Als ich gegen Stalin im Armdrücken gewann - Fredy Gareis - E-Book

Als ich gegen Stalin im Armdrücken gewann E-Book

Fredy Gareis

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Beschreibung

Unterwegs bei unseren östlichen Nachbarn Unterwegs bei unseren östlichen Nachbarn Ein neuer Eiserner Vorhang senkt sich über uns herab. Fredy Gareis reist per Zug und Anhalter an ihm entlang: von Norwegen über Finnland, das Baltikum, Polen, die Slowakei, Ungarn und den Balkan bis in die Türkei. »Fredy Gareis ist ein genauer Beobachter und kluger Interpret. (...) Damit hat er sich endgültig in die erste Reihe der Reiseliteraten hierzulande geschrieben.« Süddeutsche Zeitung Der mehrfach ausgezeichnete Reiseschriftsteller entdeckt bewegte Grenzorte, besucht historische Städte und zeichnet ein ergreifendes Porträt der Menschen, die hier leben. Schreibt über Exilkünstler und Dichterinnen, Journalisten, Aktivistinnen sowie Menschen, die einst um ihre Freiheit kämpften und dem übermächtigen Nachbarn Russland erneut die Stirn bieten müssen. Ein hochaktuelles, berührendes und wichtiges Buch, das uns die Augen für die Schönheit von Europas Osten öffnet – und das uns alle angeht.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mit 72 farbigen Abbildungen und einer Karte

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Fabian Bergmann

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Patrizia Schlosser

Bildteilfotos: Fredy Gareis, außer anders angegeben

Karte: Peter Palm, Berlin

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte von der Reise entlang des neuen Eisernen Vorhangs

Motto

Vorwort

Norwegen – Hinterm Rücken der Welt

Finnland – Mit der Faust in der Tasche

Estland – Der große Graben

Lettland – Das glänzende Juwel der sowjetischen Krone

Litauen – Der nördlichste Süden

Polen – Fürchtet euch nicht

Slowakei – Verlockung des Autoritären

Ungarn – Stalins Stiefel

Rumänien – Das Rumänien-Paradox

Bulgarien – Balkan Blues

Istanbul – Brückentage

Dank

Stimmen gegen Putins Krieg – jeder zeigt seine Solidarität mit der Ukraine auf seine Weise

Bildteil

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Den Standhaften

Karte von der Reise entlang des neuen Eisernen Vorhangs

Motto

»Die Sonne schien voll und stark. Wie ich heimschritt, bemerkte ich mit einemmal vor mir meinen eigenen Schatten, so wie ich den Schatten des anderen Krieges hinter dem jetzigen sah. Er ist durch all diese Zeit nicht mehr von mir gewichen, dieser Schatten, er überhing jeden meiner Gedanken bei Tag und bei Nacht; vielleicht liegt sein dunkler Umriß auch auf manchen Blättern dieses Buches. Aber jeder Schatten ist im letzten doch auch Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.«

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern

Vorwort

Ich schlief unruhig in jener Nacht vor meinem 47. Geburtstag. Die Experten im Fernsehen sagten, er werde schon nicht so blöd sein, das sei nur eine Machtdemonstration. Ich glaubte ihnen nicht. Als ich am Morgen aufwachte und die Nachrichten einschaltete, war Putin in der Ukraine einmarschiert. Was nie wieder hatte sein sollen, was ganze Generationen nur aus den Geschichtsbüchern kannten, war jetzt bittere Realität: ein brutaler Angriffskrieg mitten in Europa, der den Kontinent endgültig in eine neue Teilung treiben würde. Dort, im Osten, die Russen; hier, im Westen, wir. Dazwischen eine Tausende Kilometer lange Grenzlinie – eine Linie, die, wenn Geschichte sich reimt, nur einen Namen tragen kann.

Während sich die Meldungen überschlugen, packte ich für mein Geburtstagswochenende auf dem Peloponnes – drei Tage in einer kleinen Hütte im Nirgendwo mit Blick aufs Meer.

Ich liebe es, mich an meinem Geburtstag auszuklinken, aber jetzt, während wir die 300 Kilometer von Athen auf den dritten Finger der Halbinsel fuhren, war es, als würde alles unter einem unheilvollen Stern stehen. Die Straßen waren ungewöhnlich leer, fast schon ausgestorben – ich hatte den Eindruck, es gebe keinen Sprit mehr im freien Handel. Die Mautstellen wirkten wie Straßensperren. Der Militärhubschrauber, der über uns hinwegflog, brachte wohl irgendwen zu einer Sondersitzung. Statt an grün bewaldete Berge erinnere ich mich an stahlgraue Wolken.

Wieder zurück in Athen, nahm ich zuerst das Wörtchen dawai aus meiner E-Mail-Signatur – die russische Entsprechung für »los, vorwärts!« war eine Reminiszenz an mein Buch 100 Gramm Wodka über die Spurensuche nach meiner Familie in Russland. Mein bester Freund kam mich besuchen. Trotz allem tranken und lachten wir, ebenso wie die feierwütigen Griechen. Wir saßen in einer Weinbar, als die Eilmeldung kam, dass Russland seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Ihm entgleisten die Gesichtszüge. Mir wahrscheinlich auch. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir das einmal erleben werden«, sagte er.

Dann die Flüchtlingsströme, die Debatten, die Positionierungen, die Rufe nach Diplomatie. Die Schlagworte »Zivilisationsbruch« und »Zeitenwende« machten die Runde. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms, wo meine Vorfahren einst gesiedelt hatten, und die Erkenntnis, dass die Vergangenheit, wie William Faulkner sagt, nicht tot ist. Sie ist noch nicht mal vergangen.

Auf meine anfängliche Lähmung folgte Wut. Eine Wut, die mir die Tränen in die Augen trieb, mich die Hände zu Fäusten ballen ließ. Wut über diese »starken« Männer wie Putin und seine Abziehbilder, die unfähig sind, Gärten anzulegen, Brücken zu bauen – und darum dazu verdammt, Blut fließen zu lassen. Ich war aber auch wütend über die ganzen hohlen Phrasen, die in der Öffentlichkeit gedroschen wurden. Man müsse nur mit Putin verhandeln, ihm einen Ausweg bieten, eine Gelegenheit, das Gesicht zu wahren; die NATO werde an der Seite der Ukraine sein, und die EU stehe zusammen, komme da, was wolle.

Allerdings verstehen die meisten unter Europa immer noch Westeuropa. Was aber wissen wir über Lettland, die Slowakei oder Bulgarien? Was wissen wir über die Länder, die an diesem neuen Eisernen Vorhang liegen? Über diejenigen, die heute von einem imperialistischen Russland bedroht sind und schon morgen auch mit Krieg überzogen werden könnten? Und was wissen wir über die Menschen, die dann ebenfalls ihre und unsere Freiheit zu verteidigen haben, so wie heute schon die Ukrainer?

Besser als Viktor, einer der Menschen, die ich auf der Reise traf, von der dieses Buch berichtet, kann man es kaum sagen. »Litauen ist gerade mal ein Land von Deutschland entfernt«, klagte er, »aber deine Landsleute wissen noch nicht mal, welche Sprache wir sprechen.« Dabei haben diese Länder einen reichen Kulturschatz, wunderschöne Landschaften und großartige Menschen, die wesentlich mehr Erfahrung als wir im Umgang mit Russland haben und wissen, was es heißt, unter Besatzung zu leben und für die Freiheit zu kämpfen.

