nichts Ernsthaftes gewesen, aber er hat sich große Sorgen um sie gemacht.«

»Sagen Sie mal, Miss Rhode - haben Sie mit dem Bürgermeister über Ihren Verdacht gesprochen?«

»Ja.«

»Haben Sie ihm alles erzählt, was Ihre Schwester damals am Telefon zu Ihnen gesagt hat?«

»Ja - aber nicht gleich. John war völlig deprimiert - wie wir alle. Dann kam das Begräbnis - eine endlose Angelegenheit. Diese schrecklich vielen Grabreden! Ich hatte zunächst keine Gelegenheit, mit John zu sprechen. Erst nach ein paar Tagen. Und da erzählte ich ihm von dem Telefongespräch. Er war tief erschüttert. Er sagte, das könne er nicht verstehen. Lilys Herzbeschwerden schienen sich gebessert zu haben, und es habe keinerlei Auseinandersetzungen gegeben, keinen Grund für sie, ihn verlassen zu wollen. Und er wisse nicht, was sich Schreckliches ereignet haben sollte.«

»Haben Sie Ihrem Schwager gesagt, dass Sie beabsichtigen, die Polizei zu unterrichten?«

»Ich sagte, ich trüge mich mit dem Gedanken.«

»Versuchte er Sie davon abzubringen?«

Sie überlegte eine Weile.

»Nein, keineswegs. Aber er hielt es für sinnlos. Immerhin, sagte er, wenn es mich beruhige, solle ich mich getrost an die Polizei wenden. Er wolle mir nicht abraten.«

Parr blickte zum Fenster hinaus, wandte sich dann wieder ihr zu.

»Vielleicht hatte Ihre Schwester sich über irgendetwas aufgeregt - über etwas Wirkliches oder über etwas Eingebildetes. Haben Sie an die Möglichkeit eines Selbstmordes gedacht?«

»Ja, auch daran habe ich gedacht. Aber der Arzt erklärte, Selbstmord sei gänzlich ausgeschlossen. Und Lily war auch nicht der Typ, der Selbstmord begehen würde. Das würden Sie wissen, wenn Sie sie gekannt hätten. Sie hatte viel zu viel Freude am Leben. Sie genoss jede Minute, jeden Augenblick.«

»Wir können nicht wissen«, sagte Parr, »was damals in ihr vorging. Aber gesetzt den Fall, dass es Selbstmord war. Wollen Sie auch dann die Wahrheit herausbekommen?«

»Du lieber Gott!«, rief sie fast gereizt aus. »Selbstverständlich! Ich muss wissen, warum sie gestorben ist. Lily war meine leibliche Schwester. Ich kann nicht ruhig schlafen, bevor ich nicht festgestellt habe, ob ich in irgendeiner Weise mit an ihrem Tode schuld bin. Hätte ich ihr helfen können, wenn ich nicht ihren Anruf ignoriert hätte? Oder hat Doktor Barony einen Selbstmord vertuscht? Gibt es Leute, die etwas verheimlichen? Die Polizei müsste sich doch eigentlich um jeden Verstoß gegen die Gesetze kümmern. Jedenfalls - ich weiß, dass es kein Selbstmord gewesen sein kann. Es war Mord. Das geht mir im Kopf herum und lässt mir keine Ruhe.«

»Ich kann es Ihnen nachfühlen«, sagte Parr. »Und wir werden Ihnen helfen, der Sache auf den Grund zu gehen. Aber es wird nicht leicht sein. Ihre Schwester ist vor drei Wochen gestorben. Der Totenschein ist unterzeichnet, sie ist beigesetzt worden. Wenn Sie jedoch offiziell Anzeige erstatten, werden wir uns des Falles annehmen.«

»Ich erstatte hiermit Anzeige bei Ihnen.«

»Schön.« Parr öffnete die Schublade und nahm ein Blatt Papier heraus. »Sie sind sich darüber klar, dass Sie sich eigentlich an die Stadtpolizei hätten wenden müssen?«

»Ich habe es getan - und mir gefiel deren Einstellung nicht. Man hatte dort Angst. Ich kenne die politischen Zusammenhänge und befürchte, die ganze Untersuchung würde im Sande verlaufen. Die Staatspolizei aber halte ich für unabhängig. Und Sie persönlich gelten als besonders unerschrocken und ehrlich. Leider sehe ich jetzt, dass auch Sie nicht sehr begeistert sind.«

Parrs Gesicht rötete sich. Er hörte zu schreiben auf.

