Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen - Lothar Becker - E-Book

Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen E-Book

Lothar Becker

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Beschreibung

Eigentlich hätte Großvater lieber per Dekret die Dummheit verboten. Doch sein Freund Herbert, der im Dorf die Hühner schlachtet und wie er eher versehentlich in die Kommunistische Partei eingetreten ist, hat eine andere Idee, wie man die Weltrevolution in Gang setzt: natürlich mit einer Bombe in einer Machtzentrale der herrschenden Klasse! Nachdem ein erster Anschlag auf eine unschuldige Rathaustreppe im Nachbarort noch nicht ganz den gewünschten Erfolg erzielt, flüchtet er mit seiner neuen Freundin Else nach Wien und gerät in die Fänge von Genosse Schmidt und Genossin Olga, die einen weitaus größeren Beweis für seine Loyalität zur Partei einfordern: Er soll den Stephansdom sprengen. Lothar Beckers liebevoll-grotesker Roman ist eine ironische Abrechnung mit Ideologien, Weltanschauungen und den mit ihnen verbundenen Heilserwartungen.

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Struktur

Titelseite

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Textanfang

Seitenzahlen im gedruckten Buch

Inhalt

Kapitel

1

Kapitel

2

Kapitel

3

Kapitel

4

Kapitel

5

Kapitel

6

Kapitel

7

Kapitel

8

Kapitel

9

Kapitel

10

Kapitel

11

Kapitel

12

Kapitel

13

Kapitel

14

Kapitel

15

Kapitel

16

Kapitel

17

Kapitel

18

Kapitel

19

Kapitel

20

Kapitel

21

Kapitel

22

Kapitel

23

Kapitel

24

Kapitel

25

Kapitel

26

Über den Autor

Impressum

Kapitel 1

Großvater schwamm den Dorfbach hinunter. Mit einer Bombe in seinem Koffer und dem festen Glauben an die Weltrevolution stürzte er sich an einem warmen Tag im April des Jahres 1927 kopfüber in das Wasser und schoss wie ein Aal mit der Strömung bachabwärts. Das Wasser trug ihn über die rundgespülten Steine und über den Schlamm und den Morast und jede Art angeschwemmten Unrats, und viel schneller, als er es für möglich gehalten hatte, war das Dorf in weite Ferne gerückt, und das Sägewerk und die Kuhweiden und zuletzt auch die Sandgrube mit ihren wie Pyramiden aufgetürmten Kieshalden. Kilometer um Kilometer trieb er zwischen braunen, in der Sonne dampfenden Feldern und kühlen, schattigen Waldstücken auf den Fluss zu, mehrmals stieß er gegen tief herabhängende Äste und aus dem Wasser ragende Felsen, und der Bach schäumte und gurgelte und schleuderte ihn nach allen Seiten, aber Großvater presste den Koffer mit der Bombe fest an sich und dachte an Genosse Frank, der, obwohl er es fest versprochen hatte, nicht zurückgekommen war, und daran, dass die Welt eines Tages gerechter sein würde, aber nur dann, wenn man sich selbst nicht schonte und bereit war, etwas dafür zu tun.

Seltsamerweise dachte er auch an die Schlachtfeste vor dem ersten Frost im Herbst, an kalte Tage voller Bierdunst und Blut, und er fand es erschreckend, wie schnell ein eben noch quicklebendiges Schwein zu einer Brühwurst in einem Kessel auf einer Herdplatte wurde, zu etwas, worauf man Senf schmierte und es sich mit Sauerkraut und Salzkartoffeln schmecken ließ. Großvater war jemand, der sich unentwegt Gedanken machte, selbst dann, wenn er in einem ungeheuren Tempo durch ein Bachbett glitt. In Großvaters Kopf arbeitete es ständig. Nicht ausschließlich auf eine gesunde Art und Weise, das muss man zugeben. Manchmal, wenn er an die Befreiung der Menschheit dachte, verließ ihn ein großer Teil seiner Zurechnungsfähigkeit, und es konnte passieren, dass er die polizeiliche Anordnung von Intelligenz, die Besteuerung von Armut oder die Freigabe der Herstellung von Banknoten zu privaten Zwecken für einen geeigneten Weg hielt, die Ungerechtigkeit auf der Welt zu beseitigen. Auf die Idee, dass dieses Ziel auch mit einer gezielt gezündeten Bombe erreicht werden konnte, wäre er allerdings nie gekommen. Herbert, der im Dorf die Hühner schlachtete, hatte diesen Aspekt ins Spiel gebracht.

»Die Welt kann nur durch eine Revolution geändert werden«, hatte er eines Abends im Winter zu Großvater gesagt, »durch einen Aufstand der Armen gegen die Reichen. Die Menschenrechte müssen erkämpft werden. Erkämpft, hörst du? Mit Waffengewalt. So wie in Russland. Da hat es doch auch funktioniert!«

Draußen hatte ein eisiger Wind um das Haus geheult und der Regen war nach und nach zu Schnee geworden.

