Kindheit in Hötting - Hubert Flattinger - E-Book

Kindheit in Hötting E-Book

Hubert Flattinger

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit Innsbrucks - lebendig in persönlichen Erinnerungen! Hötting in seinen Sechzigern – Hubert Flattinger entführt die LeserInnen mit seinen Erinnerungen in die nahe Vergangenheit dieses alten Innsbrucker Stadtteiles. Er berichtet von Bauernhöfen und Bürgerhäusern in Steinwurfentfernung, vom Privileg, einen Fernsehkasten zu besitzen, von Erlebnissen in der Höttinger Volksschule, der die Zeit nach außen hin nichts anhatte, und von zahlreichen Kinobesuchen im ehemals schönsten Filmpalast Westösterreichs – dem Metropol."Kindheit in Hötting" ist der zweite Band der Reihe "Erinnerungen an Innsbruck", die sich mit der Vergangenheit Innsbrucks und seiner Viertel befasst. Andenken aus der Kindheit und Jugend gebürtiger InnsbruckerInnen sollen festgehalten und die Stadtteile aus verschiedenen Perspektiven erlebbar werden.

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Seitenzahl: 121

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ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 2:

Hubert Flattinger

Kindheit in Hötting

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Zum Geleit
Das Spielzeug älterer Herren
Die Geografie vergangener Tage
Das Portal und seltsame Türen
Wie man jemandem ein Messer reicht
Der Himmel über Hötting
Pez- und Kaugummi- und andere Automaten
Am Fuße des Vulkans
Gebrochene Herzen oder wie Cliff Richard fliegen lernte
Puzzleteilchen
Noch ein Puzzleteilchen (1966)
Schnee auf dem Patscherkofel
Schnee von gestern, heut und morgen
Hubert Flattinger
Zum Autor
Impressum

Unvollendete Darstellung einer Höttinger Schatzkarte.

Zum Geleit

Der alte Höttinger Dialekt ist so eigener Natur wie der alteingesessene Höttinger selbst.

Vorderhand klingt das, was über seine Lippen kommt, wild und guttural, nicht unähnlich den bedrohlich anmutenden Lauten der neuseeländischen Ureinwohner, den Maori, wenn sie bei einem Haka zeigen, wie man etwaigen Feinden das Fürchten lehrt.

So wie sich viele Jugendliche heutzutage geschlechts- und altersunabhängig mit „Alter“ ansprechen, so begrüßte man sich im Hötting der alten Tage oftmals mit einem (durchaus freundlich gemeinten) „alte Hur’“. Das ist lange her. Dennoch empfehle ich den Freunden meines alten Heimatdorfs am Hang der Nordkette beim Lesen der folgenden Seiten, sich ihre alte, eigenständige Ausdrucksweise in Erinnerung zu rufen. Ich selbst habe im Lauf der vielen Jahre, seit ich ein Kind war, durch zahllose Einflüsse verschiedenster Dialekte und Sprachfärbungen meinen alten Ur-Dialekt gegen etwas getauscht, das sich vielleicht weniger kriegerisch anhören mag, aber dennoch nicht weniger den Wunsch in sich birgt, einfach von jemandem verstanden zu werden. In diesem Sinn und mit vorzüglicher Hochachtung, H. F.

„Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene. Los geht’s, junger Mann, los geht’s.“

(Muhammad Ali 1964 vor seinem Kampf gegen Sonny Liston)

Das Spielzeug älterer Herren

Wo sich in der Innsbrucker Altstadt früher einmal „der Sporer“, der Welt schönstes Spielwarengeschäft, befand, kann man sich heute eine Pizza bestellen. Zwar gibt es gleich ums Eck in der Kiebachgasse noch einen kleinen Ableger des einstigen Zauberladens, aber die Pracht der alten Geschäftsauslagen, die damals noch bis ums Eck zur Herzog-Friedrich-Straße hin die Hausfassade aufpolierten, ist inzwischen längst kulinarischen Bedürfnissen gewichen und nur noch eine flüchtige, eine vage Erinnerung.

