Als wir von den Kirschen sangen - Montserrat Roig - E-Book

Als wir von den Kirschen sangen E-Book

Montserrat Roig

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Beschreibung

Ein vor den Kulissen eines pulsierenden Barcelona kühn, berauschend und lebendig erzählter Roman über politische und persönliche Träume und eine Generation, die danach strebt, die Geister der Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihren Platz in einer sich verändernden Welt zu finden. Natàlia Miralpeix hat Spanien nach der Niederschlagung der Studentenrevolte Anfang der 1960er-Jahre verlassen. Zuerst ging sie nach Paris, wo sie den Mai 1968 erlebte, danach nach England. Nun, zwölf Jahre später, aufgerüttelt von den Neuigkeiten, dass der Anarchist Salvador Puig Antich vom Franco-Regime hingerichtet wurde, kehrt sie zurück nach Barcelona. Veränderung liegt in der Luft: Franco ist zwar noch an der Macht, aber die junge Generation schreibt Gedichte, hört Jimi Hendrix und träumt von einer freieren Zukunft. Die ältere Generation hingegen trägt die verborgenen Wunden des Bürgerkriegs und ihre vereitelten Träume mit sich herum. Dazu gehört auch Natàlias Familie, dieser Clan aus der bürgerlichen Mittelschicht, der durch Heirat und Geschäftsbeziehungen seit Jahrzehnten mit den regimetreuen Ventura-Clarets verbunden ist. Doch Natàlia weiß, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen muss, um sich davon befreien zu können und bereit zu sein, für eine neue Zeit.

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Seitenzahl: 359

Veröffentlichungsjahr: 2024

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MONTSERRAT ROIG

Als wir von denKirschen sangen

Roman

Aus dem Katalanischen von

Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt

Verlag Antje Kunstmann

Für Quim. Immer.

Ein Stammbaum der Familien Miralpeix und

Ventura-Claret findet sich auf S. 284

Inhalt

ERSTER TEIL TÜMPEL

ZWEITER TEIL DER DUFT DES HERBSTES

DRITTER TEIL JAGDHÖRNER

VIERTER TEIL RUHE

FÜNFTER TEIL RUHENDE SCHUTZENGEL

SECHSTER TEIL NICHTS ALS TRÄUME

ERSTER TEIL TÜMPEL

Verlorene Zeit. Verlorene Zeit. Verlorene Zeit.Dieselben Wörter wiederholen, um größere Tiefe zu erlangen,ist vielleicht das Gleiche, wie sich auszuziehen, um den Wegauf der anderen Seite zu finden.

JOAN VINYOLI, Tümpel

AlsNatàlia nach Barcelona zurückkehrte, wollte sie lieber bei Tante Patrícia auf der Gran Via wohnen, in der Nähe der Carrer del Bruc. Ihr Bruder Lluís, der seit achtzehn Jahren mit Sílvia Claret verheiratet war, lebte im höher gelegenen Teil der Stadt, in einer Maisonettewohnung auf der Carrer Calvet, unweit der Via Augusta. Zu ihm zu ziehen kam nicht infrage, und zwar nicht wegen Sílvia, mit der sie zumindest die Liebe zum Kochen verband, sondern wegen Lluís selbst. In den zwölf Jahren, in denen sie fort gewesen war, hatte Natàlia vieles vergessen, aber sie konnte sich noch gut an das spöttische Grinsen ihres Bruders erinnern, als er sie damals ins Krankenhaus gefahren hatte. Sie hätte um ein Haar eine Blutvergiftung gehabt und krümmte sich vor Unterleibsschmerzen, doch als Lluís aufs Gaspedal trat, sagte er, von mir aus kannst du rumvögeln, mit wem du willst, aber schalt vorher dein Hirn ein.

Der Flughafen wirkte auf Natàlia viel größer, heller und geschäftiger, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Es ging zu wie in einem Taubenschlag, alle möglichen Leute liefen umher, und die Leuchttafeln kündigten andauernd ständig und abfliegende Maschinen an. Während sie am Transportband auf ihren Koffer und die zwei Taschen wartete, mein spärliches Gepäck, betrachtete Natàlia abwesend die Leute um sich herum. Der Mann, der von Puig Eau de Cologne geschwärmt hatte, wir exportieren es nach ganz Europa, ein katalanisches Duftwasser, das um die Welt gegangen ist, hatte sich zum Glück ans andere Ende gestellt. Die beiden irischen Nonnen blickten sich, dicht aneinandergedrängt, verstohlen um. Die Frau, deren Lippen feuerrot geschminkt waren wie bei einem Mannequin aus den Fünfzigerjahren, schaute voller Vorfreude zu den Glasscheiben, die zur Vorhalle führten, ob sie jemanden sucht?, der Herr, der Pfeife rauchend den New Statesman las und aussah wie ein Lehrer am British Institute, verglich seine Uhr mit der des Flughafens. Endlich kam das Gepäck, und die Passagiere wanderten wie disziplinierte Ameisen in Reih und Glied zu den Ausgängen. Natàlia Miralpeix zögerte einen Moment: Sie konnte entweder den Bus der Iberia nehmen, der sie zur Plaça d’Espanya bringen würde, oder ein Taxi. Am Flughafen Heathrow hatte sie ihre letzten Pfund Sterling umgetauscht, armer Jimmy, sein ganzes Kapital. Zum Glück stieg das Pfund beständig, und der Wechselkurs war gut.

