Alles und noch mehr. Loreen & Carter - Viktoria Christians - E-Book

Alles und noch mehr. Loreen & Carter E-Book

Viktoria Christians

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Beschreibung

**Alles oder nichts** Nach dem Tod ihrer Mutter und der schmerzhaften Trennung von ihrem Ex-Freund hat Loreen die Liebe endgültig abgehakt. Niemand kann ihre Trauer nachvollziehen, dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als die restliche Highschool-Zeit ohne weiteres Gefühlschaos zu überstehen. Doch bereits am ersten Schultag trifft sie auf den ebenso verschlossenen wie mysteriösen Carter, in dessen Augen sie denselben Schmerz wie in ihren zu erkennen scheint und der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Bei jeder Begegnung mit ihm sprühen die Funken, aber auch seine Vergangenheit ist von Leid und Schuldgefühlen geprägt. Schon bald müssen Loreen und Carter sich fragen, ob sie bereit sind, sich einander zu öffnen und der Liebe noch eine Chance zu geben ... Vom Risiko sich zu verlieben Zwei gebrochene Herzen im regnerischen Oregon, die es wagen müssen, sich gegenseitig zu vertrauen, um die Angst vor der Liebe zu überwinden. Gefühlvoll und mitreißend von der ersten bis zur letzten Seite. //»Alles und noch mehr. Loreen & Carter« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//  

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Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Viktoria Christians

Alles und noch mehr. Loreen & Carter

**Alles oder nichts**Nach dem Tod ihrer Mutter und der schmerzhaften Trennung von ihrem Ex-Freund hat Loreen die Liebe endgültig abgehakt. Niemand kann ihre Trauer nachvollziehen, dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als die restliche Highschool-Zeit ohne weiteres Gefühlschaos zu überstehen. Doch bereits am ersten Schultag trifft sie auf den ebenso verschlossenen wie mysteriösen Carter, in dessen Augen sie denselben Schmerz wie in ihren zu erkennen scheint und der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Bei jeder Begegnung mit ihm sprühen die Funken, aber auch seine Vergangenheit ist von Leid und Schuldgefühlen geprägt. Schon bald müssen Loreen und Carter sich fragen, ob sie bereit sind, sich einander zu öffnen und der Liebe noch eine Chance zu geben  …

Wohin soll es gehen?

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Vita

Playlist

Danksagung

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© privat

Viktoria Christians, 1999 geboren, lebt schon seitdem sie denken kann mehr in ihren Fantasiewelten als in der Realität. Sie ist kein Fan davon, über sich selbst zu schreiben, sondern schreibt lieber über Möchtegern-Badboys, viel Herzschmerz oder turbulente Weltrettungsaktionen, getarnt hinter einer ordentlichen Portion Sarkasmus (und am liebsten über alles zusammen). Wenn sie nicht schreibt, trinkt sie viel Kaffee und verliert sich gerne selbst zwischen den Zeilen eines guten Buches.

Für Laura B.

Weil du immer da bist.

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe Leser*innen,

in diesem Buch sind potenziell triggernde Themen enthalten. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung, die demzufolge Spoiler für das Buch enthält.

Entscheidet bitte für euch selbst, ob ihr diese Warnung lest. Wir wünschen euch alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen besonderer Geschichten.

Eure Viktoria und das Impress-Team

Playlist

Another World – The Vamps

Stuart And The Ave. – Green Day

Respect – Aretha Franklin

Coldest Water – Walking on Cars

Won’t Go Home Without You – Maroon 5

Up & Up – Coldplay

Waves – The Vamps

A.M. – One Direction

Need You – Noahrano feat. Julie

Anxiety – Julia Michaels feat. Selena Gomez

These Boots Are Made For Walking – Nancy Sinatra

Everything Back But You – Avril Lavigne

The Feels – Maren Morris

7 Minutes – Dean Lewis

Boulevard Of Broken Dreams – Green Day

Prolog

Carters Gegenwart ist wie die Sache mit der Schwerkraft: Seine Augen ziehen meine an. Irgendwie komme ich nicht von ihm los. Für einen kurzen Atemzug lässt er mich fliegen, nur um mich dann auf den harten Boden der Tatsachen zurückfallen zu lassen. Und trotzdem gibt sich ein kleiner Teil meines Herzens ihm hin, obwohl ich ganz genau weiß, wie gefährlich er ist, was für Probleme er mit sich herumschleppt und, viel wichtiger, dass er in mir bloß seine tote Freundin sieht.

Loreen

»Ich kann dich nur bis zur Ecke mitnehmen, den Rest musst du laufen«, sagt Lara trocken, als ich auf die Rückbank ihres älteren VW Passats rutsche.

Meine Schwester blickt über ihre Schulter und wirft mir wütende Blicke zu. »Und pass mit den Sitzen auf. Nicht, dass du sie komplett volltropfst.«

Unser Bruder Leon, der neben ihr auf dem Beifahrersitz sitzt, massiert sich die Nasenwurzel und stöhnt genervt auf. Er weiß schon, was jetzt kommt.

»Hast du mal rausgeguckt? Es schüttet wie aus Eimern. Wie soll ich denn da bitte nichts volltropfen?« Ich starre Lara genauso wütend an, wie sie mich ansieht. Wenn Blicke töten könnten, würde eine von uns jetzt umfallen.

»Könntest du vielleicht einmal tun, was man dir sagt, Loreen?«

»Ist doch okay, Lara. Das trocknet doch wieder.«

Sie wirft Leon einen genauso vernichtenden Blick zu wie mir. Auch er könnte jeden Moment zu Staub zerfallen. Dann hätte sie zumindest einen guten Grund, sich über den Dreck in ihrem Auto aufzuregen. Aber auch nur dann.

Lara lässt den Motor an und rollt rückwärts aus unserer Einfahrt. Mein bester Freund Rich hat ihr den Spitznamen Lara Croft gegeben, weil er findet, dass sie Angelina Jolie ein bisschen ähnelt. Allerdings ist er der Einzige, der das so sieht. Doch der Spitzname hat sich gehalten.

Für Laras Zwillingsbruder Leon ist ihm leider kein guter Spitzname eingefallen, obwohl Rich der König der Spitznamen ist. Und mir auch nicht. Obwohl, so ganz stimmt das nicht. Früher, als wir noch klein waren, hat Dad ihn immer Speedy Gonzales genannt, weil er den ganzen Tag nur herumgerannt ist. Um ihn zu ärgern, hat Dad dabei immer die Titelmelodie der schnellsten Maus von Mexiko gesungen. Zum achtzehnten Geburtstag hat er sogar eine DVD mit dem Best-of der Looney Tunes bekommen.

Somit bin ich die Einzige von uns dreien, die keinen Spitznamen hat. Rich und Sabrina nennen mich Lore, aber zu Hause bin ich nur Loreen. Bis jetzt hat es mich nicht gestört, aber in letzter Zeit versetzt es mir immer wieder einen schmerzlichen Stich. Es zeigt, dass ich nicht dazugehöre. Genau das, was Lara mir auch jeden Tag aufs Neue deutlich zeigt. Einfach weil ich über das reden will, was passiert ist. Weil ich mich nicht an Mom erinnern kann.

Leon blickt über seine Schulter zu mir nach hinten und lächelt aufmunternd. Ein Friedensangebot.

Wir haben alle das dunkelbraune Haar von Dad geerbt, aber nur die Zwillinge haben auch genauso wie Dad beruhigend grüne Augen. Ich habe Moms braune Augen bekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mich deshalb auch nicht gerne ansehen, weil ich als Einzige Moms Augen geerbt habe.

Aber jetzt sieht Leon mich direkt an.

Obwohl meine Geschwister mich quasi erzogen haben, verstehen wir uns nicht sonderlich gut. Das liegt vor allem daran, dass ich sie stundenlang mit Fragen über Mom löchere, aber sie nicht über Mom reden wollen – Dad genauso wenig. Und dann ist da noch diese Sache, über die ich mit absolut niemandem reden kann.

»Bist du aufgeregt?«, fragt Leon mich.

»Nö, warum sollte ich?«, entgegne ich trocken und schaue aus dem Fenster. Draußen ziehen die Häuser unserer Siedlung an uns vorbei sowie die Wipfel der Bäume, die zum Blue Forest gehören. In einer einschläfernden Stetigkeit prasselt der Regen auf Laras Passat, als wollte er nicht nur das Auto, sondern auch uns, die darin sitzen, durchnässen.

Im Augenwinkel sehe ich, wie Leon hilfesuchend zu Lara blickt. Zwischen den beiden besteht diese gruselige Zwillingsverbindung, seltsamerweise aber nur, wenn es um mich geht. Wenn der eine nicht weiterweiß und der andere ihm aus der Patsche helfen muss.

»Du könntest ruhig etwas enthusiastischer sein«, kommt Lara Croft ihm zu Hilfe. Sie biegt links auf die Hauptstraße ab, die einmal komplett durch die ganze Stadt führt. Blue Forest ist zwar eine Stadt, aber dennoch kleiner, als man für möglich halten würde.