Das Ziel meiner Reise war es, gegen jenes Nichtwissen anzutreten, der westlichen Arroganz etwas entgegenzustellen, mit der viele auf diese Länder schauen, die schon seit gut zwanzig Jahren in der EU und der NATO, aber für viele immer noch Terra incognita sind, gefährlich und arm. Viel zu oft stammen Berichte über sie und die Zeitenwende von Journalistinnen und Journalisten, die in Regierungsmaschinen einfliegen und nach wenigen Stunden wieder verschwinden. Mein Reisebericht soll ein Gegenstück zu diesen Schnellschüssen sein. Ich tauchte tief in die Welt der Menschen ein, die an der östlichen Grenze der EU und der NATO leben. Schlief in billigen Hotels, in Schlafsälen und auf Parkbänken, reiste mit klapprigen Zügen, per Anhalter und marschierte auch immer wieder zu Fuß.

Die Geschichten, die ich aufsammelte, waren traurig, berührend, unbegreiflich – aber auch inspirierend.

Zu der Bedrohung aus dem Osten kamen bald allerdings noch zwei andere schlimme Entwicklungen dazu: eine war persönlich und erschütterte mich in meinen Grundfesten. Die andere kam aus dem Westen. Überall vernahm ich auf der Reise nämlich schon das Raunen, was wohl werden würde, falls Trump es noch mal ins Amt schaffte. So geschah es, und nun haben wir eine doppelte Zeitenwende. Als ich mich auf den Weg begab, machte ich mir keine Vorstellung davon, wie schnell sich die Ereignisse überschlagen würden. Und wie sehr sich die Argumente für ein starkes, emanzipiertes – ja, auch stolzes – Europa seither erhärtet haben.

Leider sehe ich derzeit viele den Kopf in den Sand stecken. Doch wie ich unterwegs gelernt habe von Menschen, die bereits wesentlich Schlimmeres erlebt haben: Die Lage ist ernst – aber nicht hoffnungslos.

Norwegen – Hinterm Rücken der Welt

Russland sieht momentan aus wie Deutschland in den Dreißigern. Bewaffnet bis an die Zähne, mythologisch verklärt und voller Propaganda. Nur noch meine Mutter ist drüben. Sie lebt in einer Parallelwelt.

Lisa, Kirkenes

Nach zwei Tagen auf See gehe ich 500 Kilometer nördlich des Polarkreises im norwegischen Kirkenes von Bord. Ein heulender Wind pfeift durch die Straßen und lässt die Schneeschaufeln klappern, die vor jedem Hauseingang stehen. In Deutschland war alles schon saftig grün, die Bäume trugen schwer an Laub und Blüten, aber hier muss ich die Augen zusammenkneifen, um überhaupt Knospen an den kahlen Ästen erkennen zu können.

Eigentlich hatte ich mich sehr auf die Überfahrt von Tromsø hierher gefreut, aber dann war ich die ganze Zeit seekrank und konnte kaum meine Kabine verlassen. Mit Müh und Not schaffte ich es in den Konferenzraum, um den Erklärungen zur Ausschiffung zu lauschen. Doch statt, wie von mir erwartet, die Passagiere mit Informationen zur nördlichsten NATO-Grenze mit Russland zu versorgen, fasste der junge Angestellte der Postschiffgesellschaft seine Rolle eher als die eines Stand-up-Comedians auf. »Haben Sie von dem Mann gehört, der sein Gepäck vergessen hat?«

Das Publikum, 65 plus und ausgerüstet mit dem Neuesten, was der Funktionskleidungsmarkt zu bieten hat, fand allein schon die Frage zum Brüllen komisch, während ich versuchte, das Frühstück bei mir zu behalten.

Dabei könnte ich einen Lacher gut vertragen, gern auch zwei oder vier. Vor drei Monaten ist mein bester Freund plötzlich verstorben. Wir kannten uns seit zwanzig Jahren. Er war ein wundervoller Mensch, mein engster Vertrauter, der Bruder, den ich nie hatte. Von Anfang an hatte er auch jedes meiner Bücher begleitet, spornte mich an, egal, wie verrückt das Vorhaben war, und half meinem Schaffensprozess immer wieder mit einem Feuerwerk an Ideen auf die Sprünge. Ich war wahnsinnig stolz, ihn zum Freund zu haben.

Es ist der 23. Mai 2024, und vor mir liegen etwa 8000 Kilometer von Kirkenes nach Istanbul, von der Arktis bis an den Bosporus. Meine geplante Route führt entlang des neuen Eisernen Vorhangs, der seit etwa zehn Jahren immer ein Stück weiter herabgelassen wird. Dreieinhalb Monate voller wilder, befremdlicher und inspirierender Begegnungen – doch nicht von einer einzigen werde ich ihm erzählen können.

Zum ersten Mal frage ich mich nicht erst mitten im Unterwegssein, wenn alles anstrengend wird und die Reisemüdigkeit Einzug hält, sondern schon am Anfang: Was mache ich eigentlich hier? Mehr noch: Warum bin ich nicht bei seinem elfjährigen Sohn, meinem Patenkind? Warum versuche ich nicht lieber, diese tief sitzende Trauer zu bewältigen?

Im Konferenzraum des Schiffes schloss der verhinderte Komiker nicht etwa mit der Ankündigung, dass die Grenze zu Russland in zwei Tagen nach jahrelanger Offenheit und Kooperation geschlossen werden solle, sondern er appellierte an die Senioren, nicht zu weinen, wenn sie bei der Ausschiffung ihren fjordverwöhnten Blick auf die Rechnung werfen würden. Da musste ich dann doch lachen.

Während ich nun am Hauptplatz von Kirkenes auf meinen Bus zur Unterkunft warte, stapfen ein paar der Kreuzfahrttouristen mit einem herrlich verwirrten Gesichtsausdruck durch die Gegend, nach dem Motto: Wie, das war’s schon? Ein Büro für Fremdarbeiter. Ein kleiner Supermarkt. Eine Bücherei. Ein Thai-Imbiss. Alles zu. In den kahlen Bäumen hängen Lichterketten, dazu Herzen in den ukrainischen Farben. Ein paar aufgestellte Tafeln informieren über die Politikerin, Dichterin und Fotografin Ellisif Wessel, die das Leben hier Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrer Kamera dokumentierte, als Kirkenes noch ein Walfangweiler war, der aber bald wegen der hiesigen Eisenerzvorkommen zur Bergwerksstadt wurde.

Ich sympathisiere mit den Tagestouristen. »Jwd«, »janz weit draußen«, würde man in Berlin zu diesem Winkel der Welt sagen, hier oben nennt man ihn »Grenseland«. Der Eindruck eines Außenpostens verstärkt sich noch, als ich auf dem Weg zu meiner Unterkunft am Førstevatn-See vorbeikomme, dessen angetaute und aufgebrochene Eisschicht wie frisch aufgeschütteter Asphalt aussieht.

