Eine bessere Welt ist möglich - Gabriel Gerling - E-Book

Eine bessere Welt ist möglich E-Book

Gabriel Gerling

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Beschreibung

Optimistisch oder (schwer) ramponiert, geläutert, befreit, von sich selbst überrascht, voller Tatendrang oder einfach beseelt: Der wilde Trip durch die Klassengesellschaft lässt keine:n unberührt zurück. So findet am Tag des WM-Finales 2018 nicht nur Julien endlich zu sich selbst, sondern auch (fast) alle anderen zueinander: vier verliebte Männer, zwei Frauen im Aufbruch — und zwei, mit denen noch zu rechnen ist … Der Abschluss der Trilogie »Sex und Sozialkritik»: ein Buch der Hoffnung.

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Seitenzahl: 915

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gabriel Gerling

Eine bessere Welt ist möglich

Sex und Sozialkritik III

Roman

Impressum

Texte: © Copyright by Gabriel Gerling 2025

Covergestaltung: © Copyright by Gabriel Gerling 2025

Verlag:

Gabriel Gerling

Berliner Straße 48-50

51063 Köln

[email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Dieses Buch ist ein Roman. Sowohl die darin dargestellten Charaktere und deren Namen als auch die Ereignisse sind das Werk der Fantasie des Autors. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Ereignissen oder Orten wären rein zufällig.

Widmung

Für Vera

Zum Geleit

»To the Happy Few.«

Stendhal,

Le Rouge et le Noir

Inhalt

Impressum

Widmung

Zum Geleit

Inhalt

Auf der Grossbaustelle

Verlorene Illusionen

Praxis der feinen Leute

Nichts anderes als sie selbst

Zurück in der Zukunft

Elli

Das letzte Kapitel

Der Drachentöter

Zwei Männer, ein Gedanke

So schön normaL

Die Frau im Bad

Emmène-moi!

A Moment of Bliss

Eine tropische Nacht

Der glücklichste aller Männer

Der Prinz von Rellingen

Ein Sonntag auf dem lande

Nackt im Wald

Unser Kind

Die Fahrt hinaus

Einer von uns (Franziska)

Koste es, was es wolle

Experte wider Willen

Liebchen

Sex und Sozialkritik

Unser Siggi

1 : 0

Real Men are Feminists

Siegfried im Wunderland

Das Büro

Wiedergefundene Zeit

Hamburg leuchtete

La Grande Finale

Auf der Grossbaustelle

Als Julien ihm später einmal erzählte, dass er ihm wie ein stille Insel vorgekommen sei, lächelte Siegfried. Er goss das kochende Wasser auf den Filter und sah zu, wie der Kaffee langsam in die Kanne lief. Ehrlich, sagte er, das hast du gedacht? Ich hab mich eher wie auf einer Großbaustelle gefühlt. Einer der leitenden Ingenieure warst übrigens du. – Er wandte sich um; der Mann, der an seinem Küchentisch saß, hatte denselben intensiven Blick wie damals. 

Und so war es: Während Julien auf der Rückbank des Taxis an ihn dachte, war die Kernsanierung Siegfrieds in vollem Gange. Kein Stein blieb auf dem anderen.

Die Konflikte mit Lucy häuften sich, das Kind rebellierte. Sie schien über Nacht in die Pubertät gekommen zu sein; die verständige Tochter, mit der er immer alles in Ruhe hatte regeln können, fuhr auf, was sie an Kratzbürstigkeit und Widerstandsgeist zu bieten hatte, und das war nicht wenig. Die nahenden Sommerferien und die Aussicht auf drei Wochen mit den Düsseldorfern taten ihr Übriges dazu: Lucy hatte keinen Bock mehr auf gar nichts. Sie machte morgens extra langsam, so dass sie zu spät zur Schule kam, räumte ihr Zimmer nicht mehr auf, ließ ihr Frühstücksgeschirr stehen, und wenn er sie bat, nachmittags die Spülmaschine auszuräumen oder den Müll rauszubringen, war nichts davon erledigt, wenn er nach Hause kam. Sie knallte Türen, ließ ihre Sachen überall liegen, sprach tagelang nicht mit ihm, und wenn, dann nur das nötigste und in genervtem Ton. Immer öfter dachte Siegfried, wie gut Patricia mit der Situation umgehen würde. Sie scheute keine Auseinandersetzung und war ihrer Tochter gegenüber immer die Konsequentere gewesen. Für ihn war Lucy aber immer noch das sonnige kleine Mädchen, und es fiel ihm schwer, die Veränderung in ihr zu sehen; Lucy schien es lästig zu sein, wie er an ihrem alten, kindlichen Ich festhielt. Es kam ihm manchmal vor, als provoziere sie ihn mit Absicht, als erwarte sie regelrecht, dass er endlich mal auf den Tisch haute und sagte, es reicht! Aber dazu war Siegfried viel zu weich. Er brauchte Ruhe und Harmonie um sich, er hasste Streit, vor allem mit Menschen, die ihm nahe waren. Er ahnte, dass Patricia ihn auch deswegen verlassen hatte: Von Anfang an hatte er ihr keinerlei Reibungsfläche geboten, und die Art, wie er Widerstand leistete, war so subtil, dass sie kaum zu erkennen war, jedenfalls für extrovertierte Menschen wie sie und ihre Tochter. 

Immerhin war er sich im Klaren darüber, dass all das lächerliche first world problems waren, Pseudonöte eines Bourgeois. Lucy schrieb weiterhin gute Noten, sie ging zur Schule (zumindest hörte er nichts Gegenteiliges), sie rauchte nicht, klaute nicht und hatte vernünftige Freunde (auch das alles glaubte er jedenfalls). Was sie tat, war normal für eine fast Dreizehnjährige. Es wäre andererseits auch furchtbar, würde sie nicht gegen ihren Vater rebellieren, dachte er, und dass er sich heute noch dafür schämte, es selbst vor lauter Harmoniesucht nie wirklich getan zu haben. Aber Siegfried war dem nicht gewachsen. Wo ihn schon das Vatersein als solches forderte, brachten ihn die täglichen Auseinandersetzungen mit Lucy an seine Grenzen. Er war nicht in der Lage, Autorität zu zeigen; auf seine gewohnte Art, Probleme auszudiskutieren, ging sie nicht mehr ein. Also ließ er sie gewähren, und wenn er dann selbst kommentarlos die Spülmaschine ausräumte, wusste er, dass er sie damit nur noch mehr gegen sich aufbrachte. 

»Ich wär sowieso lieber bei denen«, schleuderte sie ihm am Abend des spektakulären Führungskräftemeetings entgegen, als die Diskussion über die im Chaos hinterlassene Küche in einen Streit ausartete. »Da muss ich nicht die ganze Zeit putzen und aufräumen! Mama macht nie so einen Stress!«

Siegfried war müde, eigentlich wollte er nur noch aufs Sofa. »Mama und Matthias haben eine Haushaltshilfe«, sagte er sanft, »außerdem glaube ich schon, dass du deine Sachen da genauso wegräumen musst.«

»Und warum haben wir keine Putzfrau?«, rief Lucy wütend.

»Erstens heißt das Reinigungskraft, und zweitens brauchen wir die nicht. Hier gibt es gar nicht so viel zu putzen, wenn man immer gleich alles wegräumt.«

»Du bist so spießig! Außerdem hab ich genauso wenig Zeit wie du! Und Schule ist genauso anstrengend wie Arbeit!«

»Das weiß ich, mein Schatz. Deswegen wäre es ja schön, wenn wir uns das ein bisschen teilen. Und so viel musst du wirklich nicht machen. Außerdem kostet eine Reinigungskraft Geld.«

»Dann kauf dir halt mal ein Buch weniger, dann können wir uns auch eine Putzfrau leisten!«

Wieder einmal bemerkte er, wie genau Kinder beobachteten. Lucy wusste, wo seine sensiblen Stellen waren, und nun testete sie aus, ob es funktionierte. Ja, das tat es. Natürlich hätte er sich eine Reinigungskraft leisten können, wenn er es so machte wie die meisten seiner Kollegen, indem er schwarz jemandem jeden Dienstag zehn Euro in die Hand drückte. Aber so war Siegfried natürlich nicht, er würde es ja vernünftig machen, mit Mindestlohn und Anmeldung bei der Knappschaft. Dass Lucy ihm den einzigen Luxus vorwarf, den er sich – selten genug! – gönnte, wo er sonst auf alles verzichtete, fand er in diesem Moment wirklich gemein und sich selbst dadurch wiederum kleingeistig. Sie war ein Kind, das sich ausprobierte! Trotzdem. Und die Düsseldorf-Keule auszupacken, das war ihre Trumpfkarte, die sie seit kurzem öfter spielte.

»Gut«, sagte er; er merkte, wie angefasst er war. »Dann verzichte ich auf Bücher und du auf das Netflix-Abo. Und wir kündigen das Highspeed-Internet. Dann können wir uns eine Reinigungskraft leisten, sonst nicht. Wenn es dir das wert ist.« Er hasste es, Lucy mit solchen Dingen zu belangen, aber wenn es doch so war? Sie sollte schon verstehen, dass das, was sie hatten, nicht selbstverständlich war, und dass es ihm im Vergleich zu den Eltern mancher Freundinnen deutlich schwerer fiel, einen solchen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, obwohl er ganz gut verdiente. Patricias Unterhaltszahlung war eben kein zweites Gehalt. Aber von all dem wusste Lucy natürlich nichts, und selbst wenn sie es gewusst hätte, was konnte sie dafür? 

