Als ich Lord Winter war - Hubert Flattinger - E-Book

Als ich Lord Winter war E-Book

Hubert Flattinger

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Beschreibung

Auch Journalisten mit Flugangst müssen ab und zu ein Flugzeug besteigen – um nach Stockholm zu fliegen beispielsweise, wo Astrid Lindgren einen Termin gewährt hat. Astrid Lindgrens Figuren und Geschichten sind dem Erzähler bis ins Blut vertraut, aber auf dieser Reise gerät allerhand durcheinander wie bei einem wild rotierenden Mobile – der Vogelmann, Moby Dick, eine Leuchtturmwärterin, eine Aztekenprinzessin, ein Fremder im Flieger und Pippi Langstrumpf. Vielleicht liegt es aber doch am Gin. Hubert Flattinger macht aus seiner tiefen Verehrung für Astrid Lindgren (1907–2002), die er mehrfach interviewte und porträtierte, keinen Hehl. So gerät ihm schon die Reise nach Schweden zu einer Hommage an die großartige Kinderbuchautorin, die den (ewigen) Kindern Helden wie Michel, Madita und Kalle Blomquist hinterlassen hat.

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Seitenzahl: 45

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Hubert Flattinger

Als ich Lord Winter war

Eine Reise zu Astrid Lindgren

Roman

Für meine künftigen Freunde in Tadoussac.

Und für dich.

1

Entlang des Schienenstrangs sprühen Funken in das Blau der Dämmerung. Wie aufgeschreckte Glühwürmchen torkeln sie in das Schneegestöber, erlöschen im Bruchteil eines Fingerschnippens im wirbelnden Sog der schnellen Fahrt.

Die Gleise singen ihr schrilles Lied, mal lauter, mal leiser, während das rhythmische Tagalag-taga-lag der Schwellen wie ein ruhiger Pulsschlag zu uns nach oben dringt.

Mehr und mehr verkehrt sich das Abteilfenster mit seinen Bildern von verschneiten Hügeln und geduckten schwedischen Waldlandschaften in den Spiegel eines kleinen Raums, einer Wabe, in der sich Schattenwesen regen. Ein jedes bringt etwas aus seinen Träumen mit.

Beim Einladen der Fracht rasseln die Ketten von Schlüsselbünden, klimpern silbern eingefasste Porträt-Miniaturen, wetzen Anoraks, Jeans und Cord aneinander, während wir uns umständlich aneinander vorbeischieben, uns im Halbschlaf an Bäuchen, Armen und Knien berühren, Entschuldigungen raunen, uns drehen, schnaufen, winden und einrollen. Ein einziges Dösen.

Alles halbwahr, kaum zur Kenntnis genommen. Mit verschleierten Augen irgendwelchen Hirngespinsten zugewandt, als verfolge man im Turnsaal einer Schule beiläufig die Proben einer Weihnachtsdarbietung, währenddessen draußen ein letzter Herbststurm tobt und Blätter auf das Milchglas der Oberlichter klebt. Alles, alles schon erlebt. Alles?

Nein, das hier nicht.

Da schwingt sich einer zum Gepäcksnetz hoch und lässt sich wie eine bucklige Waldeule darauf nieder. Schraubt seinen Kopf dreimal um den Hals, breitet seine Flügelarme aus und macht sich an dem Gestänge zu schaffen.

„Was?“

„Gleich wird es hell“, flüstert mir der Vogelmann Bescheid und lässt es in seiner Faust mehrmals aufblitzen.

Am Ende seines geschäftigen Treibens schaukeln im Scheinen sanften Lichts Papierlampions über unseren Köpfen. Weiße Perlkugeln zieren die Fransenspitzen am Ende eingedrehter Kordelschnüre, klickern aufeinander und machen Musik.

Und da sind wir. Der Gefiederte entpuppt sich als kahlköpfiger Greis im abgerissenen Origamigewand eines fernöstlichen Handlungsreisenden. Weiße, gelockte Haare wachsen aus seinen Ohren, umrahmen als Koteletten das schmale Gesicht von den Schläfen bis zum Kinn. Seine Lippen sind schwarz wie die eines Alchimisten oder übernächtigten Weintrinkers. Anstelle von Augen rollen zerkratzte Murmeln in den Schlitzen einer Haut, die wie ein Wachstuch glänzt.