»Ich weiß nicht«, hatte Großvater geantwortet. »Ich würde es lieber mit einem Verbot von Dummheit versuchen.«

»Unfug«, hatte Herbert gesagt. »Ein Verbot von Dummheit ist dasselbe wie ein Verbot von Krankheiten. Dabei kommt nichts heraus. Außerdem gehört Dummheit zu den elementaren Menschenrechten! Wenn du die Dummheit verbietest, trete ich aus der Kommunistischen Partei aus, nur damit du es weißt!«

»Nun mach mal langsam«, hatte Großvater gesagt.

»Ist aber so«, hatte Herbert geantwortet. »Außerdem möchte ich wissen, wie du das machen willst!«

»Per Dekret«, hatte Großvater gesagt.

Der Wind war heulend unter die Schindeln auf dem Dach gefahren und hatte den nassen Schnee gegen die Fensterscheibe klatschen lassen, und die Dunkelheit hatte sich um das Haus geschnürt, und beide, Großvater und Herbert, hatten überdeutlich gespürt, wie wichtig es war, die Befreiung der unterdrückten Massen herbeizuführen.

»Per Dekret!« Herbert hatte mit dem Kopf geschüttelt. »Wenn du von hier aus ein Dekret erlässt, dann erfährt doch überhaupt niemand davon.«

»Aber wieso denn?«, hatte Großvater gemeint. »Zuerst hört es Egon, der Schweinezüchter. Der erzählt es Anton, dem Schreiner. Wenn es der Schreiner erfährt, dann erfährt es auch seine Schwester –«

»Wer?«, hatte Herbert gefragt.

»Sabine«, hatte Großvater gesagt. »Und wenn es Sabine weiß, dann wissen es auch Gisela, Franziska und Katharina. Ganz zu schweigen von Anita. Das verbreitet sich schon, keine Sorge!«

»Na klar«, hatte Herbert gemeint, »bis zur Dorfgrenze, und dann ist Schluss!«

»Hast du vielleicht eine bessere Idee?«, hatte Großvater gefragt, und seine Stimme hatte einen gereizten Tonfall angenommen.

»Und ob.« Herbert hatte seine auf der Tischplatte liegenden Hände gefaltet und sich zu Großvater herübergebeugt. »Mit einer Bombe«, hatte er dann geflüstert.

Großvater war ein Stück zur Seite gerückt und hatte Herbert ungläubig angesehen.

»Jetzt glotz nicht so«, hatte Herbert gesagt. »Glaub mir, so ist es einfacher. Man braucht nur eine Bombe in die Luft zu jagen. Der Knall ist wichtig, verstehst du? Von einer Bombe erfährt jeder. Mit einer Bombe fängt es an. Der Rest kommt von alleine. Es ist wie bei den Hühnern. Erst muss ich sie schlachten, dann kann ich sie essen.«

»Und du denkst, wenn hier im Dorf eine Bombe hochgeht, rüttelt das die ganze Welt auf?«, hatte Großvater gefragt.

»Nicht hier im Dorf.« Herbert hatte den Kopf geschüttelt. »Du stellst dich aber auch an! Bomben müssen in den Machtzentralen der herrschenden Klasse gezündet werden, meine Güte!«

»Na klar!«, hatte Großvater gerufen. »Endlich mal ein Vorschlag, der sich problemlos in die Tat umsetzen lässt! Weißt du was? Ich halte es für vernünftiger, die Dummheit zu verbieten!«

»Aber wie denn?«, hatte Herbert gefragt, und weil Großvater wie schon beim ersten Mal keine Antwort darauf gefunden hatte, war es bei dem Plan, eine Bombe in einem Zentrum staatlicher Macht detonieren zu lassen, geblieben.

Seitdem hatten sie an der Bombe gearbeitet. Den ganzen Winter hindurch hatten sie in einem Holzschuppen hinter Herberts Haus die unterschiedlichsten Materialien getestet. Lehm, Salz, Scheuermittel, Hühnerfutter. Und obwohl sie das Mischungsverhältnis ständig geändert und alles mit leicht brennbaren Utensilien wie Stroh und Papier angereichert hatten, war der große Knall ausgeblieben. Rein äußerlich hatte die Bombe wie eine Bombe ausgesehen, ein klein wenig auch wie eine stark deformierte Wärmflasche, was daran gelegen hatte, dass sie tatsächlich eine Wärmflasche als Gefäß für ihre hochexplosiven Mixturen verwendet hatten, aber das Ding hatte einfach nicht hochgehen wollen. Herbert war nahe daran gewesen, die Nerven zu verlieren.

»Ich weiß auch nicht. Hühner schlachten ist viel einfacher! Man packt sie an den Flügeln, legt sie auf den Holzstock und hackt ihnen, zack –«

»Hör auf! Ich will das nicht hören!«, hatte Großvater gesagt. »Die armen Tiere. Ich habe sowieso noch nie verstehen können, wie du ihnen so etwas antun kannst!«

Großvater fühlte mit der geschundenen Kreatur wie kein Zweiter, aber gleichzeitig arbeitete es, wie wir wissen, in seinem Kopf unentwegt, und als Folge dieser permanenten Denkarbeit war ihm eines Tages der Einfall gekommen, es doch einmal mit Benzin zu versuchen, und auch wenn es bedauerlich war, dass dabei der Schuppen abgebrannt war, hatten Herbert und er schon beim ersten Einsatz dieser Substanz einen überzeugenden Einblick in deren hohe Zündkraft gewinnen können.