»Jetzt kommt das wieder! Du bist so unfair!«, rief sie, und dabei sah sie ihn zum ersten Mal wirklich verächtlich an. In dem Moment dachte er, wenn das so bleibt die nächsten Jahre, das kann ich nicht. Und deshalb sagte er:

»Vielleicht ist es ja wirklich besser, wenn du nach Düsseldorf ziehst«, und das meinte er völlig ernst. Lucys Blick veränderte sich, die Verachtung verschwand, sie war überrascht, ja erschrocken. Ohne weiteres Wort ging sie in ihr Zimmer und knallte die Tür zu. Siegfried blieb noch einen Moment stehen, dann verließ er die Küche, unaufgeräumt wie sie war. Er ging ins Wohnzimmer, zog die Tür hinter sich zu und setzte sich aufs Sofa. Müde schloss er die Augen. Dass er am Abend der Neumann-Show noch so ein Theater erleben musste, gab ihm den Rest. 

Am nächsten Tag war Zeugniskonferenz, danach ging es für Lucy außer der Reihe nach Düsseldorf, weil Matthias seinen Geburtstag groß feierte und Lucy unbedingt dabei sein wollte. Siegfried machte um Punkt zwölf Schluss und fuhr Lucy direkt nach der Schule zum Flughafen. Er hatte beim Carsharinganbieter einen Wagen gemietet, um ihnen die Bahnfahrt durch die Stadt zu ersparen. Er meinte es als Versöhnungsangebot, und sie fasste es vielleicht als solches auf, denn als sie ins Parkhaus fuhren, fragte sie beinahe freundlich:

»Hast du das gestern eigentlich ernst gemeint mit Düsseldorf?«

»Natürlich«, sagte er, auf die Suche nach einem freien Parkplatz konzentriert. Lucy schwieg. Bevor sie ausstiegen, schaute er sie an, sie war ganz ernst. »Ihr könnt ja mal darüber reden.«

»Okay.« Es beschäftigte sie sehr.

Er lächelte. 

»Aber würde dir das nichts ausmachen?«, fragte sie.

Siegfried war versucht, ihr über die Wange zu streichen, er ließ es bleiben, er sagte nur: »Es ist schön, dass wir zusammenleben, und ich würde dich sehr vermissen. Aber es geht um dich, mein Schatz, und wenn du das wirklich möchtest, ist das völlig okay. Und vielleicht finden Mama und Matthias die Idee ja auch gut.«

Am Gate hielt sie ihm ihre Wange zum Abschiedskuss hin, dann sagte sie: »Tschüss Papa. Mach mal was Schönes am Wochenende.«

Das rührte ihn. Er setzte sich in eine Bäckerei, trank einen Kaffee und wartete, bis der Flieger gestartet war. Dann schrieb er Patricia:

Das Kind ist sicher in der Luft. Zur Zeit ist es etwas schwierig zwischen uns, vielleicht spricht sie das ja an. Wenn Du möchtest, können wir nächste Woche mal telefonieren. Schönes Wochenende Euch und feiert schön, viele Grüße, Siegfried

Sie schrieb sofort zurück:

Danke, dir auch! Was soll ich sagen? Pubertät! VG Patricia

Was machte er Schönes am Wochenende? Weil Lucy dieses Mal schon so früh geflogen war, hatte er noch den ganzen Freitagnachmittag vor sich. Vielleicht würde er sich einfach nur aufs Sofa legen und schlafen, die Woche im Büro war anstrengend genug gewesen. Da fiel ihm der Zwischenfall ein, der Mann auf dem Flur, und er dachte sofort an Julien. 

Siegfried war ein Theoretiker, wenn auch nicht aus Weltfremdheit wie Harriet, sondern eher aufgrund seiner zurückhaltenden Art. Er kreiste das, was ihn interessierte, erstmal durch Studien und Lektüre aus der Ferne ein. Und dass er Julien näher kennenlernen wollte, war ihm nach der Begegnung auf dem Flur klar geworden, selbst wenn der Mann nicht Julien war. Er erinnerte ihn eben an Julien und ihre Begegnung im Museum, an die Siegfried mittlerweile beinahe täglich mindestens einmal dachte.

Und weshalb dachte er an ihn?

Weil auf der Großbaustelle Siegfried die Fundamente seiner Existenz Stück für Stück abgetragen wurden, Tatsachen, die ihm bisher als unverrückbar galten: Dass sein Kind bei ihm lebte, dass Henning immer ein unverbesserliches Arschloch bleiben würde, dass er auf der Arbeit nichts bewegen konnte. Dass seine Ehe an seiner Passivität gescheitert war, und dass er weder Sex noch eine Beziehung brauchte.

In den tiefsten Tiefen der Baugrube aber wurde nun die einzige Tatsache freigelegt, die auch eine Wahrheit war und blieb; eine, die er keinem Menschen je mitgeteilt hatte und mit der er seit fast fünfzig Jahren lebte: Dass er schwul war. Und er war nicht davon ausgegangen, jemals ein anderes Dasein zu führen als das eines heimlichen Homosexuellen, der sein Begehren nie ausleben würde. Siegfried war konservativ erzogen; als er jung war, standen homosexuelle Handlungen unter Strafe, und als der Paragraph 175 aufgehoben wurde, änderte das für ihn nicht viel. Seine Familie würde seine Homosexualität nie akzeptieren, sein Vater hasste Schwule. Und über allem schwebte die Bedrohung durch AIDS. Abgesehen davon scheute Siegfried die Szene, er war viel zu gehemmt und schüchtern, um in eine Bar zu gehen und jemanden kennenzulernen. Da lebte er zwischen Reeperbahn und Langer Reihe und wagte nicht einmal, sich in ein Café zu setzen und ansprechen zu lassen. Manchmal war er heimlich verliebt, in Mitschüler, Kommilitonen oder Kollegen, aber er machte nie den Versuch, sich zu erkennen zu geben, selbst wenn er wusste, dass der Angeschwärmte schwul war. Siegfried war Mitte zwanzig, als es beim Hafengeburtstag auf den Stufen der Köhlbrandstreppe tatsächlich zu ein bisschen Fummelei kam – aber nur, weil sowohl er als auch der andere ziemlich betrunken waren und Siegfried niemanden in seiner Nähe hatte, der ihn kannte. Davon zehrte er jahrelang. (Es war nicht mal besonders gewesen, aber es war ein Mann!) Er versuchte es immer mal wieder mit Frauen, aber er war sowieso nie der Typ, der leicht jemanden kennenlernte. Patricia war seine erste ernsthafte Beziehung. Dass er ihr in Punkto Sexualität nicht genügte, wurde ihnen beiden schnell klar, aber sie akzeptierte das. Sie wusste, worauf sie sich einließ, als sie Ja zu ihm sagte: Siegfried hatte eben andere Qualitäten. Und als sie sich trennten und Lucy bei ihm blieb, war es für ihn selbstverständlich, dass er keine neue Beziehung haben würde, schon gar keine mit einem Mann. Er wollte ihrem Kind nicht noch mehr Veränderung zumuten, als sie es durch die Trennung sowieso schon taten. Als Patricia und Matthias heirateten, fragte er Lucy, was sie davon halten würde, wenn er jemanden kennenlernen würde. Nichts, sagte sie, wir bleiben schön für uns, Papa. Die würde uns nur stören. Lange hatte er gedacht, wenn Lucy mal auszieht, dann—! Aber er würde vielleicht schon sechzig sein? Da ließ er jede Hoffnung fahren und richtete sich in seinem beziehungslosen, asexuellen Leben ein. Lieber gar nichts als noch einen Kompromiss einzugehen.

Und dann begegnete er Julien. Sie hatten bloß fünf Minuten mit-einander gesprochen, und neben Julien stand eine Frau, mit der er offensichtlich liiert war. Jeden Tag redete Siegfried sich ein, dass es die Frau sei, die ihm so gefiel, und dass er nur Juliens Arbeit bewunderte. Ja, die Frau war attraktiv und das Buch wunderschön – letzteres aber doch nur, weil es dieser Mann gemacht hatte! Denn der Mann war es, der ihn nicht mehr losließ: sein kühler Charme, sein schwarzer Blick, der Händedruck, schließlich das Lächeln, und dann war er auch noch einer, der sich genau wie Siegfried mit Büchern beschäftigte, wenn auch auf eine andere Art: Siegfried war bis über beide Ohren verliebt. 