Und nur vage erinnere ich mich jetzt auch an das Bubengesicht des Mannes, mit dem ich mich an einem der Tischchen vor der Pizzeria niedergelassen habe. Wir sind uns im kühlen Schattenreich unter den Arkaden zufällig über den Weg gelaufen, es gab kein Vorbei; irgendetwas hielt uns aneinander fest, als wären wir eben gleichzeitig in dieselbe Schlingfalle gelaufen oder zusammen in dasselbe Kaninchenloch geplumpst. „Du bist das!“, sagte er. Und ich erwiderte wohl etwas ähnlich Knappes, weil wir es beide kaum fassen konnten, dass wir einander nach so langer Zeit noch erkannten. Augenblicklich fassten wir den Entschluss, ein paar Schritte miteinander zu gehen und uns beim Sporer am Eck an einem der Tische auf eine kleine Plauderei niederzulassen.

Nun, im hellen Tageslicht, gleicht Willis Erscheinung der eines älteren Herrn, eines silbergelockten Rübezahls mit gütigen Augen. Willi muss mittlerweile auf die sechzig zugehen, rechne ich mir heimlich aus. Ihn nach seinem genauen Alter zu fragen, erscheint mir im Moment unpassend. Wenigstens konnte ich mich vorhin gleich an seinen Namen erinnern. Ja, sein Name war gleich da, obwohl wir einander zuletzt als Kinder begegnet sind.

Ob Willi heute auch noch durch ein schmales Zaunloch kriechen könnte? Wohl nicht mehr ganz so geschmeidig wie damals, als er für uns alle noch „Willi, die Schlange“ war. Willi musste immer zuerst vor! War er erst mal durch ein Loch geschlüpft, war es auch für uns andere machbar, ihm nachzukommen. Und Zaunlöcher gab es zu der Zeit unendlich viele. Willi, die Schlange, kannte sie alle, fand inmitten von Brettern immer einen Spalt oder eine Stelle im Zaun, wo sich der Maschendraht so weit verbiegen ließ, dass wir auf Entdeckungstour in fremde Gärten schleichen konnten. Von Willi konnte man das alles lernen. „Durch Löcher kommst du nicht nur überall hinein“, ließ er uns mal wissen, „durch Löcher kannst du auch wieder hinaus, wenn es Zeit ist, von irgendwo zu verschwinden! Und oft ist das ja notwendig! – Merkt euch das, ihr Blindschleichen!“

„Und du, Popi?“, holt mich der gealterte Willi in die Gegenwart zurück und deutet mit einem Finger auf den Wulst über meiner Gürtelschnalle. „Ist inzwischen eine Menge Wasser den Inn hinabgeflossen, ah?“ Klar, für Willi bin ich noch immer Popi. Trotzdem überfällt mich ein leiser Schauder, als er das sagt, weil ich den alten Spitznamen seit mehr als … also seit vielen Jahren nicht mehr gehört habe. „Uh, ja, Willi. Viel Wasser!“ Und dennoch kommt mir vor, als wäre seit damals nur ein Wimpernschlag vergangen, als wir noch derselben Bubenbande angehörten. Einer Bande von kleinen Strolchen, von denen nicht wenige das unverkennbare Merkmal einer zahntechnisch vernachlässigten Generation aufwiesen und mit dem Vorbiss eines Haifischs nach Butterbroten schnappten. Heute kann mein Gegenüber breiter lächeln. Was das Leben halt so aus einem macht. Trotzdem, die alte Vertrautheit ist noch immer da, und so kapier ich auch gleich auf Anhieb, was Willi meint, als er seinen Daumen rückwärts zur Hausfassade schwingt und leise seufzt: „Weihnachten, Popi … War immer Weihnachten, wenn ich als Rotzpiepn vor der Auslage des Sporer stand. Zu jeder Jahreszeit, immer war dann Weihnachten …“

