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Ein geheimnisvoller Stern, der zwei einsamen Menschen das schönste Weihnachtsfest ihres Lebens bereitet, ein heftiger Weihnachtssturm, in dem Vater und Sohn unerwartete Hilfe erhalten, ein Kater, der sich auf einem Kutter als Hilfsmatrose verdingt, und ein verschwundener Weihnachtsbaum … davon und von vielen weiteren Menschen und Tieren in der Heiligen Nacht erzählt Claire Beyer.
Geschichten voller Schönheit, Glück und Wunder, die das Weihnachtsfest verzaubern – zum Lesen und Vorlesen für die ganze Familie.
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Seitenzahl: 217
Veröffentlichungsjahr: 2025
Claire Beyer
Alles ist so festlich
Die schönsten Weihnachtsgeschichten
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5123.
Deutsche Erstausgabe© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025
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Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78464-7
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Der Weihnachtssturm
Das Weihnachtsmahl
Flosse 1903
Am Meer
Das ist das Haus vom Nikolaus
Das Schaukelpferd
Die Kutsche
Karls Katze. Oder wie es hätte sein können
Die Blautanne
Der Weihnachtsbaumverkäufer. Ein Märchen
Weihnachtssterne
Das Glöckchen
Vivien
Angelo
Der besondere Weihnachtswunsch
Der Stern
Weihnachtsfrieden
Buchhändler Rogalsky
Inselkatzen
Die Weihnachtsgans
Ein Stern für Schopenhauer
Jack, der Meisterdieb
Wunderbare Weihnacht
Die Weinlese
Theias Kreise
Das Weihnachtswunder
Cliffhanger
Der alte Amor
Quellenverzeichnis
Informationen zum Buch
Schon seit Stunden hat es heftig geschneit. Dazu tobte ein schlimmer Nordwind. Vater und er hatten bis zum Mittag Holz hereingeschafft, die Finger waren ihm dabei fast abgefroren. Und jetzt mussten sie auch noch zum Huber-Hof, um das Rauchfleisch und den Käse zu holen. Es sollte sein wie in jedem Jahr. Rauchfleisch und Käse vom Huber-Hof an Heiligabend. Seinen Eltern fiel einfach nichts anderes ein. Früher hatte Kilian das schon gern gegessen, aber jetzt stand er ganz und gar nicht mehr darauf. Er fuhr trotzdem mit. Wenigstens war er dann mal eine Weile seine grinsende Schwester los.
Mutter hatte noch gewarnt, es sei zu gefährlich, der Sturm sei stärker geworden und der Schneefall dichter. Man könne ja Rühreier essen, oder Würstchen aus der Dose. Meine Güte, hatte die Probleme. Natürlich stieg er ein. Von so etwas ließen sich sein Vater und dessen Geländewagen doch nicht abhalten. Papa freute sich das ganze Jahr darauf, das Auto einmal richtig fordern zu können. Dort, wo sie wohnten, waren Bordsteine und Kanaldeckel die einzigen Hindernisse. Und Vater war ein vorsichtiger Fahrer.
So fuhren sie los. Zwar konnte die kleine Straße nicht mehr genau ausgemacht werden, zumindest nicht an den Rändern, aber die schneevertrauten Tiroler hatten Stöcke in gelben Leuchtfarben an die Seiten der Fahrbahn gesteckt. Das Ganze mute wie eine Fahrt durchs Wasser zwischen Bojen an, sagte er zu seinem Vater, und der nickte lachend dazu. Ansonsten sprachen sie nicht viel. In der engen Nähe des Wagens kam eine Verlegenheit auf, die keiner von beiden überspielen konnte. Und wenn er es sich so recht überlegte, gab es auch nichts, worüber sie hätten reden können. Sein Vater trauerte vermutlich seinem Büro nach und er seiner Spielkonsole. Das verband sie aber nicht wirklich.