Das gestand er sich endlich ein, als er Freitagnachmittag seine Wohnungstür aufschloss. Er warf seinen Schlüssel auf den Couchtischtisch, nahm sein Notebook und setzte sich aufs Sofa. Er googelte Julien Lemaire, und endlich allein, ungestört, und den Gedanken zulassend, dass er einen, nämlich diesen Mann wollte, gab er sich der Suche hin. Er sah sich das Foto auf der Website an; im gesamten Internet schien nur dieses eine Bild von ihm zu existieren. Aber das war der Mann auf dem Flur! Oder nicht? Was tat der denn bei Henning? Henning darauf anzusprechen, war Siegfried zu riskant. Was, wenn er es doch nicht war? Und sie hatten doch alle Datensätze der Witteck durchforstet, jeden Vermerk gelesen: Kein Herr L. wurde darin erwähnt!

Es kam für Siegfried überhaupt nicht in Frage, ihn anzusprechen. Wie auch? Hallo Herr Lemaire, Sie gehen mir nicht mehr aus dem Sinn, ich möchte Sie kennenlernen. Er öffnete die beiden Fenster im Wohnzimmer und ließ die warme Stadtluft herein. Hallo Herr Lemaire, von meinem Fenster aus schaue ich auf die Bar Continental. Gerne würde ich jetzt mit Ihnen dort sitzen und über Ihre Bücher reden. 

Alles Blödsinn, Julien schien unerreichbar, und der Gedanke daran, ihn wirklich zu treffen, war so abstrakt, dass Siegfried ihn sofort verwarf. (Wenn er schon an Lucy dachte!)

Aber seine Bücher! Wenigstens so konnte er ihm nahe sein und viel-leicht doch irgendwann einmal ein Gespräch mit ihm beginnen. Also googelte Siegfried weiter, es gab ja einige Titel, die er auch sonst gekauft haben könnte, weil sie ihn inhaltlich interessierten. Zum Beispiel eines über den Ersten Weltkrieg, einen umfangreichen, sehr teuren Band mit bisher unveröffentlichten Luftaufnahmen der Westfront. Das hatte doch schon mit seinem Spezialgebiet Weimar zu tun. Er bestellte es online bei der lokalen Buchhandlung, und tatsächlich würde er es schon am nächsten Tag abholen können (und er musste Lucy recht geben, für das Geld hätte er wenigstens zwei Wochen Reinigung zahlen können, aber das war ihm jetzt wirklich egal). Es gab noch ein zweites Buch, das ihn interessiert hätte, ›Die Marginalisierten‹, über sogenannte Asoziale und deren Verfolgung durch die Nationalsozialisten; leider war es vergriffen. 

Siegfried schaute jeden einzelnen Titel nach. Er stellte fest, dass die meisten der Bücher, die Julien gemacht hatte, ernsthafte Titel waren, schwierige Themen, die er sperrig gestaltet hatte, nach den Abbildungen auf seiner Website zu urteilen. Er befasst sich auf eine ganz andere Weise mit ähnlichen Dingen wie ich, was mag er darüber denken? Und wie ist er? Humorlos, streng, engagiert, leidenschaftlich – interessiert ihn überhaupt, was er da macht, oder macht er es, gerade weil es ihn interessiert? Für einige seiner Arbeiten hat er Preise bekommen, und ausgezeichnet wird man doch nicht nur für sein Handwerk? Siegfried erinnerte sich an die unbeteiligte Haltung, mit der Julien die Lobhudelei des Redners über sich hatte ergehen lassen, und dann das Lächeln, das ihn so plötzlich veränderte: Siegfried hatte den Eindruck, jemandem begegnet zu sein, der anders war als alle anderen, und vielleicht war es auch das, was ihn so anzog. Ihm fiel der Junge ein, an den ihn der Mann auf dem Flur erinnert hatte, und wenn der Mann und Julien doch ein und dieselbe Person sein sollten, dann steckte definitiv mehr in ihm.

Das tat Siegfried also Schönes am Wochenende: Er verbrachte es mit dem Mann, in den er sich verliebt hatte. Samstag holte er das Buch ab und verschlang es, inhaltlich wie äußerlich, er hoffte, so viel wie möglich zu erfahren. Er stellte sich vor, wie Julien darüber nachgedacht hatte, wie er das Buch gestalten würde, wie er auf welche Idee gekommen war. Und wie sie in der Bar gegenüber bei einem Glas Wein saßen und darüber redeten, so lange, bis die Stühle hochgestellt wurden. Siegfried malte sich aus, wie ihn dieser Mann ansehen würde und plötzlich das Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Julien würde sich über den Tisch lehnen und ihn küssen, Siegfried spürte dann eine Hand auf seinem Nacken, und er erinnerte sich an Juliens schönen warmen Duft. Den Kuss selbst konnte er sich nicht vorstellen. Und als Siegfried unter sein Federbett kroch und die Augen schloss, träumte er davon, wie es sich anfühlen würde, ihn in seinen Armen zu halten, und Siegfried wäre nicht Siegfried, sähe er ihn nicht immer noch komplett angezogen vor sich. Mehr wagte er selbst in seinen Gedanken nicht, so fern der Wirklichkeit schien ihm die Vorstellung, einem Mann so nah zu sein. Siegfried hatte keinen speziellen Typ. Er verliebte sich mal in Blicke, mal in Gesten, schöne Beine, ein Lachen, Klugheit, strahlende Augen, sinnliche Hände, Humor, einen festen Hintern. Weil das Ausleben seines Schwulseins für ihn nie in Frage gekommen war, hatte er gar keine Vorstellung davon, wie der Mann seiner Träume eigentlich aussehen sollte: Jetzt wusste er es. Noch nie hatte er jemanden wirklich begehrt. Julien wollte er, und auch dieses aufregend beunruhigende Gefühl war völlig neu.

Was Siegfried wagte, bevor er Sonntag zum Flughafen fuhr, war, Julien die Mail zu schicken, die er Samstagabend geschrieben hatte: Er lobte ihn wiederholt für die ›Aufklärung‹, schrieb über das neu erworbene Buch und äußerte sein Bedauern darüber, dass das andere vergriffen sei. Siegfried war ein routinierter Schreiber, aber sobald es ihn persönlich betraf, fiel es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Er fand die Mail zu geschwätzig und dabei viel zu steif. Was er wirklich sagen wollte, das konnte er ja nicht, aber immerhin wusste Julien nun seinen Namen, wer er war und woher sie sich kannten. (Auf das Jobcenter anzuspielen war ihm zu heikel, das Museum musste genügen. Und Historiker klang auf jeden Fall besser als Qualitätsbeauftragter.) Vielleicht erinnerte sich Julien an die Begegnung? Je öfter Siegfried die Mail las, desto mehr erschien ihm seine Aktion doch zu aufdringlich – was, wenn der Mann sich belästigt fühlte? Siegfried haderte so lange mit sich selbst, bis es höchste Zeit war, zum Flughafen aufzubrechen. Also schickte die Mail ab, klappte das Notebook zu und verließ eilig die Wohnung, jetzt war es geschehen, mochte passieren, was wollte.

Auf der Arbeit immerhin gelang es ihm, eine konsequentere Linie zu fahren als zuhause. Er hatte sich durch seine leisen, aber subversiven Aktionen Achtung verschafft, selbst seine Vorgesetzte billigte sein Vorgehen (nachdem sie ihn pflichtschuldigst gerügt hatte). Die Maßnahme war bei zur Mühlen gut angekommen, nachdem Harkort sich bei ihm dafür eingesetzt hatte. Einen Versuch wär es wert, hätte er gemeint, so sagte sie es Siegfried am Freitagmittag, während er schon seine Tasche packte und auf die Uhr sah, er musste ja pünktlich los. Über das Wochenende vergaß er seine Arbeit komplett. Montag früh hatte er schon mindestens zehn Mails im Posteingang, von begeisterten Vermittlern und Teamleitern, die mehr über die neue Maßnahme wissen wollten, und wann es denn endlich losgehe! Er rief Gunda an und teilte ihr mit, dass sie bald würden starten können; sie beglückwünschte sie beide zu ihrem Sieg. 

Dann rief ihn Hajo in sein Büro, aufgelöst und maßlos verärgert über Henning, und dass sie ihn zwecks Aufklärung der verschiedenen Vorfälle dabei haben wollten. Der in sich gekehrt wirkende Henning kam Siegfried schon wieder so verändert vor, dass es ihn hoffen ließ, es würde sich wirklich was tun. Tatsächlich hatte er während dieses Gesprächs das Gefühl, Henning und er dächten in manchen Punkten ähnlich, sie schienen sich zum ersten Mal einig, und Henning war nahezu freundlich. Dass er immer noch leugnete, den Mann zu kennen, wunderte Siegfried zwar, aber für seinen Auftritt beim Meeting zollte er ihm Respekt. Es war gut, dass Henning für ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden würde. Bis er zurück wäre, hätten sich die Wogen geglättet, und niemand würde mehr darüber sprechen. Es gelang Siegfried auch, Hajo zu beruhigen, als sie noch kurz allein miteinander sprachen. Glaub mir, Henning hat Recht, sagte er, zur Mühlen wird das Ganze totschweigen, und wenn du ihm sagst, dem Neumann zieh ich drei Punkte ab, dann ist es gut.