»Ich sehe die Weltrevolution!«, hatte Herbert gebrüllt, als die Flammen den Dachstuhl zum Einsturz brachten. »Völker, hört die Signale!«

Und dann hatten beide aus sicherer Entfernung beobachtet, wie der Schuppen bis auf die Grundfesten herunterbrannte.

»Das wird die Massen in Bewegung setzen«, hatte Herbert gerufen, »das ist so was von sicher, darauf kannst du Gift nehmen!«

Großvater hatte es ein wenig leid um den Schuppen getan. Um die teergetränkten, schwarzen Bretter, um die Spinnweben über all dem Unrat und um das winzige Fenster aus Bruchglas, durch das die Dorfstraße und das Dach des Sägewerkes zu sehen gewesen waren. Beides hatte er natürlich auch nach dem Brand noch sehen können. Aber ohne das Fenster war es nicht das Gleiche gewesen. Durch das Fenster hatten die Straße und das Dach des Sägewerkes wirklicher, präziser gewirkt, durch das Fenster war man sich ihrer Existenz sicherer gewesen. Sein Bedauern über den Verlust des Schuppens hatte Großvater allerdings für sich behalten. Weil es der revolutionären Stimmung des Augenblicks nicht zuträglich gewesen wäre. Schließlich war beiden, Herbert und ihm, klar geworden, dass sie in diesem Moment den Anfang einer Zeitenwende miterlebten. Den Beginn einer gerechteren und besseren Welt. Deswegen hatten sie dann auch eine ganze Weile kein Wort mehr sagen können. Sie hatten nur in das Feuer gestarrt, schweigend, beeindruckt, ergriffen.

Als Erster hatte schließlich Herbert seine Stimme wiedergefunden. »Meine Fresse, kannst du dir vorstellen, wie die sich einscheißen werden? So ein Feuerwerk an der richtigen Stelle, und die kippen um wie die Fliegen!«

»Wer sind die?«, hatte Großvater gefragt.

»Die Bonzen«, hatte Herbert geantwortet, »das Großkapital.«

»Ach die«, hatte Großvater gesagt. »Klar, wer sonst.«

»Eben.« Herbert hatte durch das Starren in die Glut ganz rote Augen bekommen. »Und denen werden wir es zeigen! Die machen wir fertig, gar keine Frage!«

»Na, ich weiß nicht …«, hatte Großvater gemeint.

»Aber ich!«, hatte Herbert geschmettert. »Mach dir keine Gedanken. Vertrau mir einfach, ich habe die Sache im Griff!«

»Klingt gut«, hatte Großvater gesagt. Aber wenn er ehrlich war, hatte es für ihn überhaupt nicht gut geklungen. Kein bisschen, nicht die Spur gut, wenn er sich nichts vormachen wollte.

Trotzdem waren sie, ermutigt vom geglückten Abbrennen des Schuppens, von einer Versuchsreihe zur nächsten übergegangen. Am Ende des Winters, nach gewaltigen Detonationen durch das Beimischen von Düngemittel und Backpulver, hatten sie die Überzeugung gewonnen, die Bombe nicht länger perfektionieren zu müssen.

»Jetzt haben wir, was wir brauchen«, hatte Herbert an einem kalten Abend im März zu Großvater gesagt. »Du solltest dich so schnell wie möglich auf den Weg machen!«

»Ich?«, hatte Großvater gefragt.

»Wer denn sonst? Ich komme dafür nicht infrage! Die Hühner schlachten sich schließlich nicht von selbst! Ich dachte, das wäre klar.«

Herbert hatte breitbeinig vor der Tür des Hühnerstalles gestanden und die Bombe langsam von der rechten in die linke Hand gleiten lassen und dann wieder zurück.

»Und was ist mit meiner Arbeit?«, hatte Großvater ein wenig heftiger, als man es von ihm gewohnt war, eingeworfen.

»Ja, kapierst du das denn nicht?«, hatte Herbert gerufen. »Wenn jeder nur an sich selber denkt, wird das nie was mit der Revolution! Du darfst die große Sache nicht aus den Augen verlieren! Das Erkämpfen des Menschenrechtes!«

»Ach nee«, hatte Großvater gesagt.

»Du solltest stolz darauf sein, es machen zu dürfen!«, hatte ihn Herbert ermuntert.

»Klar«, hatte Großvater gesagt.

»Ich an deiner Stelle wäre unheimlich stolz!«, hatte Herbert bekräftigt.

»Aber sicher«, hatte Großvater gesagt.

»Stolz«, hatte Herbert wiederholt.

»Schon gut!«, hatte Großvater gesagt.