»Das will ich hingehen lassen, weil ich weiß, dass Sie sehr aufgewühlt sind. Begeistert hin, begeistert her - ich werde meine Pflicht tun.«

Dabei aber wusste er genau, dass das nicht ganz stimmte. Es ging nicht nur um seine Pflicht. Er erinnerte sich auch vergangener Zeiten, und es regte sich in ihm ein Gefühl, das er seit langem nicht mehr verspürt hatte. Es war nicht nur die Schönheit Janice Rhodes, sondern auch die Erinnerung an eine ähnliche Schönheit - vor vielen Jahren.

Da wurde an die Tür geklopft. Als Parr aufblickte, sah er hinter der Milchglasscheibe einen Schatten.

»Herein!«, sagte er.

Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein. Er war groß und sah gut aus, hatte dunkles Haar und dunkle Augen, ein festes Kinn, eine gerade Nase mit schmalem Rücken. Er trug einen dunkelblauen Mantel und hielt einen schwarzen Homburg in der Hand. Er nickte freundlich zu Parr hinüber und trat dann zu Janice Rhode.

»Da bist du ja«, sagte er zu ihr, »Ich habe dich in sämtlichen Zimmern gesucht.«

»Du warst nicht pünktlich«, erwiderte Janice Rhode. »Um sechs wollten wir uns unten treffen.« Sie schob den Ärmel zurück und sah auf ihre mit Brillanten besetzte Armbanduhr. »Es ist schon bedeutend später.«

»Ich wurde aufgehalten. Ich habe mich möglichst beeilt, Darling.«

Sie wandte sich zu Parr. »Das ist Donald Tower, ein Freund von mir und ein Freund meiner Familie. - Donnie, das ist Kriminalinspektor William Parr.«

Parr, der sich erhoben hatte, gab Tower die Hand.

Dieser wandte sich wieder an Janice Rhode.

»Bist du fertig?«, fragte er.

»Von mir aus, ja«, erwiderte sie. »Oder möchten Sie noch etwas wissen, Inspektor?«

»Momentan nicht, Miss Rhode.«

Tower schüttelte langsam den Kopf und machte eine Grimasse.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Inspektor - obwohl der Anlass nicht erquicklich ist.«

»Mhm«, sagte Parr nur.

»Janice wollte Sie unbedingt aufsuchen. Sie weiß, was sie will, und sie setzt fast immer ihren Kopf durch. Ich zum Beispiel widerspreche ihr nie. - Halten Sie Ihren Verdacht für begründet?«

»Das weiß ich nicht. Und Sie, Mr. Tower?«

»Tja...« Tower verstummte und sah Janice Rhode an.

Sie stand auf. »Vielleicht kannst du dich darüber ein andermal mit dem Inspektor unterhalten, Donnie. Ich habe einen schweren Tag hinter mir, ich bin wirklich sehr müde.«

Sie ließ sich von ihm die Jacke umhängen. Dann steckte sie das Zigarettenetui ein und beehrte Parr mit einem flüchtigen Lächeln.

»Wir bleiben miteinander in Verbindung, Inspektor?«

»Gewiss«, antwortete Parr.

Sie ging zur Tür, die Tower ihr aufmachte. Auf der Schwelle drehte sie sich um und nickte Parr zu. Dann waren sie beide verschwunden.

Im Raum blieb ein köstlicher Parfümduft zurück. Parr betrachtete die Aschenschale. Der Zigarettenstummel war zerdrückt, verdreht, mit Lippenstift beschmiert. Er leerte die Schale in den Papierkorb, dann griff er unter den Schreibtisch und schaltete das Tonbandgerät aus, das die ganze Zeit gelaufen war.