Siegfried arbeitete freier, wie immer, wenn er wusste, dass Henning Urlaub hatte, selbst wenn sie gar keine Teamkollegen mehr waren. Er konnte sein Mittagessen genießen, so wie die Besuche im alten Team, wenn er wusste, kein Henning würde ihm dazwischenfeuern. Und die Arbeit lief gut. Knudsen hielt sich völlig zurück. Er versuchte nicht wie sonst, alle Welt gegen ein Projekt zu beeinflussen, das nicht von ihm geplant war; Siegfried, Grotewohl und Gunda konnten die Maßnahme in Ruhe an den Start bringen. Die Besetzungsliste der Frühjahrsoffensive verschwand von einem auf den anderen Tag aus dem Intranet, stattdessen konnten die Vermittlungsfachkräfte ab sofort Kundinnen für die Förderung alleinerziehender Frauen mit Berufsabschluss vormerken. (Sowas von lame, der Name, sagte Bülent, da gab Siegfried ihm Recht. Namensfindung in der Arbeitsverwaltung, das wäre eine echte Herausforderung für Werbetexter, aber der Inhalt überzeugte dieses Mal, es brauchte weder einen pfiffigen Beschreibungstext noch einen knackigen Titel, und darauf kam es an.) Ende der Woche wurde schon über einen zweiten Lauf nachgedacht, so viele Anfragen bekamen sie. Die Stimmung war insgesamt gut, seit langem endlich einmal wieder. Siegfried ging zum ersten Mal, seit er im Jobcenter arbeitete, fast gern ins Büro. Das hätte er sich vor wenigen Tagen noch nicht im Entferntesten vorstellen können.

Wenn er abends zuhause saß, gab er vor sich selbst zu, dass es in Wirklichkeit so gut lief, weil die Arbeit nicht mehr solchen Raum einnahm. Andere Dinge standen nun im Mittelpunkt. 

Der häusliche Friede war wiederhergestellt. Lucy gebärdete sich weniger widerborstig, seit ein Umzug nach Düsseldorf möglich zu werden schien, denn auch Patricia und Matthias hatten schon darüber nachgedacht. Lucy war eine gute Schülerin, sie würde mit dem Schulsystem in NRW keine Schwierigkeiten haben. Patricia würde bei den Gymnasien nachhören, wie die Chancen auf einen Wechsel nach den Sommerferien stünden. Lucy habe auch keine Angst davor, neue Leute kennenzulernen, erzählte Patricia, und sie sei am Wochenende ganz euphorisch gewesen und habe im Geiste schon ihr Zimmer neu eingerichtet. Es traf Siegfried, dass sein Kind es so eilig zu haben schien, von ihm wegzukommen, aber er sah ein, weshalb. Und wenn er an seinem Küchentisch darüber nachdachte, merkte er, dass ihm die unverhofft nahe Freiheit gar nicht so ungelegen kam.

Julien hatte ihm noch am Sonntagabend geantwortet. Siegfried las die Mail erst montags auf seinem Handy, kurz bevor er Hajos Büro betrat.

Lieber Herr Scholz,

natürlich erinnere ich mich an Sie. So eine Reaktion auf meine Arbeit bekomme ich nicht oft. Es freut mich sehr, dass Ihnen die beiden Bücher so gefallen. Gerne frage ich beim Verlag nach ob es noch Restexemplare von den »Marginalisierten« gibt und würde es Ihnen dann schicken lassen. Bitte nennen Sie mir Ihre Anschrift. 

Viele Grüße aus der Nachbarschaft (Altona),

Julien Lemaire

Lieber Herr Scholz! Natürlich erinnerte er sich! Grüße aus der Nachbarschaft! Waren das nicht alles Zeichen dafür, dass Julien vielleicht doch verstand, was Siegfried ihm sagen wollte?

Siegfried war so aufgewühlt, als er das las, er hatte zunächst Mühe, sich auf das Gespräch mit Hajo und Henning zu konzentrieren. Kaum, dass er wieder in seinem Büro saß, antwortete er Julien, und vor lauter Nervosität schrieb er nichts als Vielen Dank, hier meine Adresse. Jeden Tag schaute er in seine Mails, abends in seinen Briefkasten, in Erwartung der ersehnten Rückmeldung.

So musste man sich mit fünfzehn fühlen, wenn man zum ersten Mal richtig verknallt war.

Und dann saßen sie heute früh in Jasmins Büro: Gabrielle Witteck und die schöne Frau aus dem Museum. Julien war der Bruder der Witteck, und er war der Mann auf dem Flur. Die Geschichte schien so verworren, der Fall unübersichtlicher denn je; der Mann wurde zusehends geheimnisvoller. Und was tat Henning da bloß? Siegfried versuchte, so gelassen wie möglich zu bleiben, wo es in seinem Kopf (und in seinem Herzen) drunter und drüber ging. Die kleine, helle Frau Witteck schien doch nichts mit Julien zu tun zu haben. Dass sie seine Schwester sein sollte! Er hoffte, Jasmin hatte ihr nicht vorgelesen, was Henning über sie und ihren Bruder geschrieben hatte. Und Harriet Hollmann, ein Name wie gemacht für diese Frau, war bestimmt die malerischste Erscheinung, die das Jobcenter seit langem gesehen hatte. Es ging ja gar nicht anders, er würde Montag mit Henning sprechen müssen, schon aus eigenem Interesse.

Er blieb bis Dienstschluss im Büro, weil er aus Unkonzentriertheit für die Zusammenstellung der Fachaufsichtsfälle doppelt so lange brauchte wie sonst. Zuhause wartete niemand, denn Lucy übernachtete bei ihrer besten Freundin. Vielleicht erzählte sie ihr schon davon, dass sie bald wegziehen würde? Sein Kind würde ihm fehlen, aber trotz aller Liebe zu ihr merkte er, es war Zeit, für sie, für ihn, für Patricia. Es würde dauern, bis er sich an die neue Situation gewöhnen würde und daran, wieder allein zu sein, zum ersten Mal seit seiner Junggesellenzeit. 

Aber vielleicht musste er das ja gar nicht. Denn als er nach Hause kam, mit Aktentasche, Einkaufstüten und einem Thai Curry in der Hand, stand auf seinem Briefkasten ein Päckchen. Siegfried wusste sofort, was es war, als er seine handgeschriebene Adresse sah, obwohl er Juliens Schrift doch gar nicht kannte. Noch im Sakko, die Tüten lagen unausgepackt auf dem Küchenboden, riss er den Umschlag auf und fand darin das Buch und einen handgeschriebenen Brief, den er mit klopfendem Herzen las. Du bist albern, Siegfried, dachte er, du bist ein erwachsener Mann. Der Brief war sachlich, fast ein bisschen ruppig im Ton, und wie Juliens Mail grammatikalisch nicht ganz einwandfrei. Aber Siegfried hielt Juliens eigenes Buch in den Händen, und der Umschlag war unfrankiert, das bedeutete, Julien war hier gewesen, um das Buch persönlich abzugeben. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Und als Siegfried sich auf den Küchenstuhl setzte und das Buch aufschlug, fand er die Widmung:

Für Siegfried

Dieser Ingenieur leistete ganze Arbeit. Lag ihm das Umbauprojekt vielleicht auch persönlich am Herzen?

Verlorene Illusionen

Bei der Wohnungsbesichtigung hatten sie ihren Spaß. Der Zufall (=die Schicksalsgöttin) bescherte ihnen einen Makler, der jung war, und dies vielleicht seine erste Durchführung eines Besichtigungstermins. Ohne sich abgesprochen zu haben, zogen sie eine Show ab, die ihn sichtlich beeindruckte. Sie waren sich unabhängig voneinander bewusst, dass sie eine Erscheinung boten, so wie sie dort auftauchten, kurz vor Ende des angegebenen Zeitfensters: der große, exotische Mann im Werberkostüm, flankiert von zwei schönen Frauen, apart und im weißen Kleid die eine, hell und voller Energie die andere. Unter den immer noch zahlreichen Leuten, die sich in der Wohnung aufhielten, fielen sie sofort auf und wurden mit teils bewundernden, teils kritischen Blicken bedacht. Sie machten alle drei den Eindruck, als sei ihnen der Termin lästig, als erwiesen sie dem Makler eine Gnade, würden sie sich für die Wohnung entscheiden. 

Harriet war ganz upper class. Hollmann, sagte sie in dem Ton, der ihm bedeuten sollte, er begreife hoffentlich, wen er da vor sich habe, und als sie sah, er wusste es, stellte sie ihm nur noch Fragen, die er nicht beantworten konnte (»Ach so, das wissen Sie nicht. Eine Biotonne wäre uns natürlich schon wichtig. Sie machen das hier noch nicht so lange, oder? Fragen Sie doch mal eben Ihren Chef. – Der arbeitet samstags nicht? Na!«). Elli bewegte sich durch die Wohnung, als sei schon klar, dass sie einziehen würde. Mit entschlossenen Schritten ging sie von Zimmer zu Zimmer, kritisch betrachtete sie einen dunklen Fleck auf dem Boden unter der Gastherme (»Dat kommt aber noch weg, oder? Jeht dat Ding überhaupt richtig?«). Julien sah ihr an, wie aufgeregt sie war, und dass sich zwischendurch ihr Blick verdunkelte, vielleicht weil sie sich vorstellte, dass ihre Möbel hier noch schäbiger wirken würden, und dass das überhaupt nicht ging. Sie war begeistert von den hellen Zimmern und dem Laminat, das fast aussah wie echtes Parkett, kein Vergleich zu ihrem fiesen Teppich.

