Alles Zufall - Stefan Klein - E-Book

Alles Zufall E-Book

Stefan Klein

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Beschreibung

+++ Das große Buch über die Kraft des Zufalls – und wie wir ihn uns zunutze machen können +++ Bestsellerautor Stefan Klein zeigt, wie wir uns den Zufall zum Freund machen können. Wir wappnen uns auf jede erdenkliche Art gegen das alltägliche Chaos, organisieren unsere Leben minutiös und haben Angst vor allem, das sich nicht planen lässt. Und doch entkommen wir dem Zufall nicht – ob an der Schlange im Supermarkt, die natürlich länger ist als alle anderen, oder wenn wir einen Freund im Urlaub treffen, den wir seit Jahren nicht gesehen haben. Doch der Zufall hat zwei Gesichter: Er kann Unheil bringen oder uns Glück verheißen. Stefan Klein zeigt uns anhand der neuesten Forschungsergebnisse, was genau der Zufall ist, wo und wie er sein Spiel treibt – und wie wir ihn auf unsere Seite ziehen können.

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Seitenzahl: 501

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Stefan Klein

Alles Zufall

Die Kraft, die unser Leben bestimmt

 

 

Impressum

 

 

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Coverabbildung: John Gilmoure/CORBIS

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen. Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403065-4

 

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Inhalt

Widmung

Motto

Einleitung

Teil I Entstehung

Kapitel 1 Ein Gott mit zwei Gesichtern

Die Willkür des Schicksals

Zwei Arten von Zufall

Hoffen und Bangen

Eine unsichere Welt

Ungewissheit birgt Chancen

Kapitel 2 Die Gesetze des Zufalls

Die Handschrift des Unerklärbaren

Die magische Zahl Sieben

Regeln gegen die Datenflut

Forschung am Spieltisch

Das Gesetz der großen Zahl

Kapitel 3 Kosmisches Casino

Die Welt als Uhrwerk

Wissen ist Ohnmacht

Der Irrtum des Nostradamus

Höhere Pläne

Der unaufhaltsame Vormarsch der Unordnung

Ein Maß für das Unwissen

Was der zweite Hauptsatz wirklich sagt

Warum der Zufall immer gewinnt

Der Unterschied zwischen gestern und morgen

Exkurs: Der Kult um das Chaos

Kapitel 4 Jenseits der Grenzen des Wissens

Geist in der Maschine

Zufall, Fundament der Natur

Durch Wände gehen

Spuk in der Teilchenwelt

Die Physik der zweiten Gesichte

Eine Frage der Dimension

Grenzen der Selbsterkenntnis

Das Dilemma des Hellsehers

Kapitel 5 Die Kunst des Gedankenlesens

Trügerische Menschenkenntnis

Weissagungen, die sich selbst erfüllen

Investieren mit Dartpfeilen

Wie eine Blase entsteht – und platzt

Die Aufholjagd der Spekulanten

Die Scheuklappen der Futurologen

Rührende Utopien

Der unmögliche Plan

Teil II Wirkung

Kapitel 6 Schöpfung ohne Plan

Zufällige Wunder

Evolution durch Bodybuilding?

Ein Vampir als Lehrmeister

Tod eines Hoffnungsvollen

Ein Buch, in das man nicht schreiben kann

Nützliche Unfälle

Zu neuen Ufern

Im Bastelkeller der Natur

Warum wir zehn Finger haben

Die unsichtbare Hand des Fortschritts

Die Kunst des Brückenschlags

Viagra und Tesafilm

Lernen von der Natur

Kapitel 7 Die Welt als Tombola

Zwei Schritte vor, einer zurück

Inseln für das Neue

Die Evolution zurückgespult

Wer zuerst kommt, bleibt am längsten

Das Ende der Saurier

Zufall Mensch?

Kapitel 8 Täuschen und Tarnen

Aufs Geratewohl zum Erfolg

Die Theorie des Tortenstücks

Bloß nicht verlieren

Gleichgewicht des Schreckens

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Kapitel 9 Kindheit, Liebe, Partnerschaft

Tropfen auf der Wasserscheide

Die Gelegenheit beim Schopf packen

Gene und Umwelt

Kindlicher Eigensinn

Die Ohnmacht der Eltern

Ist Erziehung sinnlos?

Wo die Liebe hinfällt

Die Weisheit der Kuppler

Gegensätze stoßen sich ab

Teil III Wahrnehmung

Kapitel 10 Wahnsinn mit Methode

Wer an Hintersinn glaubt, wird klüger

Ein Torwächter für das Gehirn

Das Gehirn neu verdrahten

Sind Rouletteräder vergesslich?

Die heißen Hände unserer Helden

Im Sog der Klischees

Genauigkeit, die in die Irre führt

Stoff für Verschwörungstheorien

Voreilige Schlüsse

Kapitel 11 Schafe und Böcke

Die Illusion der Kontrolle

Der Parkplatz und das Universum

Nur sehen, was ins Bild passt

Die Lust am Deuten

Die Biologie der Spekulation

Logisch, aber absurd

Buchhalterin unter der Schädeldecke

Wo der Humor zu Hause ist

Von Hölzchen zu Stöckchen

Die dunkle Seite des Gehirns

Der verräterische Linksdrall

Die Jagd nach dem Warum

Die Anziehungskraft einer guten Geschichte

Doppelte Buchführung lernen

Kapitel 12 Ein Sinn für das Risiko

Unbewusste Statistik

Ein Prozessor für Hoffnungen

Vom Wert des Zweitbesten

Die Taube in der Hand?

Lieber nichts verlieren als gewinnen

Das Starenhirn im Chefsessel

Anbauten im Großhirn

Kapitel 13 Der Fluch der Sicherheit

Zufall ist Stress

Wie der Körper für die Scheu vor der Ungewissheit bezahlt

Die gefühlte Sicherheit

In Vorsicht erstarrt

Die hysterische Gesellschaft

Wie man echten Risiken beikommt

Teil IV Strategien

Kapitel 14 Der Zufall als Zerstörer

Das sicherste Fahrzeug der Welt?