Und so sehnsüchtig, wie er jetzt mit glasigen Augen zum Himmel aufsieht, könnte man meinen, dass es tatsächlich gleich zu schneien anfangen müsste, wenn es einen lieben Herrgott gäbe. Aber mein alter Freund war nicht der einzige Bub, der damals vor den Geschäftsauslagen des Sporer stand und sich Sterne in die ausgebeulten Hosentaschen wünschte. Nun will auch ich einen Blick über Willis Schultern in die Auslagen des Sporer werfen. „Glasmurmeln wie Katzenaugen. Modellflugzeuge und Drachen in den Auslagen“, beschreibe ich, was sich alles vor mir auftut. „Auf einer roten Schachtel der gelbe Schriftzug: Fort Apache. Quartettspiele von Indian River, Micky Maus und Urzeitsauriern. – Fußbälle! Hula-Hoop-Reifen in allen Farben. Eisenbahnsätze verschiedenster Größen, Blechroboter und Holzbaukästen von Matador. Das Paradies …“

„Du hast Matchbox vergessen“, erinnert mich Willi mit strenger Miene. „Stell dir vor, Popi: Ich besaß sogar einmal ein Modell des Chevrolet Impala Taxi! Dagegen ist jeder Traktor abgestunken. Wenn ich mir für den Karren eine breite Spur im Sand glattstrich, kam ich mir bald wie Kookie vor, wenn er mit seinem breiten Ami-Schlitten über die Straßen des Sunset Boulevards düste.“

„Kookie? Das war doch der Kerl aus …?“

„77 Sunset Strip!“, singt Willi eine steinalte Fernsehmelodie und schnippt dazu mit den Fingern. „77 Sunset Strip! – Wir waren Detektive, Popi!“

„Wir waren Detektive!“, gebe ich ihm recht. „Geheimagenten und Spione, Musketiere …“

„Ich war d’Artagnan!“

„Ich war d’Artagnan, Willi! Du warst Athos, Aramis oder meinetwegen Porthos! Freibeuter und Piraten waren wir auch!“

„Cowboys waren wir nicht weniger, Popi! – Waldläufer wie Lederstrumpf! Spurenleser, Trapper und Scouts.“

„Vor allem aber waren wir Indianer, Willi: Apachen, Cheyenne, Crow und Blackfoot, Kiowa und Sioux …“

„Ich war Rote Wolke …“

„Und ich Cochise! Und waren wir einmal wer anderer, tänzelten wir auf Zehenspitzen wie Muhammad Ali, dribbelten den Ball wie Wolny und saßen in der Karl-Schranz-Hocke auf dem Klo!“

„Sangen wie Elvis und fluchten wie John Wayne.“

„Hast verdammt nochmal recht, Willi! – Ein Mann muss eben tun, was ein Mann tun muss! Das alles haben wir damals wie Schwämme in uns aufgesogen!“

„Wir waren Strolche und Herumtreiber, richtige Strawanzer, Popi. Kleine Dreckspatzen, die Abdrücke schwarzer Barfußsohlen auf den Küchenboden hinterließen, wenn wir aus Paulas Kühlschrank heimlich den Vorrat für eine unserer Unternehmungen stibitzten und uns dann schnell aus dem Staub machten! Paula hat uns das nie wirklich übel genommen. Ich glaube, sie hat einfach mitgespielt und nur deshalb hinter uns her gemault, weil sie uns das prächtige Gefühl nicht nehmen wollte, etwas Verbotenes angestellt zu haben.“

„Ja, kann sein, Willi. Paula war eine gute Frau. Schade, dass sie so früh gestorben ist. Sie war die beste Freundin meiner Mutter.“

„Ja, die Paula! Bei der konnten alle Kinder ein- und ausgehen! Von solchen Leuten gab’s nicht viele zu der Zeit. Die meisten Erwachsenen schickten uns lieber bei Wind und Wetter zur Tür hinaus, als sich einmal länger mit uns abzugeben.“

„Naja, oft waren wir ja wirklich ziemliche Gauner, Willi.“

„Was willst du?“, sagt er und klopft auf den Tisch. Dabei lächelt er versonnen und reckt sein Kinn in Richtung der grünen Hügel auf dem gegenüberliegenden Innufer. „Wir waren eben Kinder, Popi. – Und zwar genau dort drüben! In Hötting!“

Und plötzlich ist alles wieder da: Hötting und Willi. Nämlich genau derselbe Willi, wie ich ihn damals sah: Willi, die Schlange! Nun hat er die Maske des älteren Herrn abgenommen und zeigt mir stattdessen das Gesicht eines trotzlippigen Bürschchens von neun, vielleicht zehn Jahren. Eine riesige Zahnlücke, zwischen deren Stumpen er eine Mundharmonika einspannen könnte, wenn er wollte. Feuerrotes Haar. Hemd und Hose sind mit Flicken übersät, zerschlissen und schlottern weit um die spargeldünnen Glieder seiner verbogenen Figur.