Mein Gastgeber ist ein junger Fluglotse namens Gustav, der seit zwei Jahren in Kirkenes lebt und arbeitet, während Frau und Kind im fast 2000 Kilometer entfernten Oslo geblieben sind. Er wohnt auf einem Hügel hinter der Straße, die nach Finnland führt, inmitten von norwegischen »Hillbillys« und verpflanzten Großstadtgewächsen. Es gebe hier nicht viel zu tun, sagt er. Wandern sei ganz okay, aber ansonsten sei der Ort inzwischen auf die Touristen der Kreuzfahrtschiffe ausgerichtet, die Restaurants maßlos überteuert. Vor nicht allzu langer Zeit erlebte er das noch anders. »Da war immer Russenalarm. Die haben hier Windeln gekauft, und wir haben drüben billigen Sprit getankt.«

Gustav wurde in England zum Fluglotsen ausgebildet, danach kamen Corona und Jobabbau, und seine einzige Chance zu arbeiten war hier am Kirkenes lufthavn, wo nur ein paar Flüge pro Tag landen und starten. Aber trotz der großen Distanz zur Hauptstadt, so stellte Gustav bald fest, ist Kirkenes überhaupt nicht so abgelegen, wie es scheint. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Region immer wieder in den Schlagzeilen, oft mit dem Verweis auf »Putins Schattenkrieg«. Für den Fluglotsen macht sich das zum Beispiel so bemerkbar: »Die Russen stören oft die GPS-Signale. Es ist eine Plage und bedeutet jede Menge Papierkram. Die Piloten sind genervt, und wir müssen dann zur traditionellen Navigation zurück, sprich Funk, Radar und Kompass.«

Hinter dem Varanger Museum, das dieser Grenzregion gewidmet ist, geht es hoch in die Felsen zum Aussichtspunkt Prestefjellet. Wie Augen blicken mir dort kleine Seen entgegen, in denen die Norweger angeblich im Sommer schwimmen. Ich frage mich: Wann genau soll das sein? Schließlich ist es fast Juni und noch nicht mal denkbar, auch nur einen Zeh in das Nass zu stecken. Es herrscht eine Art Zwischenzeit, weder Sommer noch Winter, weder Frieden noch Krieg.

Unter mir liegt diese unscheinbare Stadt, die in ihrer Geschichte zunächst ebenfalls schon »janz weit draußen« gewesen war, nach dem Ersten Weltkrieg aber sukzessive immer weiter in den Fokus rückte. Erst durch die von der Oktoberrevolution 1917 und dem anschließenden Russischen Bürgerkrieg ausgelösten Flüchtlingsströme, dann 1940, als deutsche Truppen bei der Besetzung Norwegens auch in die Ost-Finnmark einmarschierten, in Kirkenes die Reichskriegsflagge hissten und die Region zur »Festung Varanger« ausbauten. Im Sommer 41 begann mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auch der Angriff auf die wichtige Hafenstadt Murmansk. Doch die Deutschen stießen auf großen Widerstand und blieben 45 Kilometer westlich von Murmansk am Fluss Litza in ihren Stellungen stecken.

Schließlich änderten sich die Verhältnisse diametral, die Rote Armee rückte vor. Ständig dröhnte in Kirkenes der Fliegeralarm, die Menschen flohen in die Wälder, zwischen die Felsen, sogar in den Bergwerken nahmen sie Zuflucht. Als am 25. Oktober 1944 die Rote Armee vor den Toren stand, war vom alten Kirkenes nichts mehr übrig, da die Deutschen auf ihrem Rückzug alles in Brand gesteckt hatten.

Unten am Hafen legt ein Schiff ab und teilt langsam das Wasser des Fjords, der zu beiden Seiten noch mit Schnee bedeckt ist. Die Felsen, über die ich laufe, sind mit Flechten überzogen und sehen aus wie die Rücken von Riesengeckos. Hier und da ein paar Feuerstellen und Kriegsruinen. Der Blick nach Süden offenbart noch mehr felsiges Land. Es ist wundersam still hier oben. Die Landschaft würde meiner Liebsten gefallen.

Auf dem Weg hinunter laufe ich durch Matsch, und irgendwas an dem lauten Schmatzen der Schuhe sorgt für ein Lächeln auf meinen Lippen. Vielleicht, weil der Beginn einer solch langen Reise ein bisschen so ist wie der Beginn von Kirkenes ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Zuerst nur eine Kirche auf einer Landzunge (denn das bedeutet sein Name wortwörtlich), dann ein paar Häuser, schließlich Wege, Straßen, natürlich auch die eine oder andere Sackgasse, und bald strömen die Menschen herbei und bevölkern diese Stadt, geben ihr Energie und machen sie zu dem, was sie ist.

Die Sowjetunion war das letzte Imperium Europas. Als es Ende der Achtzigerjahre langsam zerfiel, kam ich gerade in die Pubertät. Meine Familie hatte unter ihren totalitären Herrschern gelitten, ebenso wie Millionen anderer Menschen, die die Sowjetunion unter ihr Joch gezwungen hatte. Überall wurden nun Geschichten über Freiheit, über Unabhängigkeit geschrieben, aber ich war zu jung, zu unreif und interessierte mich vor allem für Geschichten über Lothar Matthäus und wie er uns zur Weltmeisterschaft trieb. Doch am allermeisten fesselten mich die ganzen Fragen, die ich zum Thema Mädchen hatte, auf die es aber scheinbar keine Antwort gab.

Später bereute ich es sehr, in diesen »Jahren der Wunder« nicht älter, nicht vor Ort gewesen zu sein, um zu sehen, wie die Menschen die Fesseln der Fremdherrschaft ablegten und optimistisch einer neuen Ära entgegengingen. Damals war vom Ende der Geschichte die Rede, doch nun scheinen sich die Jahre der Wunder umzukehren. Autokratien sind auf dem Vormarsch, und Kriege gehören wieder zur Tagesordnung. Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine werden Begriffe wie »Verbündete« und »Alliierte« für viele der unmittelbaren Nachbarn an Russlands westlichen Grenzen inflationär gebraucht, aber was wissen wir wirklich davon, wie die Menschen hier oben im nördlichsten Skandinavien ticken, wie sie im Baltikum denken, auf dem Balkan?

Ich will in Erfahrung bringen, wie sie die damalige Zeit erlebt haben, wie sie mit der neuen Situation umgehen und was wir daraus lernen können. Ich will mich mit Menschen treffen, die nach Sibirien deportiert wurden, mit Kommunisten und Kapitalisten, mit Freiheitskämpferinnen, die auf die Barrikaden gingen und gehen, mit Nostalgikern, die die alte Ordnung vermissen, und mit denjenigen, die vor der Herrschaft Putins geflohen sind.

Zu Letzteren zählt Evgeni Goman, 42 Jahre alt, entwaffnendes Lächeln. Ich treffe ihn im Künstlerkollektiv Pikene im Zentrum von Kirkenes. »Zentrum« ist vielleicht etwas hochgegriffen für diese kleine Ecke der Stadt – es sind nur drei, vier Straßen, in denen sich ihr weitläufiges Gebiet etwas verdichtet. Pikene befindet sich in der Dr. Wessels gate, eingerahmt von einer Kneipe, einem Mobiltelefonschuppen und einem Geschenkeladen.