Daraufhin hatte Herbert nur verständnislos den Kopf geschüttelt, Großvater mit riesengroßen Augen angesehen und so etwas gesagt wie: »Denkst du vielleicht auch mal an das Fahrrad?«

Kapitel 2

Das mit dem Fahrrad verhielt sich folgendermaßen: Großvater und Herbert waren befreundet. Schon als Kinder waren sie im Sommer über die gelben Felder gerannt und im Winter über die an den Straßen aufgetürmten Schneehaufen geklettert. Sie hatten Milch in einer Blechkanne von den Bauern geholt und Holz zum Heizen aus dem Wald. Sie hatten gesehen, wie Egon, der Schweinezüchter, Anita geküsst hatte und Anita Anton, den Schreiner, und auch wie Egon Anton geküsst hatte und wie Herr Gerstner, der Besitzer des Sägewerkes, seinen Hund verprügelt hatte, bis der winselte, nur weil Anita ihn nicht küssen wollte. Sie waren beim Begräbnis des Pfarrers und beim Begräbnis des Totengräbers dabei gewesen und auch, als der Schuhmacher tobsüchtig wurde und mit einem Reitstiefel auf seine Frau losgegangen war. Sie hatten nachts das weiße Licht des Mondes auf den Hügeln gesehen und auch, wie der Sturm an einem Nachmittag im Frühling alle Blätter von den Bäumen gerissen hatte. Alles, was es in einem Dorf wie ihrem zu entdecken gab, hatten sie gemeinsam entdeckt. Das war nicht übermäßig viel und, abgesehen vom Begräbnis des Pfarrers und des Totengräbers, wiederholten sich die meisten Begebenheiten mehrmals im Jahr. Deswegen hatten Großvater und Herbert häufig stundenlang gelangweilt auf der Wiese gelegen, über die zum Trocknen aufgehängte Wäsche hinweg in den blauen Himmel gestarrt und von einem Fahrrad geträumt.

»Mit einem Fahrrad könnten wir jetzt sonst wo sein«, hatte Herbert sinniert.

»Ein Fahrrad wäre die Rettung«, hatte Großvater geantwortet.

»Mit einem Fahrrad wäre ich in null Komma nichts weg!«, hatte Herbert weiter ausgeführt.

»Wenn es auf der Welt gerecht zugehen würde, hätten wir längst ein Fahrrad!«, hatte Großvater behauptet.

»Ja, wenn …«, hatte Herbert geseufzt.

Jetzt waren sie fast zwanzig und ein Fahrrad besaßen sie immer noch nicht. Aber es war etwas geschehen, das ihren Traum von einer gerechteren Welt und, damit einhergehend, einem Fahrrad in greifbare Nähe gerückt hatte. Denn eines Tages, Anfang des letzten Sommers, war ein Mann ins Dorf gekommen. Ein Mann auf einem Fahrrad. Er trug eine braune Lederjacke und eine schwarze Elbsegler-Mütze und ein rotes, um seinen Hals geknotetes Tuch, und er bremste sein Fahrrad, indem er bei voller Fahrt sein linkes Bein ausstreckte und in den Boden rammte. Das Fahrrad schleuderte in einem Halbkreis um ihn herum, wirbelte eine helle Staubwolke auf und kam schließlich zum Stehen. Noch nie hatten Herbert und Großvater gesehen, dass jemand so lässig sein Fahrrad gestoppt hatte.

»Meine Fresse!«, rief Herbert. »Der bremst wie Sau, oder?«

Großvater war genauso beeindruckt, vermochte seiner Begeisterung aber nicht so adäquat Ausdruck zu verleihen wie Herbert. Deswegen nickte er nur mehrmals, so lange, bis der Mann in der Lederjacke sein Fahrrad an einen Baum gelehnt hatte, zu ihnen herübergekommen war und »Tag, Genossen« gesagt hatte. Noch während er »Tag, Genossen« sagte, streckte er ihnen übrigens seine rechte Hand entgegen. Es war eine typische Fahrradfahrerhand, die bereits anfing, an einigen Stellen einem Sportlenker zu ähneln.

»Frank mein Name«, sagte er, »Genosse Frank!«

»Herbert«, sagte Herbert.

»Bruno«, sagte Großvater, denn er hieß Bruno, aber Genosse war er nicht, und das sagte er auch.

»Was? Ihr seid noch keine Genossen?«, rief der Mann mit den Sportlenkerhänden. »Das gibt’s doch gar nicht! Na, da wird es aber Zeit! Die Welt bleibt schließlich nicht stehen, Jungs! Wenn ihr den Anschluss nicht verlieren wollt, müsst ihr in die Partei eintreten!«

»Was denn für eine Partei?«, fragte Herbert.

»Ihr lebt hier wirklich hinterm Mond, was?«, fragte Genosse Frank. »In die Kommunistische Partei natürlich, was denn sonst?«

»Klar«, sagte Herbert, »die Kommunistische Partei. Ich bin aber auch ein Esel!«

»Alles halb so schlimm«, sagte Genosse Frank, »in die Partei könnt ihr zu jedem Zeitpunkt eintreten. Aber je schneller ihr euch dazu entschließt, desto besser!«

»Und warum sollten wir das tun?«, fragte Großvater.

»Um die Welt gerechter zu machen!«, rief Genosse Frank und ballte seine Fäuste, so wie er es seinerzeit im Spartakusbund gelernt hatte.