Kleinigkeiten, die zur Katastrophe führen

Die Kosten der Komplexität

Warum Murphys Gesetz stimmt

Gefährliche Netze

Oldtimer im All

Mit dem Schlimmsten rechnen

Die Last auf vielen Schultern tragen

Sich verstehen oder untergehen

Der Lohn der Angst

Abschied von Abrahams Schoß

Kapitel 15 Flirt mit dem Zufall

Vor vollen Töpfen verhungern

Der Preis der besten Entscheidung

Wenn Raten Leben rettet

Die richtige Checkliste

Der Schwund an den Universitäten

Mit kleinen Schritten zum Erfolg

Besser als der große Wurf

Auf viele Pferde setzen

Lob des Orakels

Kapitel 16 Unsicherheit als Chance

Die Sintflut des Wissens

Wie Schriftsteller den Zufall entdeckten

Die Sehnsucht nach Ordnung

Gewissheit hemmt das Denken

Neue Ideen durch Irritation

Kribbelnde Erwartung

Experimente statt Effizienz

Eine kleine Welt

Was einen Glückspilz ausmacht

Gelegenheiten erkennen

Der Zufall lehrt Achtsamkeit

Anhang

Danksagung

Literaturverzeichnis

Namenregister

Sachregister

Für Dora, die kein Zufall ist

»Wie leben ohne vor sich ein Unbekanntes?«

René Char

Einleitung

Haben Sie sich je gefragt, warum Sie der Mensch wurden, der Sie sind?

Ich zum Beispiel bin Kind einer Firmenpleite, eines verschlafenen Sonntags und des ersten Autos meines Vaters. Es war ein hellblauer VW Käfer 1200, und eigentlich wollte mein Vater den Wagen gar nicht. Er kam nur dazu, weil mein Onkel ein gutes Geschäft witterte. Ein Händler hatte ihm den Käfer billig angeboten, unter der Bedingung allerdings, dass er zwei davon nähme. So erhielt mein Vater, damals ein junger Chemiker ohne großes Gehalt, eines Tages Besuch von seinem Bruder, der ihm einen Vertrag unter die Nase hielt: »Ich habe für dich ein Auto gekauft. Du musst nur noch unterschreiben. Hier.« Im gleichen Jahr brach in Tirol ein Unternehmen zusammen. Die Webstühle, die es herstellte, genossen Weltruf, aber niemand wollte sie mehr haben – 1959 eroberten Nyltesthemden den Markt. Eine fällige Zahlung ließ auf sich warten, die schon angeschlagene Firma war nicht mehr flüssig, die Banken verloren die Geduld. Als das Geld nach ein paar Tagen doch noch eintraf, war es zu spät: Im Haus des Fabrikanten klebte der Kuckuck auf den Möbeln. Nach dem Bankrott zählte jeder Schilling, und so verließ die älteste Tochter, noch Studentin, das Haus. Sie hatte in München eine bezahlte Assistentenstelle gefunden.

Eine Bekannte erzählte ihr von dem jungen Mann mit dem blauen VW. Auch er pendelte zwischen seiner Arbeitsstelle in München und Innsbruck, wo seine Familie lebte. Jeden Freitag holte er fortan die junge Frau ab und chauffierte sie nach Tirol, sonntags traten sie die Rückfahrt an. So ging es Jahre, ohne dass romantische Gefühle in der Fahrgemeinschaft aufkeimten. Doch eines schönen Herbsttages verschlief meine Mutter nach einer durchfeierten Nacht, und ihre Freunde brachen ohne sie zu ihrer verabredeten Bergtour auf. Draußen strahlte die Sonne. Spontan rief sie bei ihrem Käferfahrer an: Ob er etwas mit ihr unternehmen wollte? Er wollte. Ein Jahr später waren sie verheiratet.

Ich habe mich oft gefragt, wie es gekommen wäre, hätte sich auch nur eine dieser Begebenheiten anders zugetragen: Wenn der Autohändler meinem Onkel nicht dieses seltsame Angebot gemacht hätte; wenn das Geld rechtzeitig bei meinem Großvater eingegangen und ihm der Konkurs erspart geblieben wäre; oder wenn an jenem Septembertag 1963 Wolken die Alpen eingehüllt hätten – würde es mich heute geben? Können es wirklich solche Kleinigkeiten sein, die in keinerlei Zusammenhang zu stehen scheinen, denen wir unser Leben verdanken – und die seinen Lauf bestimmen?

Solche Fragen fesseln uns und lassen uns zugleich schaudern. Dieses zwiespältige Gefühl muss auch der Philosoph Johann Gottfried von Herder empfunden haben, als er den Zufall »einen der beiden großen Tyrannen der Menschheit« nannte (der andere war für ihn die Zeit).[1] Die Naturwissenschaftler erschraken ebenfalls vor dem Chaos im Universum, als sie entdeckten, wie wenig die Natur unseren Vorstellungen gehorcht. Noch im Jahr 1970 beschrieb der französische Molekularbiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod den Menschen als einen Glückstreffer im großen Lotteriespiel der Natur, der sich seine Verlorenheit endlich eingestehen sollte: »Der Mensch weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Alls hat, das für seine Musik taub und gleichgültig ist gegenüber seinen Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.«[2] Im Laufe der letzten Jahre jedoch hat sich die Wissenschaft so intensiv mit dem Unvorhersehbaren beschäftigt wie nie zuvor – und dabei eine ganz neue Sicht des Zufalls entwickelt: Das Schaudern ist dem Staunen gewichen.

Was verbirgt sich nun hinter dieser seltsamen Erscheinung, von der manche behaupten, sie sei nichts als eine Illusion? Mathematiker haben bewiesen, dass der Zufall sogar dort auftritt, wo alles streng nach Regeln verläuft; Physiker untersuchen, wie das Unvorhersehbare entsteht und warum es vor ihm kein Entrinnen geben kann; Evolutionsbiologen begreifen zunehmend, in welchem Maß Menschen dem Zufall ihr Dasein verdanken. Groß angelegte psychologische Studien zeigen, wie unvorhersehbar die Entwicklung einer Persönlichkeit und nicht zuletzt die Wege der Liebe verlaufen. Hirnforscher und Philosophen schließlich klären auf, warum es uns dennoch so schwer fällt, mit dieser schöpferischen Kraft Frieden zu schließen. Ihre Arbeiten begründen, weshalb uns der Glaube an ein Schicksal, einen höheren Plan, so tief eingeprägt ist.

Der Zufall ist mächtiger, als wir es uns je vorgestellt haben. Seine Erforschung rührt an die großen Rätsel der Wissenschaft, wie die Frage nach dem Aufbau der Welt und nach der Entstehung des Lebens, und betrifft zugleich im Kleinen den Lebensweg eines jeden von uns. Und doch ist es nicht der Dämon der Unordnung, den der Aufklärer Herder verwünschte, der hier sein Gesicht zeigt. Die englische Sprache betont von jeher die freundlichen Züge des Zufalls: Chance bedeutet eben auch »Möglichkeit«, ja sogar »Glück«.