„Kunststück“, sagt er und blickt etwas beschämt an sich hinab. „Die Klamotten sind ja nicht mal meine eigenen, Popi! Muss immer erst eine Weile in das abgelegte Gewand meines Bruders reinwachsen, bis es irgendwann passt. Du weißt ja: Die obergescheite Brillenschlange hat ein paar Jahre Vorsprung. So was ist nicht leicht einzuholen! Da muss ich mindestens noch durch zehntausend Zaunlöcher kriechen.“

„Nur zehntausend, Willi? In Hötting findest du doch sicher eine ganze Million davon! Stell dir einfach vor, wir sind wieder dort drüben. Oben, am vordersten Eck der Schneeburggasse. Vor dem Blumenladen der Kuens. Gegenüber von der Höttinger Kirche.“

„Bin schon da, Popi. Und was für’n Jahr schreiben wir?“, will mein in sein altes Kindergewand verzauberter Kumpel nun wissen.

„1966, Willi. Sieh dich mal um.“

Treffpunkt vor dem Blumenladen, am Eck gegenüber von der Höttinger Kirche.

Und Willi sieht sich um. Er macht das auf seine Weise. Schließt die Augen zu schmalen Schlitzen, streckt seinen Riechkolben witternd in den Wind. Als er so weit ist, sagt er: „Okay, Popi. Erinnerung ist, wenn sie funktionieren soll, vor allem eine sinnliche Angelegenheit. Zuerst wollen wir es riechen. Hötting 1966, hast du gesagt? Das riecht, das riecht nach … Sag, was für eine Jahreszeit haben wir gerade?“

„Hm, lass mich mal überlegen, Willi. Was hältst du von Frühsommer?“

„Gut, also Frühsommer! Das ist ein Beginn. Frühsommer 1966 in Hötting. Das riecht zuallererst nach … den Blüten von zerriebenem Löwenzahn, wenn du mich fragst. Der wächst schon seit April büschelweise aus allen Mauerritzen. Selbst aus den nadeldünnen Rissen entlang des Treppenaufgangs zur Kirche wächst das Zeug! Mit dem milchigen Saft von den Stengeln kannst du Warzen wegzaubern – oder herzaubern, je nachdem, was dir gerade wichtiger ist, Popi.“

„Schon klar. Hab aber nie wirklich kapiert, wie das geht. Bei mir war’s immer irgendwie verkehrt herum: Wenn ich mal Warzen haben wollte, hab ich keine gekriegt. Und wollte ich mal eine loswerden, war das gleich ein Mords-Theater und die Erwachsenen drohten mit einem Besuch vom Ladi – von Doktor Ladstätter. Oder die Reise ginge entlang der Schneeburggasse nach Sadrach zum Doktor Fleischmann. Und weißt du noch: Ein Indianer kennt keinen Schmerz! – Mit solchen Sprüchen hielten uns die Erwachsenen damals in Zaum, wenn wir mal nicht zu jaulen aufhören wollten. Aber was kannst du sonst noch riechen, Willi?“

„Frühsommer 1966: Es riecht nach frisch geschnittenem Gras. Und nach Regen. War nur ein kurzer Sommerguss, der vorhin auf den aufgeheizten Asphalt der Schulgasse prasselte. Jetzt ist der Boden ganz schwarz und Dampfwolken ziehen zur Volksschule hinauf. Da mischt sich nun auch eine feine Prise Flieder in den Regendunst. Kommt mitsamt einem schwachen Windchen vom Pfarrhaus drüben her. Siehst du, wie die Äste des Fliederstrauchs schwer über den Zaun hängen? Müssten wieder einmal geschnitten werden.“