»Schließlich ist es dein letztes Jahr an der Highschool. Glaub mir, wenn du erst einmal am College bist, wirst du dir wünschen, wieder zur Highschool gehen zu können und mit deinen Freunden zu chillen.«

Sie wirft mir im Rückspiegel vielsagende Blicke zu. Das ist ihr Mom-Blick, den sie in den letzten Jahren noch perfektioniert hat. Eigentlich kenne ich sie nur noch mit diesem Blick, auch wenn ich weiß, dass sie ihn selbst nicht leiden kann. Sie meint, ich würde sie dazu zwingen, ihn aufzusetzen, weil keine autoritäre Maßnahme bei mir wirken würde und sie die Einzige wäre, die in unserem Haushalt für die weibliche Ordnung sorge. Sie denkt, sie müsse Mom für mich ersetzen, weil Dad ihr irgendwann einmal gesagt hat, dass sie jetzt die Frau im Haus sei, kurz nachdem Mom gestorben ist. Das weiß ich aber nur, weil Leon mir einmal davon erzählt hat. Aber da wir zu Hause nie über Gefühle, geschweige denn über Mom und unsere Probleme reden, ist das ein Geheimnis, das keiner je laut ausspricht.

»Denkst du, das Leben eines Teenagers besteht nur aus chillen?«, frage ich sie, wobei ich mit meinen Fingern auf meiner Jeans herumtrommle.

Leon wendet sich indessen gekonnt von unserer aufkeimenden Diskussion ab und beginnt, auf seinem Handy herumzutippen.

»Unter Einbezug aktueller Studien, in denen die meisten jungen Erwachsenen wie du angegeben haben, ihre Hobbys wären Netflix und Feiern, ergibt sich für mich daraus das klare Bild, dass sich ein Großteil deiner Altersgenossen ausschließlich mit chillen beschäftigt«, antwortet Lara kühl.

Sie studiert Psychologie im letzten Semester und ich kann versichern, dass ihr das absolut gar nicht guttut. Darüber hinaus kann ich außerdem versichern, dass es auch niemandem sonst guttut, dass sie Psychologie studiert. Zumal sie, ironischerweise, mit fünfundzwanzig noch zu Hause wohnt. Sie schiebt das auf ein schweres Trauma in ihrer Kindheit, durch das sie sich dazu verpflichtet fühlt, bei ihrer Familie zu bleiben und sich um alle zu kümmern. Natürlich ist das kompletter Schwachsinn. In Wirklichkeit ist es einfach nur bequemer, sich von Daddy finanzieren zu lassen. Und Leon, der ebenfalls noch in seinem Kinderzimmer lebt und jeden Abend Videospiele spielt, ist einfach nur zu faul, um auszuziehen. Und das, obwohl er BWL studiert und ständig jammert, wie eng alles ist und wie sehr es ihn nervt, hinter mir herräumen zu müssen. Das hat schon oft zu kleinen Streitereien zwischen den Zwillingen und Dad geführt.

»Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du ein ganz schöner Klugscheißer bist?«, fahre ich sie an. Ich kann es nicht haben, dass sie immer so wichtigtut. Ihr Gehabe macht mich total wütend.

Leider halten sich Lara und Leon beide für ziemlich cool, aber Lara treibt es heute ziemlich auf die Spitze. Jeden Tag aufs Neue darf ich mir von ihr anhören, wie wichtig ein guter Highschool-Abschluss sei und wie wichtig, sich tadellos zu benehmen und freundlich zu allen Mitmenschen zu sein. Und das alles, damit ich auch einmal auf ein so tolles College gehen kann, wie sie es tut. Mich würde es nicht wundern, wenn sie versuchen würde, mit Liebe Weltfrieden zu stiften. Nur dass das College gar nicht so toll sein kann, wie sie mir immer weißmachen will, sonst wäre sie ja auch schließlich längst schon ausgezogen, und Liebe versprüht sie auch nicht gerade.

»Ich bin kein Klugscheißer«, erwidert sie kühl. »Ich stelle lediglich die Fakten dar. Da gibt es einen gravierenden Unterschied, meine Liebe!«

»Können wir uns nicht einfach alle lieb haben? Nur für einen Morgen?«, hakt sich Leon in unsere Diskussion ein. »Kommt schon, Leute, es ist Donnerstag! Nur noch heute und morgen und dann ist schon wieder Wochenende.«

Diese erste Schulwoche ist tatsächlich sehr kurz, da es zum eigentlichen Beginn des Schuljahrs Probleme bei den Lehrkräften gab. Deshalb fängt die Schule dieses Jahr ausnahmsweise an einem Donnerstag an.

Ich stimme Leon da voll und ganz zu. Ein Morgen ohne Streitereien wäre wirklich toll, aber das ist schon rein aus Prinzip nicht möglich.

»Loreen hat halt aufgestaute Aggressionen, die sie an mir auslässt. Sie projiziert ihre ganzen negativen Gefühle auf ihr Umfeld und sucht sich einen Schuldigen – und das bin nun einmal ich, weil ich ihr Orientierung biete. Familie hat immer mit Orientierung zu tun und …«

»Halt bitte an. Ich halte das hier keine fünf Sekunden länger aus.« Ich schnappe mir meinen Rucksack, schnalle mich ab und mache Anstalten, die Tür zu öffnen, obwohl das Auto noch fährt. Der Regen ist mir egal – ich möchte einfach nur aus diesem viel zu engen Auto aussteigen und dieser Hölle entkommen. Der Psychologenhölle.

»Was ist falsch daran, dir die Gründe für dein angespanntes Verhalten aufzuzeigen?«, fährt Lara Croft mich an. Trotzdem fährt sie in die Haltebucht vor einem Bäcker, setzt den Warnblinker, legt den Leerlauf ein und dreht sich zu mir um. Anders als bei mir liegen ihre Haare perfekt. Ihr Long Bob umrahmt ihr Gesicht, das absolut symmetrisch wirkt. Als hätte Gott persönlich mit einem Lineal jeden Abstand genau abgemessen.

»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass die Gründe für mein angespanntes Verhalten einfach etwas damit zu tun haben könnten, dass du dich für etwas Besseres hältst?«

Bevor sie noch etwas sagen kann, steige ich aus und knalle die Tür hinter mir zu. Binnen weniger Sekunden bin ich komplett durchnässt. Aber das ist mir egal. Dafür bin ich viel zu wütend. Ohne mich noch einmal umzudrehen, laufe ich auf dem Gehsteig weiter und bin dankbar für jeden einzelnen Tropfen, der auf mich niederprasselt. Als könnten sie das Feuer meiner Wut löschen, das auf dem Grund meines Herzens lodert.

Eigentlich war es mir bisher immer egal gewesen, dass Lara sich für das Alphatier in unserer Familie hält, aber seit den Sommerferien fühle ich mich zunehmend eingeengt. Da sind so viele Dinge, die ich gerne wissen würde, zu vieles, über das nicht geredet wird. Und wann immer ich versuche, Antworten auf meine Fragen zu bekommen, werde ich abgewiesen.

Loreen, ich hab grad keine Zeit.

Können wir da wann anders drüber reden?

Jetzt nicht, okay, Loreen?

Und dann ist da noch diese Sache … diese Sache, über die ich einfach nicht reden kann. Ich kenne Laras psychologische Antwort darauf bereits. Dabei würde ich viel lieber eine Antwort von ihr als meine Schwester bekommen. Aber so nahe sind wir uns nicht. Und mit jedem Tag, an dem wir uns wieder einmal streiten, entfernen wir uns immer weiter voneinander.

Dank Laras so ausführlicher psychologischer Berichte weiß ich jetzt, dass meine schnippischen Antworten und meine Wutausbrüche ein Akt der Rebellion gegen ihre Erziehungsmaßnahmen sind. Ich hingegen glaube nicht an dieses ganze Psycho-Zeug. Für mich sind das alles weltfremde Menschen.

Der wahre Grund für meine Stimmungsschwankungen, meine Gereiztheit und meine Streitlust könnte schließlich auch biologischen Ursprungs sein. Dank der App auf meinem Smartphone weiß ich, dass der errechnete Termin für meinen Eisprung morgen ist. Da sind alle Frauen gereizt oder fühlen sich unwohl. Das hat absolut gar nichts mit Psychologie zu tun. Vielleicht mache ich es mir damit aber auch wieder zu einfach.

Zumindest tröstet mich dieser Gedanke ein wenig, während ich durch die Straßen von Blue Forest laufe. Ich wohne in dieser schrecklichen Kleinstadt in der Nähe von Portland, Oregon, die ihren Namen von den Edeltannen hat, die hier überall wachsen. Neben einem relativ vorzeigbaren Stadtkern gibt es den Stadtpark mit dem Lake, wie er von allen genannt wird, dem Blue Forest Lake, der quasi das Zentrum der Stadt bildet. Direkt hinter dem Stadtpark ist die Bright Stars High – meine Schule.