Als sie an einem der bodentiefen Fenster stand und auf die Bäume und benachbarten Rotklinkerhäuser schaute, trat Julien neben sie und legte den Arm um ihre Schulter.

»Gefällt’s dir?«

»Ja«, sagte sie aus tiefstem Herzen. »Aber jlaubst du, ich hab eine Chance? So viele Leute, Juli! Und die haben bestimmt alle ein Superjob und Bausparvertrag und so.«

»Kriegen wir hin«, sagte er. Hier konnte er sich seine Schwester vorstellen, in einer vernünftig ausgestatteten Wohnung, mit noch nicht ganz versnobten Nachbarn, in einer Gegend, in der sie keine Angst haben musste. Sie hatte das verdient, mehr als jeder der Medizinstudenten mit Elternbürgschaft und Mini vor der Tür, und schon dreimal mehr als die überheblichen Doppelverdiener, die sich schon während der Besichtigung in die Haare kriegten. Nachdem er sich alle Räume in Ruhe angesehen hatte, maßvollen Schrittes, die Hände auf den Rücken gelegt und mit unbewegtem Gesichtsausdruck jedes Detail erfassend, ging Julien zu dem Makler, der die Auskunftsbögen ausgab und einsammelte. Er würde seiner Schwester die Wohnung verschaffen, und dazu musste er das Maximum bieten. Er war weder Beamter im gehobenen Dienst wie Henning, noch verfügte er über Siegfrieds angeborene Seriosität (und dessen unbefristeten, ebenso seriösen Arbeitsvertrag), und er war schon gar nicht Harriet, die zwar kein festes Einkommen zu bieten hatte, dafür Vermögen und einen Namen, verbunden mit einer Herkunft und dem entsprechenden Auftreten. Er war aber immer noch der Juli: ehrgeizig, willensstark und fest entschlossen, sich zu holen, was ihm zustand, egal wie (außer durch Hinlegen). Und im Gegensatz zu damals, als er seine eigene Wohnung an der Elbe anmietete, fürchtete er nicht mehr, erkannt zu werden als der, der er war, im Gegenteil. Falls ihn der andere für unseriös hielt, na und? Julien nahm einen der Bögen und überflog ihn, dann begann er ein Gespräch mit dem Mann. Mit Blödsinn wie Arbeitsverhältnis und Schufa-Auskunft hielt er sich gar nicht erst auf, sondern sagte, er wolle die Wohnung für seine Schwester anmieten, die nun aus Köln hierher komme, um zu studieren. Er reichte dem Mann seine Karte, nannte ihm sein Jahreseinkommen (wie es inklusive des Auftrags von Von de Vos & Siemssen ausgesehen hätte) und sagte, seinetwegen könne er die Miete auch gleich für zwei Jahre im Voraus bezahlen. Auf den irritierten Blick des Maklers hin lächelte er und meinte, er wisse ja, dass manche Eigentümer lieber einen Mieter mit unbefristetem Vertrag im höheren Dienst hätten statt eines freien Kreativen. An Sicherheit solle es nicht scheitern! Während der Makler auf die Visitenkarte schaute, dachte Julien, dass er eben einen Kredit aufnehmen würde, sollte der Vermieter darauf eingehen, aber den würde er schon irgendwie bekommen. In der Zwischenzeit trat Harriet zu ihnen, nahm seinen Arm und sah ihn ein bisschen leidend an.

»Und, was denkst du, mon ami?«, sagte sie und drückte ganz leicht seinen Arm. »Ist das das Richtige für Gabrielle?«

Er tat ebenso skeptisch, zuckte mit den Schultern und sah sich um. »Tja, soweit – eigentlich nicht verkehrt. Die Küche, da müsste noch das eine oder andere behoben werden. Aber sonst.«

»Behoben, was meinen Sie?«, fragte der Makler. 

Die Küche war exklusiv ausgestattet, fast wie Juliens eigene, nicht neu, aber ähnlich ungenutzt. Ohne den Mann anzusehen, sagte Julien: »Ich meine die Gebrauchsspuren.«

Er ging in die Küche und winkte den Makler zu sich. Seine scharfer Blick fürs Detail hatte ihn die kleinsten Zeichen der Abnutzung finden lassen, an den Ecken, auf den Arbeitsflächen und dem Induktionsfeld, und natürlich, der Fleck auf den Fliesen, sowas sei absolut unmöglich bei dem Preis.

»Also der Preis … für die Lage, und die Ausstattung—« warf der Makler schüchtern ein, Julien winkte ab. 

»Da haben wir ganz andere Angebote«, unterbrach er unwirsch, »außerdem kann ich wohl grundsätzlich erwarten, dass ich für mein Geld bekomme, was in der Anzeige abgebildet war. Oder seh ich das falsch? Beim Einsatz von Photoshop muss man schon ein bisschen aufpassen.« Er sah aus dem Augenwinkel, wie Harriet im Türrahmen ein Lächeln unterdrückte und sich abwandte.

»Nein, natürlich, da haben Sie natürlich recht – also ja, da müsste man dann—«

Julien nickte. »Sie kümmern sich. Gut.«

Und dann kam Elli aus dem Bad. Ohne zu wissen, dass sie Gabrielle war und demnächst studieren würde, sagte sie, und so akzentfrei hatte Julien sie noch nie sprechen gehört: »Ja also von mir aus – ich könnte mir das ganz gut vorstellen«, als habe sie allein es in der Hand. 

Sie verwickelten den Makler noch weiter ins Gespräch und ließen sich auch von zwischenfragenden Interessenten nicht stören, so lange, bis sie schließlich die Letzten waren. Der junge Mann schien mittlerweile breitgequatscht und willens, ihnen die Wohnung sofort zu geben. Julien machte noch ein bisschen auf dicke Hose und füllte den Bogen aus reiner Großzügigkeit aus: Nötig habe er das nicht, sagte sein Blick. Er stand schon mit Harriet im Treppenhaus, da sah er Elli noch mit dem Makler reden. Der machte ein überraschtes Gesicht, dann lächelte er, Elli zwinkerte ihm zu und ließ ihn stehen.

»Was hast du dem Typen eigentlich gesagt?«, fragte Julien, als sie danach bei einem Kaffee in der Sonne saßen.

»Nix.« Sie machte sich eine Zigarette an, zufrieden schaute sie auf die Straße. 

»Für nix war der aber janz schön selig«, sagte er misstrauisch. Nicht dass sie die familiäre Tradition des zweckorientierten Sichhinlegens fortführen wollte, wo er selbst jetzt endgültig damit aufgehört hatte! Aber eigentlich traute er ihr das nicht zu.

»Und, was meint ihr? Bekommt ihr die Wohnung?«, fragte Harriet. »Ich fand sie sehr schön. So hell.«

»Mit gefällt sie auch. Aber der Typ ist ein Lappen. Wahrscheinlich hat Elli doch Recht und die geht an so einen reichen Sohn. Der eine Vater hatte bestimmt ordentlich Schmiergeld in der Tasche. – Ejal, wir finden schon wat.«

»Abwarten«, sagte Elli vergnügt. »Auf jeden Fall stimmte dat, Harriet. War echt lustig, sowat mal mitzumachen.«

Auch später, als sie bei offener Balkontür auf dem Sofa lagen und sich das Spiel der Franzosen gegen Argentinien ansahen, fragte er sie nochmal, was sie gesagt hatte, aber sie schwieg beharrlich. Sie lag in seinem Arm, den Kopf an seine Brust gelehnt, und ob sie es aus Reflex tat oder weil sie ihn ablenken wollte, öffnete ihre Hand zwei Knöpfe seines Hemds und verschwand in seinem Ausschnitt. Sie streichelte ihn wie früher, dabei schaute sie auf den Fernseher. Das tat gut, und obwohl das Spiel hochdramatisch war, legte er den Kopf zurück und schloss die Augen.

»Dat verlieren die«, sagte sie, »die Franzosen.«

»Blödsinn. Die werden Weltmeister.«

»Meinst du?«

»Die müssen«, sagte er, immer noch mit geschlossenen Augen, er dachte an Henning und daran, dass es eigentlich scheißegal war, wer gewann. Dann fiel ihm Ellis Reaktion auf seine Bemerkungen über Henning ein, und wieder der Makler, und er war zurück in der Gegenwart.

»Hör mal«, sagte er, »du baust aber keinen Scheiß, oder?«

»Wie, wat meinst du?«, fragte sie erstaunt.

»Ja wegen dem Makler.« 

Sie sah ihn an mit Véroniques Blick, sie lächelte und sagte: »Keine Angst, Jung. Auf sowat würd ich nie kommen«, als ob sie nicht nur ahnte, was er gerade meinte, und ihn beschlich wieder der Verdacht, dass sie doch mehr wusste, als sie sagte. Er schwieg beunruhigt, ihre Zärtlichkeit konnte er nicht mehr genießen. Ihm fiel etwas ein. Annick!