Herbert und Großvater sahen zuerst sich an und dann sahen sie zu Genosse Franks Fahrrad hinüber.

»Gerechter? Was meinen Sie damit?«, fragte Großvater.

»Was werde ich wohl damit meinen? Habt ihr etwa auch noch nichts von Gerechtigkeit gehört? Noch nichts von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Mensch Jungs, nun stellt euch doch nicht so an! Die Kommunistische Partei kämpft für eine Welt, in der alle gleich sind, gleich behandelt werden, gleich viel besitzen –«

»Also kurz gesagt: Fahrräder für alle?«, schlussfolgerte Herbert.

»So ungefähr. Die Lebensverhältnisse werden sich für euch entscheidend verbessern. Dafür steht die KP!«, verkündete Genosse Frank.

»Die KP?«, fragte Großvater.

»Kommunistische Partei«, sagte Genosse Frank.

»Das war doch klar!«, sagte Herbert.

»KP«, sagte Großvater. »Ich möchte wissen, was daran klar ist!«

»Also, was ist nun?«, fragte Genosse Frank. »Wollt ihr nun Mitglieder werden oder nicht?«

»Auf jeden Fall! Die Chance lassen wir uns nicht entgehen!«, rief Herbert.

»Denkst du wirklich?«, gab Großvater zu bedenken.

»Da überlege ich doch nicht lange! Was muss ich tun?«, jubelte Herbert.

Genosse Frank öffnete die oberen Knöpfe seiner Lederjacke und tastete in seiner Innentasche nach einem zusammengefalteten Formular. Als er es gefunden hatte, zog er es behutsam mit Daumen und Zeigefinger heraus. Er bückte sich, legte es auf den Boden und strich ein paar Mal über das Papier, um es zu glätten.

»Da!« Er zeigte auf eine noch unbeschriebene Zeile. »Name, Adresse und Unterschrift, und das war’s auch schon.«

»Mehr nicht?«, fragte Herbert.

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Genosse Frank.

»Stift?«, fragte Herbert.

»Ach ja, richtig«, sagte Genosse Frank, griff noch einmal in die Innentasche seiner Lederjacke, holte einen Füllfederhalter hervor und reichte ihn Herbert. Herbert schraubte den Verschluss ab und schrieb. Name, Adresse, Unterschrift.

»Gratuliere«, sagte Genosse Frank und schüttelte enthusiastisch Herberts Hand. Dann drehte er sich zu Großvater herüber und fragte: »Und was ist mit dir?«

Großvater war etwas unschlüssig. »Ich weiß nicht«, sagte er.

»Liegt dir etwa nichts daran, die Welt gerechter zu machen?«, fragte Genosse Frank.

»Doch, schon, natürlich. Was denn sonst?«, antwortete Großvater. »Das ist doch gar keine Frage!«

»Dann musst du dich der Partei anschließen«, sagte Genosse Frank. »Einer allein kann die Welt nicht verändern. Nur gemeinsam sind wir stark!«

Großvater gefiel es nicht, sich so schnell entscheiden zu müssen. Deswegen blickte er an Genosse Frank vorbei in den blauen Sommerhimmel, presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Genosse Frank ging leicht in die Hocke, beugte sich nach vorn und strich sich mit den Handflächen über die Seiten seiner Oberschenkel. Auf und ab, auf und ab.

»Ja oder nein?«, drängte er. »Ich habe schließlich nicht ewig Zeit!«

»Na los! Nun komm schon!«, rief Herbert.

»Du nervst!«, sagte Großvater.

»Na, was ist nun?«, fragte Genosse Frank.

Großvater zeigte keine Reaktion. Am Himmel, dort, wo er noch immer hinsah, tauchte eine Wolke auf, eine blasse, zigarrenförmige, sich extrem langsam bewegende Wolke. Das machte die Sache nicht leichter.

»Jetzt lass Genosse Frank doch nicht so lange warten! Das ist unhöflich, hörst du?«, gab Herbert zu bedenken.

Da blickte Großvater Herbert unendlich vorwurfsvoll an, zog das Papier zu sich herüber, nahm seinem Freund den Füllfederhalter aus der Hand, seufzte und unterschrieb. Widerwillig und nur, weil er nicht unhöflich sein wollte. So war er eben. Großvater trat aus Höflichkeit in die Kommunistische Partei ein. Das ist die Wahrheit. Alles, was später über seine politischen Anschauungen und Aktionen gesagt wurde, hat damit seinen Anfang genommen. Großvater war aus Höflichkeit Parteimitglied geworden, und Herbert, weil er ein Fahrrad wollte. Aber daran ist nichts ungewöhnlich oder verwerflich. Die meisten Revolutionen, mögen sie mit noch so komplizierten politischen Theorien unterfüttert sein, beruhen auf ganz einfachen menschlichen Eigenschaften wie Habgier und Naivität. Das macht sie so attraktiv für viele. Herbert betrachtete sich übrigens, bereits kurz nachdem er seinen Parteieintritt besiegelt hatte, als Fahrradbesitzer. Und als er wenig später den Hügel zur Straße hinunterging, bewegte er seine Beine auf dieselbe Weise wie Genosse Frank, wenn er in die Pedale trat.