Und der Weg dahin ziemlich weit. Zum Glück habe ich aber noch genug Zeit. Vielleicht schaffe ich es sogar noch, meine Bücher in den Spind zu räumen, bevor ich zum Unterricht muss. Zum ersten Mal bin ich Lara dankbar, dass sie immer eine Stunde eher zum College losfährt, um noch vor dem Berufsverkehr auf dem Highway zu sein.

Der Fußgängerweg endet an einer Kreuzung vor dem Stadtpark. Hier an der Ecke, genau hinter mir, befindet sich ein kleines Café, in dem es den besten Käsekuchen der Welt gibt. Vorbildlich drücke ich auf den Knopf der Fußgängerampel und warte. Wenn es nicht so regnen würde, könnte ich mir meine Kopfhörer in die Ohren stecken und meine Gefühle mit Green Day übertönen, aber ich riskiere lieber nicht das Leben meines Smartphones.

Die Ampel wird grün und ich überquere die Straße. Zumindest habe ich das vor. Doch ich habe vielleicht zwei Schritte getan, als mich auch schon ein ohrenbetäubendes Hupen aus meinen Gedanken reißt. Ein klappriger roter Ford rast auf mich zu und macht absolut keine Anstalten zu bremsen. Für einen kurzen Augenblick bleibe ich wie erstarrt stehen, als hätte eine höhere Macht meine Schuhsohlen auf dem Asphalt festgenietet, und denke mir, dass ich gleich in einem hohen Bogen durch die Luft fliegen und mich in Kartoffelpüree verwandeln werde. Oder eher Loreenpüree.

Aber erst, als das Auto auf den gegenüberliegenden Fußgängerweg ausweicht und an mir vorbeifährt, springe ich zurück auf den Gehsteig.

Sofort heftet sich mein Blick auf den Beifahrer, der sich auf die Fahrerseite gelehnt und wohl im letzten Moment das Lenkrad herumgerissen hat. Er hat dichtes braunes Haar, das sein kantiges Gesicht umrahmt und funkelnde hellgrüne Augen, aus denen er mich entsetzt anstarrt.

Es kommt mir so vor, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen, als würde das Auto in Schrittgeschwindigkeit an mir vorbeifahren. Dabei weiß mein Verstand ganz genau, dass das Auto definitiv schneller als die erlaubten dreißig Meilen pro Stunde gefahren sein muss.

Mein Herz rast.

Genauso schnell wie der Wagen gekommen ist, ist er auch schon hinter der nächsten Ecke verschwunden und hat mich zitternd und geschockt zurückgelassen.

»Hey, Miss, alles klar?«, fragt mich jemand von hinten. Es ist ein Kellner aus dem Café von der Ecke, der den Beinahe-Unfall gesehen haben muss.

»Ja, danke«, murmle ich, obwohl mein Herz gleich aus meiner Brust herausspringt.

Als ich dieses Mal über die Straße gehe, sehe ich noch einmal ganz genau nach links und rechts.

***

Amerikanische Highschools werden in den klassischen Teenie-Filmen entweder als die Hölle auf Erden oder als das reinste Paradies dargestellt. Dabei ist es nun wirklich nicht so, dass gleich jeder neue Schüler wegen seiner ausgelatschten Converse gemobbt wird oder die Zeit plötzlich anhält, wenn das schöne, unbekannte, neue Mädchen das erste Mal durch die Schultüren geht und jeden Typen im Umkreis von drei Kilometern zum Sabbern bringt. Es ist auch nicht so, dass in der Cafeteria auf einmal ein Flashmob startet oder der Bio-Unterricht plötzlich in einen Karaoke-Wettbewerb ausartet.

Highschools sind auch nur ganz normale Schulen, in denen ganz normale Leute unterrichtet werden, die sich mit ganz normalen Problemen herumschlagen. Na ja, der Großteil von ihnen zumindest. Jener Großteil, der sich nicht mit Psychologenschwestern herumstreitet oder beinahe angefahren wurde.

»Loreen! Hörst du mir überhaupt zu?« Sabrina schlägt demonstrativ ihre Spindtür zu, die sich zufälligerweise direkt neben meinem Ohr befindet. Erschrocken zucke ich zusammen, mein Herz hämmert gegen meine Brust. Für einen kurzen Moment stelle ich mir vor, wie sich meine Mom gefühlt haben muss, als sie die Schüsse hörte. Für einen kurzen Moment bin ich sie; ich sehe in die Gesichter verängstigter Kinder und höre, wie die Tür aufgetreten wird.

Aber dann blinzle ich und der ganze Spuk ist schon wieder vorbei.

Ich bin nicht meine Mom. Ich bin nicht in Washington. Ich bin in Blue Forest, an der Bright Stars High, im Flur A, der den naturwissenschaftlichen Trakt mit der Pausenhalle verbindet. Gerade habe ich über die Darstellung von amerikanischen Highschools in Filmen nachgedacht, um auf andere Gedanken zu kommen und mich von meinem Beinahunfall zu erholen.

»Ich, ähm, ja, sorry. Was hast du noch mal gesagt?« Entschuldigend sehe ich meine beste Freundin Sabrina an.

Sie ist einen Kopf größer als ich, hat ein kantiges, schmales Gesicht, durchdringende blaue Augen und dichtes rotes Haar. Die einzige Stelle an ihrem Körper, an dem sie Sommersprossen hat, ist ihr Rücken. Ich weiß, dass sie das stört, weil sie ihre Sommersprossen mag und auch gerne welche im Gesicht hätte.

Sabrina öffnet erneut ihren Spind und deutet auf den mit Batterien betriebenen Mixer, den sie im unteren Fach verstaut hat. »Mit was möchtest du deinen Smoothie? Spinat? Grünkohl? Sellerie? Oh, ich weiß, ich mixe einfach alles zusammen, das schmeckt bestimmt gut!«

»Ich will gar nichts davon«, murmle ich. Nach der Aktion an der Ampel vorhin bin ich mir ziemlich sicher, dass ich nie wieder etwas essen oder trinken kann. Mir geht der Blick des Typen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder sehe ich ihn in Zeitlupe an mir vorbeifliegen, seine durchdringenden hellgrünen Augen, die so schön gefunkelt haben.

Moment, schön? Das muss der Schock sein!

Ich drehe mich zu meinem eigenen Spind, der sich genau neben ihrem befindet. So haben wir uns vor einem Jahr auch kennengelernt, als ich von der West End High hergewechselt bin. Meine alte Schule befand sich genau zwei Querstraßen von meinem Zuhause entfernt, wurde aber von der Stadt aus finanziellen Gründen geschlossen. Seitdem gehe ich auf die Bright Stars, die ganz am anderen Ende der Stadt liegt und die ich aufgrund des langen Anfahrtsweges anfangs gehasst habe. Aber dann habe ich an meinem ersten Tag hier Sabrina und ihren besten Freund Rich kennengelernt, dem der Spind neben Sabrina gehört. Danach fand ich die Schule dann doch nicht mehr ganz so schlimm.

Heute, ein Jahr später, finde ich sie überhaupt nicht mehr schlimm. Nur Sabrinas morgendliche Smoothies sind noch immer gewöhnungsbedürftig für mich.

»Komm schon, Lore, du brauchst deine Greens! Du bist schon wieder so blass. Hast du die ganzen Ferien über nur in dem kleinen Pub am Lake gearbeitet?«

Sabrina hat die Ferien gemeinsam mit ihrer Stiefmutter in einem Trainingslager in London verbracht, um für einen wichtigen Marathon zu trainieren. Sie ist Läuferin, obwohl sie es hasst. An dem Tag, an dem ihre Stiefmutter beschloss, aus Sabrinas Hobby eine Profikarriere zu machen, hat diese Tag für Tag die Liebe zum Laufen verloren. Das Ganze ist jetzt schon etliche Jahre her und Sabrina hat ihre Eltern endlich so weit, dass sie sie endlich nicht mehr zu neuen Wettkämpfen anmelden wollen. Aber eben auch nur, wenn sie noch einmal an diesem Lauf teilnimmt. Deshalb haben wir die kompletten Sommerferien über kein Wort voneinander gehört.

Tadelnd sieht Sabrina zu mir herüber. Dabei bekomme ich das Gefühl, als würden mich ihre blauen Augen regelrecht durchbohren. So sieht sie mich immer an, wenn sie mich bemuttert. Leider ist das eine ihrer wenigen schlechten Angewohnheiten. Anfangs fand ich das noch sehr süß von ihr und erst jetzt fällt mir auf, wie sehr ich sie in den letzten Wochen vermisst habe. Sofort tut es mir leid, dass ich so schlecht drauf bin.

»Der Job in dem Café war zumindest ein Grund, um nicht nach Hause zu müssen«, murmle ich, während ich mein Grammatikbuch für Englisch aus meinem Rucksack hole und es neben das Biobuch und mein Matheübungsheft in den Spind stelle. Anders als Sabrinas ist meiner innen einfach nur grau. Ich habe keine Fotos von mir und meinen Freunden darin aufgehängt und auch keinen Mixer hineingestellt. In meinem stapeln sich nur Bücher und einige leere Kaffeebecher. Vielleicht sollte ich mir auch mal einen Regenschirm oder so was zulegen, den ich darin bunkern kann. Und Ersatzklamotten. Und einen Mehrweg-Kaffeebecher. Der ist bestimmt besser als dieses Plastikgedöns aus der Mensa.