Er setzte sich wieder, beugte sich vor und massierte mit den Fingerspitzen die Haut an seinen Schläfen.

Janice Rhode hatte gesagt: Lily war nicht der Typ, der Selbstmord begehen würde. Das würden Sie wissen, wenn Sie sie gekannt hätten. Sie hatte viel zu viel Freude am Leben. Sie genoss jede Minute, jeden Augenblick.

Und das Sonderbare daran war, dass er Lily gekannt hatte. Dreizehn Jahre war es jetzt her. Abgesehen vom Altersunterschied, hatte er die Ähnlichkeit sogleich bemerkt, als Janice Rhode zur Tür hereinkam.

Aber wenn man es sich genauer überlegte, war es eigentlich gar nicht so sonderbar, dass er Lily gekannt hatte. Sie waren ungefähr gleichaltrig gewesen und hatten zur selben Zeit die Staatsuniversität besucht; es war durchaus nicht ungewöhnlich, dass sich ihre Lebenswege einmal gekreuzt hatten. Damals hatte sie noch nicht Lily Paulsen, sondern Lily Rhode geheißen. Sie hatte dann John Paulsen geheiratet, und nach einiger Zeit war John Paulsen Bürgermeister von Eastern City geworden. Seit der Studienzeit waren sie einander nicht mehr begegnet. Er hatte von ihrer Heirat gehört, und manchmal hatte er Lust gehabt, sie wiederzusehen, sie zu besuchen, um über alte Zeiten zu reden und Erinnerungen aufzufrischen. Aber es war nie dazu gekommen.

Als sie starb, hatte er bedauert, dass er sie in all den Jahren nicht wiedergesehen hatte. Freilich hätte es weder an seinem noch an ihrem Leben etwas geändert. Es war für sie beide nur eine Studentenliebelei gewesen, und die Vergangenheit war unwiederbringlich dahin. Nichts hätte sie zurückrufen können.

Er stand auf, öffnete den Wandschrank, nahm das Futteral mit dem Revolver vom Haken und schnallte es an seinen Gürtel. Seine Gedanken wanderten dreizehn Jahre zurück zur Universität, zu Lily Rhode und dann sogleich zu seinem Eintritt in die Staatspolizei. Allerdings hatte er keine dreizehn Dienstjahre hinter sich, sondern nur neun. Vier Jahre war er Soldat gewesen.

Aber in den dreizehn Jahren war vieles geschehen. Lilys Leben hatte ein jähes Ende genommen, unvollendet, unerfüllt, tragisch. Und ob es sich nun um Selbstmord oder um Mord oder um einen natürlichen Tod handelte - er machte sich keine Illusionen über die Unannehmlichkeiten, auf die er gefasst sein musste.

Er wusste im Voraus, wie die Fronten verlaufen würden. Auf der einen Seite er, mit seinem Diensteid und der blau-silbernen Dienstmarke der Staatspolizei, und auf der anderen Seite die Kräfte, von denen Janice Rhode gesprochen hatte: Man... Das bedeutete eine straff organisierte politische Partei. Das bedeutete Bürgermeister Paulsen, Staatsanwalt Robert Tinkham, den Gouverneur und den hiesigen Parteivorsitzenden Frank Newcombe. Für einen einzelnen Polizeibeamten schien es ganz aussichtslos, gegen diese Leute anrennen zu wollen. Die Umstände des Todes der Frau des Bürgermeisters zu untersuchen war keine normale Angelegenheit. Und er wusste sehr gut, was das gerade in einem Wahljahr bedeuten musste, zumal Bürgermeister Paulsen für den Posten des Gouverneurs kandidieren wollte.

Sein Mantel hing auf einem Kleiderbügel. Er nahm ihn heraus, klopfte ihn zerstreut ab und zog ihn an. Dann griff er nach seinem Flut und verließ das Zimmer.

Als er auf den Fahrstuhl wartete und das Surren des Aufzuges hörte, fiel ihm plötzlich etwas anderes ein. Es hing mit einem Autounfall zusammen, war erst vor kurzem passiert und hatte etwas mit John Paulsen, dem Bürgermeister von Eastern City, zu tun.

 

 

 

 



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