Großvater, in dessen Kopf es, wie wir wissen, unentwegt arbeitete, begann darüber nachzudenken, was nun alles anders werden würde, jetzt, wo sie Genossen waren. Mit seiner Unterschrift hatte er einen Strich unter sein bisheriges Leben gemacht. Keine Frage. Kaum etwas würde so bleiben können wie bisher. Mit seiner Unterschrift hatte er sich verpflichtet, die Welt zu verändern. Das musste er jetzt irgendwie hinkriegen.

Was bin ich nur für ein Idiot, dachte Großvater. Hätte ich doch bloß nicht unterschrieben!

Dafür war es jetzt allerdings zu spät und die zigarrenförmige Wolke über ihm bedeckte mittlerweile die Hälfte des Himmels.

Bevor sich Genosse Frank wieder in den Sattel geschwungen hatte und mit dem Ruf »Das nächste Mal komme ich mit einem Motorrad!« um die nächstbeste Kurve geschossen war, hatte er Großvater und Herbert zwei Parteiausweise und ein Traktat überreicht. Dieses Traktat stellte ein kurzes, auf wenigen Seiten zusammengefasstes, leicht verständliches Kompendium der wichtigsten Regeln des Klassenkampfes dar. Eigentlich wusste man schon nach der Lektüre der ersten Seite alles: Die da oben mussten weg, und die da unten mussten dorthin, wo jetzt die da oben waren. Kampf den Bonzen. Mit allen Mitteln. Vorbereitung und Durchführung der Weltrevolution.

Weltrevolution?, fragten sich Großvater und Herbert. Was denn für eine Weltrevolution? Der Begriff haute sie beinahe um. Als Großvater und Herbert Welt­revolution lasen, hoben sie ihre Köpfe und sahen sich an. Der Begriff faszinierte sie derartig, dass sie ihn mehrmals Silbe für Silbe wiederholten. Welt–re–vo–lu–ti–on. Was für ein Wort! Als Großvater und Herbert zum ersten Mal mit der Weltrevolution konfrontiert wurden, waren sie völlig geplättet. Weltrevolution klang einfach unglaublich. Weltrevolution erzeugte sofort jede Menge Romantik. Man sagte Weltrevolution und schon lief ein ganzer Film voller Abenteuer und leidenschaftlicher Affären vor einem ab. Manchmal kam noch ein bisschen Dschungel dazu. Und ein paar wilde Tiere, Löwen, Schlangen und so. Die Weltrevolution beeindruckte Großvater und Herbert mehr als die Diktatur des Proletariats oder der Historische Materialismus. Die Weltrevolution und das Motorrad, von dem Genosse Frank gesprochen hatte. Beides hörte sich nach etwas Monumentalem an.

Die Begeisterung war ihnen noch anzusehen, als sie von Anita angesprochen wurden, von genau der Anita, die Egon und Anton geküsst hatte und Herrn Gerstner nicht und die sonst nie mit Großvater und Herbert sprach, sie nicht einmal bemerkte, um bei der Wahrheit zu bleiben. Anita war ganz zufällig vorbeigekommen. Aber »ganz zufällig« bedeutete natürlich: aus purer Neugier.

»Wer ist denn dieser gutaussehende Sportler gewesen?«, fragte sie und drehte eine Strähne ihres Haares um ihren Zeigefinger.

»Er heißt Frank und ist KP-Mitglied. Wie wir!«, gab Herbert an.

Anita nahm den Finger aus ihrem Haar, zog ihre Augenbrauen hoch und schaute Herbert direkt ins Gesicht. »Dass ihr in der KP seid, ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit zwischen euch und ihm«, sagte sie und drehte ihren Kopf abrupt zur Seite. »Kommt der auch mal wieder?«

»Klar«, sagte Herbert.

»Schon bald?«, fragte Anita.

»Bestimmt«, sagte Großvater.

»Und wann genau?«, fragte Anita.

»Hat er nicht gesagt«, sagte Herbert.

Der Wind ließ ein trockenes Blatt über die Straße tanzen. Es wirbelte quer über die Fahrbahn, drehte sich um sich selbst, schoss ein Stück nach vorn und wurde vom nächsten Luftzug zurückgetragen. Großvater und Herbert kamen aus dem Staunen nicht heraus. Seit sie in der Kommunistischen Partei waren, lief es einfach großartig für sie. Nicht allein, dass die Welt von nun an gerechter werden und ihnen bald ein Fahrrad gehören würde – auf einmal sprach sogar Anita mit ihnen.

»In die Partei einzutreten war die beste Entscheidung unseres Lebens«, sagte Herbert.

»Abwarten«, sagte Großvater.

»Du wirst schon sehen«, sagte Herbert.

»Oder du«, sagte Großvater.

Das Blatt wirbelte noch immer über die Straße, es hob und senkte sich und schwebte schließlich bis weit hinunter ins Dorf.

»Ihr und die Partei!«, sagte Anita. »Ihr tut ja gerade so, als ob die ein Lotterie-Hauptgewinn wäre!«

»Na und?«, fragte Herbert.