»Du hast doch neulich mit deiner Schwester telefoniert.«

»Wat? – Ach ja, stimmt. Unsere Schwester, Juli.«

»Wat hat die so erzählt?«

»Och.« Elli löste sich von ihm und streckte sich, sie griff in die Flipstüte, zog ihre Beine an und kuschelte sich wieder in seinen Arm. »Ja, wat hat die erzählt? Die ist immer noch beim ALDI an der Kasse, aber Teilzeit, wejen dem Kind.«

»Sie hat ein Kind?«

»Ja, dat ist schon drei oder vier. Warte, wie heißt die noch? Ich mein, Lena, oder? Nä – Leona! Ja, und die – also die Anni, die könnte da jetzt so eine Ausbildung machen, dann wär sie irjendwann Filialleiterin. Und der Mann von der, der ist immer noch Krankenwagenfahrer oder Altenpfleje oder so.«

Sie holte sich die Tüte Flips und aß, während sie erzählte, sie krümelte seine Brust und das Sofa voll. »Die ist janz – warte, wie heißt dat noch? Solide, die Anni. Ja, da kuckste.«

Da kuckte er in der Tat. Annick war ihm nie so nah gewesen wie Elli, aber wenn er sich an sie erinnerte, dachte er an das selbstbewusste Kind, das sich nichts gefallen ließ. Sie hatte wahrscheinlich irgendwann die Schnauze voll gehabt und ihre Konsequenzen gezogen.

»Hast du das Kind schonmal gesehen? Oder sie? Habt ihr noch viel Kontakt?«

»Nä, jar nit. Die Anni will auch nix mehr mit früher zu tun haben.«

»Und wo wohnt sie jetzt?«

»In Vogelsang.«

Elli erzählte das alles so beiläufig, es schien ihr wirklich nicht wichtig zu sein. Ihn bewegte es mehr, als er gedacht hätte. Sie verfolgten weiter das Spiel, aber er war nicht bei der Sache.

»Hast du ihr erzählt, dass du – also dass wir uns getroffen haben?«, fragte er.

»Ja, aber dat hat die jar nit interessiert.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Weißt du, wat die nur jesagt hat? ›Und, sitzt der im Knast?‹« Sie lachte. »Bescheuert, echt. Ich hab dann auch weiter jar nix erzählt. Wozu auch.« Dann schaute sie wieder auf den Fernseher.

Ein Satz wie ein Schlag in die Fresse. Es tat richtig weh. Aber was sollte Annick von ihm halten? Sie hatte ihn in Erinnerung als den, der auf ihre Mutter losgegangen und dann über Nacht verschwunden war. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er umfasste Ellis Schulter vielleicht etwas fester, er sagte:

»Ich hatte die immer gern, doch. Aber jut, wat soll die auch von mir denken.«

»Ach, die. Die war immer eifersüchtig auf dich. Dich konnte die nit rumkommandieren, und deshalb war die froh, dat du dann weg warst.« Vielleicht hörte sie, dass es ihn mehr mitnahm, als er zugeben wollte. Sie setzte sich auf, ernst sah sie ihn an. »Hätt ich besser nit erzählt, oder? Tut mir leid«, sagte sie. Sie legte die Tüte beiseite, wischte ihre Finger an ihrer Hose ab und strich ihm über die Wange. Und weil sie ihn so ansah, und weil er sich durch die paar achtlos gesagten Worte um Jahrzehnte und Errungenschaften und Gewissheiten zurückgeworfen fühlte, und weil er meinte, außer ihr nichts mehr zu haben, was ihm Halt gab, umarmte er sie; er hielt sie fest an sich gedrückt und kämpfte die aufkommenden Tränen nieder. So oft wie in den letzten paar Wochen hatte er seit seiner Kindheit nicht geheult.

»Och Juli«, sagte sie, »Juli, komm. Dat is doch vorbei.«

Nein, war es nicht. Als er seine Ausgehuniform anlegte, betrachtete er sein Spiegelbild, bevor er das Hemd überzog, er konnte sich nicht mehr sehen: vernarbt, verschrammt und fleckenschillernd nackt, mit seinem ewigen, dummen Wat wells do?-Blick, der feingemachte Asi, der nicht rauskam aus der Nummer, so sehr er es versuchte. Alle Gewissheit, dass es von nun an anders werden würde und er selbst souverän und dazu stehend, wie er war, schien verschwunden; der Spaß, den er heute morgen dabei gehabt hatte, als Mr. Unseriös aufzutreten, verwandelte sich in Scham. Die neue Sicherheit trug noch nicht, sie war dünn wie frisches Land über dem darunterliegenden, gärenden Sumpf: Eine Bemerkung genügte, und er versank. Wie sollte er jetzt den Abend mit Harriet und den Hahlbroocks überstehen? Er dachte an Annick, daran, wie es mit ihm hätte enden können, wäre sie damals nicht dazwischen gegangen, und wie er glauben konnte, alles hinter sich gelassen zu haben. 

Einmal hatte er eine mittlere Schicht, und als er am Abend vorher gegangen war, tat Annick das Ohr weh. Deshalb fuhr er vor der Ar-beit bei Véronique vorbei, er hatte kein gutes Gefühl. Als er die Wohnung aufschloss, hörte er Annick schon schreien wie am Spieß. Sie hatte hohes Fieber, jammerte und weinte, das tut so weh, Juli! Julien musste eigentlich los, aber das Kind! Jürgen saß am Küchentisch, ganz verzweifelt und nicht in der Lage, zu handeln. Véronique war nicht da. Wo ist die, fragte Julien; och Jung, wat frögst do mich?!, sagte Jürgen. Julien nahm beide Kinder und ging mit ihnen zum Kinderarzt. Sie fragten ihn dort, wer er denn sei und wie er dazu käme, mit den Kindern zum Arzt zu gehen. Er versuchte, es zu erklären, ohne sich als ihr Bruder zu erkennen zu geben: Die Mutter müsse arbeiten, der Vater sei krank, und er sei der Nachbar, der sich manchmal kümmere. Die Arzthelferin blieb misstrauisch, aber dem Kind musste natürlich geholfen werden. Im Wartezimmer sahen sie ihn schräg an. Er hatte Annick auf dem Schoß, ihren fieberglühenden Körper fest an sich gedrückt; weil sie immer noch so doll weinte, wiegte er sie ein bisschen. Elli saß neben ihm auf dem Stuhl in stummem Staunen, die kleine Hand auf seinem Bein. Sie fing plötzlich auch an zu weinen, weil ihre Schwester so litt, da nahm er sie auch auf den Schoß. Dann kamen sie endlich dran. Annick hatte auf beiden Ohren eine Mittelohrentzündung. Die Ärztin schimpfte mit Julien, weil er jetzt erst kam, das arme Kind! Sie verschrieb Tropfen und was gegen Fieber, und viel Trinken sollte sie. Julien musste dann noch in die Apotheke, Annick auf dem Arm, Elli an der Hand. Als sie zuhause waren, versuchte er, Annick die Tropfen einzuflössen; sie wehrte sich und schrie, nein, das tut weh, lass lass, und weil sie so wild strampelte, hatte sie immer noch mehr Schmerzen. Elli stand neben dem Bett und weinte auch. Weil Annick sich nicht bändigen ließ, klebte er ihr eine, zum ersten und einzigen Mal, da war sie still. Er gab ihr die Tropfen, er strich ihr übers Haar, tut mir leid, sagte er, tut mir leid!, wird gleich besser, Schatz. Da lag sie im großen Ehebett, ganz klein und elend und jammerte in einer Tour. Julien dachte an Doris, die sich immerhin als gute Christin gekümmert hatte, wenn er als Kind krank gewesen war. Er ließ Wasser ins Waschbecken und warf zwei saubere Handtücher und einen Waschlappen hinein. Den legte er Annick auf die Stirn, die klatschnassen Tücher wickelte er vorsichtig um ihre Beine und legte trockene darunter. Er saß neben ihr auf dem Bett, ihre heiße Hand in der seinen und wartete, bis sie irgendwann vor lauter Erschöpfung einschlief. Dann ging er in die Küche und sagte däm Jürjen, du setzt dich jetzt da hin und passt auf dat Kind auf. Ich bring dir deinen Kaffee. – Und die Fluppen, sagte Jürgen, da fuhr Julien ihn an, als ob du jetzt hier rauchst! Während Jürgen das kranke Kind bewachte, erledigte Julien den üblichen Scheiß, spülen, aufräumen, Käfige sauber, Müll raus, und Elli immer bei ihm, immer wieder schluchzend, bis er sich zu ihr niederhockte, ihr das Haar hinter die Ohren strich und die Tränen von den Wangen und sagte, dat geht vorbei, pass auf, morgen jeht et der Anni wieder jut. Und kuck mal, du bist ja ganz gesund, dat is doch dat Wichtigste. Elli schaute ihn ernst an, sie legte ihre Arme um seinen Hals. Wann kommt die Mama, fragte sie; gleich, sagte Julien. Aber bleibst du hier bis die kommt, fragte sie; na klar, sagte er. Als Véronique nach Hause kam, war es schon kurz vor sieben. Er schrie sie an und machte ihr eine Szene, wo warst du, dein Kind ist krank, gestern ging der das schon so schlecht, die hat hier den ganzen Tag gelegen, ich war mit der beim Arzt. Sie sagte nur, reg dich ab, dann ist ja gut. Und sie sagte, dafür, dass du schuld an allem bist, kannst du ja auch mal was tun. – Du bist zu nix zu jebrauchen, sagte sie zu Jürgen und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf, wat soll ich mit nem Mann wie dir!, und Elli, die nicht schnell genug an ihr vorbeischleichen konnte, fing sich auch noch eine. Julien beherrschte sich und ging über Véroniques Ungerechtigkeit hinweg, er dachte nur an das fiebernde Kind. Du bleibst heute Abend zuhause, sagte er zu ihr, wag es dich, wegzugehen. Und kümmer dich wenigstens einmal. Und wie er so vor ihr stand in seiner Größe, die Fäuste geballt und voller Zorn, widersprach sie ihm tatsächlich nicht. Sie hatte keine Angst vor ihm, aber er sah, sie hasste ihn, weil er Recht hatte und da war, als sie hätte da sein sollen.