Dieses Weihnachten hätten sie sich schenken können. Wieder in das Bauernhaus nach Tirol. Jeden Balken kannte er in- und auswendig. Und dann noch mit den Eltern und der kleinen Schwester! Es gab weder Skilifte noch eine gespurte Langlaufstrecke, nicht einmal mit dem Board konnte er aufs Gelände. Wegen der ganzen Bäume, die überall nur im Weg standen. Blödes Tirol! Er war schließlich zwölf und kein Kind mehr. Und alles, was Vater sich einfallen ließ, war, seine Schwester mit ihm rauszuschicken, um einen Schneemann zu bauen. Er hatte schon alle Schneemänner gebaut. Kleine und große, schiefe, perfekte und den krummen im Vorjahr, der keine zwei Stunden durchgehalten hatte. Mit seiner Schwester war auch sonst nichts anzufangen, die las ihre blöden Vampirromane und kicherte ständig dabei.
Das dachte er, als sein Vater den Wagen startete und die ersten Serpentinen zum Huber-Hof am Silbergrat meisterte. Der Geländewagen spielte mit dem Schnee und ließ sich selbst bei rutschigen Partien nicht aus der Spur bringen. Die Wischer schippten lässig die Flocken zur Seite, auch wenn die jetzt waagrecht gegen die Frontscheibe fielen. Und im Wageninnern war es mollig warm. Wie in jedem Jahr kamen sie am frühen Nachmittag an. Die Einöde wurde vom alten Huber-Bauern allein bewirtschaftet. Er war der Letzte seiner Generation, und Jahr für Jahr begrüßte er sie mit dem Hinweis, dass es im nächsten Jahr nichts mehr gebe, gor nix, dass er sei Sach aufgeben werde, um ins Tal zu ziehen. Doch dann stand wieder ein Korb mit Käse und Rauchfleisch auf der Ofenbank. Überall duftete es nach Weihrauch und anderen Kräutern, weil der Bauer schon alles für die Raunächte vorbereitet hatte, in denen er den Stall mit glimmenden Kräuterbüscheln ausräuchern und die Kühe mit Dreikönigswasser beträufeln würde. Er mache das, um die bösen Geister auszutreiben, hatte er einmal erzählt, und weder Vater noch er hatten es gewagt, darüber zu lachen.
Während des Aufenthalts wurde nicht viel gesprochen. Der Tiroler Bauer nahm das Geld brummend entgegen, die vermaledeiten Euros, holte eine verbeulte Blechdose aus dem Küchenschrank und verwahrte sie wieder. Sie fragten nach dem Vieh. Dort sei alles wie immer, kam zur Antwort, die Senta lahme halt, aber das mache er auch. Obwohl der Vater zum Aufbruch drängte, scheuchte ihn der Bauer an den Tisch. Für einen Kaffee sei immer Zeit, und außerdem könnten sie heute sowieso nicht mehr zurück. In der oberen Kammer lägen Strohmatratzen, die für eine Nacht gut genug seien, und morgen klare das Wetter eh auf. Vater entgegnete lächelnd, dazubleiben käme nicht in Frage, sie müssten zurück, schließlich sei Heiligabend. Das sei dem Schneesturm ziemlich egal, antwortete ihm der Bauer. Kilian lief es kalt den Rücken hinunter. Ihr Urlaubsdomizil war schon krass, aber dieses Rumpelhaus mit seinen Geistern im Kuhstall! Nie im Leben! Er beeilte sich zu sagen, sie müssten zurück, wegen der Mutter. Und der Schwester, fügte er noch schnell hinzu.
Sein Drängen war unnötig, denn der Vater stellte bereits den Essenskorb auf die Rückbank und forderte Kilian auf einzusteigen. Der Bauer lief derweil um den Geländewagen und inspizierte ihn mit skeptischer Miene. »Wenigstens Schneeketten«, brummte er mürrisch. Den stolzen Hinweis, dass mit einem solchen Autotyp durch die Sahara gefahren werde, selbst durch wütende Sandstürme, kommentierte er mit einem »Jo mei …« und schickte sich an, die Haustür zu erreichen. Der Alte schüttelte dabei ausgiebig den Kopf, die Schneeflocken stoben nur so aus seinen Haaren. Dann verschwand er im dichten Gestöber, als ginge er in ein Nichts.