»Ach nichts. Nur so«, sagte Anita.

»Die Revolution ist nicht aufzuhalten!«, rief Herbert.

»Ihr müsst es ja wissen«, sagte Anita.

»Rotfront!«, rief Herbert.

»Das wird mir jetzt aber zu blöd«, sagte Anita, zog ihren Rock straff und stakste quer über die Wiese dorthin zurück, wo sie vor wenigen Minuten hergekommen war.

»Die kapiert es nicht«, sagte Herbert.

»Nee«, sagte Großvater, »die kapiert es wirklich nicht.«

Dann, nach einiger Zeit, als es wirklich Sommer geworden war, hatte in all dem Licht und der Wärme die Weltrevolution ein wenig an Dringlichkeit verloren. Herbert hatte jede Menge Hühner geschlachtet und Großvater war mit der Buchführung des Sägewerks beschäftigt gewesen. Dazwischen hatten sie auf der menschenleeren Dorfstraße Fußball gespielt, und einmal war Herbert mit Gisela ausgegangen, aber bei diesem einen Mal war es geblieben, und weil Herbert nicht gern darüber redete, lag der Schluss nahe, dass es weder Gisela noch ihm besonders gut gefallen hatte. Trotzdem, Sommer war Sommer, und erst als die Tage wieder kürzer wurden, der Himmel sich verfinsterte und die Temperaturen zu sinken begannen, kehrte der Bedarf an einer Neuregelung der Weltordnung in Großvaters und Herberts Universum zurück.

»Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind unerträglich geworden«, konstatierte Herbert eines Abends. Er hatte noch etwas Blut und einige Federn an seiner Hand und versuchte, sie durch heftiges Schütteln loszuwerden.

»Der Kapitalismus fault in seinem letzten Stadium«, bekräftigte Großvater.

»Das ganze ekelerregende System verrottet auf die übelste Weise«, fügte Herbert hinzu und begann, seine Hand an der Hose zu reiben.

»Man kann seine Verwesung förmlich spüren.« Großvater nickte mehrmals, während er einer an ihm vorbeischwebenden Hühnerfeder nachsah.

»Es widert mich an«, sagte Herbert. »Aber das geht nicht mehr lange, verlass dich darauf!«

Sie standen vor einer der Scheunen am Dorfrand und der Oktober zog über die Wiesen und die Kastanien hatten braune Blätter und von Tag zu Tag bedeckten mehr und mehr Spinnweben voller Wassertropfen das Gras.

»Wohin man sieht, das Alte gärt überall. Der Boden für die Revolution ist bereitet!«, sagte Großvater.

»Und wie!«, sagte Herbert.

Mehr fiel ihnen dazu nicht ein.

Kapitel 3

Und dann war es Winter geworden. Der Winter, in dem Großvater und Herbert beschlossen hatten, eine Bombe zu bauen und sie in einer Machtzentrale der herrschenden Klasse detonieren zu lassen. Genosse Franks Besuch lag nun über ein halbes Jahr zurück und es war nichts passiert. Absolut gar nichts. Herbert hatte es satt.

»Wenn ich nicht bald ein Fahrrad bekomme, trete ich aus der Kommunistischen Partei wieder aus!«

Großvater legte ihm die Hand auf die Schulter. Wie bei einem Pferd. »Von nichts kommt nichts«, sagte er, »wir müssen etwas tun, hörst du?«

»Du bist gut«, sagte Herbert. »Was denn?«

Großvater überlegte relativ lange, aber er wusste es auch nicht. Doch dann, auf einmal, fragte er: »Wo ist eigentlich das Traktat?«

»Welches Traktat?«

»Welches Traktat wohl? Na, das von Genosse Frank!«

Sie fanden es und lasen schließlich auch die Seiten vier und fünf, also die Seiten, auf denen nicht nur die Vorzüge der Weltrevolution, sondern auch der Weg dahin beschrieben wurde. Zwangsrequirierung, Kollektivierung, Säuberung, Elektrifizierung, Entkulakisierung, Neutralisierung … Großvater und Herbert schwirrte der Kopf. Sie verstanden nichts, absolut nichts.

Irgendwann war Herbert dann auf die Idee mit der Bombe gekommen. Seiner Ansicht nach wurden die größten Wirkungen generell durch Lärm erzeugende Phänomene erreicht. Gewitter waren ein gutes Beispiel dafür oder der tobsüchtige Schuhmacher. Wenn etwas Krach verursachte, wurde ihm augenblicklich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil. Das war so. Eine Detonation von irgendwas schreckte die Leute mehr auf als alles andere. Dass eine Bombe imstande war, für ordentlich Furore zu sorgen, lag auf der Hand. Wenn es mit einer Bombe nicht funktionierte, womit dann? Allerdings war eine Bombe nun auch kein Spaß mehr. Wo eine Bombe im Spiel war, floss garantiert Blut, und im Gegensatz zu Herbert, der seinen Lebensunterhalt mit Blutvergießen bestritt, war Großvater gegen Gewalt und hielt noch immer das Verbot von Dummheit für die effektivere Methode, die Welt zu verbessern.