Vor dem Eingang steht ein angemalter norwegischer Grenzpfosten. Er hat einen Namen, »Nummer 32«, und einen eigenen Instagramkanal. Es ist ein Projekt von Evgeni, so bin ich auf ihn gekommen. Nummer 32 sorgt nämlich für einigen Unmut in der Stadt. Manche heften ukrainische Herzen dran, andere russische Aufkleber, wiederum andere schaffen den Pfosten nachts einfach fort. Evgeni ist der Meinung, genau das sei die Aufgabe von Kunst: Diskussion, Debatten und, ja, auch Streit zu erzeugen.

»Ich denke«, antwortet er auf meine Frage nach dem Leben hier oben, »jeder hat ein anderes Bild vom Norden, aber für mich ist es hauptsächlich Geografie. Und natürlich das Klima, das Licht. Im Winter fast keines, im Sommer zu viel. Wilde Temperaturen, spärliche Besiedlung, albtraumhafte Logistik. Und es ist verdammt teuer. Aber auf der anderen Seite ist das hier eine ganz besondere Gegend. Jede Menge Fisch, Elchfleisch, die ganzen Beeren und Pilze.

Auch das macht einen Teil der Identität aus. Im Norden zu sein heißt für mich auch, fähig zu sein, Freude weitab von den Orten zu finden, wo das geistige und kulturelle Leben konzentriert ist, wie in den großen Städten. Wenn man hier Kunst und Kultur machen will, muss man sich richtig anstrengen, du musst Leute einladen, musst hart an einem Netzwerk arbeiten.«

Pikene wurde 1996 von fünf Frauen gegründet, die etwas Neues machen wollten. Damals hatte das Bergwerk, der größte Arbeitgeber der Region, dichtgemacht. Eine große Depression legte sich über Kirkenes. Gleichzeitig aber ging der Eiserne Vorhang mehr und mehr auf, bis er schließlich ganz verschwunden war. Plötzlich war Kirkenes nicht mehr Peripherie, sondern die Mitte der Barentsregion, also spuckten sie in die Hände und bauten Brücken der Kultur nach Russland.

Die Brücken waren schön und vielversprechend, aber inzwischen brennen sie. Einen Monat bevor Putin sie in Brand setzte, flüchtete Evgeni aus Murmansk und lebt nun mit Frau und zwei Kindern hier in Kirkenes im Exil. Neben individuellen Projekten wie dem Grenzpfosten arbeitet er auch als Theaterregisseur an einer Produktion mit Immigranten.

Sechzig, siebzig Nationalitäten leben in Kirkenes, unter anderem Menschen aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan und Iran. »Es geht darum, sich selbst zu finden, sich eine Identität zu bewahren oder zu schaffen, wenn man plötzlich von allem abgeschnitten ist«, erklärt Evgeni. »So wie ich mit 42. Ich bin hier angekommen und war ein Niemand.« In Russland war er vor seiner Flucht Kulturminister des Oblast Murmansk.

Evgeni ist ein Kind des Umbruchs, der Wendezeit in Russland, als noch keiner ahnen konnte, wohin die Reise geht. Mit fünfzehn verbrachte er längere Zeit in den USA – ein Austauschprogramm für Demokratieförderung – und traf auf einer Veranstaltung in Kentucky den letzten Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. »Ich himmelte ihn an. Aber meine Eltern sahen das ganz anders. Für sie war er verantwortlich für die Destabilisierung des Landes. Ständig sanken die Löhne, und bald hatten meine Eltern keine Arbeit mehr. Beide waren Musiker. Ihre einzige Möglichkeit zu jener Zeit war die Rüstungsindustrie. Meine Mutter machte Torpedos sauber, und die Chemikalien, die sie dafür benutzte, ruinierten ihre schönen Hände. Aber während meine Eltern kämpften und Probleme hatten, war ich trotzdem voller Hoffnung, dass Russland ein großartiges Land werden würde. Deswegen kehrte ich auch aus den USA zurück.«

Als Putin an die Macht kam, war Evgeni an der Universität, studierte Sprachen, reiste, spielte Theater. »Damals musstest du nur irgendwo ein Plakat aufhängen, und es kamen 700 Leute. Heute kannst du tausend Plakate machen, und wenn du Glück hast, kommen 200. Es war eine andere Zeit. Voller Hunger und Optimismus – und ich war jung.«

Erst gegen 2012 bekam er das Gefühl, dass ein paar Dinge falsch liefen: stärkere Zensur, schwächere Menschenrechte. »Aber ich habe nicht so richtig darauf geachtet. Es war ein schleichender Prozess. Mit dreißig hatte ich mein eigenes Theater in Moskau, und wir durften machen, was wir wollten. Aber nach und nach wurde klar, dass man nicht über alles offen reden konnte, dass manche Themen gefährlicher als andere waren. Ich wurde immer enttäuschter über die Richtung, in die Putin Russland führte. Keiner fragte, wo es eigentlich hingehen sollte.«

Den Ausschlag gaben aber die Ausschreitungen 2010 in Moskau. Nachdem ein Fußballfan umgebracht worden war, gingen die Fans auf die Straße. Daraus wurde ein Politikum. »Auch in Murmansk wollten Jugendliche in Solidarität protestieren, aber mein Boss sagte, ich solle das auf jeden Fall verhindern, sonst gäb’s Ärger. Da waren zwölf Jugendliche. Sie hatten noch nicht mal Banner oder Plakate oder so was, einfach eine kleine Ansammlung von Teenagern. Aber die Polizei kam mit fünf Autos, einem gepanzerten Bus mit dreißig Mann, voll ausgerüstet, inklusive Maschinengewehre. Und dann schaue ich hoch, und was sehe ich auf den Dächern? Scharfschützen. Scharfschützen! Und das nur, weil ein paar Jugendliche demonstrieren wollten. Als ich sah, wie diese Scharfschützen die Teenager ins Visier nahmen, da wusste ich, dass es aus dem Ruder läuft. Und dann wurde es von Jahr zu Jahr schlimmer.«

Auch der Posten des regionalen Kulturministers in Murmansk konnte ihn nicht mehr im Land halten. Im Gegenteil: Jetzt sah er aus nächster Nähe, wie groß die Korruption war und dass alle Entscheidungen über den Präsidenten liefen.

Im Januar 2022 kam Evgeni in Kirkenes an. Einen Monat später startete das jährlich vom Künstlerkollektiv veranstaltete Barents Spektakel, ein Festival, das immer im kältesten Monat des Jahres stattfindet. Es war kurz nach Corona, die Restriktionen waren endlich aufgehoben worden, und nun sollten die durch die Pandemie stillgelegten Brücken wieder genutzt, die Kooperation mit Russland wieder aufgenommen werden. Zur Eröffnung gab es ein großes Feuerwerk.

»Am nächsten Morgen wachten wir auf, und der Krieg in der Ukraine hatte begonnen. Das Festival hatte jedoch noch vier Tage vor sich, und ein Großteil des Programms ist mit Russland verbunden. Wir mussten schnell entscheiden: Machen wir mit dem Festival weiter oder nicht? Und damit auch: Setzen wir die Zusammenarbeit mit Russland generell fort?