Auch die Wissenschaft hat diese Seite des Zufalls erkannt – und lernt jetzt, ihn zu nutzen. Empfindliche Systeme wie elektronische Schaltungen lassen sich durch seine Wirkung stabilisieren; auch unsere Gehirne funktionieren so.[3] Und der Zufall, so zeigt sich, ist nicht nur Motor der Evolution, sondern ebenso aller menschlichen Kreativität. Selbst unsere menschlichsten Züge – Altruismus, Mitgefühl, die Fähigkeit zur Moral – würde es nicht geben, wenn unser Handeln stets vorhersehbar wäre.

Allerdings bezahlen wir für diese Errungenschaften einen Preis: Unsicherheit. In unsicheren Situationen aber fühlen sich die meisten Menschen unwohl. Deshalb vermeiden wir sie, wo immer es geht – und berauben uns damit vieler Chancen.

Wie können wir mit dem Stress der Unsicherheit besser fertig werden? Gibt es Strategien, aus Überraschungen den größten Nutzen zu ziehen? Kann man lernen, ein Glückspilz zu sein?

Dieses Buch will Sie mit dem Phänomen »Zufall« vertraut machen. Weil das Unvorhersehbare alle Bereiche unseres Handelns, Fühlens und Denkens durchdringt, kann es ihm nur in einer umfassenden Sicht gerecht werden. Zufälle haben eine Menge mit unerwarteten Zusammenhängen zu tun. Es wäre daher sinnlos, nur einen Aspekt herauszugreifen. Erst im großen Bild, in der Zusammenschau ist zu verstehen, wie der Zufall unser Leben bestimmt.

Im ersten Teil werden Sie erfahren, was Zufälle sind und wie sie entstehen. So viele Gestalten sie auch annehmen mögen, lassen sich doch erstaunlicherweise alle Erscheinungsformen – ob beim Glücksspiel, im Reich der Physik, in der menschlichen Gesellschaft – auf nur zwei gemeinsame Ursachen zurückführen: Komplexität und Selbstbezüglichkeit.

Diese Gedanken führen zu dem Problem, ob Ereignisse, die uns zufällig erscheinen, wirklich keiner Gesetzmäßigkeit folgen – oder ob wir diese Regeln lediglich nicht erfassen können. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die uralte Frage: »Zufall oder Schicksal?« Die Kapitel 3 und 4 in diesem ersten Teil sind die anspruchsvollsten des Buches, denn sie behandeln das grundlegende Rätsel, woher Zufälle kommen. Ich habe versucht, Ihnen den Weg durch die Gedankengänge der Physik so leicht und anschaulich wie möglich zu machen. Wer nicht so tief in die physikalischen Hintergründe einsteigen will, kann diese Kapitel auch überspringen. Das Verständnis des Folgenden hängt nicht davon ab.

Der Zufall als Schöpfer ist Gegenstand des zweiten Teils, der Sie mitnehmen will auf eine Reise von den Anfängen des Lebens auf der Erde bis zur Entwicklung des Computers, von der Entstehung des Menschen bis zur Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden von uns. In welchem Maß bestimmt der Zufall, wie sich unser Charakter herausbildet, wie wir leben, wen wir lieben?

Nur durch Zufall kommt Neues in die Welt. Dieser Abschnitt soll deshalb auch aufzeigen, wie wir zu unseren Ideen finden. Allerdings setzt sich nicht jeder gute Einfall durch. Es braucht Glück und Raffinesse, einer Neuerung zum Erfolg zu verhelfen, und wie in jeder Konkurrenz siegt oft derjenige, der sich unvorhersehbar verhält. Zufall ist in vielen Fällen die beste Strategie.

Normalerweise entgeht uns, wie viel wir dem Zufall verdanken. Unser Gehirn ist darauf programmiert, nicht an Zufälle zu glauben. Damit wir uns in der Welt orientieren können, spiegelt es uns oft mehr Gewissheit vor, als wir haben. Der dritte Teil des Buches behandelt unseren Umgang mit Zufällen und Unsicherheit; er ist eine Wanderung durch das Reich der Illusionen. Eine der gefährlichsten davon ist, sich zu sicher zu fühlen – oder zu glauben, es könne vollkommene Sicherheit geben. Gerade dann nämlich gehen wir unkontrollierte Risiken ein und erleben häufig ein böses Erwachen.

In einer zunehmend unübersichtlichen Welt müssen wir ständig entscheiden, ohne im Besitz aller dafür nötigen Informationen zu sein. Der vierte Teil zeigt Wege, sich vor verhängnisvollen Fehlschlüssen zu schützen: Wir können unser Handeln so ausrichten, dass es uns auch dann nützt, wenn sich die äußeren Bedingungen überraschend verändern. Dadurch machen wir uns den Zufall zum Freund. Das Spiel mit dem Unerwarteten eröffnet zudem Strategien, Ideen zu entwickeln und systematisch günstige Gelegenheiten zu schaffen.

Allerdings gibt es diese Chancen nicht umsonst. Wer von ihnen profitieren will, muss von einem beliebten Trugbild Abstand nehmen: dass wir unser Leben restlos planen können. Sich mit dem Zufall zu beschäftigen lehrt Bescheidenheit.

Im Grunde wissen wir, wie oft wir uns Sicherheit nur einreden. Wenn wir uns näher mit dem Phänomen Zufall beschäftigen, weichen solche Trugschlüsse dem Vertrauen auf das Unverhoffte – und dem Selbstbewusstsein, aus Überraschungen das Beste machen zu können. Den Zufall zu kennen beruhigt. Wenn wir uns auf das Ungewisse einlassen, werden wir viel öfter von ihm beschenkt, als wir es erwarten. Mit Wundern ist zu rechnen.

Teil IEntstehung

Kapitel 1Ein Gott mit zwei Gesichtern

Wie uns der Zufall begegnet

Barry Bagshaw verlor seinen Sohn aus den Augen, als der Junge fünf Jahre alt war. Damals diente Bagshaw als Soldat der britischen Armee in Hongkong. Seine in England zurückgebliebene Frau konnte das Alleinsein nicht ertragen. Nach Monaten der Einsamkeit verliebte sie sich in Bagshaws besten Freund und zog mit dem Kind zu ihm. Als Bagshaw nach seiner Rückkehr dort anrief, wollten weder seine Frau und sein Freund noch sein Sohn etwas von ihm wissen. Verbittert brach Bagshaw jeden Kontakt zu seiner Familie ab. Als er diesen Schritt nach Jahren bereute und sich auf die Suche machte, war es zu spät: Er konnte seinen Jungen nicht mehr ausfindig machen.