Die Entfernung vom Huber-Hof zu ihrem Haus war bei passablem Wetter in einer halben Stunde zurückzulegen. Manchmal hatten sie, wenn viel Schnee lag, auch schon länger gebraucht. An solche Zeiten war an diesem Tag nicht zu denken, das sah Kilian ziemlich schnell ein. Mehrmals musste Vater aussteigen, um mit dem Spaten den Weg freizuräumen. Und der Schneefall ließ nicht nach. Vom Wind getrieben, fielen die Flocken so dicht, dass selbst die Begrenzungen nicht mehr sicher auszumachen waren. Also wurde Kilian aus dem Wagen geschickt, um die Stangen zu orten. Und Vater meinte das absolut ernst, hatte er aus dem besorgten Blick lesen können. Hätte ich früher einmal den Geländewagen fahren dürfen, dachte er, wäre die Situation eine andere. Aber nein. So war das in seiner Familie, und natürlich musste er alles ausbaden. Wenn sie überhaupt vorankommen wollten, blieb nichts übrig, als auszusteigen und wie ein blöder Ochse am Graben entlangzugehen.
Mit ausgebreiteten Armen tat er das dann auch, den Kopf dabei tief in die Kapuze des Anoraks gezogen. Er stapfte mit hohen Schritten die Fahrbahn entlang, konnte nicht einmal maulen, denn der vom Wind gepeitschte Schnee fuhr ihm eisig zwischen die Lippen. Er hielt sich seiner Meinung nach gut, aber als seine Jeans völlig durchnässt waren, hatte er genug. Mit fuchtelnden Armen bedeutete er seinem Vater, er werde jetzt einsteigen und den Wagen auf keinen Fall mehr verlassen. »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen!«, meinte der Vater, kaum dass er eingestiegen war. »Die Räder greifen nicht mehr! Vorhin wäre der Wagen beinahe weggerutscht.« Obwohl sie standen, spürte Kilian, dass sich das Auto bewegte. Plötzlich heulte er Rotz und Tränen. Dabei tat er das schon lange nicht mehr. Er schämte sich nicht einmal. Nur raus hier, dachte er, bevor das Ding in den Abgrund stürzt. Doch bevor er reagieren konnte, verlor der Wagen die Balance. Im Zeitlupentempo legte er sich auf die Seite und schlitterte abwärts. Unsanft, aber letztlich glücklich, wurde er von einer Fichtenschonung gestoppt. Kilian hörte die Airbags explodieren und sich und den Vater schreien.
Nach dem mächtigen Schlag war es urplötzlich still. Der Wagen stand wieder aufrecht, und die Scheibenwischer gingen ihrer Arbeit nach, als wäre nichts geschehen. Aber Vater saß stocksteif da und hielt mit beiden Händen das Lenkrad fest umklammert. Er war kreideweiß, doch Kilian konnte sehen, dass unter seiner Mütze Blut hervorquoll. Sein Vater sagte nichts, riss sich stattdessen die Mütze vom Kopf und versuchte mit ihr, das Blut vom Gesicht zu wischen. Dabei verschmierte er es aber nur noch mehr und sah fürchterlich aus. Sie wollten aussteigen, aber der Junge versuchte vergeblich, die Beifahrertür zu öffnen. Dann drückten beide, so gut es in der Enge des Fahrzeugs eben ging, dagegen. Endlich sprang sie auf.
Vater kletterte mühsam den Hang hinauf. Kilian folgte zunächst, ging dann aber noch einmal zum Auto, riss an der Tür, kletterte nach hinten und zog den Korb hervor. Er konnte sich seinen Mut oder den Leichtsinn selbst nicht erklären. Aber schließlich war Weihnachten, und was würde Mama sagen, wenn sie ohne Korb ankämen! Vater voraus trotteten sie die Straße entlang. Als Kilian zurückgeschaut hatte, war nicht einmal mehr das Licht der Scheinwerfer zu erkennen gewesen. Sie hatten gebrannt, oder nicht? Dann sah er nach vorn, sah, dass die Kopfwunde noch blutete und Vater Schnee darüber rieb. Rot wie Blut, weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz … Wie hieß das Märchen? Mutter hatte es ihm vorgelesen, aber er konnte sich nicht an den Namen erinnern.