Ich glaube, es dauerte etwa eine halbe Stunde, dann war klar, dass wir weitermachen müssen, denn wie ein Freund von mir sagt: Alle Probleme entstehen durch mangelnde, schlechte Kommunikation, kommunikacia katastrofa. Wir dachten also, wenn wir die Kommunikation mit Russland und insbesondere mit unabhängigen russischen Künstlern abbrechen, lösen wir gar nichts.

Am letzten Tag hatten wir ein russisch-norwegisches Projekt am Pasvik, der Russland und Norwegen trennt. Die Grenze verläuft mitten im Fluss. Die Idee war, einen Lautsprecher auf der norwegischen und einen auf der russischen Seite zu platzieren und Signale hin- und herzuschicken, um eine nonverbale Kommunikation mit Tönen zu führen. Das norwegische Signal war das Nebelhorn eines Schiffs, das russische sollten die Luftsirenen aus dem Zweiten Weltkrieg sein.

Am Tag der Aufführung, als der Ukrainekrieg schon seit drei Tagen tobte, brachten wir die Ausrüstung zur norwegischen Seite. Dann erhielten wir von unseren russischen Partnern die Nachricht, dass sie von den örtlichen Behörden festgehalten wurden. Ihnen wurde gesagt, sie dürften das Projekt nicht fortsetzen und die Ausrüstung nicht ans Ufer bringen, da angeblich ein Schneesturm aufziehen würde. Auf unserer Seite war jedoch kein Schneesturm.

Da wir die Verbindung verloren hatten, wussten wir nicht, ob sie es schaffen würden, die russischen Behörden zu überzeugen. Wir entschieden uns, auf unserer Seite weiterzumachen. Die Entfernung zum anderen Ufer beträgt einen Kilometer, und man kann dort nichts Menschliches erkennen – nur Bäume. Wir schickten das Signal über die gefrorene Flussfläche und warteten auf eine Antwort, aber es kam keine. Wir sendeten ein zweites Signal; das Horn war sehr kraftvoll, tief und eindringlich. Doch wieder kam keine Antwort. Ein drittes Signal, aber erneut keine Reaktion. Schließlich brachen wir ab und gingen.

Später erhielten wir von unseren russischen Freunden die Nachricht, dass sie es zwar geschafft hatten, sich loszureißen, aber die Ausrüstung nicht ans Ufer bringen konnten. Sie standen auf der anderen Seite und hörten unser Signal, waren jedoch nicht in der Lage zu antworten. Stattdessen riefen sie zurück. Wir haben eine Videoaufnahme davon – das war beeindruckend.

Ich finde, das ist eine starke Metapher: Auf der anderen Seite des Flusses, über die Grenze hinweg, gibt es unabhängige, demokratische Stimmen, die versuchen, etwas zu sagen, aber wir hören sie nicht, weil ihnen die Mittel fehlen, die Botschaft zu senden. Wir haben diese Metapher seither verwendet, besonders im ersten Jahr des Krieges, um den nationalen Behörden und der internationalen Gemeinschaft zu erklären, warum wir weiterhin mit Russland kooperieren. Wir wissen, dass es dort Menschen gibt, die diese Zusammenarbeit brauchen und sich ein anderes Russland wünschen.«

Die Busse des öffentlichen Nahverkehrs sind gelb, blitzsauber, mit USB-Anschlüssen ausgestattet, und die Tickets können über eine mehrsprachige App gekauft werden. Der Busfahrer ist allerdings genauso schlecht gelaunt wie die Kollegen in Deutschland. Irgendwie auch schön, wenn manche Sachen einfach überall gleich sind.

Wir geraten aneinander, als ich ihm auf dem Handy mein Ticket zeige, er es aber nicht lesen kann, weswegen ich mein Display heller stelle. Er vermag es aber immer noch nicht zu lesen, schüttelt verärgert den Kopf. Ich zucke mit den Schultern. Schließlich raunzt er, und dabei zittert sein weißer Schnauzer: »Sehe ich etwa aus wie ein Computer?« Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen, er hat Probleme mit dem QR-Code. Hätte er aber auch einfach sagen können.

Auf dem Weg zur Grenzstation Storskog werden die Orte immer kleiner. Im Bus befinden sich nur Kinder. Eines nach dem anderen wird in den letzten Weilern vor der Grenze abgesetzt, hüpft raus, Ranzen auf dem Rücken, und verschwindet im nordnorwegischen Nirgendwo.

Am Ende der vierzehn Kilometer langen Strecke steige ich als Letzter aus und schaue mich um. Der Himmel ist grau und schwer; es fühlt sich an, als wäre es fünfzehn Uhr an einem Wintertag und würde gleich dunkel werden. Dabei regiert seit dem 17. Mai die Mitternachtssonne.

Es herrscht so gut wie kein Verkehr. In einer Senke neben der Straße hinter zwei Tannen befindet sich eine Holzhütte, ein Souvenirladen, der aber leider geschlossen ist. Von einem Fahnenmast weht die ukrainische Flagge, auf dem Boden liegt ein rotes Boot, den Rumpf zum Himmel gedreht. Im Schaufenster ein wilder Mix aus Matrioschkas, Norwegersocken und Aufklebern mit Kalauern auf – ausgerechnet – Deutsch: »Jeder Dritte, der sich beschwert, wird erschossen. Zwei waren schon da.«

Morgen wird die Grenze ganz zu sein. Ein paar norwegische Soldaten fahren in einem Jeep an mir vorbei, die lange Antenne biegt sich im Fahrtwind. Die Auswirkungen des Ukrainekriegs sind nicht das erste Mal, dass die Wellen des Weltgeschehens an den kleinen Grenzübergang schlagen und er es in die internationalen Schlagzeilen schafft.

Im Jahr 2015 wurde Kirkenes ein Transitpunkt für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die Route galt als sichere Alternative zu der übers Mittelmeer. Allerdings kamen die Flüchtlinge hier mit Fahrrädern an. Norwegisches Recht erlaubt keine Fußgängerüberquerung, während Russland keine Grenzpassage für motorisierte Transporte von Flüchtlingen zulässt. Im August 2015 überquerten 420 Flüchtlinge die Grenze, später waren es wöchentlich 500, und bald gab es Berge aus zurückgelassenen Fahrrädern, von denen man sich ein paar im örtlichen Museum anschauen kann. Sie haben keine Bremsen, weswegen sie aus dem Verkehr gezogen wurden, und sehen aus, als wären sie noch in einem Kombinat in der Sowjetunion gebaut worden.

Im September 2022, als Putin die Mobilmachung anordnete, strömten dann innerhalb weniger Tage 2000 bis 3000 junge Russen nach Kirkenes, um der Einberufung zu entgehen, blieben jedoch auch nicht, sondern reisten ebenfalls weiter in verschiedene west- oder südeuropäische Länder.

Es fängt an zu regnen. Ich frage mich, ob der Bus noch mal kommen wird. Ein Taxi ist hier nämlich sicherlich nicht aufzutreiben. Er kommt tatsächlich, aber leider ist es wieder Kollege Zitternder Schnauzer.