Plötzlich stellt sich jemand neben mich. »Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, Lore. Dabei regnet es doch erst seit heute. Ist Leon etwa immer noch mit diesem Gummigesicht zusammen und heult sich jeden Tag bei Lara Croft aus?« Mein bester Freund Rich legt mir einen Arm um die Schulter, zieht mich in eine flüchtige Umarmung und unterstreicht seine Worte, in dem er sich theatralisch an die Brust fasst.

Er ist groß, schlaksig, hat hohe Wangenknochen, strohblondes Haar und eine Harry-Potter-Brille. Und er ist stockschwul. Sabrina und er sind schon seit dem Kindergarten befreundet. Auch Richard habe ich die ganzen Sommerferien über nicht gesehen, aber wir haben ab und zu ganz oldschool-mäßig telefoniert. Er hat einen Schauspielkurs in L. A. besucht, weil er neben der Theater-AG der Highschool unbedingt seine Schauspielkarriere weiter fördern will. Deshalb untermalt er seine Worte immer gern mit auffälligen, manchmal auch übertriebenen Gesten, um sich im Impro-Theater zu üben. Er findet, dass er da richtig schlecht drin ist. Ich bewundere ihn dafür, dass er immer ganz genau weiß, was er will und wer er ist und was er gerade braucht. Manchmal wünschte ich mir, dass ich auch so wäre.

»Nein, Leon ist nicht mehr mit dem Gummigesicht zusammen«, antworte ich und klinge dabei, als würde ich gleich im Stehen einschlafen. Meine Motivation ist wohl heute nicht mit mir aufgestanden. »Und trotzdem heult er sich immer noch ständig bei Lara aus.«

Als ich die Zwillinge erwähne, verdrehen wir alle die Augen.

»Nur noch ein Jahr, Lore«, versucht Rich, mich zu trösten, nimmt den Arm von meiner Schulter und geht zu seinem eigenen Spind. »Nur noch ein Jahr, dann bist du sie endlich los.«

Komisch, so was Ähnliches habe ich heute schon einmal gehört.

»Wir sollten unbedingt versuchen, aufs gleiche College zu kommen«, versucht Sab, mich ebenfalls aufzumuntern. »Jemand muss schließlich auf dich aufpassen und dir deine Smoothies machen.« Triumphierend hält sie mir einen giftgrünen Smoothie unter die Nase, von dem ich gar nicht mitbekommen habe, dass sie ihn gemacht hat. Ich war wohl so in Gedanken versunken, dass ich alles um mich herum ausgeblendet habe.

Weil ich ihrem Hundeblick (eine vorgeschobene Unterlippe, weit aufgerissene Augen) nicht widerstehen kann, nehme ich ihr die Flasche aus der Hand, in dem sie das giftgrüne Zeug zusammengemixt hat.

»Ich habe das Gefühl, dass das hier unser Jahr wird«, verkündet Rich freudestrahlend, als auch er die Tür seines Spinds zu donnert und ich kurz zusammenzucke.

Ich habe meinen Freunden nie erzählt, wie meine Mom umgekommen ist. Sie denken, sie wäre krank gewesen, und ich lasse sie in dem Glauben. Ich möchte nicht darüber reden. Zumindest mit ihnen noch nicht.

»Wir sollten uns alle für das Abschlussball-Komitee bewerben, um solche Peinlichkeiten wie letztes Jahr zu vermeiden. Du bist doch auch dabei, oder Lore?« Rich blickt mich auffordernd an. Dass er Sab nicht überzeugen muss, ist logisch. Die beiden sind quasi wie Zwillinge. Sie sind Nachbarn, zusammen aufgewachsen, waren zusammen im Kindergarten, in der Grundschule und würden vermutlich sogar heiraten, wenn Rich nicht fürs andere Team spielen würde. Obwohl das sicherlich nur ein Grund, aber kein Hindernis wäre.

Rich weiß schon seit der sechsten Klasse, dass er Jungs viel lieber mag als Mädchen. Genauer gesagt, seit er beim Flaschendrehen Sab auf den Mund küssen musste und sich dabei vorgestellt hat, es wäre sein Kumpel Jack. Den habe ich nie kennengelernt, weil er aufgrund mysteriöser Umstände kurz vor meinem Schulwechsel nach Kanada ausgewandert ist. Rich und Sab reden so gut wie nie über ihn, obwohl er ihnen beiden wohl mal sehr nahe gestanden hat. Rich hat mir das nur erzählt, weil er an jenem Abend ziemlich betrunken war. Eigentlich stört es mich, dass die beiden genauso wenig über Vergangenes reden wie meine Familie, aber ich glaube, zwischen ihnen und diesem Jack stehen zu viele ungesagte Dinge. Wahrscheinlich sollten sie die zuerst mit ihm klären, bevor sie mit mir darüber reden können.

»Von mir aus, gehen wir ins Abschlussball-Komitee«, entgegne ich, weil ich dadurch einen weiteren Grund habe, an einem Tag in der Woche später nach Hause zu gehen und mich später mit meinen Geschwistern zu streiten.

»Super! Ich bin nämlich wirklich nicht scharf darauf, dass so was wie mit Zayn noch mal passiert«, meint Rich und rümpft dabei die Nase.

»Isso, das war so megapeinlich«, stimmt Sab ihm zu.

Ich kommentiere das nur mit einem Nicken.

Auch ich werde Zayn Smith aus dem letzten Jahrgang wohl niemals vergessen. Er sieht nicht nur unfassbar gut aus, sondern ist auch noch obendrein unfassbar dumm. Oh und ähm, er hat mich gehasst. Wochenlang hat er mich mit hasserfüllten Blicken gestraft. Einmal habe ich Sab und Rich gefragt, was ich ihm getan haben könnte, wobei sich dann herausstellte, dass ich ihm an meinem ersten Tag hier unwissentlich seinen Parkplatz weggenommen habe, von dem ich natürlich nicht wusste, dass es sein Parkplatz war.

Auf der Abschlussfeier im letzten Jahr hat Zayn es dann mit dem Alkohol und den Drogen ein bisschen übertrieben. Es wurde schon im Vorfeld gemunkelt, dass er in die Drogenszene verstrickt wäre, aber an dem Abend des Balls war er so zugedröhnt, dass er splitterfasernackt über die Bühne gelaufen ist und sich dabei lediglich einen Luftballon vor sein bestes Stück gehalten hat. Hätte er dabei nicht auch noch so seltsame Grimassen gemacht, hätte das durchaus amüsant sein können.

»Dann werde ich uns drei auf jeden Fall eintragen«, freut sich Rich, klatscht in die Hände und erstarrt zu einer Eissäule. Und das meine ich durchaus wörtlich. Es passiert wirklich.

Gefühlt jeder um mich herum starrt wie eingefroren zur Tür, die vom Parkplatz in Flur A führt. Verwirrt blicke auch ich nach einem Moment von meinen Freunden über die anderen Schüler hinüber zur geöffneten Tür. Aber alles, was ich erkenne, ist dichtes braunes Haar, dessen Besitzer mit einem Schwall kalter Luft hereinstürmt. Seine hellgrünen Augen funkeln so intensiv, dass sie Blitze schleudern würden, wenn so etwas möglich wäre.

Es ist tatsächlich der Typ aus dem Auto, der zornig durch den Flur marschiert kommt. Eine blonde Frau rennt hinter ihm her, allerdings ist sie auf ihren High Heels nicht ansatzweise so schnell wie er. »Carter! Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede!«, ruft sie aufgebracht.

Als der Typ an uns vorbeikommt, stockt er. Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde, in der sein Gang von einem leichten Rucken unterbrochen wird, nur ein Wimpernschlag lang, dann stürmt er schon weiter, verfolgt von den Blicken aller Schüler.

Rich ist der Erste, der seinen Mund wieder schließt und sich zu mir und Sab umdreht. Doch bevor er irgendetwas sagen kann, taucht die junge blonde Frau neben uns auf. Sie ist groß, überragt mich bestimmt um zwei Köpfe, trägt eine enge Hose aus Lederimitat und eine schicke weiße Bluse. Sie ist wunderschön. Ich kann nicht anders, als sie anzustarren.

»Sabrina! Richard!«, stößt sie ganz außer Atem hervor. »Wie schön, euch zu sehen.«

Sabrina und Richard hingegen sehen alles andere als erfreut aus. Irgendwie, als würden sie gerade mit einem Geist reden.

»Jojo«, murmelt Rich, der sich offenbar aus seiner Starre gelöst hat. Hinter uns fängt das Gemurmel an.

»Ich hätte nicht damit gerechnet, dich noch mal wiederzusehen.«

Ich höre, wie Sab neben mir tief Luft holt. Dann ist es für einen kurzen Moment still.

»Ähm, ich will ja nicht unhöflich sein, aber könnte mir bitte mal jemand erklären, was hier los ist?« Fragend blicke ich von Sab und Rich zu Jojo, die mich plötzlich ganz erschrocken anstarrt, als wäre sie es, die einen Geist sieht. Aber dann entspannen sich ihre Züge und sie lächelt mich an.