Sie hob den Arm und hielt ein Taxi an. Dann drehte sie sich um und warf einen letzten Blick auf das Flughafengebäude. Als sie die magischen, scheinbar kindlichen Linien von Miró sah, musste sie lächeln, ich bin zu Hause. Sie stieg hinten in den Wagen ein, bitte zur Gran Via, Ecke Bruc. Im Rückspiegel konnte sie sehen, wie die dunkelgrauen Augen des Taxifahrers sie ab und zu musterten, wie ich wohl aussehen mag? Ist eine allein reisende Frau von fast vierzig Jahren so etwas Seltsames? Vielleicht liegt es an meinen Jeans … Jimmy, der noch abgerissener herumlief als sie, hatte sie gedrängt, die Hose auf dem Portobello-Markt zu kaufen. Wenn an dir was toll ist, dann dein Hintern, hatte er gesagt, du hast einen Knackarsch wie ein Torero, und diese Hose kannst du dir sogar noch enger machen, je enger, desto besser. Wie so oft im Frühling, war der Himmel über Barcelona von einem kompakten, schweren Grau. Es schien, als senkten sich die Wolken langsam herab, bis sie die Baumwipfel berührten. Ein Himmel für Kopfschmerzen und bleierne Müdigkeit. Ein richtiges Gewitter würde uns guttun, sagte der Taxifahrer mit einem Blick auf Natàlia. Sie sah von ihm nur den kurzen faltigen Stiernacken und einen Streifen des Gesichts von der Stirn bis zur Nasenwurzel. Autofriedhöfe, viel Grau und Braun, kaputte Motoren, Einkaufswagen des großen Supermarktes, verstaubtes Laub, abrutschende Straßenränder, todkranke Bäume und die Einsiedelei von Bellvitge, von riesigen Wohnblockreihen förmlich verschlungen, zerrissen die Landschaft. Natàlia betrachtete die staubbedeckten Zypressen der Einsiedelei und dachte an die goldenen Tage, als sie mit ihrem Vater dort gewesen war. Autos brausten dicht am Taxi vorüber, die Leute haben mehr Geld, das hat man mir ja schon gesagt. Natàlia kurbelte die Seitenscheibe hoch.