Dann ist da noch der Junge. Er sitzt gegenüber und sieht mich forschend an, während ich sein Alter schätze. Vielleicht zehn, elf Jahre alt mag das Bürschchen sein. Unendlich jung und dabei dennoch längst dem schmutzigen Matrosenleibchen entwachsen, aus dessen Löchern wie zäher Löwenzahn da ein blonder Haarschopf, dort dünne Arme sprießen.

Der Junge. Seine Stirn ist eine Leinwand, auf die er von innen Gedanken und Einfälle projiziert. Jetzt, während er zu den wippenden Lampions aufsieht, sind es Pferde. Gefleckte Indianerponys, Mustangs müssen es sein. Schnaubende Wesen, die sich im engen Strudel ungezähmter Körper drehen, sich mit rollenden Augen aufbäumen, durchgehen, über zersplitternde Zaunlatten springen, im aufwirbelnden Staub jegliche Kontur hinter sich lassen und auf blasser Haut vergilben.

All das wegen des bisschen Lichts?

„Und was meinen Sie“, fragt der alte Chinamann und sieht mich an, als wollte er eine Bestellung aufnehmen. „Finden Sie dieses Scheinen nicht ebenfalls ganz märchenhaft? Sie müssen wissen, dass meine Tochter Shun diese Lampions in Handarbeit herstellt, und …“

„Von mir aus, meinetwegen“, schneide ich in seinen Satz. Ich bin weiß Gott zu müde, um anderen Gedanken außer meinen zu folgen. Ich, Quiqueg, der Tintenmann.

Nicht dass ich etwa wie der Harpunier aus Melvilles imposantem Walgesang am ganzen Körper tätowiert wäre. Nein, beileibe nicht, nicht einmal an geheimen Stellen. Sinê hat mir diesen Namen gegeben, weil sie fand, dass er meinem Tun mehr Bedeutung verleihen würde. „Schließlich bist du doch Redakteur, ein Tintenmann, oder etwa nicht?“

„Wenn du meinst, Sinê.“

„Ist doch wahr! Einer wie du ist doch immer auf der Suche nach einem weißen Mops.“

Sinê darf so reden.

Ihr Name bedeutet Nordwind. Weiß der Himmel, weshalb sich der ausgerechnet im heißen Blut dieser jungen Kellnerin einnisten musste. Als könnte sich ein Schneemann jemals am Feuer dieses Busens wärmen, ohne bei diesem Abenteuer gänzlich zu zerfließen!

Sinê. Schönes Rauchgespinst, schlaksiges Kurdenmädchen mit großen Füßen. Und kalten Händen! Händen, die sie im Rücken überkreuzt, wenn sie hinter dem Tresen am Balken mit den Postkarten aus fernen Ländern lehnt und ihre Blicke mit den Nachtfaltern ums Licht tanzen lässt.

Sinê, wenn ich dir nur halb so viel wie eine Ameise bedeute, dann sieh in den nächsten zehn Sekunden zu mir.

Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei … – Vorbei!

Bedeute ich dir denn rein gar nichts?

Gut, eine Chance sollst du noch haben!

Neun, acht, sieben, sechs …

„Du solltest schlafen gehen“, hat sie irgendwann gesagt und ihre Zigarettenkippe gleich neben der meinen ausgeknickt. „Morgen ist dein großer Tag, Quiqueg.“

„Dann muss heute meine große Nacht sein, Fräulein Nordwind. Was hältst du davon?“

„Hast du die Tickets“, überging sie meinen Antrag, stützte ihr Kinn auf die Knöchel ihrer Faust und schwärmte: „Stockholm! Ach, Quiqueg, Reisen ist so aufregend! Und dann noch zu ihr! Glaub mir, es wird die Story deines Lebens!“

„Kann sein, Sinê. Stanley fand Livingstone. Ich finde … Mrs. Lindgren, I presume?“

„Mach nicht immer den ernsten Affen, freu dich doch einfach!“

„Leichter wäre mir, wenn du mich begleiten würdest, Sinê. Warum hängst du nicht einfach die Schürze über den Nagel und kommst mit?“