»Ich bin Joanna Carter. Du kannst mich gerne Jojo nennen.«

Sie reicht mir ihre Hand. Als ich sie ergreife, schaut sie kurz zu Boden. »Übrigens tut es mir leid, dass ich dich vorhin beinahe angefahren hätte. Ich habe mich fürchterlich mit meinem Bruder gestritten und war abgelenkt. Ich hoffe, dir geht es gut.«

»Was tust du hier?«, flüstert Sab. Sie ist kreidebleich. »Und seit wann ist Carter wieder da?«

Ich habe keine Ahnung, wer Carter ist oder was diese Jojo hier will, weil sie definitiv zu alt ist, um noch zur Highschool zu gehen.

»Seit Sonntag«, meint Jojo und blickt den Gang hinunter, den Carter so eilig entlang gerannt ist. »Und Direktorin Sprouse hat mich gebeten, zu einem ersten Gespräch mitzukommen, aber Carter … na ja, ihr kennt ihn ja.« Entschuldigend zuckt sie mit den Schultern. Als es plötzlich klingelt, springt sie kurz von einem Bein auf das andere, als habe sie sich erschrocken. »O Mann, schon so spät? Ich muss los!« Sie streicht ihre Bluse glatt und legt Rich und Sab je eine Hand auf die Schultern. »Hört mal, ich weiß, es ist viel passiert und es ist lange her, aber wärt ihr so lieb und habt ein Auge auf ihn? Er kann ein paar Freunde echt gut gebrauchen.«

Noch bevor Rich oder Sabrina antworten können, hat sie sich schon umgedreht und rennt den Flur entlang Richtung Direktorenzimmer.

»Wir sind nicht mehr Carters Freunde!«, ruft Sabrina ihr noch wütend nach, aber sie hört es nicht mehr.

»Okay, wer war das denn? Und wer ist Carter?«, frage ich und sehe meine Freunde auffordernd an.

Sabrina schnappt sich ihren Rucksack und sieht dabei auf den Boden. Rich starrt von mir zu Sab, dreht sich dann kommentarlos um und lässt uns mit hängenden Schultern stehen und geht.

Sab seufzt. »Das war Jojo«, meint sie flüsternd. Ihre Augen schwimmen in Tränen. »Und Carters richtiger Name ist Jack. Jack Carter.«

Auf dem Weg zum Englischunterricht wird mir einiges klar. Jack Carter muss der Freund von Rich und Sab sein, der vor einem Jahr fluchtartig das Land verlassen hat. Und von dem beide dachten, ihn niemals wiederzusehen.

Carter

Ich hätte mich von einer Brücke stürzen sollen, als ich die Chance dazu hatte. Jetzt ist es definitiv zu spät dafür.

Ich hätte Jojo nicht ins Lenkrad greifen sollen, als sie wie eine Bekloppte mit fünfzig Meilen pro Stunde durch die Stadt gerast ist, bloß weil sie noch mit zur Direktorin wollte. Zumindest hätte ich das Auto nicht auf den Gehweg, sondern am besten gegen die Ampel lenken sollen.

Und es lag ganz sicher nicht an dem Mädchen, dass ich es nicht getan habe. Ihre dunklen Haare klebten ihr an den Wangen, ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen und ihr Rock klebte an ihren Beinen wie eine zweite Haut.

Für die Dauer eines Herzschlags sah sie aus wie Zoey. Aber eigentlich sieht alles in dieser beschissenen Kleinstadt für eine Millisekunde aus wie Zoey. Zumindest sehe ich die Welt für wenige Herzschläge so, wie ich sie gesehen habe, als Zoey noch hier war.

Das sind keine Regentropfen, das sind Tränen von Engeln. Aber nur für einen Atemzug lang, dann sind es wieder beschissene Regentropfen.

Das ist kein Donner, das sind Riesen, die Football spielen. Aber nur für einen Wimpernschlag lang, dann ist es wieder ein stinknormales Unwetter.

Das ist keine triste graue Welt, in der ich gefangen bin, nein, es ist ein Schwarz-weiß-Instagram-Filter, Carter, den du nur zur Seite swipen musst, damit er wieder weggeht. Aber nur einen fucking Herzschlag lang, denn dann ist es wieder die triste graue Welt, in der ich seit einem Jahr und drei Monaten gefangen bin.

Die Welt ist nicht mehr so bunt, wie sie mit Zoey war.

Green Day sind nicht mehr so laut, wie sie es mit Zoey waren. Spaghetti sind nicht mehr so lecker, wie sie es mit Zoey waren.

Vorhin hatte ich die Chance dazu, mein Leben zu beenden und ich Trottel habe sie nicht genutzt, weil dieses beschissene Mädchen an der Ampel stand und mir mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt hat. Nein, es lag ja gar nicht an ihr …

Zu allem Überfluss stand sie eben auch noch bei diesen Verrätern, weshalb ich mir wohl oder übel eingestehen muss, dass sie real ist. Dieses Mädchen, das Zoey so verdammt ähnlich sieht. Und dann auch noch bei ihren Freunden steht.

Ich habe Jojo von vornherein gesagt, dass es eine verdammt dumme Idee ist, zurückzukommen. Ich hätte in Ottawa bleiben und mein Leben dort weiterleben sollen. Den einen Monat, bis ich achtzehn werde, hätte ich irgendwie überstanden. Aber Jojo meinte, wenn sie mich nicht im Blick hat, was sie in Ottawa nicht hätte, bekäme ich kein Geld mehr von Dad. Ich hatte also keine andere Wahl, ob es mir passt oder nicht. Dad und sie sind die einzigen Verwandten mit einem festen Wohnsitz, die ich habe, und leider haben sie ihre Ärsche nie aus Blue Forest wegbewegt. Was mir egal sein könnte, wenn ich nicht jede Ecke und jeden Winkel dieser blöden Stadt mit einer noch blöderen Erinnerung an Zoey verbinden würde.

»Mr Carter, Direktorin Sprouse wäre dann soweit.«

Ich stehe von dem harten Stuhl im Wartebereich des Sekretariats auf und angle nach meinem Rucksack.

Die Sekretärin ist neu, doch der Wartebereich ist der alte. Hier hat sich absolut gar nichts verändert. Das ist vermutlich der einzige Ort, an dem die Zeit komplett stillgestanden ist.

Ich klopfe einmal an Mrs Sprouse’ Tür und trete dann ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Das war so eine Sache zwischen uns. So wusste sie immer, dass ich es bin.

Auch die Direktorin hat sich so gut wie gar nicht verändert. Sie ist immer noch groß und spindeldürr, hat schulterlange Haare, die früher einmal blond waren, und trägt immer ein Kostüm und ein dazu passendes Halstuch. Sie lächelt nicht, als ich eintrete.

»Mr Carter«, begrüßt sie mich kühl. Als ich nähertrete, steht sie auf und reicht mir ihre Hand. Erst als mich nur der Schreibtisch von ihr trennt, fällt mir auf, dass sie in dem einen Jahr, in dem ich weg war, gealtert ist.

»Mrs Sprouse.«

Wir setzen uns und sie schlägt eine Akte auf. Meine Akte.

Mrs Sprouse ist abgesehen von mir, Zayn und den Ärzten die Einzige, die die Wahrheit kennt. Sie ist die Einzige, mit der ich jemals über diesen Tag gesprochen habe, der mein Leben für immer zerstört hat. Sie ist quasi meine einzige Verbündete in diesem Kaff.

»Ich würde ja sagen, dass ich mich freue, Sie wiederzusehen, Carter, aber ich glaube, das wäre unangebracht.«

Obwohl ich mich darum bemühe, einen möglichst entspannten Eindruck zu machen, knibble ich an der Haut meines Daumens herum, was ich immer tue, wenn ich nervös bin.

Mrs Sprouse markiert etwas auf einem Zettel, kramt dann in einem anderen Papierstapel und zieht schließlich ein Blatt Papier hervor, das ein leichtes Eselsohr hat. Sie ist das Chaos in Person, sehr engagiert, kann aber auch zum absoluten Drachen mutieren.

»Es tut mir sehr leid, was passiert ist«, sagt sie, als sie mir das Blatt herüber reicht und dabei beinahe ihr Namensschild umstößt. »Wenn Sie darüber reden wollen, können Sie jederzeit vorbeikommen.«

»Schon in Ordnung«, sage ich, während ich das Papier entgegennehme.

»Ich rede auch nicht über Ihre Mutter, Jack. Ich rede davon, was mit Zoey Smith passiert ist.«

Sie ist die Erste, die mich darauf anspricht, seit ich wieder da bin. Sie Zoeys Namen aussprechen zu hören, tut mir in der Seele weh. Es fühlt sich so an, als zerreiße ihre Stimme mein Herz.

Als ich mich wieder gesammelt habe, betrachte ich kurz den Stundenplan und seufze innerlich auf. Ganz großartig. Ich habe Englisch bei meiner guten alten Freundin Mrs Eliott. Kann der Tag noch schlimmer werden?