Auf Arbeit anzurufen, das hatte er vergessen. 

Am nächsten Tag sagte der Chef, nochmal sowas, und du kannst zuhause bleiben. Familie, sagte Julien. Ja klar, sagte der Chef, immer ist was, der Opa gestorben oder die Stiefschwester hat Ohren. Ihr seid alle gleich, wenn es um Ausreden geht. So viele Verwandte kann man doch gar nicht haben. Das war unfair, Julien hatte noch nie wegen irgendwas gefehlt, aber auch das schluckte er. Als er nach Hause kam, war Marcel nicht schlecht gelaunt wie sonst, sondern im Gegenteil ganz aufmerksam und zärtlich und sah Julien immer so an. Julien war müde und traurig, Marcel ließ aber nicht ab von ihm, er wollte ihn unbedingt; mein Süßer, flüsterte er, ich weiß nicht warum, aber könnte dich heute verschlingen. Also tat Julien ihm den Gefallen, und ihn selbst lenkte es immerhin auch irgendwie ab. Bevor er schlafen ging, klaute er Marcel noch fünf Mark für Kippen und Cola aus dem Portemonnaie und versteckte sie in seiner Jacke. 

Als er Harriet vor dem Eingang vom Johann traf, war ihm nichts mehr anzusehen. Sie sagte ihm später, dass sie wieder so ein inneres Leuchten an ihm gesehen habe, wie nach dem Empfang. Das war ihm weder damals noch jetzt bewusst. Damals war Thies der Grund gewesen, jetzt war sie es – und die Mail, die er kurz vor seinem Aufbruch noch gelesen hatte, bei einer Zigarette auf dem Balkon.

Lieber Julien,

Sie wissen nicht, welche Freude Sie mir mit Ihrer Post gemacht haben. Herzlichen Dank für Ihre Mühen! Vor allem dafür, dass es Ihr eigenes Exemplar ist, welches ich hier in den Händen halte: Das macht es mir umso wertvoller. (Aber auch das können Sie nicht wissen. Das heißt, jetzt wissen Sie es.) Wie schade, dass Sie mich nicht angetroffen haben! (Ich war nach der Arbeit noch einkaufen, und alles, was ich gekauft habe, hätte ich eigentlich nicht gebraucht. Dass ich Sie nur deswegen verpasst habe, ärgert mich maßlos.) Es läge mir viel daran, mich persönlich bei Ihnen zu bedanken. Vielleicht ergibt es sich bei Gelegenheit?

Hier eine erste Rückmeldung zu Ihrem Buch: Schon nach kurzer Durchsicht habe ich festgestellt, es ist genau, wie ich es mir dachte. Woher nehmen Sie dieses Einfühlungsvermögen, Geschriebenes in sichtbare, nein erfahrbare Anteilnahme umzusetzen? (Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Kann man sowas studieren? Ich glaube nicht. Das sind eben Sie.) Ich würde mich sehr gern einmal mit Ihnen darüber austauschen.

Aber wie Sie ja selbst schon erlebt haben, geht meine Begeisterung manchmal mit mir durch. Falls Ihnen das alles hier also zu viel wird, vergessen Sie es bitte gleich wieder, und betrachten Sie mich fortan einfach als interessierten Bewunderer Ihrer Arbeit.

Herzlichst (und in der Hoffnung, mich nicht um Kopf und Kragen geschrieben zu haben), 

Siegfried

Wieviel Mut Siegfried gebraucht hatte, diese Mail zu schreiben und dann auch noch abzuschicken, ahnte Julien nicht, so wie Siegfried nicht wissen konnte, dass er dadurch das Steuer herumriss und Julien aus den trüben Gewässern der Scham hinausführte, rosaroten Horizonten entgegen. Juliens Nervenkostüm war mittlerweile papierdünn, sein Gemütszustand schwankte ständig zwischen Zweifel und Siegesgewissheit, Wut und sentimentaler Weichheit. Deshalb schlug die selbstquälerische Verachtung, mit der er sich für den Abend zurechtgemacht hatte, innerhalb weniger Minuten in das Bewusstsein um, doch zu irgendetwas, oder vielmehr für jemanden gut zu sein.

Wie dieser Mann schrieb! 

Siegfried schrieb, wie Julien ihn vor sich sah: um einiges älter, kultiviert, freundlich, zuhause in der Welt des Geistes. Aber hinter seinen Zeilen glaubte Julien, noch etwas anderes zu erkennen: einen Mann, den es in seinem Zuhause nicht mehr hielt. Siegfried schrieb altmodisch und offiziell die Distanz wahrend, wie sie sich zwischen zwei Männern gehörte, die sich kaum kannten – nur um diese Distanz und den förmlichen Ton durch die in Klammern gesetzten Bemerkungen sofort wieder zurückzunehmen. Sie klangen für Julien wie etwas mit leiser Stimme ins Ohr Gesagtes, trocken, selbstironisch, und ziemlich persönlich. Er hatte das Gefühl, dass Siegfried nur für ihn so schrieb, als wüsste er, wie Julien vor über zwanzig Jahren so ergriffen Diderots Briefe gelesen hatte, und dass es in seinem Kopf oft zuging wie in den alten Büchern, in denen die Leute so schön miteinander redeten, auch wenn er es selbst nie schaffte, sich genauso schön auszudrücken wie sie. Hätte Julien vor zweihundert Jahren gelebt, hätte er sich in Siegfrieds Briefe verliebt. Aber weil er im 21. Jahrhundert lebte, verliebte er sich in dessen Mails. 

In diesem Moment war ihm das allerdings noch nicht bewusst, weil es so unwahrscheinlich schien, und weil die Erinnerung an Thies noch zu frisch war. Jetzt fand er schön, jemanden zu kennen, der anders war als alle, die er bisher kennengelernt hatte, und dass dieser jemand, der doch kaum fünf Minuten mit ihm gesprochen und ihm nur zweimal tief in die Augen geschaut hatte, zu wissen schien, wonach Julien sich sehnte.

Praxis der feinen Leute

Sie waren ein bisschen zu früh, also warteten sie vor dem Eingang. Harriet strich über sein Revers. »Sehr gut siehst du aus. Mit weißem Hemd kommen die so schön zur Geltung«, sagte sie und berührte mit den Fingerspitzen Thies’ Souvenirs auf seiner Brust. Julien schloss einen Knopf, um sie zu verdecken.

»Lass doch«, sagte sie, »wenn sie denken, ich war das, umso besser. – Welche Body Lotion benutzt du eigentlich? Du hast so unfassbar glatte Haut.«

»Schönheitsgeheimnis«, sagte er, der sich von ihr und Elli gern als Eine von ihnen behandeln ließ, weil es ihnen gefiel, ihn für durch und durch schwul zu halten, obwohl sie es besser wussten.

»Bitte, dann eben nicht. Am Ende scheitert es sowieso am Bindegewebe. – Wie war dein Tag noch?«

»Gut soweit«, sagte er, jetzt stimmte es ja wieder. »Wir sind im Viertelfinale.«

»Wir? Wo?«

»Les Bleus.«

»Ach stimmt, es ist ja WM. Ich wusste gar nicht, dass dich das interessiert.«

»Ich hab außerdem erfahren, dass ich seit vier Jahren Onkel bin.«

»Onkel!« Sie sah ihn überrascht an. Er erzählte von Annick, das konnte er, weil es ihm nichts mehr ausmachte, jetzt, wo er hier bei Harriet in Sicherheit war.

»Strahlst du deshalb so?«, fragte sie. Strahlte er?

»Strahle ich?«

»Irgendwie schon.«

Dass Siegfried wie selbstverständlich von Herr Lemaire zu Julien übergegangen war, lag wahrscheinlich an der Widmung; es kam Julien fast verwegen vor. Dass er zweimal deutlich sagte, dass er ihn wiedersehen wollte, aber dabei natürlich beim Sie blieb, machte ihn irgendwie an.

»Ich hab mich auf dich gefreut«, sagte Julien, und auch das stimmte ja.

»Ich mich auch auf dich«, sagte sie warm.