„Kann ich alles sehen, kann ich alles riechen, Willi. Was noch?“

„Es riecht nach frisch gewaschener Wäsche, die von Schnüren auf überdachten Holzbalkonen auf unsere Köpfe tropft. Aus einem Hauseingang riecht es nach Bohnerwachs. Und aus der Konditorei der Dezottis – sie haben die Tür absichtlich offen gelassen, damit es alle Welt erfährt – duftet es einladend nach Vanilleeis und Oblaten.“

„Oblaten, echt?“

„Oblaten, Popi. Cremeschnitten und der ganze Backstubenzauber. Es riecht auch nach Brausepulver, falls du dir davon ein Päckchen in deiner Hosentasche aufgehoben hast, um dann und wann deine Nase reinstecken zu können.“

„Echt, Willi?“

„Ist’n Geheimtipp, Popi. Hilft, wenn dir gerade was anderes die Luft verpestet. Wenn du zum Beispiel gerade im Mief von filterlosen Zweiern, Dreiern oder verschüttetem Bier herumlaufen musst.“

„Brrr! Was noch?“

„Aus dem verrosteten Autowrack beim Höttinger Steinbruch oben riecht es im Frühsommer 1966 nach modrig muffelnden Sitzpolstern und verbranntem Gummi. Nach Pitralon-Rasierwasser riecht es auch, falls du dir ein paar Tropfen davon aufs Kinn geschmiert hast, weil du gehofft hast, dass dir davon ein paar Barthaare sprießen.“

„Ich hab’s mit Benzin probiert, Willi. War aber für die Katz.“

„Maschinenöl bringt es auch nicht, Popi.“

„Kann ich mir vorstellen, Willi. Was riechen wir noch?“

„Verbrannte Kartoffeln aus der Glut von Lagerfeuern. Gibt kaum etwas Besseres, das man sich in die Nase ziehen kann! Außer vielleicht den Geruch von Harz, der aus den Rindenspalten einer Föhre tropft. Ah, und jetzt weht von irgendwoher der kantige, g’schmackige Duft einer bekömmlichen Sur. Riecht jedenfalls weitaus besser als die Auspuffgase und der Achselschweiß, der sich im Polyester deines Pullovers eingenistet hat und den übelsten Gestank verbreitet, den man sich nur denken kann!“

„Grausam, Willi. Und wenn du dir den Pullover nachts über den Kopf streifst, zucken dir tausend Funken ums Gesicht und es knistert gefährlich. Grad so, als wäre man eine menschliche Zündschnur!“

„Haarscharf, Popi! So ist es! Aber Hötting 1966 kannst du nicht nur riechen. Du musst es auch in deine Ohren lassen! Zuerst hörst du das Zwitschern der Vögel. Amsel, Drossel, Fink und Star. Das Tschip-tschip der Spatzen. In jeder Gasse, in allen Gärten haben die Gefiederten ihren eigenen Gesang, so wie unsereins den eigenen Gassen-Slang. Selbst wenn ich blind wäre, könnte ich dir immer genau sagen, in welcher Gegend von Hötting wir uns gerade aufhalten, solange ich nur die Vögel hören kann! Pass auf! In der Kirschentalgasse klingt das Gezwitscher einer Kohlmeise etwa so: Zuwizuwizuwiie … Am Silberweg dagegen hört sich das ganz anders an: Zuwie-zuwie-zuwiie … – Hörst du den feinen Unterschied? Den musst du doch hören, Popi?“

„Pah! Jetzt reißt du die Pappen aber ganz schön weit auf, Willi …“

„Still! Horch! Im Kindergarten gegenüber von der Volksschule hat gerade irgendein Knirps etwas ausgefressen. Die Tante scheint darüber mächtig aus dem Häuschen zu sein. Uh, da will man sich nicht einmischen! Und ein paar Häuserkanten weiter westwärts klingen aus einem der oberen Fenster in der Bachgasse jetzt leise Fetzen eines brandneuen Schlagers aus dem Radio. Stell die Löffel auf, hörst du’s, Popi? Es gibt Millionen von Sternen‚ unsere Stadt, sie hat tausend Laternen …“