»Ist sonst noch was oder kann ich dann gehen?«, frage ich, weil ich wirklich nicht über Zoey reden möchte. Eigentlich möchte ich überhaupt nicht reden.

Mrs Sprouse nickt mit zusammengekniffenen Lippen. »Der Schulrat war nicht sonderlich angetan von Ihrer erneuten Aufnahme an der Bright Stars High«, informiert sie mich lakonisch.

Das überrascht mich nicht sonderlich. Nach der Aktion in der neunten, in der wir Rum in die Muffins getan haben, die für die Spendenaktion gegen Kinderarbeit gedacht waren, ist der Schulrat gar nicht gut auf mich zu sprechen.

»Ich musste sie überzeugen, dass Sie einer sozialen Arbeit nachgehen werden«, fährt Mrs Sprouse fort.

»Was ist es diesmal? Soll ich wieder Müll sammeln? Oder in der Cafeteria helfen?« Ich wähle gerade diese zwei Aktionen meiner unzähligen Strafarbeiten aus, weil sich Mrs Sprouse mit diesen Überlegungen selbst ins Bein geschossen hat. Beim Müll sammeln war ich immer so schnell fertig, dass ich den Rest der Zeit in ihrem Büro verbringen musste, und die Leute in der Cafeteria haben mich immer eher gehen lassen, weil sie fanden, dass ich superfreundlich zu den anderen Kindern war und meinten, ich hätte eine Strafarbeit gar nicht verdient.

Kurz zucken ihre Mundwinkel, als müsse sie lächeln. »Nein, dieses Mal nicht. Sie werden bei der Planung des Abschlussballs helfen. Das Komitee trifft sich freitagnachmittags im Konferenzraum der Theater-AG. Sie organisieren den Ball und Spendenaktionen zur Finanzierung. Und, es tut mir leid, das sagen zu müssen, Carter, aber hört eines der Ratsmitglieder auch nur von einem einzigen Verstoß gegen die Regeln, wird sich der Rat dafür einsetzen, dass Sie wieder gehen.«

Mir entfährt ein Seufzen. Ich muss mich korrigieren. Der Tag kann noch schlimmer werden. Und wenn ich bis dato gedacht hatte, die Erinnerungen an Zoey wären Strafe genug, so habe ich mich wohl maßlos getäuscht.

Doch es sind ja nicht nur die Erinnerungen, die mich strafen. Es sind auch die Menschen, für die ich immer der Schuldige sein werde. Für die Menschen in Blue Forest bin und bleibe ich derjenige, der seine Freundin getötet hat. Für die Menschen in Blue Forest ist es meine Schuld und es interessiert sie nicht, was wirklich passiert ist.

Ich hatte Mrs Sprouse gebeten, niemandem davon zu erzählen. Indem keiner die Wahrheit kennt, kann ich davonlaufen. Ich kann die Blicke der anderen ertragen, weil sie die Wahrheit nicht kennen. Aber wenn sie die Wahrheit herausfinden würden, wenn Mrs Sprouse erzählen würde, wie die Umstände tatsächlich waren, dann wäre ich wirklich schuldig. Dann würde aus dem Gerücht eine Tatsache werden und jeder hätte die Bestätigung. Dass es wahr ist. Weil Menschen immer einen Schuldigen brauchen, wenn sie nicht genau wissen, was passiert ist.

Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich mir seit einem Jahr und drei Monaten selbst die Schuld für das, was passiert ist, gebe. Ich bin derjenige, der die Schuld bei mir sucht. So lange keiner die Wahrheit kennt, tue nur ich das. Das ist auf eine ganz verschrobene Art okay.

»Verstanden«, murmle ich, obwohl ich absolut gar nichts verstehe.

»Viel Glück, Jack«, sagt sie zum Abschied.

Dann schnappe ich mir meinen Rucksack und meinen Stundenplan und verlasse ihr Büro, in dem sich noch immer die Mappen und Zettel auf den Ablagen stapeln und in dem noch immer die Bilder von ihr und ihrem Mann beim Segeln hängen, und gehe zurück ins Sekretariat.

»Bis zum nächsten Mal«, sage ich zwinkernd zu der Sekretärin, während ich das Sek verlasse. Wie ich Mrs Eliott kenne, werde ich schneller wieder hier sitzen, als mir lieb ist. Die Sekretärin schaut nur irritiert. Ich bin viel zu schnell weg, als dass sie noch etwas sagen könnte.

Das Sek befindet sich im H-Trakt der Schule, in dem auch die Mensa und die Bib sind. Die Bright Stars High ist aufgebaut wie ein Stern, und der H-Trakt bildet quasi den Sternkörper und alle anderen Trakte gehen strahlenförmig von hier ab. Der A-Trakt ist der naturwissenschaftliche Trakt, B, C und D sind die Unterrichtsräume für die Mittelstufe, E ist der künstlerische, musische Trakt und F und G sind die Räume der Oberstufe. Zusätzlich haben die Mittelstufe und die Oberstufe noch separate Turnhallen.

Ich werfe einen kurzen Blick auf meinen Stundenplan und fluche, weil nicht einmal die erste halbe Stunde des ersten Unterrichtsblocks rum ist. Mrs Eliott wird mich vermutlich vor der ganzen Klasse auseinandernehmen. Langsam mache ich mich auf den Weg in Richtung Flur G, in dem der Abschlussjahrgang untergebracht ist. Dabei komme ich an den zahlreichen Auszeichnungen der Amazing Monkeys vorbei, dem Handballteam der Bright Stars. Ich habe meinen Anspruch aufs Team verloren, als dieser furchtbare Unfall passiert ist. Ich habe mir das Kreuzband gerissen und darf deshalb nicht mehr so intensiv trainieren wie vorher. So jemanden will niemand in der Mannschaft. Soll mir nur recht sein. Handball ist eh ’ne scheiß Sportart.

Wie schon bei Mrs Sprouse klopfe ich einmal kurz gegen die Klassenzimmertür und trete dann ein, bevor irgendwer etwas sagen kann. Mrs Eliott steht vor dem Whiteboard und deutet auf eine Grafik, verharrt aber in ihrer Bewegung. Augenblicklich wird es still. Jeder starrt mich an, einige Mädchen in der letzten Reihe reißen ihre Münder auf, aber mir ist es egal, ob sie sabbern. Sofort sehe ich mich nach einem freien Platz um, damit ich nicht so lange wie eine bestellte Palme hier vorne stehen muss, die darauf wartet, von irgendwem abgeholt zu werden. Aber als ich einen freien Stuhl entdecke, breitet sich Entsetzen in mir aus.

Der einzige freie Platz in diesem verdammten Klassenraum ist natürlich der neben dem Zoey-Verschnitt, ganz außen in der dritten Reihe. Wirklich kein anderer Platz ist frei, es steht nicht einmal ein Stuhl oder ein freier Tisch herum. Großartig. Nicht.

Mit fest aufeinandergepressten Zähnen schlucke ich das Entsetzen wieder herunter und setze die gleichgültige Maske auf, die ich mir seit dem Unfall antrainiert habe.

»Mr Carter«, begrüßt Mrs Eliott mich kühl. Sie ist ebenfalls groß, hat längere graue Haare und eine dicke Knollnase. Sie sieht ein bisschen aus wie Hagrid, nur ohne Bart und mit Brille.

»Mrs Eliott.« Ich zwinge mir ein Lächeln auf und reiche ihr die Hand, aber sie ignoriert mich und deutet mit ihrer hochgezogenen Augenbraue auf den einzigen freien Platz in diesem beschissenen Zimmer.

»Setzen Sie sich neben Miss Larisson und fallen Sie nicht weiter auf. Wir fangen gerade mit Romeo and Juliet an. Ich bin mir sicher, dass Sie mir folgen können, nicht wahr, Mr Carter?«

Einige kichern, während ich zu meinem Platz gehe.

»Selbstverständlich, Mrs Eliott«, sage ich übertrieben freundlich. »So, wie ich es schon immer getan habe.«

Wieder höre ich hinter mir jemanden unterdrückt lachen, aber ich tue so, als hätte ich nichts mitbekommen, und versuche, stattdessen Mrs Eliott anzulächeln.

Sie funkelt mich böse an. »Überspannen Sie den Bogen nicht, Mr Carter. Sie können schneller wieder hier raus sein, als Sie Ironie überhaupt buchstabieren können.«

Kommentarlos setze ich mich auf den Stuhl neben Miss Larisson. Es kommt mir so vor, als wäre die Luft hier um einiges dünner als im Rest der ganzen Schule. Stumm packe ich meine Sachen aus und versuche, das Mädchen zu ignorieren, das die ganze Zeit zu mir herüber starrt. Als ich es schließlich nicht mehr aushalte, blicke ich nur so weit zu ihr, dass ich ihre schmalen Finger erkennen kann, die sich an einem Kuli festhalten.

»Kann ich dir helfen?«, frage ich leise, aber dennoch recht kühl. Ich spüre ihren Blick auf mir ruhen, schaue nur einmal kurz nach oben, um zu sehen, dass sie mich anstarrt. Checkt sie mich gerade ab? Wenn ja, scheint es ihr selbst nicht aufzufallen.