Wir fahren los. Ich bin zunächst wieder der einzige Passagier und bilde mir ein, dass er mich im Rückspiegel taxiert. Als ich ein paar Kilometer weiter zum ersten Mal im Leben Rentiere sehe, direkt neben der Straße, habe ich trotzdem den Impuls, ihn darauf aufmerksam zu machen und den Augenblick mit ihm zu teilen, so schön und majestätisch sehen die Tiere aus.

Über Bjørnevaten fahre ich zurück zu meiner Unterkunft. Im Bus sitzen mittlerweile lauter russisch sprechende Menschen. Hinter dem Ort ragt der Tagebau wie ein Mahnmal in den Himmel. Zu Hochzeiten wurden hier 5,5 Millionen Tonnen Eisenerz pro Jahr gefördert.

Die Haltestelle am Supermarkt ist kein normales Wartehäuschen, sondern die Schaufel eines Baggers. Angeblich haben Jugendliche die alte Haltestelle zerstört. Was sollen sie hier auch sonst machen? Jeden Abend sehe ich sie an der Essotankstelle um die Ecke meiner Unterkunft, wie sie Energydrinks schlürfen, Fritten teilen und aufs Handy schauen. Ob einer von ihnen Fischer werden wird? Damit lässt sich in kurzer Zeit gutes Geld verdienen, aber das Leben ist unstet. Auf ihren kleinen Bildschirmen sehen sie wahrscheinlich die Verlockungen eines anderen, bequemeren Daseins, sehen Orte, wo sich die Lebensfreude konzentriert.

Zurück in Kirkenes, treibt mir der Besuch im Supermarkt zum wiederholten Male die Tränen in die Augen. Gurken für den Preis eines chinesischen Kleinwagens, Tomaten so teuer wie eine Wärmepumpe. Als ich mir in der Küche mein Abendessen zubereite, das aus drei Gängen Müsliriegel besteht, bemerkt Gustav, einen Malerpinsel in der Hand: »Den Job des Reiseschriftstellers hab ich mir irgendwie glamouröser vorgestellt.« Ich kann ihn kaum hören, weil die Müsliriegel so laut in meinen Ohren krachen. Lecker.

Gustav will mir die neue Farbe zeigen, mit der er gerade sein Schlafzimmer streicht. Das Schwarz sei ihm zu depressiv gewesen, Zeit für was Neues, und er würde gern damit fertig sein, bevor seine Frau zum nächsten Besuch kommt, vielleicht ist sie ja diesmal davon zu überzeugen, die Hauptstadt gegen Kirkenes einzutauschen. Aber als ich in seinem Schlafzimmer stehe, kann ich überhaupt keinen Unterschied erkennen, egal, wie sehr Gustav darauf besteht, dass die neue Farbe Coastal Blue sei.

Der Barents Observer befindet sich in einem vierstöckigen braunen Gebäude in der Innenstadt, ein paar Fußminuten vom Künstlerkollektiv Pikene entfernt. Obwohl die Zeitung auf der Schwarzen Liste der russischen Behörden steht, kann ich zu meiner Überraschung einfach reinspazieren. »Wir könnten uns gegen einen Angriff sowieso nicht verteidigen«, sagt der Journalist Thomas Nielson. »Also machen wir es genau umgekehrt. Wir machen uns nackt. Darin liegt Stärke.«

Mit seinen paar Büroräumen und wenigen Angestellten mag der Barents Observer wie ein Lokalblatt erscheinen, aber tatsächlich ist er eine Zeitung mit globaler Reichweite. Seit Beginn publiziert er nur auf Englisch und Russisch, die Inhalte sind frei zugänglich, das Unternehmen gehört den Journalisten selbst. Gegründet wurde der Observer 2002, als man noch glaubte, dass sich in Russland eine Demokratie entwickeln würde. »Wir setzten große Hoffnungen in die grenzübergreifende Kooperation«, sagt Nielson, »und unsere Erfahrung mit den Menschen auf der russischen Seite war, dass sie ebenso große Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung, Freundschaft, Liebe, Kultur und Kontakte hatten – also alles, was während des Kalten Krieges gefehlt hat.«

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die »Roten« noch gefeiert und Stalin als »one hell of a guy« bezeichnet. Doch der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion, der sich schon während des gemeinsamen Kampfes gegen die Nazis angekündigt hatte, verschärfte sich schnell und mündete in den Kalten Krieg. Über Osteuropa senkte sich der Eiserne Vorhang, die meisten Länder des Westens traten der NATO bei.

Nach der deutschen Besatzung war Norwegen ziemlich skeptisch, was das Konzept der Neutralität anging, und schaute wie viele andere auch mit Entsetzen darauf, was die Sowjets in Osteuropa trieben. Eine Invasion von Osten her schien möglich, und deswegen wurde Norwegen eines der Gründungsmitglieder des nordatlantischen Bündnisses, während sich die Sowjetunion auf der benachbarten Kola-Halbinsel nach und nach bis an die Zähne bewaffnete. Die eisfreien Häfen beherbergten die Nördliche Flotte mit sieben Marinebasen, mehreren Werften, Luftwaffenstützpunkten und Rüstungsbetrieben. Fast zwei Drittel des sowjetischen Nukleararsenals befand sich auf dieser Halbinsel, alleine 200 U-Boote waren dort stationiert.

Aufgrund seiner strategischen Lage wurde Nordnorwegen als die erste NATO-Verteidigungslinie gegen die Sowjetunion entwickelt. Die Regierung schwor die Bevölkerung auf Vorbereitung ein und verteilte Benzinlager, Waffen und andere militärische Ausrüstung übers Land, oft versteckt in Garagen, Lagerhallen und den typischen roten Holzhütten.

In Thomas Nielsons Büro stehen auf einem Aktenschrank vier alte Wählscheibentelefone, ein silberner Samowar, eine Europaflagge sowie ein Porträt von Michail Gorbatschow, der ernst in die Kamera schaut. Nielson ist seit 2009 beim Observer. Seit seiner Berichterstattung über den Anschluss der Krim gilt er in Russland als Persona non grata. Nielson ist ein freundlicher und sanfter Kerl, aber wenn es um Russland geht, redet er nicht um den heißen Brei herum, sondern spricht klar und deutlich von Krieg und imperialistischer Expansion.

Auf meine Frage, wann für ihn der Wendepunkt in der russischen Politik erfolgt sei, nennt er das Kursk-Desaster im Jahr 2000. Damals sank das Atom-U-Boot dieses Namens, die große, echte Version jenes Modells neben seinem Schreibtisch, während einer Übung in der Barentssee nach der verheerenden Explosion eines defekten Torpedos. Alle 118 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Die Tragödie löste international Kritik an der langsamen, geheimniskrämerischen Reaktion der russischen Regierung aus und legte den Zerfall der Streitkräfte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion offen.

»Da hat Putin kapiert, welche Macht die Medien haben«, sagt Nielson. »Und dann hat er seinen großen Angriff auf die Presse gestartet. Aber das war nur der Anfang. 2012 gab es neue Mediengesetze, die die Freiheit der Presse beschränkten. Kurz darauf merkten wir, dass uns der FSB, der russische Geheimdienst, auf unseren Reisen verfolgte, Aufnahmen machte und dergleichen. Am Ende ging es dann aber nicht um uns, sondern um die Leute, mit denen wir uns trafen.«

Eine Weile unterhalten wir uns über die bevorstehende Grenzschließung, dann frage ich Nielson nach einem Ausblick.