»Nichts«, sagte sein Vater, »es ist nichts, lass uns eine Hütte suchen.« Jetzt erst bemerkte der Vater den Korb, schüttelte darüber ungläubig den Kopf. Manchmal hielt Kilian an und lauschte. Aber es war nur der Wind. Und der schüttelte ihn durch. Nass und klamm wollte er den Korb nun doch loswerden. Weihnachten war so weit weg, es war völlig unmöglich, daran zu denken. Er steckte Rauchfleisch und Käse in den Anorak und ließ den Korb einfach stehen. Seine eisigen Hände schob er in die Ärmel. Vater hatte davon nichts bemerkt. Er verhielt sich überhaupt so merkwürdig, schaute schon lange nicht mehr zurück, so als wäre er ganz alleine unterwegs.
Doch dann stoppte er plötzlich. Eine Hütte! Vater hatte wirklich eine Schutzhütte gefunden! Erleichtert stellten sie fest, dass die Tür nicht verriegelt war, und Kilian trat ungestüm ins Innere. Zunächst umgab ihn völlige Dunkelheit. Dann erkannte er schemenhaft eine Bank und wenige Strohbüschel, die kaum den Boden bedeckten. Er wollte sich setzen, doch die Bank war voller Schnee. Der war durch die breiten Ritzen gedrungen und lag da, als gehöre er hierher.
Kilian sehnte sich nach der Wärme, nach der bullernden Hitze, die seine Mutter wie aus dem Nichts zaubern konnte. Er duckte sich, als sein Vater ihn unvermittelt ansprach. »Hier werden wir den Sturm abwarten! Hörst du! Aber wir dürfen auf keinen Fall einschlafen! Versprichst du mir das?« Kilian nickte. Mit etwas Stroh säuberten sie die Bank und setzten sich. Der Vater nahm Kilians Hände in die seinen, rieb sie so lange, bis sie warm wurden. Sie würden wohl eine Weile hier ausharren müssen, meinte er, doch irgendwann käme sicher Hilfe. Erfrieren müssten sie jedenfalls nicht, die Hütte werde sie schon schützen. »Und verhungern auch nicht«, lachte Kilian und schlug auf seine Anoraktasche. Als er aufblickte, hatte sich sein Vater zurückgelehnt und schien zu schlafen.
Kilian stieß ihn an, doch der Vater reagierte nicht. Seine Hand presste er auch nicht mehr gegen die Wunde. Weinend schrie Kilian auf ihn ein: »Um Himmels willen! Papa! Nicht einschlafen!« Für Überlegungen blieb jetzt keine Zeit. Er musste zum Auto zurück und alles holen, was Vater wärmen konnte. Vorerst müsste das wenige Stroh helfen. Er bedeckte ihn damit, so gut es ging. Je weiter er vorankam, desto ruhiger wurde er. Ihm war auch nicht mehr kalt, im Gegenteil, er glaubte zu glühen. Schließlich hetzte er die Straße entlang, hoffte, die Stelle zu finden, an der das Auto abgerutscht war. Wenn ihn sein Zeitgefühl nicht trog, musste er längst an der Absturzstelle angekommen sein. Er versuchte, im dichten Schneegestöber etwas zu erkennen, doch es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Plötzlich stolperte er über ein Hindernis, fiel der Länge nach hin und kam ins Rutschen. Panisch griff er um sich und fasste das Kantholz, über das er gestolpert war. Er schlitterte, wie ein Schiffbrüchiger an das rettende Holzstück geklammert, den Hang hinab. Er traf nicht genau auf den Wagen, aber als er zum Halten kam, konnte er dessen Umrisse erkennen. Seinen Glücksbringer in der Hand näherte er sich dem weißen Berg, der sich über dem Auto gebildet hatte.