Provokant ziehe ich einen Edding aus meinem Etui. »Wo soll ich unterschreiben? Auf deinem Gesicht?« Ich will einfach, dass sie mich in Ruhe lässt.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie sie zusammenzuckt.

»Auf deinen Titten vielleicht?«, provoziere ich sie weiter.

»Meine Titten gehen dich gar nichts an«, erwidert sie leise, aber nicht weniger kühl. »Und dafür, dass du mich fast angefahren hast, bist du ein ganz schönes Arschloch.«

Ich presse meine Zähne zusammen und lege meinen Edding wieder weg. Eins zu null für sie. Kommentarlos schiebt sie mir ihr Blatt Papier zu, auf dem sie in einer fein säuberlichen Schrift einige Sachen aufgeschrieben hat, die wohl zu Anfang der Stunde besprochen worden sind.

»Ich heiße übrigens Loreen«, sagt sie leise.

Erst jetzt traue ich mich, sie direkt anzusehen. Ihr Gesicht ist rund, sie hat ein ausgeprägtes Kinn und dunkle Augen, beinahe Schwarz. Ihre dunkelbraunen Haare fallen ihr bis über die Brüste, sie trägt einen roten Pullover. Ihre Kleidung ist noch feucht vom Regen, genauso wie ihre Haare. Sie kräuseln sich, jetzt, wo sie beginnen, an der Luft zu trocknen.

Sie ist hübsch. Und von Weitem sieht sie vielleicht aus wie Zoey.

Aber sie ist es nicht.

Ihre Stimme klingt anders.

***

Als es zur Mittagspause klingelt, bin ich mir sicher, dass mein Leben noch nie so schlimm war wie an diesem Tag. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich habe schon Tage erlebt, an denen es mir deutlich schlechter ging, aber bis jetzt habe ich noch keinen Tag erlebt, an dem ich mich so einsam gefühlt habe. Nicht einmal an dem Tag, an dem ich Zoey verloren habe.

Ich habe immer Menschen um mich, mit denen ich reden kann. Egal über was, das ist unwichtig. Hauptsache reden. Zuhause ist es meine Schwester, in Ottawa war es meine Mom, in der Schule einige Jungs, mit denen ich in den Pausen ein paar Pässe üben konnte. Nachmittags war es die Band, bei der ich nicht reden, sondern nur spielen und ab und zu singen musste.

Hier rede ich mit niemandem. Ich habe nicht mit Loreen geredet, als sie mir nach Englisch auf Wiedersehen gesagt hat. Ich habe auch Mr Longroad in Physik nur zugenickt und mich dann in die hinterste Ecke des Raumes verkrochen. Ich habe Loreen nicht einmal begrüßt, als sie sich in Bio lächelnd neben mich gesetzt hat, obwohl noch einige andere Plätze frei waren.

Offensichtlich hat sie Mitleid mit mir. Oder sie will, dass ich ihr wirklich ein Autogramm auf die Titten gebe. Was auch immer es ist, es ist mir egal. Sie ist zu freundlich, zu nett, zu aufgesetzt, zu hübsch, sie sieht Zoey einfach zu ähnlich. Ich kann sie nicht leiden. Und ich werde mir definitiv nicht die Mühe geben, das zu verbergen.

Zumindest hat es jetzt aufgehört zu regnen und die Sonne kriecht hinter den Wolken hervor. Ich stehe am Fenster im H-Trakt vor der Mensa und weiß nicht so genau, wo ich hinsoll.

Keine Ahnung, ob es Reflex war oder ob Jojo mir etwas damit sagen wollte, aber im Auto hat sie mir noch eine Tüte mit Brot und Karotten zugesteckt und gesagt, dass ich Dad nicht erzählen soll, dass ich Kaffee trinke. Dann hat sie gezwinkert und als ich in die Tüte gegriffen habe, habe ich einen zusammengerollten Fünf-Dollar-Schein darin gefunden. Das hat sie früher schon immer gemacht, wenn sie mich zur Schule fuhr.

Meine Füße laufen jetzt wie von selbst zur Kaffeebar in der Cafeteria. Ich kaufe mir einen großen Becher Cappuccino, so wie früher, gehe an den Handballern vorbei, so wie früher, werde von den Cheerleadern angestarrt, so wie früher, und gehe raus zum Sportplatz, so wie früher. Weil ich weiß, dass sie dort sein werden. Schließlich kenne ich Richard und Sabrina seit der Grundschule.

Sabrina war Zoeys beste Freundin. Sechs Jahre lang haben wir die Mittagspause auf dem Sportplatz verbracht, gemeinsam gelacht und über Gott und die Welt geredet und die anderen Mitschüler vergessen.

Dann kam der Unfall.

Dann bin ich abgehauen.

Ich kann verstehen, dass Rich und Brina sauer sind. Ich habe sie enttäuscht, verletzt, ich habe sie einfach unmöglich behandelt.

Sie sitzen auf der Tribüne, so wie immer. Aber sie sind nicht allein. Loreen sitzt bei ihnen. Und sie ist die Erste, die mich bemerkt. Dann starren Rich und Brina ebenfalls zu mir herunter. Mein Herz zieht sich zusammen.

Ich bin wirklich versucht, zu ihnen zu gehen und mich zu entschuldigen, die Schuld auf mich zu nehmen, so wie ich das seit einem Jahr und drei Monaten jeden Tag tue.

Aber ich kann es nicht.

Ich drehe mich um und gehe.

Loreen

»Du hast was gemacht?«

Rich und Sab starren mich geschockt an, als ich ihnen in der Mittagspause erzähle, dass ich mich in Bio freiwillig neben Carter gesetzt habe. Über den Beinahe-Unfall habe ich hingegen noch immer absolut kein Wort verloren, obwohl ich wirklich jeden Grund dazu hätte, mich über sein schreckliches Verhalten auszulassen. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich das nicht tun sollte. Meine Schwester wüsste jetzt natürlich sofort, was das zu bedeuten hat, aber wenn ich sie fragen würde, würde das nur in einem endlosen Vortrag über die menschliche Psyche enden. Deshalb verwerfe ich den Gedanken, sie zu fragen, sofort wieder.

»Ich habe mich in Bio neben ihn gesetzt. Was ist so schlimm daran?«

Sab trinkt kommentarlos einen Schluck ihres zweiten Smoothies. Sie braucht die Dinger wie andere Leute Kaffee, weshalb sie immer Unmengen an Obst und Gemüse in diesen kleinen Gefrierbeuteln mit dem Reißverschluss dabei hat und in gefühlt jeder Pause zu ihrem Spind rennt, um sich einen neuen Smoothie zu machen.

»Carter ist einfach unmöglich«, meint Rich lahm und knabbert an seinem Käse-Toast. Er hat ein Textbuch aufgeschlagen auf den Knien liegen, um für eine Rolle in der Theater-AG zu lernen. Das Stück wurde verschoben und die Proben werden dieses Schuljahr fortgesetzt. Angeblich ist er mit dem Lernen des Textes sehr spät dran. Wie ich ihn kenne, heißt das, dass er noch mehr als genug Zeit hat.

»Ja, aber warum?« Verständnislos blicke ich von einem zum anderen. Die beiden benehmen sich, als wäre Carter ein Topsecret-Thema, so als wäre es verboten, über ihn zu reden.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Als ich in Richtung des Spielfeldes schaue, steht Carter unten am Rand der Tribüne, in der Hand hält er einen großen Becher Kaffee.

Er sieht aus, als reiße ihm gerade etwas sein Herz aus der Brust. Als würde er jeden Augenblick ersticken.

Jetzt bemerken ihn auch Rich und Sab und sehen ebenfalls zu ihm herunter.

Sabs blaue Augen fangen an, vor lauter Wut zu funkeln, Rich wird nur weiß wie eine Wand. Dann dreht Carter sich auch schon wieder um und geht zurück in Richtung Mensa.

»Was Carter getan hat, solltest du ihn lieber selber fragen«, meint Sab kühl, während sie an ihrem Smoothie nippt.

»Ja, oder viel mehr, was er nicht getan hat.«

Ich kann buchstäblich in ihren Augen sehen, dass sie sich an etwas erinnern, das vor langer Zeit passiert ist.

»Warum könnt ihr es mir nicht einfach sagen?«

Allmählich werde ich ebenfalls wütend. Die beiden wissen doch ganz genau, dass es mich zu Hause so stört, dass niemand mit mir darüber redet, was mit Mom passiert ist. Dass es mich stört, dass ich nicht über Mom reden, nichts über sie und ihren Tod erfahre, weil jeder über das Thema schweigt. Warum tun sie mir das dann jetzt an?