»Ich war viel in Russland unterwegs, und wenn ich eines gelernt habe, dann, keine Vorhersagen zu treffen. Jedes Mal, wenn ich das versucht habe, lag ich falsch. Ich erinnere mich, dass ich 1990 nach Sibirien reiste – sechs Wochen lang, per Boot von Nowosibirsk bis zum Arktischen Ozean über den Ob-Fluss. Wir waren eine fantastische Gruppe junger Leute, Teenager aus Russland, Norwegen, Finnland und dem Westen, und wir führten viele politische Diskussionen. Es war die Zeit von Perestroika und Glasnost. Aber an keinem einzigen Tag haben wir über den Zusammenbruch der Sowjetunion gesprochen. Und ein paar Jahre später, als unter Boris Jelzin das Chaos herrschte – mit Alkoholismus, Armut und Anarchie –, da glaubte keiner, dass Russland bald eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt werden würde.

Aber so war das in den 2000ern, da erlebte Russland diesen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, größer als in Indien oder Brasilien oder den anderen BRIC-Staaten. Wer hätte damals gedacht, dass es sich in eine totalitäre Richtung bewegen würde? Niemand. Alle dachten, gerade hier an der Grenze, dass eine europäische Integration Russlands, Frieden und Abrüstung bevorstehen würden. Wir waren optimistisch. Doch plötzlich stellten wir fest, dass dies mit Putin nicht passieren würde. Aber wer hätte einen groß angelegten Krieg in der Ukraine vorhersehen können? Russland ist einfach unberechenbar.«

Dann steht Nielson auf und sagt, er möchte mich zwei Exiljournalisten vorstellen, die nach ihrer Flucht beim Observer untergekommen sind. Während ich mich selbst erhebe, um ihm zu folgen, fällt mir ein, dass ich ihn noch nach seiner Meinung zu Evgenis Kunstprojekt, dem Grenzpfosten, fragen wollte.

»Ist das der in der Fußgängerzone? Ich halte ihn für unnötig. Es ist ein Symbol, das Spannungen schafft, weil Leute immer wieder versuchen, ihn zu entfernen, und er ständig erneuert werden muss. Das hat Konflikte hervorgerufen, und ich denke, wir sollten alles tun, um Spannungen zu vermeiden. Angesichts der aktuellen Situation, in der das Land, das er repräsentiert, Grenzen mit Gewalt verschiebt, Menschen tötet und ein Imperium ausdehnen will, gehört der Pfosten nicht in eine Fußgängerzone, wo er als Kunstwerk missverstanden werden kann.«

Die beiden Exiljournalisten sitzen in einem Büro auf der anderen Seite der Etage. Lisa aktualisiert einen Artikel, den sie über das Kaufverhalten ihrer Landsleute hier in Kirkenes geschrieben hat. Jahrelang kamen diese zum Einkaufen herüber. Manche bauten sich auf diese Weise sogar ein kleines Geschäft auf, indem sie die Waren hinter der Grenze zu teureren Preisen verkauften. In den vergangenen Tagen wurden noch mal die Einkaufswagen vollgeladen mit Krabbenstäbchen, Käse, Kondensmilch, Schokolade, Nüssen – und Ketchup. Ketchup? Ja, Ketchup. Eine Frau aus Murmansk, die zweimal die Woche in Kirkenes einkaufte, erzählte Lisa: »Dieses Ketchup ist viel besser als das russische, aber in Murmansk kann man es nirgends kaufen. In Russland ist das Ketchup nur eine sehr flüssige Paste. Wenn sie die Grenze schließen, müssen wir uns anpassen und geschmackloses Zeug essen.«

Ich muss lachen. Aber gleichzeitig wissen wir beide, dass es traurig ist. Ein anderer Käufer erzählte Lisa, dass er Angst habe, was die Isolation mit ihnen machen werde, dass es bald wie in einem Gefängnis sein werde, eigentlich wieder wie in der UdSSR, und dafür gebe es nur ein Wort: Scheiße.

»Russland ist erledigt«, sagt Lisa. Sie kommt aus Moskau und hat sieben Jahre lang für die BBC gearbeitet, jetzt ist sie hier im Exil wie ihr Kollege Denis, der vor dem Einberufungsbefehl geflüchtet ist. Sie ist zornig, wütend und nimmt mit Blick auf ihre Heimat kein Blatt vor den Mund: »Russland sieht momentan aus wie Deutschland in den Dreißigern. Bewaffnet bis an die Zähne, mythologisch verklärt und voller Propaganda. Alle meine Freunde sind weg. Nur noch meine Mutter ist drüben. Sie glaubt die Propaganda und lebt in einer Parallelwelt, und das ist ein Problem, das nicht nur ich, sondern Tausende von Menschen haben: dass sie nicht mehr mit ihren Eltern reden können.«

Lisa erzählt mir, wie schwierig es war, in Russland unabhängig zu arbeiten, zu berichten. Dass jede Kritik am Kurs Ärger nach sich zog, dass sie als ausländische Agentin bezeichnet wurde, dass niemand mehr sich traut, den Mund aufzumachen, ein Interview zu geben, ein ehrliches Gespräch in der Öffentlichkeit zu führen. »Das Regime hat den Begriff des Patriotismus vollkommen für sich vereinnahmt. Die Menschen, die über Russlands Probleme reden, die Politik kritisieren, sind jetzt automatisch keine Patrioten. Das Narrativ lautet: Wenn du Putin kritisierst, dann hasst du Russland, und wenn du Russland hasst, dann bist du kein Patriot. Aber ich glaube, dass die Menschen, die für ihre Meinung sterben, wie Nawalny zum Beispiel, die wahren Patrioten sind.«

Sie vergleicht die unheilige Vermählung von christlich-orthodoxer Theologie und militärischem Nationalismus im heutigen Russland mit der Nazizeit. Der US-Historiker Timothy Snyder nennt das die »Politik der Ewigkeit«. »Aber der Unterschied zu den Dreißigern und Vierzigern ist«, so Lisa weiter, »dass es damals kein Internet gab. Eine ganze Menge Russen haben Zugang, trotz der Blockaden, trotz der Verbote. Also vielleicht wird uns das ein bisschen dabei helfen, um aus dieser Hölle wieder rauszukommen. Gleichzeitig kann dich das Regime aber auch in den sozialen Medien festnageln, und hinzu kommt, dass die vielen Propagandisten ebenfalls diese Möglichkeiten nutzen, um ihren Bullshit zu verbreiten.«

Tatsächlich sind Propaganda und Desinformation heute in einem Maßstab möglich, dass Stalin sich neidisch im Grab umdrehen würde. Man muss noch nicht mal das Feindesland physisch betreten. Es genügen mehrere Trollfarmen auf heimischem Boden, die ihre Propaganda in Sekundenschnelle durch die sozialen Medien jagen können. Bei gleichzeitiger Erosion von Bildung, Medienkompetenz und einer Krise des Journalismus ist das eine Mischung mit Sprengstoffpotenzial.