Während eines Einsatzes in Nordirland verwundete ihn eine Bombe; Bagshaw musste den Armeedienst quittieren und nahm eine Stelle als Taxifahrer im Seebad Brighton an. Am Abend des 7. August 2001, mehr als drei Jahrzehnte nach der Trennung von seiner Familie, wird er zu einem Motel bestellt. Ein Paar steigt ein. In der Dunkelheit kann Bagshaw die Gesichter kaum ausmachen. Nachdem er den Motor angelassen hat, hört er, wie sich die Frau über den ungewöhnlichen Nachnamen auf der Taxilizenz wundert. Dann fragt eine männliche Stimme: »Ist Ihr Vorname Barry?« Bagshaw zögert. »Woher wissen Sie das?« Schweigen. An der nächsten roten Ampel dreht er sich um. Da sitzt ein gedrungener Mann, Mitte dreißig vielleicht: »Mein Vater hieß so.«

»Und Ihre Mutter Patricia.« Der andere nickt.

»Sie sind Colin Bagshaw.«

»Ja.«

Barry bringt kein Wort mehr heraus. Er fährt weiter. Plötzlich hält er an, läuft um den Wagen, reißt die Autotür auf und umarmt den Fahrgast. »Lass uns etwas trinken gehen.« In einem Pub gehen die beiden die Namen aller Verwandten durch, die ihnen einfallen. Nein, da kann kein Zweifel bestehen: Der Kunde ist Bagshaws verlorener Sohn. Jetzt erst erfährt Barry, dass Colin nach Südafrika ausgewandert und erst vor wenigen Wochen zurückgekehrt ist. In einem Hotel in Brighton hat er Arbeit als Manager gefunden – nur ein paar Straßen vom Haus seines Vaters entfernt, den er für tot hielt. Hat eine Ahnung ihn in diese Stadt geführt? Und vor allem: Wieso schickte die Zentrale unter hunderten anderen an diesem Abend gerade Barrys Taxi zu dem Motel?[4]

Alles Zufall? Geschichten wie diese faszinieren uns und hinterlassen uns ratlos. Ein Wiedersehen wie das von Vater und Sohn Bagshaw, über das sogar die BBC berichtete, ist dermaßen unwahr-scheinlich, dass selbst skeptische Zeitgenossen kaum anders können, als dahinter eine höhere Absicht zu vermuten.[5] Gibt es da eine Macht, die es gut mit uns meint?

Schon der Alltag gibt oft genug Anlass zu solchen Fragen. Die Freundin ruft genau in dem Moment an, da man an sie denkt. Menschen werden zusammengeführt, weil der eine von ihnen eine Flaschenpost oder einen Luftballon ausgesandt hat – wie der Hamburger Wolfgang Staude, der in der Silvesternacht 2002 an einem gelben Gasballon eine Karte mit seiner Telefonnummer aufsteigen ließ. Hundert Kilometer entfernt ging die Botschaft nieder – ausgerechnet im Apfelbaum eines Freundes aus Kindertagen, zu dem Staude längst den Kontakt verloren hatte.[6] Und jeder Liebende zweifelt ohnehin daran, dass allein der Zufall ihn mit seinem Partner zusammengebracht hat.

Für Barry Bagshaw hatte das Taxi schon einmal sein Leben verändert. Zwei Jahre vor dem Wiedersehen mit seinem Sohn schickte ihn die Zentrale bei einer Französin vorbei, die zum Flughafen fahren wollte. Die Frau war in Tränen aufgelöst: Sie musste zur Beerdigung ihrer Mutter in die Heimat reisen. Auf den sechzig Kilometern nach Gatwick gab ein Wort das andere, und am Ziel verriet sie Bagshaw ihre Telefonnummer. Als die Dame aus Frankreich zurückgekehrt war, rief er an. Die beiden gingen essen, und nach ein paar gemeinsamen Abenden verloren sie ihr Herz aneinander. Wenig später heirateten sie. Die Jahrzehnte der Einsamkeit sind für Barry Bagshaw vorbei.

»Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht selbst unterschreiben will«, hat der Dichter Anatole France einmal behauptet.

Die Willkür des Schicksals

Einen Sinn in dem zu sehen, was uns zustößt, tut uns wohl. Nach einem solchen Halt sehnen wir uns umso mehr, wenn unerklärliche Begebenheiten uns nicht ein freudiges Wiedersehen oder Liebesglück bescheren: Zufälle haben auch die Macht, unsere Existenz zu zerstören.

Am Abend des 10. September 2001 räumt Felix Sanchez sein Büro im Südturm des World Trade Center. Sein Traum von der Selbständigkeit wird ihm am kommenden Tag das Leben retten. Sanchez hat seine Arbeit bei der Investmentbank Merrill Lynch gekündigt, um sein Geld fortan als freier Finanzberater für seine Landsleute aus der Dominikanischen Republik zu verdienen, wie Reporter der New York Times später recherchierten.[7] Die Geschäfte laufen von Anfang an glänzend; genau zehn Wochen später macht er sich auf den Weg in seine Heimat. So besteigt er am 12. November die Morgenmaschine der American Airlines nach Santo Domingo, Flugnummer 587 – das Flugzeug, das gleich nach dem Start über dem New Yorker Stadtteil Queens abstürzt und aus dem niemand lebend entkommt.

Unter den 258 Passagieren ist auch die Serviererin Hilda Mayor.[8] An dem Vormittag des 11. September, als die beiden entführten Jets in die Wolkenkratzer rasten, hat sie in einem Restaurant im ersten Stock des World Trade Center bedient und ist dem Inferno entkommen. Nun stirbt auch sie in der Unglücksmaschine nach Santo Domingo – über einer Wohngegend von Queens, in der viele Feuerwehrleute leben. Die Trümmer des Airbus stürzen in die Gärten von Eltern, die ihre Söhne bei den Rettungsversuchen des 11. September verloren haben.

Es ist schon gespenstisch genug, dass New York binnen weniger Wochen zweimal von Katastrophen heimgesucht wurde, in denen Flugzeuge eine wichtige Rolle spielten – auch wenn die Ermittlungsbehörden versicherten, Ursache für den Absturz der American-Airlines-Maschine sei ein technisches Versagen gewesen, wie es jederzeit und überall auftreten könne. Dass Menschen wie Sanchez und Mayor aber scheinbar durch ein Wunder von einem Desaster verschont bleiben, nur um kurz darauf einem anderen zum Opfer zu fallen, übersteigt unsere Vorstellungskraft.