»Gibt es eigentlich einen Anlass? Für das Essen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Gesagt hat sie nichts. Vielleicht werd ich ja auch Tante, wer weiß. Aber wahrscheinlich ist sie einfach nur neugierig. Mach dich darauf gefasst, sie wird dich ausquetschen, und Malte wird versuchen, dich zu kritisieren, wo es nur geht. Es wird anstrengend.« Sie schenkte ihm einen schönen Blick, da war sie wieder, die Vertrautheit.

»Wir haben schon ganz andere Sachen hingekriegt, ma douce«, und vor lauter Glück legte er den Arm um ihre Taille und küsste sie, sie küsste zurück, ihre Vertrautheit besiegelnd, und in dem Moment fuhr Maltes Wagen vor, und Helen winkte ihnen.

Malte glich Thies in so vielen Dingen, es tat fast weh. Julien beobachtete an ihm dieselbe Art, den Mund zu verziehen oder Leute zu taxieren. Malte war auch äußerlich ein ähnlicher Typ wie Thies, etwas breiter und nicht schön, sondern nur ganz gut aussehend, aber genauso blond, genauso hanseatisch. Allerdings wirkte er älter als Thies, obwohl sie im selben Alter sein mussten. Julien hatte das Gefühl, einem Fünfzigjährigen gegenüber zu sitzen. Er erinnerte sich, dass ihm auch die jungen Leute auf dem Empfang alt vorgekommen waren. Und im Gegensatz zu Thies fehlte Malte jeglicher Charme; allem, was er tat und sagte, haftete etwas Negatives an. Er lächelte nicht ein einziges Mal, sein Ton war grundsätzlich ungnädig, egal, ob er mit seiner Frau sprach oder mit Julien oder dem Kellner. Und wenn Julien gedacht hatte, Henning würde ihn verachten: Malte tat es definitiv und gab sich keine Mühe, das zu verbergen.

Die beiden Schwestern ähnelten sich auf den ersten Blick fast wie Zwillinge, bloß hatten Helens Augen nicht das warme Braun, sondern waren blau, fast grau. Nach gängigen Kriterien schien Helen die attraktivere Schwester von beiden. Sie wirkte heute viel weniger bieder, das Kleine Schwarze betonte ihre Beine und Arme, und sie war nicht mager wie Harriet, sondern hatte das, was man eine weibliche Figur nennen würde. Helen strahlte zeitgemäße Eleganz und Reichtum aus; ihr Lächeln war gewinnend, ihre Züge weicher. Sie war auf eine völlig andere Art Frau als Harriet: zwar ebensowenig zufällig und genauso bestimmt, aber eine Frau, die sich ihrer Anziehungskraft bewusst war – eine, die man beim Abendessen mit dem Chef an seiner Seite und zuhause im Bett haben wollte. So empfand es Julien, als sie ihm gegenübersaß. Und wie bei ihrer ersten Begegnung stellte er fest, dass ihn nichts an ihr reizte. Er fand sie schon nach wenigen Worten immer noch oberflächlich und unoriginell. Sie erinnerte ihn an den Typ Frau, die er damals in Berlin bedient hatte: Sie sah auf ihn herab und signalisierte ihm zugleich, dass sie ihn attraktiv fand. Helen flirtete offen mit ihm, und ihr Mann sah dabei zu. Bestimmt tat sie es, um ihre Schwester zu demütigen, und dagegen hatte Malte vermutlich nichts.

Harriet kam Julien in Helens Gegenwart noch wunderbarer vor als sonst. Er liebte ihre Sperrigkeit, ihren Verstand, und dass sie kämpferisch und widersprüchlich war und schockierend ehrlich. Er liebte ihren unkonventionellen Stil, ihre Art, sich zu bewegen – wie sie mit ihm sprach, wie sie mit ihm schlief, wie sie ihn ansah. Und er begehrte ihren Körper, scharfkantig, schimmernd, luxuriös. Nichts an ihr würde er anders haben wollen: Sie war und blieb Juliens Göttin. Vom ersten Moment an bildeten sie eine Einheit gegen Helen und Malte. Und vom ersten Moment an war seine Göttin wie verwandelt, er erkannte sie kaum wieder.

Denn den Abend bestritten zunächst in der Hauptsache Malte und Julien, vielmehr führte Malte das Wort und gab Julien entweder durch kleine Sticheleien einen mit oder attackierte ihn offen. Einzelheiten zu erzählen lohnt nicht, das Gespräch unterschied sich in Inhalt und Tonality kaum von dem in Tjarks Kate, das wir schon kennen. Zwei Beispiele genügen, um zu zeigen, was dazu führte, dass der Abend eine entscheidende Wendung nahm.

Als sie die Weinkarte studierten, sagte Malte: »Einen Franzosen wirst du hier nicht finden«, ohne dass Julien überhaupt den Mund aufgemacht hatte.

»Schade«, entgegnete Julien höflich.

»Wenn man sich auskennt, weiß man, dass man hierher kommt, um einen Italiener zu trinken.«

»Ich bin zum ersten Mal hier.«

»Das war mir schon klar. Aber man kann sich ja vorher informieren.«

Julien blieb weiterhin höflich. »Ich dachte, ich lass mich überraschen. Außerdem, was spricht gegen Weißwein von der Loire?«

Malte winkte ab. »Mal ein bisschen über den Tellerrand schauen? Du siehst ja, wohin euch euer Nationalismus geführt hat. Ein Volk von Starrsinnigen, und immer beleidigt. La Grande Nation! Frankreich spielt doch heutzutage keine Rolle mehr, nirgendwo.« Er lehnte sich vor. »Abgesehen davon, wenn du einen wirklich guten Weißwein trinken willst, nimmst du sowieso Riesling von der Mosel. Aber wie gesagt, dafür muss man halt Ahnung haben.«

Julien schwieg, er sah Harriet kurz an, blieb jedoch an ihrem Blick hängen. Sie schien nervös, irgendwie zurückgenommen. Auch ihre Haltung war anders, überhaupt nicht so aufrecht gelassen wie sonst. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst und wandte den Blick ab, als er sie ansah. Malte bestellte Südtiroler Chardonnay für den ersten, Barolo für den zweiten Gang, es sei denn, du bestehst wieder auf deinen Biowein, Schwägerin, da schüttelte sie nur den Kopf. Während sie warteten, wechselte Helen ein paar Worte mit ihrem Mann. Julien hörte nicht zu, er war erstaunt über Harriets Verspannung. Was denn, dachte er, so schlimm? Er sah ihr zu, wie sie ein Stück Brot nahm und es mehr zerkrümelte als aß, und als sie miteinander anstießen und sich ihre Blicke trafen, wusste er, es war so schlimm. Gegen die Macht ihrer Familie schien sie nicht anzukommen, und sie litt sichtbar darunter. Julien verstand immer noch nicht, welchen Sinn dieses Essen haben sollte. Wollten sie Harriet beweisen, dass er nichts taugte, wollte Malte ihn bloßstellen? Oder ging es um Harriet? Malte teilte auch ihr gegenüber aus, indem er sich herablassend über Künstler, Intellektuelle und Die schreibende Zunft ausließ. Julien hatte selbst wenig Ahnung von Kultur, aber Malte war in dieser Hinsicht ein Banause und einfach nur laut. Harriet antwortete einsilbig. Julien sah sie immer wieder an. Wo waren ihre Schlagfertigkeit, ihr Humor? Sie, die so gern und viel redete, die sich Wortgefechte lieferte und brillant argumentierte, die so viel wusste und immer etwas zu erzählen hatte, sie machte kaum den Mund auf. Das Essen war gut, das Personal freundlich, es hätte ein schöner Abend werden können, wäre er mit Harriet allein gewesen. An einigen Tischen saßen ähnliche Leute wie Helen und Malte, und von dem, was er mitbekam, wurden dort auch ähnliche Gespräche geführt. Julien fasste sich nachträglich an den Kopf, wie er danach hatte streben können, in diese Kreise aufgenommen zu werden. Was hatte ihn daran gereizt? Dass er sich so hatte blenden lassen! Er sehnte sich danach, mit Harriet allein zu sein, oder mit Elli auf seinem Balkon zu reden und zu rauchen. Sogar die Vorstellung, sich mit Henning bei ein paar Bier das zweite Achtelfinale anzusehen, war reizvoller als dieser Abend. Und wie schön wäre es, mit Siegfried in einer Bar zu sitzen und über Bücher zu sprechen. Siegfried, dachte Julien, in einer Bar? Warum nicht? Er verlor sich in dieser Idee, er war ganz abgelenkt, bis Harriet ihn sanft mit dem Ellenbogen anstieß.

»Entschuldige«, sagte er. Sie nickte zu ihrer Schwester herüber.

Helen hielt ihm lächelnd eine Zeitschrift entgegen. »Für dich, mein Lieber«, sagte sie. Auch ihr Tonfall war dem Harriets ähnlich, eine etwas heller, gereizter klingende Variante. Julien nahm das Heft entgegen, die aktuelle Ausgabe des Hamburger Westens.

»Seite 23. Deine Ausstellung.«

»Oh, sehr freundlich. Vielen Dank.« Er schlug das Heft auf, dort fand er in der Rubrik Kultur