Rich verengt die Augen zu Schlitzen. »Weil das eine Geschichte ist, über die niemand redet, Lore«, sagt er ganz, ganz leise. »Und wenn du schlau bist, bohrst du auch nicht weiter nach.«

»Außerdem«, klinkt sich Sab ein, »reden wir nicht darüber, weil es uns zu sehr weh tut. Wir sind einfach noch nicht bereit, Lore, verstehst du? Du bist doch schließlich auch noch nicht so weit, um mit uns über Derek zu reden.«

Entsetzt starre ich sie an, weil sie meinen Exfreund ins Spiel gebracht hat. Aber anders als die Sache mit Carter liegt die Sache mit meinem Exfreund erst wenige Monate zurück und ich habe selbst noch nicht ganz realisiert, was da eigentlich passiert ist. Und überhaupt, es gibt niemanden, mit dem ich darüber sprechen kann. Selbst mit Sab geht das nicht. Denn … es ist meine Schuld. Wie sollte sie das verstehen können?

Mit aufeinandergepressten Lippen angle ich nach meinem Rucksack. »Oja, ich verstehe sehr gut«, entgegne ich, während ich aufstehe und meine Sachen zusammensuche.

Rich und Sab sehen mich entsetzt an. Sofort tut es mir leid. »Sorry, heute … war einfach ein ziemlich anstrengender Tag und ich bin einfach nicht so gut drauf. Wir sehen uns später, ja?«

***

Trainer Lexton ist der schlimmste Sportlehrer, den man sich vorstellen kann. Nein, Moment, das ist nicht richtig. Man nehme den schlimmsten Sportlehrer, den man sich vorstellen kann und reiße ihm sein Herz heraus. Dann nähert man sich schon eher der Art Grausamkeit, die Trainer Lexton besitzt.

Er ist ein großer, trainierter Mann, mit großen Händen, die meinen Kopf ohne große Anstrengung zerschmettern könnten. Ich reiche ihm gerade einmal bis zur Brust – und dass selbst Carter ihm gerade einmal bis zur Schulter reicht, ist für mich eine leichte Genugtuung. Niemand ist so groß wie Trainer Lexton. Wirklich niemand.

Weil ich letztes Jahr Einzelsportarten gewählt habe, muss ich dieses Jahr Teamsport nehmen. Hätte ich gewusst, dass ich in den Kurs von Trainer Lexton komme, hätte ich mich für Volleyball oder sogar Baseball entschieden – einfach alles wäre mir lieber gewesen, auch wenn ich absolut gar nichts davon kann und mich beim Baseball vermutlich mit dem Schläger selbst verletzt hätte.

Teamsportarten sind not my cup of tea, um es mal so zu sagen.

Das vermutlich Peinlichste ist aber, dass Carter dabei ist.

Er hat sich in die Lücke zwischen mir und Penelopé Clary gequetscht, weil er als Letzter dazugekommen ist und ich direkt vor der Kabinentür stehe. Er ist mir so nah, dass ich ihn riechen kann. Würzig, wie frisch geduscht. Gleichzeitig riecht er nach Waschmittel. Und Kaffee. Und irgendwie nach Pfefferminztee.

»Mr Carter. Wie schön, dass Sie uns auch mit Ihrer Anwesenheit beehren. Knapp ein Jahr zu spät, aber wenigstens sind Sie doch noch gekommen.«

Trainer Lexton verschränkt seine Arme vor seiner Brust. Er wirft Carter einen strengen Blick zu und spielt an seiner Trillerpfeife herum. Er macht mir jetzt schon Angst, obwohl er nur mit Carter geredet hat. Carter hingegen geht gar nicht erst auf Lextons dummen Kommentar ein.

»Warm machen. Danach versammeln. Los!« Lexton pfeift so laut, dass mir die Ohren klingeln. Als wäre der Boden kochend heiß, rennt die ganze Gruppe los, mich eingeschlossen. Nur Carter läuft etwas langsamer hinterher und Penelopé Clary leistet ihm Gesellschaft. Na, da haben sich ja zwei gefunden.

Penelopé Clary sieht Jojo ein bisschen ähnlich. Nur ist Jojo definitiv hübscher und natürlicher als Penelopé. Die ist wasserstoffblond, trägt nur pink und eine Tonne Make-up im Gesicht, ist sehr kurvig und hat große Brüste, auf die sogar einige Mädchen neidische Blicke werfen. Sab eingeschlossen. Ich mag Penelopé nicht, weshalb ich mich das ganze weitere Warm-up dazu zwinge, nicht zu ihr und Carter zu schielen. Penelopé ist die Art Mädchen, die jeder Junge anstarrt, wenn sie den Raum betritt. Egal, wie viel Mühe man sich mit seinem Outfit oder seinem Make-up gemacht hat, Penelopé sieht immer ein bisschen hübscher aus. Nicht, dass ich es darauf anlegen würde, von einem der halbstarken Männer im Abschlussjahrgang bemerkt zu werden. Nein, ganz bestimmt nicht. Aber es versetzt meinem Selbstbewusstsein trotzdem jedes Mal einen kleinen Stich, wenn sie den Raum betritt. Und nicht zu vergessen erfüllt sie jedes Klischee einer absoluten Blondinen-Zicke.

Lexton zwingt uns dazu, zwanzig Bahnen durch die Halle zu joggen, Sidesteps und den Hopserlauf zu machen und sogar rückwärts zu sprinten. Am Ende des Warm-ups bin ich schon komplett fertig, obwohl ich eigentlich eine ganz anständige Kondition habe.

Außer Atem stelle ich mich wieder zu den anderen in den Kreis vor Trainer Lexton, der in der Zwischenzeit ein Netz mit Bällen geholt hat. Als ich neben mich blicke, steht Carter aus mir schleierhaften Gründen schon wieder neben mir.

»Komm schon, Baby, die Party wird bestimmt toll«, meint Penelopé zu Carter.

Er fährt sich genervt durch das dichte braune Haar. »Ich werde ganz bestimmt nicht zu so einer blöden Kinderparty gehen, Pep. Kapier’s einfach.«

Ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand sie Pep genannt hat.

»Jetzt sei doch nicht so mies drauf. Das kommt bestimmt nur, weil du untervögelt bist.«

Penelopé verzieht ihre Lippen zu einem Schmollmund.

Carter seufzt. »Und wenn schon. Selbst wenn ich untervögelt wäre, wärst du die Letzte, an die ich mich wenden würde.«

Hui.

Wütend läuft er um mich herum und stellt sich auf meine andere Seite. Penelopé wirft sowohl ihm als auch mir wütende Blicke zu. Na, wenigstens gibt es mir etwas Genugtuung, dass er sie ebenfalls so abblitzen lässt.

»Passen. Jetzt!«, befiehlt Lexton in seiner gewohnt einsilbigen Syntax. Rich hat erzählt, dass er früher mal in der Handballnationalmannschaft gespielt und sogar einen WM-Titel gewonnen hat. Nach mehrmaligem Kreuzbandriss wäre seine Karriere aber auch ganz schnell wieder vorbei gewesen.

Er zeigt mit den Fingern jeweils auf zwei Leute, die ein Team bilden sollen. »Avery und Stanton. Kent und Blossom. Carter und Larisson …«

Weiter höre ich ihm nicht zu. Trainer Lexton hat ein fotografisches Gedächtnis, was Namen angeht. Ich bin mir sicher, dass er Carters Namen nie wieder vergessen wird, was auch immer Carter getan hat. Meinen hat er sich leider auch viel zu schnell gemerkt.

Heute scheint definitiv nicht mein Tag zu sein. Warum noch mal habe ich mich in Bio neben ihn gesetzt? Ach ja, weil er so traurig aussah und ich dachte, er könnte vielleicht etwas Gesellschaft gebrauchen. Vielleicht hofft meine gute Seite in mir auch auf eine Art Erklärung, warum seine Schwester mich heute Morgen beinahe überfahren hat. Wer weiß das schon?

Carter nimmt einen Ball, prellt ihn ein paarmal auf den Boden und befindet ihn dann für gut. Ich folge ihm an eine der blauen Linien und weiß im ersten Moment nicht so ganz, was ich tun soll, weil ich erst einmal Handball gespielt habe. Das war in der achten Klasse oder so. Aber Carter stellt seinen linken Fuß auf die Linie, holt Schwung und passt mir gekonnt den Ball zu. Ich sehe diesen auf mich zufliegen und das mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ich erschrocken zur Seite springe.

Sofort erschallt das gekünstelte Gelächter von Penelopé Clary. Die dumme Kuh hat sich natürlich direkt neben mich gestellt, um Carter im Auge zu behalten. Aber zu meiner großen Überraschung holt sie mir den Ball und wirft ihn mir zu. »Vorsicht, Schätzchen. Der hat nicht nur scharfe Antworten drauf.«

Dann holt sie ihren eigenen Ball und wirft ihn ihrer Partnerin zu, genauso anmutig und kräftig, wie Carter es getan hat.

Als ich zu Carter hinüberblicke und ihn zum ersten Mal seit der Englischstunde direkt ansehe, stockt mir für einen kurzen Moment der Atem. Er trägt als einziger Junge eine lange Trainingshose. Dazu ein weißes T-Shirt, das eng an seinem Oberkörper anliegt, seine braunen Haare umrahmen sein Gesicht. Ich weiß nicht, was genau es ist, aber irgendetwas an ihm fasziniert mich.