Unserem Wesen entspricht es, zielgerichtet zu denken und zu handeln; wir können und wollen nicht glauben, dass sich das Universum so offenkundig sinnlos verhält. Oder sollte der chinesische Philosoph Laotse Recht gehabt haben? »Die Himmel erachten die Menschen als Heuhunde«, schrieb er. Zu Zeiten Laotses flochten die Gläubigen Hunde aus Heu und stellten sie vor ihre Altäre, um das Unglück abzuwehren. War das Ritual vorüber, wurden die Heuhunde auf die Straße geworfen und von den Passanten zertrampelt.

Zwei Arten von Zufall

Viele Menschen zweifeln insgeheim, ob es Zufälle wirklich gibt. Sie haben das Gefühl, dass alles, was ihnen zustößt, einem Plan folgt, einer Vorsehung. Und nicht wenige sind überzeugt, diesem ihrem Schicksal in die Karten schauen zu können, indem sie Horoskope befragen oder einen Wahrsager zu Rate ziehen. Selbst ein Staatschef wie François Mitterrand, ein Intellektueller, pflegte vor wichtigen Entscheidungen seine Astrologin zu konsultieren.

Aber sollte uns tatsächlich ein Schicksal an seinen Fäden führen wie Marionetten, welche Rolle spielt dann der Zufall in unserem Leben? Nennen wir einfach nur solche Begebenheiten zufällig, die zwar einem Plan folgen, der uns in unserer Unwissenheit aber verborgen bleibt? Wovon reden wir überhaupt, wenn wir »Zufall« sagen?

»Zufälle sind Vorfälle, die unversehens kommen«, schreiben die Brüder Grimm in ihrem Wörterbuch der deutschen Sprache lakonisch und setzen hinzu: »Der Zufall bezeichnet das unberechenbare Geschehen, das sich unserer Vernunft und unserer Absicht entzieht.»[9] Genau in dieser doppelten Weise verwenden wir diesen Begriff: Als Zufall erscheint uns ein Vorkommnis, hinter dem wir entweder keine Regel erkennen oder das keiner geplant hat.

Die erste Bedeutung ist die einfachere: Zufällig ist, was wir nicht anders erklären können oder wollen. In zufälligen Abständen prasseln die Regentropfen aufs Fenster; wir können keine Ordnung dahinter sehen. So gebraucht auch die Wissenschaft dieses Wort. Wenn Sie Milch in Ihren Kaffee gießen, bildet sie zufällige Schlieren, bevor sie sich in der ganzen Tasse verteilt. Das ist für einen Physiker eine typische Wirkung des Zufalls, denn er kann die Strukturen, die bei diesem Mischvorgang entstehen, nicht genau berechnen. Davon können Sie sich leicht überzeugen: Jedes Mal, wenn Sie von neuem Milch in den Kaffee geben, werden die Muster etwas anders aussehen.

Die zweite Bedeutung von »Zufall«, die wir oft im Alltag verwenden, ist komplizierter. »Was für ein Zufall!«, sagen wir, wenn Ereignisse so zusammenfallen, dass wir darin einen Sinn sehen, obwohl dieses Zusammenfallen offenbar niemand angestrebt hat. Dies nennt man Koinzidenz; wir könnten auch von »unglaublichen Zufällen« sprechen. So fragen wir uns, ob nicht doch eine lenkende Hand im Spiel ist, wenn die Freundin gerade in dem Augenblick anruft, da wir an sie denken – oder wenn ausgerechnet Barry Bagshaw mit dem Taxi vorfährt, um seinen verlorenen Sohn abzuholen.

Eine solche Begebenheit erscheint uns umso bemerkenswerter, für je weniger wahrscheinlich wir sie halten. In diesem Sinn des Wortes ist ein »Zufall« also ein auffälliges Geschehen, das sich nicht so recht aus dem gewohnten Lauf der Dinge heraus erklären lässt.

Was wir als erstaunlich empfinden, hängt allerdings von unserer Perspektive ab. Wer eine dringende Nachricht von seiner Freundin erwartet, wird kaum Telepathie vermuten, wenn sie sich prompt meldet. Es sind also nicht die Ereignisse selbst, die uns bemerkenswert erscheinen, sondern die unbeabsichtigten Zusammenhänge, die wir darin sehen. Sie bringen uns mitunter zum Grübeln, ob sich dahinter nicht doch tiefere Gründe verbergen. Denn unser Gehirn ist, wie wir sehen werden, darauf programmiert, nach verborgenen Plänen zu suchen.

Weil Zufall eine Frage des Blickwinkels ist, fällt es oft gar nicht leicht, sich darüber zu verständigen. Was dem einen höchst verblüffend vorkommt, findet der andere banal. Der Münchner Komiker Karl Valentin nimmt das aufs Korn, wenn er über einen aus seiner Sicht unglaublichen Zufall philosophiert: »›Denkens Ihnen nur, ich und der Anderl gehen gestern in der Kaufinger Straße und reden grad so von einem Radfahrer – im selben Moment, wo wir von dem Radfahrer sprechen, kommt zufälligerweise grad einer daher.‹ ›Und, weiter, was hat er getan?‹, fragt sein Gegenüber, der Kapellmeister. ›Gar nichts! Weitergfahrn is er wieder.‹ ›Also, das ist doch nichts Besonderes, wenn da in der Kaufinger Straßn a Radfahrer daherkommt! Da kommt fast alle Meter wieder a anderer Radfahrer daher!‹ Der Kapellmeister ist entgeistert, Valentin bleibt ungerührt: ›Ja, aber net, wenn man davon redt!‹«[10] So könnten sie sich ewig streiten, denn Recht haben beide: Der Kapellmeister meint Zufall in der ersten, der Komiker in der zweiten Bedeutung des Wortes.

Hoffen und Bangen

Ob regelloses Ereignis oder ungewollter Zusammenhang – Zufälle faszinieren uns, weil sie sich offenkundig unserem Einfluss entziehen. Allerdings betrachten wir sie mit gemischten Gefühlen: Positive Überraschungen sind wunderbar, doch nicht zu wissen, was die Zukunft bringt, kann uns sehr belasten. Unsicherheit ist Stress.