»Gerechtigkeit erreicht man nicht durch Ungerechtigkeit«, sagte er.

»Aber die da oben haben schließlich damit angefangen!«, widersprach Herbert, der sein Fahrrad schon wieder in Gefahr sah.

»Das ist noch lange kein Grund, es ihnen nachzumachen«, sagte Großvater.

»Wieso denn nicht?« Herbert griff sich an den Kopf. »Die haben es doch nicht besser verdient! Ich möchte nicht wissen, wie viele Fahrräder die haben!«

»Genosse Frank hat auch eines«, sagte Großvater.

»Das ist doch was anderes!«, brüllte Herbert. »Das weißt du ganz genau!«

Großvater versuchte, Herbert zu beruhigen. »Warte ab, uns fällt schon noch was ein!« Er nahm das Traktat noch einmal in die Hand, blätterte darin herum und tippte nach einer Weile mehrmals mit seinem Zeigefinger auf ein längeres Wort auf Seite vierzehn. »Hier, sieh mal!«, sagte er. »Warum versuchen wir es nicht damit?«

Herbert stellte sich hinter Großvater und blickte über dessen Schulter auf das Traktat. »Agitprop«, las er. »Was soll das denn sein?«

»Keine Ahnung«, sagte Großvater.

»Na, toll«, sagte Herbert.

»Wenn Frank wiederkommt, frage ich ihn«, sagte Großvater und klappte das Traktat zu.

»Bis dahin haben wir die Bombe längst fertig«, meinte Herbert.

Draußen fiel der Schnee so dicht, dass die Baumkronen schon nicht mehr zu erkennen waren, und wenn jemand die Tür öffnete, blies der Wind einen Schwall weißer Flocken bis in die Mitte des Raumes.

»Versteh mich doch«, sagte Großvater, »ich finde es einfach nicht richtig!«

»Weißt du, was ich denke?«, fragte Herbert. »Du bist nur zu feige, es durchzuziehen!«

»Jetzt red nicht so einen Stuss«, sagte Großvater.

»Gib’s doch wenigstens zu!«, sagte Herbert und drehte seinen Kopf von Großvater weg in Richtung Fenster.

»Da gibt’s nichts zuzugeben!«, sagte Großvater.

»Du bist ein Schisser«, sagte Herbert, »was denn sonst?«

»Ich weiß überhaupt nicht, was du auf einmal hast. Bist du auf Streit aus, oder was?«, fragte Großvater.

Herbert antwortete ihm nicht. Er blickte weiter in Richtung Fenster und hörte einfach auf, mit Großvater zu sprechen.

»He, Herbert, ich habe dich was gefragt«, sagte Großvater.

Herbert reagierte nicht. Zehn Minuten oder noch länger sagte er kein einziges Wort.

»Ich muss nach den Hühnern sehen«, murmelte er schließlich und stand auf.

Großvater legte beide Hände auf den Tisch und sah zuerst auf seine Hände und dann zu Herbert hinüber, wie er seine Jacke vom Haken nahm und sie sich anzog und schließlich ohne ein Wort hinausging, die Tür hinter sich zuschlug und hinunter ins Dorf lief, die kaum geräumte Straße zwischen den schneebedeckten Häusern entlang, aus deren Schornsteinen grauer Rauch stieg, grauer, stinkender Rauch, der schon wenige Meter über den Dächern im Frost erstarrte.

Natürlich bauten sie die Bombe. Großvater ertrug es nicht, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen, und schon gar nicht Herbert. Wie gesagt, beide waren Freunde. Großvater baute die Bombe aus Zuneigung zu Herbert. Außerdem hatte er unterschrieben, die Welt besser zu machen, gerechter. Auch dafür musste er etwas tun. Und so kam es zu den Experimenten mit Düngemittel, Backpulver und Benzin, in deren Folge an einem Winterabend der Schuppen abbrannte, und ein Schimmer der Weltrevolution Großvaters und Herberts Dorf erleuchtete.

Kapitel 4

Dann war es wieder Frühling geworden, bereits im März war der ganze Schnee getaut, und der Boden war zerzaust und aufgewühlt, und in den Gräben stand das Regenwasser, und durch das verwelkte Gras des letzten Jahres fuhr knisternd der Wind. An einem sonnigen Morgen Anfang April, als die Tage immer länger und wärmer geworden waren, zog sich Großvater seinen schwarzen Anzug an, band sich die gestreifte Krawatte um, verpackte die Bombe in einen stabilen Koffer und sprang damit in den Dorfbach. Der Dorfbach war das flachste Gewässer im Umkreis von mehreren Kilometern, aber weil Großvater damals noch ein wirklich dünner Hering war, jemand, der nicht einmal sechzig Kilo wog, riss ihn die Strömung mit sich, und viel schneller, als er es jemals gedacht hätte, erreichte er die nächstgrößere Stadt. Natürlich hätte er auch zu Fuß gehen können. Aber das hätte viel zu viel Zeit gekostet. Großvater wollte die Weltverbesserung so schnell wie möglich hinter sich bringen. In ein, zwei Tagen hoffte er wieder zurück zu sein. Ein, zwei Tage hielt er für