Lisa und Denis sagen übereinstimmend: »Wir können nicht mehr zurück. Es muss einen großen Wandel geben, bevor wir überhaupt nur dran denken.« Selbst wenn der Krieg vorbei wäre, stünde es nicht viel besser, viele Probleme würden dann erst anfangen. »Die ganzen Soldaten, die nach Hause kommen und ihre Traumata und Gewalt mitbringen. So wie nach Afghanistan, so wie nach Vietnam. Und nehmen wir an, Putin stirbt. Was ist denn nach Stalin passiert? Da ging das elende Spiel auch noch 37 Jahre weiter.«

Vom Fenster ihres Büros geht der Blick auf die Werkstatthalle von Kimek, einer Firma für Schiffsreparatur und -umbau, auf die Überreste des Bergbauunternehmens Sydvaranger, auf kleine Häuser und viel Nichts.

»Eine Metropole ist das hier nicht gerade«, bemerke ich.

Lisa nickt. »Ich bin ein Großstadtmensch. Man braucht echt warme Klamotten hier, warme Schuhe, jede Menge Schichten. Inzwischen habe ich ein Auto, und damit wird alles etwas einfacher. Und ich habe das Wandern für mich entdeckt. Hinter meiner Wohnung fängt direkt ein Wanderweg an, und dann bin ich einfach in der Natur. Ich glaube, eine Menge Menschen in der Großstadt würden mich darum beneiden. Es ist ein Abenteuer. Kirkenes ist das genaue Gegenteil von Moskau.« Sie macht eine kurze Pause und fügt dann hinzu: »Ich vermisse es fast gar nicht.«

Wieder draußen, springe ich über eine große Pfütze, die im Rhythmus des Verkehrs zittert, und mache mich auf den Weg zu meiner Unterkunft, um für Finnland zu packen. Ich laufe vorbei an der weißen Kirche, vor der ein Kastenwagen geparkt ist, komplett in ukrainischen Farben lackiert, samt dem Spruch »Stop War, Stop Putin«. Ein paar Meter weiter befindet sich die Andersgrotta, ein historischer Luftschutzbunker, dessen Eingang inmitten von Wohnhäusern liegt. Die »Grotte« ist tief in den Fels gebaut und bot bei den Fliegerangriffen im Zweiten Weltkrieg Platz für 2500 Menschen. Man kann sie sich heute nach Voranmeldung im Rahmen einer Führung anschauen.

Während ich auf meinen Bus warte, denke ich über die Exilanten Evgeni, Lisa und Denis nach, die ihre Heimat verloren haben und noch nicht mal mehr mit ihren engsten Verwandten offen und ehrlich über die Situation reden können. Die sich einen neuen Platz in der Welt suchen müssen, und vielleicht ist das noch viel schwerer, wenn die Heimat wie hier in Kirkenes in Sichtweite ist.

Finnland – Mit der Faust in der Tasche

Wir sind ein Land mit fünf Millionen Menschen, wir wollen keinen Krieg, und wir würden einen Krieg mit Russland nicht gewinnen. Aber wir haben eine Lebensweise, die uns lieb und teuer ist, und wir sollten bereit sein, all das zu verteidigen. Vermeide Krieg um jeden Preis, aber sei vorbereitet und schlafe mit einem offenen Auge.

Seppo, Helsinki

Da es von Kirkenes weder einen Bus mit Kollege Zitterndem Schnauzer hinterm Steuer noch einen Zug nach Finnland gibt, stelle ich mich gegen fünfzehn Uhr an die Straße hinter Gustavs Haus und strecke den Daumen raus. Den ganzen Morgen über hatte ich zum Abschied nur zwei Gesprächsthemen im Ohr: die Schließung der Grenze und die vorausgesagten 22 Grad für den morgigen Tag. Aber wer weiß schon, ob es wirklich so kommt, schließlich ist das Wetter hier oben laut Thomas Nielson vom Observer so unberechenbar wie Russland.

Während ich in voller Montur bei noch acht Grad an der Europastraße 6 stehe, mir die Kälte langsam die Beine hochkriecht, donnern Lkw und Wohnmobile an mir vorbei. Eine Stunde vergeht, dann noch eine halbe. Schließlich hält ein Skoda neben mir, der schon bessere Tage gesehen hat. Zwei Kerle steigen aus: einer alt, einer jung, beide in Jogginghosen. Der Beifahrer wirkt ungelenk, der Fahrer ist geschmeidiger und zeigt auf sein Handy. Mein Bauchgefühl sagt mir: Nein danke. Trotzdem steige ich ein. Schließlich ist es kalt, und bald wird es auch noch dunkel. Letzteres stimmt überhaupt nicht, nur bekomm das mal aus dem Kopf raus.

Vom Aussehen her sind die beiden die Idealbesetzung für ein verrücktes Vater-Sohn-Duo in einem Roadmovie: auf Spritztour durch die Einsamkeit Norwegens, der Meister zeigt dem Schüler, wie man am besten einen Anhalter kaltmacht und anschließend die Leiche in der Wildnis entsorgt. Ich frage mich, ob Rentiere genauso effiziente Leichenvernichter wie Schweine sind.

Doch bald muss ich mich schämen für meine Gedanken – das Geflüster der beiden, die verstohlenen Blicke sind einfach Schüchternheit. Mir wird klar, dass wir uns ja auf Russisch unterhalten können, denn die beiden sind Flüchtlinge aus dem ukrainischen Saporischschja, der Gegend um das größte Atomkraftwerk Europas, das immer wieder in den Nachrichten ist, weil es entweder angegriffen oder erfolgreich verteidigt wird. Die insgesamt vierköpfige Familie ist bei Ausbruch des Krieges geflohen und schließlich in Kirkenes gelandet.

»Und was wollt ihr in Finnland?«, frage ich.

»Einkaufen.«

»Was denn?«

»Kascha. Das gibt es hier nicht. Wir wollen vier Kilo kaufen.«

Kascha. Gekochter Buchweizenbrei. Süß oder herzhaft. In der Ukraine und in Russland so wichtig wie bei uns das Brot. Ich muss lachen. Auch über mich.

Schon kurz hinter Kirkenes gibt es keine Anzeichen für Zivilisation mehr, nur Felsen und Seen und reißende Flüsse. Wie gesagt, perfekt für eine Entsorgung.

Ich lehne mich zurück, genieße die Wärme des Autos. Bis nach Inari, wo die beiden offenbar hinwollen, sind es noch 200 Kilometer. Doch anscheinend habe ich sie falsch verstanden, denn kurz hinter der Grenze schmeißen sie mich an der nächsten Tankstelle raus und wünschen mir viel Glück, bevor sie in einem der beiden vorhandenen Supermärkte verschwinden, um ihr Kascha zu kaufen.

Vor mir und meinem Daumen liegt nun eine lange, gerade Straße, deren Asphalt kurz hinter dieser Gebäudesammlung von dichtem Nadelwald verschluckt wird. Alle fünfzehn Minuten ein Auto, das von Norwegen kommt, kurz tankt, dann wieder zurückfährt. Ich hüpfe von einem Fuß auf den anderen. Am Polarkreis kennen die Menschen doch die harschen Bedingungen und werden sicherlich Mitleid mit mir haben, oder? Sprühregen setzt ein, ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf. Vielleicht hätte ich doch noch einen Tag auf das gute Wetter warten sollen.