Ohnehin beschäftigen uns Risiken mehr als Chancen. Die Evolution hat Angst als Signal hervorgebracht, um uns vor Gefahren zu schützen; wenn wir gleich viel Anlass zu Furcht und Hoffnung haben, überwiegt daher immer das negative Gefühl. Oft ist die Sorge sogar dann stärker, wenn wir objektiv mehr Gründe zur Vorfreude haben. So hat uns die Natur konstruiert.[11] Deswegen haben die Menschen schon immer versucht, auf höhere Mächte Einfluss zu nehmen – meist, um sich vor Miseren zu schützen, manchmal auch, um ihr Glück zu befördern. Dreimal auf Holz geklopft, einen Talisman an den Schlüsselbund gehängt, der Muttergottes eine Kerze gestiftet: Wenn es schon nicht nützt, wird’s auch nicht schaden, und zur eigenen Beruhigung dienen solche Vorkehrungen auf jeden Fall. Aber gibt es wirklich Instanzen, die sich auf diese Weise umstimmen lassen?

Selbst die nüchternsten Menschen sind in dieser Frage so rettungslos ambivalent, wie es der dänische Nobelpreisträger Niels Bohr war, der als Vater der modernen Atomphysik dem Zufall in der bis dahin streng mechanistischen Naturwissenschaft Geltung verschaffte. Trotzdem hatte er über der Tür seines Ferienhauses ein Hufeisen hängen, wie Kollegen berichten. Wenn Physiker auf Besuch anmerkten, dass gerade er es doch besser wissen müsste, pflegte Bohr lächelnd zu erwidern: »Es hilft auch, wenn man nicht daran glaubt.«[12]

Eine unsichere Welt

Viele Menschen haben das Gefühl, ihnen wachse über den Kopf, was um sie geschieht. Denn die Welt ist so unübersichtlich und vor allem unkalkulierbar geworden, dass wir uns immer öfter als Spielball des Zufalls empfinden. Zwei Drittel aller Westeuropäer glauben, die nächste Generation werde in einer weniger sicheren Welt leben als heute.[13] Noch für die mittlerweile Sechzigjährigen war es absehbar, wie ein Leben verlaufen würde. Wer im Nachkriegsdeutschland tüchtig war, konnte sich auf Wohlstand und Arbeit bis zur Pensionierung verlassen. Heute ist so etwas wie Karriereplanung beinahe Makulatur. Hoch qualifizierte Angestellte, gerade noch für viel Geld als Hoffnungsträger eingestellt, treffen sich auf dem Arbeitsamt wieder – weil in der Firma die erwarteten Aufträge ausblieben, der Job einer undurchsichtigen Fusion zum Opfer fiel oder auch nur die Stimmung im Vorstand sich gedreht hat.

Natürlich waren die Menschen schon immer Risiken ausgesetzt. Aber in der Vergangenheit waren die Feinde meist bekannt: Krankheiten rafften Schwache dahin, Missernten ließen Bauernfamilien hungern, Frauen starben im Kindbett. Und mitunter machten Naturgewalten die Anstrengungen von Jahrzehnten zunichte: Lawinen verschütteten Alpendörfer, bei Sturmfluten an der Nordseeküste war für die Bewohner der Halligen Land unter. Und doch lebten die Betroffenen in einer überschaubaren Welt. Jeder Mensch wusste, was er zu befürchten hatte – und worauf er hoffen durfte. Schließlich waren auch seine Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, begrenzt, ebenso die Menge der jungen Männer oder Frauen, die als Ehepartner in Frage kamen.

Das hat sich geändert. Wir treffen Menschen aus allen Teilen der Erde, verlieben uns auf Reisen und führen Fernbeziehungen über Kontinente hinweg. Technische Neuerungen wie das Internet wälzen rasend schnell die Arbeitswelt um. Innerhalb von nur fünf Jahren wachsen die Unternehmen der »neuen Wirtschaft« heran – und brechen noch schneller wieder zusammen, die Hoffnungen Hunderttausender Menschen mit ihnen. Zuvor unbekannte Seuchen wie SARS oder Aids breiten sich aus. Die Mauer fällt, über Nacht bekommen Deutschland und Europa ein neues Gesicht. Und was am 11. September 2001 geschieht, ist für die meisten Menschen bis heute unfassbar.

Selbst Experten sind heute damit überfordert, Prognosen auch nur für die nähere Zukunft abzugeben. Denn der stürmische Fortschritt der Technik, die Mediengesellschaft mit ihrer Flut neuester Meldungen von überall her und die immer stärkere globale Verflechtung von Unternehmen und Staaten haben Entwicklungen unüberschaubar gemacht. Zunehmend scheinen kleine, zufällige Ereignisse den Lauf der Geschichte zu bestimmen. Wen hätten die Deutschen zu ihrem Bundeskanzler gewählt, wäre nicht im Sommer 2002 die Elbe über die Ufer getreten? Wie wäre die Geschichte verlaufen, hätten die Fluglehrer der Al-Qaida-Piloten Verdacht geschöpft? Und wie sähe die Welt heute aus, wenn nicht ein paar hundert Rentner in Florida bei der Präsidentschaftswahl 2000 ihren Wahlzettel missverstanden hätten?

Ungewissheit birgt Chancen

Wir sehen dem Zufall ins Gesicht wie niemals zuvor. Bei allen Klagen über die Risiken unserer vernetzten Welt übersehen wir jedoch leicht, welche Chancen sie bietet. Zum Beispiel kann eine arbeitslose Sozialarbeiterin schlagartig zu märchenhaftem Reichtum gelangen, weil sie für ihren Sohn zur richtigen Zeit die richtige Geschichte aufgeschrieben hat. Niemand mochte Joanne K. Rowling einen solchen Erfolg voraussagen – schon gar nicht die Fachleute in all den Verlagen, die ihren ersten »Harry Potter«-Roman abgelehnt haben.

Und hätten Sie im Jahr 1988 darauf gewettet, wie bald Deutschland wieder vereinigt sein würde – ganz ohne Gewalt? Das entscheidende Ereignis verdanken wir einem Zufall. Am 9. November 1989 verliest das Ostberliner Politbüromitglied Günter Schabowski vor laufenden Kameras verwirrt und gegen die Absicht seiner Regierung einen Zettel, den ihn jemand zugesteckt hat: Ab sofort dürfe ausgereist werden. Blitzschnell verbreitet sich die Nachricht, vor den jubelnden Massen räumen die Grenztruppen das Feld.