Er arbeitete ohne Unterlass, dann endlich ließ sich die Türe öffnen. Die Sitzbezüge aus Schaffell, den Verbandskasten, die schützenden Folientücher! Alles in die Decke, die auf der Rückbank lag. Er warf das Bündel über die Schulter und sah beim Herausklettern im schwachen Schein der Innenbeleuchtung das Kantholz vor dem Wagen liegen. Einen Moment hielt er inne. Vor ihm lag der Pfosten eines Wegweisers. Auf dem angeschraubten Emaille-Schild stand deutlich: Zur Wolfshütte. Dann endlich los. Er kletterte den Abhang hinauf und kämpfte sich zur Hütte zurück, in der sein Vater noch immer zu schlafen schien. Vorsichtig bettete er ihn auf die Bank, schob zuvor ein Schaffell darunter. Nachdem er ihn in die mitgebrachte Decke einwickelt hatte, verarztete er die Kopfwunde und rieb ihm die Hände warm.
Der Sturm hatte ganz nachgelassen, der Schneefall war geringer geworden, aber Kilian bemerkte es nicht. Er redete ohne Unterlass, berichtete seinem schlafenden Vater von der Schule, von seinen Freunden, gestand seine Schwärmerei für ein Mädchen, beichtete die heimlich gerauchten Zigaretten. Es war ihm egal, was sein Vater dazu sagen würde. Und er schwor sich, wenn das alles heil überstanden wäre, dann würde er … ja, was eigentlich? Er war viel zu durcheinander, um einen geeigneten Schwur zu finden. Auch davon erzählte er seinem Vater, der einfach nicht aufwachen wollte. Dann hörte Kilian einen Traktor tuckern. Er rannte aus der Hütte und sah den Huber-Bauern auf sich zukommen.
Viel später döste er, in eine Decke eingehüllt, vor dem Kamin. Weder seine Mutter noch die Schwester störten ihn dabei. Er hatte von ihnen erfahren, dass Vater am nächsten Tag wieder aus dem Krankenhaus entlassen werde. Es war nur eine Gehirnerschütterung und dazu eine Platzwunde. Sie würden Weihnachten eben zwei Tage später feiern. Kilian war das nur recht. Seine Gedanken flogen mit den Schneeflocken, die wieder eingesetzt hatten, um die Wette.
Am Nachmittag kam Besuch. Der Huber-Bauer fuhr mit seinem Traktor vor. Er wehrte ab, als Mutter ihm danken wollte. Mit dem Kilian wolle er reden, sonst nix, brummte er. Als Kilian von dem Holzpfosten sprach, der ihn zum Wagen geführt hatte, hob der Alte die Hand und sagte, er habe die Geschichte schon gehört, aber dieser Pfosten stünde droben, ganz droben am Silbergrat, weit von der Straße entfernt. Kilian jedoch blieb trotzig bei seiner Schilderung. Da sah ihn der alte Mann lange an, strich ihm dann über den Kopf, beugte sich zu ihm herab und flüsterte: »Dann war's der Wolf, er hat ihn für dich hingelegt, bin mir sicher!« Er bat, mit dem Jungen alleine reden zu dürfen. »Die Schutzhütte«, begann er, nachdem die Mutter das Zimmer verlassen hatte, »steht dort, wo vor vielen Jahren dein Urgroßvater einem Wolf das Leben gerettet hat. Das Tier saß in der Falle und sollte erschossen werden. Aber der Bub hat so gebettelt und geheult, dass der Jäger von seinem Plan abließ und die Büchse senkte. Humpelnd schlich das Tier davon, blieb dann aber stehen und drehte deinem Urgroßvater den Kopf zu. Die Augen hatte er weit geöffnet und mit rauer, kehliger Stimme gab er Laute von sich, die der Wind herübertrug. Ich helfe dir auch einmal, das hat dein Uropa verstanden. Dann war das Tier im Wald verschwunden. Stein und Bein hat er darauf geschworen, dass es so gewesen ist. Und später hat er gerade an dieser Stelle die Schutzhütte gebaut.« Der Alte starrte lange ins Feuer, sagte dann noch leiser: »Also hat er Wort gehalten, der Wolf«, und nickte, weil er alles zu verstehen schien.