Wer sich in einer so komplexen Welt zurechtfinden und heimisch fühlen will, tut gut daran, sich mit dem Phänomen Zufall zu befassen. Denn Sicherheit ist nirgends mehr garantiert. Wer aber das Unvorhersehbare zu erkunden sucht, wird erkennen, dass Zufall alles andere als Chaos bedeutet. Auch das offenbar Planlose folgt Gesetzen. Um sie zu durchschauen, müssen wir den Zufall näher kennen lernen. So finden wir nicht nur Antworten auf Fragen, vor die uns unglaubliche Begebenheiten immer wieder stellen, sondern fühlen uns auch den Wechselfällen des Lebens weniger ausgeliefert. Nur wer mit den Prinzipien vertraut ist, die hinter Glücksfällen wie dem Wiedersehen von Vater und Sohn Bagshaw – und dem von Millionen Deutschen – stehen, kann die Chancen unserer Zeit nutzen.

Kapitel 3Kosmisches Casino

Wie der Zufall in die Welt kommt

Mitunter lässt sich der Zufall überlisten. Doyne Farmer versuchte es mit einem Computer im Schuh und hatte Erfolg. So trat er an, die Spielbanken von Las Vegas zu sprengen; er und eine verschworene Gruppe von Freunden waren die einzigen Menschen, die jemals auf Dauer mehr Geld vom Roulettetisch nach Hause trugen, als sie verloren.

Farmer war kein professioneller Zocker, sondern Kosmologe. An der Universität der kalifornischen Küstenstadt Santa Cruz erforschte er die Entstehung von Galaxien, ansonsten vertrieb er sich seine Zeit mit Motorradfahren, seiner Bluesharfe und unzähligen Joints. Das war 1975, zur Spätzeit der Hippie-Bewegung. Als ihm die Einstein’schen Gleichungen und Schwarzen Löcher langweilig wurden, begann er, Motorräder nach Mexiko zu schmuggeln.

Ein Freund weckte sein Interesse am Pokerspiel und führte ihn in den Casinos von Las Vegas ein; Farmer sah seine Chance. »Geld ist Freiheit«, lautete sein Credo. Natürlich wusste er, dass alle bekannten Systeme für das Roulettespiel nur die Bank reich machten. Entweder empfehlen diese, nach jedem Verlust den Einsatz so stark zu erhöhen, bis irgendwann ein Gewinn alle Einbußen ausgleicht – leider geht der Spieler vorher fast immer pleite. Oder die Systemspieler hoffen, aus früheren Ergebnissen auf die Zukunft schließen zu können. Das schlägt noch öfter fehl, denn wie jede einzelne Runde ausgeht, wird vom Zufall bestimmt – und der orientiert sich nun einmal nicht am vorherigen Geschehen: »Neues Spiel, neues Glück.«

Aber wie entsteht eigentlich der Zufall? Beim Roulette offensichtlich durch den Lauf von Kugel und Rad. Diese und nicht die Zahlen der Vergangenheit müsste man beobachten, überlegte Farmer. Wer aus der Bahn der Kugel berechnen könnte, wohin die Reise geht, bräuchte nur rechtzeitig vor dem »rien ne va plus« auf diese Zahl zu setzen. Womöglich lag Fortunas Geheimnis in dem, was Farmer gelernt hatte: Physik.

Mit einem Tonband in der Plastiktüte brach er ins Spielcasino auf. Immer wenn die Kugel einen festen Punkt auf dem Kessel passierte, klopfte er auf das Mikrophon. Dann verglich er die Geräusche auf dem Band mit den notierten Ergebnissen: Wirklich, es gab ein Muster. Farmer kündigte den Job an der Uni, investierte 2000 Dollar und kaufte ein Roulette. Nach kurzer Zeit war sein Haus in ein Physiklabor verwandelt und von Freunden bewohnt, die er mit der Begeisterung für sein Projekt angesteckt hatte. Die »Projektoren«, wie sie sich stolz nannten, vertieften sich in Bewegungsgleichungen, die Luftreibung von Roulettekugeln, die Programmierung von Mikroprozessoren. Bald, so hofften sie, würden die Tage der Freiheit anbrechen, Dollars aus Las Vegas über die Kommune regnen, und jeder bekäme seinen Arbeitseinsatz überreich ausgezahlt.

Nach dem Einwurf rotiert eine Roulettekugel völlig regelmäßig am oberen Rand des Rades. Doch weil der Luftwiderstand sie bremst, sinkt die Bahn der Kugel immer tiefer in den Kessel; der Croupier verkündet sein »Nichts geht mehr«. Erst jetzt kommt der Zufall ins Spiel: Die Kugel trifft auf eine der Rauten im Kessel, prallt ab, springt ein paar Mal hin und her, um beim amerikanischen Roulette schließlich in eines der 38 Nummernfächer zu fallen.[23] Aber auch das tut sie nicht regellos. Den Schlüssel zu seinem Erfolg hatte Farmer schnell entdeckt: Wer abschätzen kann, gegen welche Raute die Kugel zuerst schlägt, kann ziemlich zuverlässig sagen, in welche Zahlenfächer sie nicht fallen wird. Weil sich aber die Kugel bis zu diesem Zeitpunkt gleichmäßig bewegt, lässt sich der erste Aufprall leicht berechnen, wenn man die Geschwindigkeit der Kugel gestoppt hat und den Luftwiderstand kennt. Um die entsprechenden Zahlenfächer auf dem Rad zu finden, muss man dann nur noch dessen Drehgeschwindigkeit berücksichtigen. Nach einer Zeit der Laborversuche konnte Farmer den Weg der Kugel ziemlich sicher voraussagen – so, wie ein Fußballprofi aus der Flugbahn des Balls schließen kann, wo ein Flankenschuss eintreffen wird.

Doch ein Casino ist kein Labor. Ein Besuch dort wäre schnell beendet, würde ein Spieler mit Messgeräten und Computern anrücken, um den Lauf der Kugel zu berechnen. So schneiderten sich die Projektoren Kleider, in denen die Elektronik bei Männern unter der Hüfte, bei Frauen an den Brüsten verschwand. Dann wurden Füße trainiert und Körper verkabelt, denn die Computer waren mit einer Tastatur an den Zehen zu bedienen. Eine Spielbank zu sprengen ist Teamarbeit, darum standen die Rechner aller Projektoren in einem Casino über versteckte Antennen im Funkverkehr und gaben ihre Vorhersagen durch schwache Elektroschocks über Hautkontakte bekannt. Als ein defekter Computer einer Projektorin die Brust versengte, verkleinerte Farmer die Geräte noch weiter und baute sie in Schuhsohlen ein. In der Anfangszeit der Mikrocomputer war das eine enorme technische Leistung.