Nachdem er gegangen war, wollten Mutter und Schwester wissen, was der Huber-Bauer denn erzählt habe. Kilian überlegte einen Augenblick, dann antwortete er ihnen: »Schöne Weihnachten hat er mir gewünscht, was sonst.«
Der Speiseplan an Weihnachtstagen
Lag uns seit Wochen schwer im Magen.
Wir wollten leicht verdaulich kochen,
Ganz ohne Fett und ohne Knochen,
Und darauf passte nur ein Fisch
Der sollte festlich auf den Tisch.
Jedoch nicht Karpfen, nicht Forelle –
Womöglich aus der Mikrowelle –,
Nein, ganz exotisch, einen Hummer,
Ein Krustentier, ein dicker Brummer.
Wenn's ginge aus Bretagnes Wellen,
Den wollten wir uns gleich bestellen,
Und frisch das Ganze, voller Leben,
Das müsste es im Großmarkt geben.
So war es auch! Das Tier, es lebte!
Wir sahen das, weil es sich regte.
Zuhaus' bekam er erst ein Becken
Und konnte seine Glieder strecken.
Ein Krustentier, so richtig frisch
Am Weihnachtsabend auf den Tisch.
Am Tag zuvor ist's dann geschehn,
Wir hatten ihn uns angesehn,
Uns dann gefragt, wie wird das sein?
Wer wirft ihn in den Topf hinein?
Er sah uns an, in unsrer Mitte,
Der Hummer, als der starke Dritte.
Und jetzt? Was nun?
Was sollten wir denn mit ihm tun?
Das Krustentier zurückzugeben –
Das wär' für ihn ein kurzes Leben.
Und das beim Fest der Nächstenliebe,
Er sah uns an, sein Blick war trübe.
Da halfen nur Bretagnes Küsten,
Die wir recht bald erreichen müssten.
Dann fiele unser Wintersport
Halt diesmal auf 'nen andren Ort.
Die Skier wieder ausgeladen,
Das Becken dafür reingetragen.
Dann unterwegs ein Käsebrot
Half gegen große Hungersnot.
Kein Stau, kein Drängeln, keine Hast.
Erleichtert von Gewissenslast
Genossen wir die Winterwälder,
Die weißen Flocken, weiten Felder,
Wir sangen laut, was uns gelang,
Und auf der Rückbank, unser Fang?
Er schlief, hob manchmal eine Schere,
Als ob das Folter für ihn wäre.
Doch bei der Stillen, Heil'gen Nacht
Ist er dann freudig aufgewacht.
Als spürte er, als wüsste er,
Nicht lange hin, dann kommt das Meer.
Und fast am Ziel –
Die Wellen trugen Silber auf,
Der Mond hielt ein in seinem Lauf.
Der Sturm war weihnachtlich gelaunt,
hat nicht getobt, nur mild geraunt.
Das Wintermeer, das Salz, der Wind,
Geschwind lief er zur tiefen Pracht,
Und wir, in dieser Stillen Nacht?
Mit Brot und Wein und Käserest
Begingen wir das Weihnachtsfest.
Auch Ihnen schöne Weihnachtstage –
Was Sie auch speisen – keine Frage!