Zu Neujahr des Jahres 1978 nahm das Team sein System in Las Vegas in Betrieb. Nach ein paar Probeläufen und vielen Besuchen auf der Toilette, um die widerspenstige Technik zu bändigen, begannen sich vor Farmer die Chips aufzutürmen. Dass er immer wieder vom Tisch aufsprang wie von einer Wespe gestochen, weil die Elektronik ihm einen Streich spielte, machte den Croupier zwar misstrauisch, doch die Erklärung, nach einer Mexikoreise plagten ihn entsetzliche Durchfälle, wirkte besänftigend. Nach gut vier Stunden musste Farmer seinen Coup beenden: Die Computer, vom Schweiß der Aufregung durchfeuchtet, hatten aufgegeben.

In den folgenden Jahren gewannen die Projektoren Tausende Dollar. Durchschnittlich bekamen sie für jeden Dollar, den sie einsetzten, pro Spielrunde 1,40 Dollar ausgezahlt. Ihr Vorteil gegenüber der Bank war also gewaltig – im Schnitt hat ein Spieler beim amerikanischen Roulette nach einer Runde von einem Dollar nur noch 95 Cent übrig.[24] Reich wurde Farmers Team trotzdem nicht. Denn die Technik, ständig kaputt, verschlang Unsummen. So löste sich der Freundeskreis auf – die Projektoren mussten sich wieder Arbeit suchen, statt dank phantastischer Gewinne in der erträumten Freiheit zu leben. Doch die Leistung von Farmer und seinen Freunden bleibt unbestritten: Nicht nur hatten sie das bis heute einzige brauchbare System erfunden, den Zufall beim Roulette zu überlisten, sondern sie waren zugleich ungewollt Pioniere der Chaosforschung geworden, von der später in diesem Kapitel die Rede sein soll.

Als das Unternehmen bekannt wurde, warfen die Casinos sofort alle Spieler hinaus, die im letzten Moment vor der Absage setzten – darauf beruhten schließlich die Erfolge der Projektoren. Überdies erließ der Staat Nevada ein Gesetz, das den Einsatz von Computern im Casino verbot.[25] Farmer betreibt seine Methoden heute in größerem Stil. Er hat seiner Hippie-Vergangenheit Lebewohl gesagt, ist zum Professor avanciert und hat in der Goldgräberstadt Santa Fe ein Unternehmen namens »The Prediction Company« gegründet (Die Vorhersagegesellschaft). Die Firma mit 150 Angestellten sucht mit Millionen von Dollars einer Schweizer Großbank an der Börse ihr Glück. Wie seine vom Computer gesteuerten Spekulationen funktionieren und welche Gewinne sie abwerfen, darüber schweigt Farmer sich aus. Doch den Vertrag hätten die Schweizer schon zweimal verlängert.[26]

Die Welt als Uhrwerk

Warum konnten die Projektoren mit ihrer Technik Gewinne einheimsen, aber kein Vermögen machen? Und wie weit lässt sich der Zufall jenseits der künstlichen Welt des Casinos im Alltag beherrschen?

Farmers Erfolge waren der Triumph einer Physik, mit der vor gut dreihundert Jahren eine neue Epoche der menschlichen Erkenntnis begann. Angeblich als ihm in seinem Garten in Cambridge ein Apfel auf den Kopf fiel, hatte sich der Bauernsohn Isaac Newton gefragt, ob im Himmel und auf der Erde nicht dieselben Naturgesetze gelten könnten: Dann wären es die gleichen Kräfte, die den Lauf der Gestirne und den Fall eines Apfels bestimmen – natürlich auch das Rotieren einer Kugel am Spieltisch. Und die Mechanik aller Dinge des Alltags ließe sich mit derselben Präzision vorhersagen – und wäre so wenig zufällig wie Aufgang und Untergang von Sonne und Mond.

Wie im Himmel, so auch auf Erden – das war für die Naturforschung im Jahr 1666 ein unerhörter Gedanke. Damals hingen die Gelehrten, und erst recht die Laien, der Auffassung des Aristoteles an. Der große griechische Philosoph und seine Anhänger hatten zwar zugegeben, dass der ewige Lauf der Gestirne vorhersehbar und sogar berechenbar sei, doch auf der Erde galten ihrer Meinung nach ganz andere Gesetze. Hier seien äußere Kräfte nicht von Belang; worauf es vielmehr ankomme, sei ein Drang, der allen Dingen innewohne. Ein Apfel fällt nach dieser Weltsicht nicht deswegen auf die Erde, weil er von der Schwerkraft angezogen wird, sondern weil er im Herbst auf den Erdboden gehört. Ist von Fallobst die Rede, mögen wir über solche Ideen lächeln; aber in vielen anderen Fragen des Alltags denkt mancher heute noch ähnlich. Wenn wir fest davon überzeugt sind, dass nach einer Folge von dreimal Rot beim Roulette nun endlich Schwarz kommen müsse – zeigt sich in einer solchen Erwartung nicht ein tief sitzender und unausgesprochener Glaube daran, die Dinge würden schon von selbst für ihre Ordnung sorgen?

In Newtons Welt gab es für solche Vorstellungen keinen Platz. Unzählige Versuche haben seine Gesetze der Bewegung bestätigt, die ihn zum Vater der modernen Physik machten: Danach können nur Kräfte den Lauf der Welt ändern. Äpfel fallen vom Baum und abgeschossene Kanonenkugeln auf Städte, weil die Erdanziehung wirkt; Raketen nehmen, vom Feuerstrahl getrieben, Geschwindigkeit auf. Wo aber keine Kraft ausgeübt wird, ändert sich nichts, denn Massen sind träge.

Newtons Welt ist ein Uhrwerk. In ihr existieren kein Zufall und erst recht kein unergründliches Schicksal. Gleichungen regeln die Bewegung aller Körper. Wer den heutigen Stand der Dinge und sämtliche Kräfte kennt, kann die ganze Zukunft vorhersagen – sei es der Lauf einer Roulettekugel oder der Monduntergang am 26. Oktober des Jahres 3004.

Welch ein Umsturz diese Ideen bedeuteten, war schon Newtons Zeitgenossen und Schülern bewusst. Der französische Mathematiker Joseph-Louis Lagrange etwa nannte die damals neue Physik die größte aller Ausgeburten des menschlichen Geistes; auch die Öffentlichkeit nahm mit Begeisterung die Kunde auf, dass die Welt logisch sei. In Frankreich hatte Voltaire mit einem populären Buch über Newton als Wissenschaftsautor Erfolg, in Italien fand ein Werk mit dem Titel »Newtonismus für die Dame« reißenden Absatz, und englische Kinder wurden mit einem Buch »Newtons System der Welt, angepasst an die Fähigkeiten junger Gentlemen und Ladies« beschenkt.