Am Tag vor Heiligabend schlüpfte der Fischer Jan Hinrichsen in seinen gelben Südwester. Es war kalt, und er hatte den engmaschigen, knotigen Pullover schon gleich nach dem Aufstehen angezogen. Er trug ihn jeden Tag, außer am Sonntag, wenn er nicht zum Fischfang auf die See fuhr. Dann lag der Pullover zum Lüften auf der Küchenbank, was aber vergeblich war, weil der langjährige Hausgenosse Kater Flosse-Jungchen und zwei noch namenlose kleine Katzen, Findlinge, die dem Ehepaar vor kurzem in einem Korb vor die Tür gestellt worden waren, es sich stante pede darauf bequem machten. Sie nutzten die gesamte Fläche des Vorderteils und der Ärmel und lagen bauschig und weich wie übergroße Pompons darauf. Jan Hinrichsen und seine Frau Hilla, die den Pullover mühsam aus brauner Wolle gestrickt hatte, zuckten darüber nur mit den Schultern, denn das Fell-Trio genoss bei ihnen jede Freiheit, und das wusste es auch. Selbst die Kleinen hatten das schnell begriffen.
Jan Hinrichsen nahm den am Abend vorbereiteten Proviant – Tee in einer Thermoskanne und Käsebrote, zudem einen kleinen Beutel mit gekochtem Fisch – vom Küchentisch und verstaute alles in einer wasserdichten Umhängetasche, in der auch seine Taschenlampe und gefütterte Arbeitshandschuhe Platz fanden. Die alte Küchenuhr schlug vier Mal. Er hörte es, schaute aber dennoch auf das Ziffernblatt, als wolle er ganz sichergehen.
»Zeit, um aufzubrechen«, murmelte er halblaut vor sich hin, denn er wollte Hilla nicht wecken, gleichzeitig aber Flosse-Jungchen das Zeichen zum Aufbruch geben. Doch wie an jedem Werktag wartete der Kater schon neben den hohen, schnürbaren Gummistiefeln und machte ihm Platz, als er sich auf den kleinen Hocker aus Eichenholz setzte, um die Schuhe anzuziehen.
»Dann wollen wir mal los, mein Alter«, forderte Hinrichsen den Kater auf, aber der konnte ihn schon nicht mehr hören, denn er war bereits in großen Sätzen bis zur Pier vorausgesprungen, die eigentlich nur aus einigen alten Betonklötzen bestand, bei denen der kleine, blaue Fischkutter lag und an diesem frühen Morgen still vor sich hindümpelte, als wiege er sich im Schlaf. Die See, Hinrichsen erfasste es mit einem Blick, war ruhig, denn an der Westküste, wo Hinrichsen und seine Frau lebten, herrschten an diesem 23. Dezember ablandige Winde. Auch er hatte nun einen der kleinen Betonpfeiler erreicht, und der Kater wartete darauf, dass das Boot näher ans Ufer gezogen wurde, damit er mit trockenen Pfoten seinen Platz im Bug erreichen konnte. Bevor Hinrichsen das erledigte, nickte der Fischer dem Meer zu. Er vergaß nie, die See zu begrüßen. Ob aus Aberglauben oder aus Tradition, darüber war er sich selbst nicht im Klaren, aber etwas in ihm sagte, er solle Ran, die Meeresgöttin, nicht verärgern. Hilla jedenfalls zündete ihr zu Ehren an Tagen, die ihr Mann auf dem Meer verbrachte, ein Teelicht an; bei heftigem, auflandigem Wind auch zwei.
Endlich hatte Hinrichsen seinen Platz am Ruder eingenommen, und nach einem prüfenden Blick auf Flosse-Jungchen startete er den Motor und nahm Kurs auf das offene Meer. Im Dezember durfte er nur Flundern einholen – für andere Fangfische galt in diesem Monat Schonzeit, und er wusste, es würde Ärger geben, hielt er sich nicht daran. Seine Angst, die Lizenz zu verlieren, war nicht unbegründet, viele warteten nur darauf, Fanggründe übernehmen zu können. Hinrichsen schüttelte sich, er wollte jetzt nicht über Feindschaften nachdenken, viel lieber wollte er sich um Flosse-Jungchen kümmern, der still auf einem Fass am Bug saß und die Möwen beobachtete, die wie sie mit dem ersten Morgenlicht wach geworden waren. Die gierigen Vögel hatten sich schon während der Abfahrt über dem Boot formiert. Flosse-Jungchen nahm seine selbstgewählte Aufgabe, das freche Völkchen notfalls zu vertreiben, ernst. Er fuhr schon so lange zur See, dass ihm diese Pflicht bis in die letzte Kralle vertraut war. Er kannte die Abläufe an Bord, fauchte, wenn sich eine Möwe auf die Reling setzte, und behielt die Vogelmeute immer im Auge.
So hielt er Wache, bis Hinrichsen ihn zu sich rief. Dann stand Flosse-Jungchen auf, streckte sich und sprang von seinem Ausguck auf die Planken hinunter und lief den gekonnten Gang eines Seemanns – ausgleichend, den Wellen ausweichend – zur Kajüte. Bei seinem Kapitän angekommen, wartete er geduldig auf sein Frühstück. Zuerst gab es die Brote für den Fischer, dann bekam Flosse-Jungchen seinen gekochten Fisch. Es folgte, was der Kater so liebte. Denn war die See wie an diesem Morgen friedlich, nahm Hinrichsen seinen tierischen Hilfsmatrosen auf den Schoß, streichelte ihn und summte dabei eine Melodie. Verstummte die Tonfolge, waren sie am Ziel angekommen. Sie hatten den Platz erreicht, an dem die Netze ausgelegt werden konnten. Der Anker wurde geworfen.
*
Auch Hinrichsens Frau war längst aufgestanden. Die beiden jungen Katzen hatten Hilla vor der Zeit geweckt, denn verspielt, wie sie noch waren, hatten sie sich das große Bett der Eheleute ausgesucht, um darauf herumzutoben. Anfangs beteiligte sich Hilla noch am Verstecken, dem angedeuteten Jagen, oder warf ihnen Papierkügelchen zu, doch jetzt riefen Pflichten, Pflichten, die bald auch auf die Katzen zukommen würden, denn Flosse-Jungchen wurde alt. Er hatte schon unter Rheumatismus zu leiden, seine Beweglichkeit war nicht mehr dieselbe wie vor einem Jahr. Der Kater würde, sobald sich eines der beiden Jungtiere für die Fahrt zur See als geeignet herausstellte, sein Altenteil am Herd in der Stube in dem kleinen Kapitänshaus einnehmen dürfen. Aber noch sollten die Jungen die unbeschwerte Zeit genießen, dachte Hille mit einem liebevollen Blick auf die beiden Wildfänge.
Nachdem sie ein Teelicht angezündet hatte, heizte sie den Räucherofen ein, prüfte den reichhaltigen Fang vom Vortag, der über Nacht in einer gewürzten Salzlake gelegen hatte. Geschickt nahm sie die ausgenommenen Fische zur Hand, filetierte sie und legte die schönsten Stücke zur Seite, um sie später zu räuchern und fürs Weihnachtsfest zum Verkauf anzubieten. Vom Rest wollte sie eine Fischsuppe zubereiten, die sie ihrem Mann bei seiner Rückkehr servieren würde.
Nach getaner Arbeit ließ sie die Stiege zum Dachboden herunter. Dort lagerte alles, was das Jahr über wenig oder auch nie gebraucht wurde. Alte Gerätschaften, nach Mottenkugeln riechende Betttücher, Spielzeug der Kinder, aber auch See-Wetterberichte, die bis ins letzte Jahrtausend zurückreichten. Eine Kladde stand abseits, abgegriffener als die anderen. Hilla nahm sie, und seltsamerweise kreuzten sich dabei ihre Gedanken mit denen ihres Mannes, der just in diesen Augenblicken an die alte Geschichte dachte, die darin vermerkt war. Sie fröstelte, schüttelte sich, fing sich aber wieder, denn die kleinen Katzen waren ihr gefolgt und forderten Aufmerksamkeit. Dieser neue Spielplatz war ganz in ihrem Sinn. Sie jagten um die Kisten – der Staub wirbelte nur so auf –, und sie konnten sich vor lauter Lebensfreude fast nicht mehr einkriegen. Hilla ließ sich davon anstecken, vergaß das dunkle Buch und kümmerte sich stattdessen um ihr eigentliches Vorhaben.