Zwei Tage zuvor war Puig Antich hingerichtet worden, aber ich bin nicht so naiv, zu erwarten, das würde sich irgendwie auf die Stimmung niederschlagen. Sie erinnerte sich an den tieftraurigen Blick von Jimmys neuer Freundin Jenny, als sie den beiden am Abend vor der Hinrichtung einen Abschiedsbesuch abgestattet hatte. Ich habe das Brathähnchen mitgebracht, das mir immer so gut gelingt. Du lässt die Innereien ausnehmen und steckst zwei Brühwürfel und eine aufgeschnittene Zitrone in das Hähnchen, hatte sie Jenny erklärt, weil Jimmy das Gericht so gern mochte. Du kochst gut, Natàlia, hatte er oft zu ihr gesagt, als sie in Bath zusammengewohnt hatten. Mann, was war ich besoffen von der Sangria, vielleicht hatte ich es mit dem Gin übertrieben? Dabei war doch klar, dass ich eine Leberkolik bekommen würde. Ich darf nicht so viel Reis essen, der quillt im Bauch auf und liegt schwer im Magen. Außerdem sind englische Hähnchen viel fetter als unsere. Vor der Sangria hab ich mir drei Gläser Sherry genehmigt und nachher den schrecklichen Rotwein, den sie in den Pubs in riesigen Flaschen verkaufen. Aber Jimmy wollte nun mal Sangria. Es ist doch unser Abschied, isn’t it?, auch wenn Jenny dabei ist … Obwohl Jenny dabei war, machte Natàlia das Brathähnchen mit Zitrone. Mrs Jenkins war so freundlich, sie das Hähnchen in ihrem Ofen braten zu lassen. My dear, I see …, hatte die dralle Dame mit einem verständnisvollen Lächeln zu ihr gesagt. Die Engländer haben für alles Verständnis, und wenn es um ein Abschiedsessen geht, überlassen sie dir sogar den Ofen. Jimmy war reizend gewesen, und zwei- oder dreimal hatte er sie halb im Scherz, halb im Ernst geküsst. Jenny deckte den Tisch und wärmte die Teller vor, damit sie das Hähnchen nicht mit kaltem Reis essen mussten. Der Abend war very nice, indeed, und Natàlia konnte feststellen, dass sich Jimmy tatsächlich sehr verändert hatte. Jetzt hatte er endlich den erträumten Job in seiner Heimatstadt Liverpool, und an die gemeinsame Zeit in der kleinen Stadt Bath würde er sich erinnern als eine der schönsten Zeiten meines Lebens, versprochen. Sein I promise hatte so ernsthaft und konzentriert geklungen, dass Natàlia unweigerlich lachen musste. Das war im Pump Room gewesen, wo sie sich cream-tea und süße scones schmecken ließen, dem Teesalon mit der neoklassizistischen Decke und den großen Fenstern, die auf die antiken römischen Bäder hinausgingen. Während Jimmy Butter und Konfitüre auf ein scone strich, hatte Natàlia zu ihm gesagt, Jenny sei einfach bezaubernd. Dass sie genau die richtige Frau für diese neue Phase seines Lebens war, brauchte sie nicht zu erwähnen, das verstand sich von selbst. Jenny war durch und durchein Hogarth, mit ihren zartrosa Wangen, dem energischen Kinn, den Katzenaugen, dem braunen Haar und einer Nase, die sich schnell rot verfärbte. Der zarten, weißen Haut, immer kurz davor, aufzuspringen. Als Natàlia sie kennenlernte, stellte sie sich vor, wie vorteilhaft es wäre, klein und brünett zu sein wie Jenny und lebendige, lachende Augen und vor allem ein Rattennäschen zu haben, das in der Kälte sofort verschiedenste Rottöne annahm. Einen englischen Film erkannte man auf Anhieb, nicht nur an den grenzenlosen Wiesen und den Backsteinhäusern, sondern auch an den Nasen der Schauspielerinnen. Eine Nase wie die von Samantha Eggar in Der Fänger, dem Film, dessentwegen sich Natàlia in den Stadtteil Hampstead verliebt hatte, vergaß man nicht so schnell. Musst du wirklich fort?, hatte Jimmy sie gefragt, während er das englische Gebäck dick mit Clotted Cream bestrich. Natàlia hatte Ja gesagt und es bei ihrem Spaziergang am Ufer des Avon noch einmal bekräftigt – beim Anblick der Schwäne hatte sie aus unerfindlichen Gründen weinen müssen –, ja, sie musste fort, sie musste nach Barcelona zurück, davon war sie überzeugt. Wenn nicht jetzt, dann nie mehr, ich bin schon seit zwölf Jahren von zu Hause weg. Warum kehrst du zurück, Natàlia?, fragte er, und sie erwiderte, ich weiß es nicht.

Am Tag nach dem Abschiedsessen ging Natàlia noch einmal zu Jenny. Sie hatte die Fleischplatte dort gelassen, die sie Mrs Jenkins noch zurückgeben musste. Und da sagte Jenny zu ihr, im Radio haben sie gesagt, dass ein spanischer Anarchist hingerichtet wurde, ich glaube, er hieß Putschantik. Natàlia ließ die Platte auf ihren Rock fallen – am selben Morgen hatte sie sich einen langen schwarzen Rock aus Cordsamt gekauft, den letzten, das hatte sie sich geschworen – und setzte sich auf die Armlehne eines Sessels vor Jennys Kamin. Anfangs hatte Jimmy gesagt, er würde nicht mit Jenny zusammenziehen, doch sie hatte einen kleinen Garten, wie verlockend, manchmal verirrte sich eine Möwe vom Meer dorthin; letztlich würde er in vier Wochen ohnehin nach Liverpool ziehen und Jenny vielleicht irgendwann heiraten. Jenny war in Jimmys Alter, fünfundzwanzig, das war normal. Natàlia sagte eine Zeit lang nichts. Jennys Katzenäuglein weiteten sich vor Schreck. Als Natàlia schwieg, war sie ratlos. Oh, my dear! Did you know him?

Aber Natàlia konnte Jenny nichts erklären; sie hätte allenfalls sagen können, weißt du, dieser Todesfall, jetzt, wo ich zurückkehre, das ist wie das mit der Madeleine bei Proust … Denn in dem Jahr, als Natàlia fortgegangen war, hatte es in Asturien einen Aufstand gegeben – Emilio und sie hatten auf der Rambla in Barcelona Asturias, patria querida und Asturien, Freiheit! gesungen, bis sie heiser waren – und Julián Grimau war verhaftet worden. Grimau, der ein Jahr später, vor seiner Hinrichtung, sagte, sein Tod solle das letzte Opfer des Faschismus sein … Und jetzt hatten sie Puig Antich hingerichtet. Weißt du, dass Puig Antich ganz in der Nähe von deinem Zuhause, in unserem Viertel, festgenommen wurde? Das musst du dir mal vorstellen, im ruhigen, beschaulichen Eixample, hatte ihr Blanca Cortades mitgeteilt, der einzige Mensch, der ihr während der zwölf Jahre ihres freiwilligen Exils in Paris und London mit einer gewissen Regelmäßigkeit geschrieben hatte. Die Phase in Rom zählte Natàlia nicht als Exil, weil die Zeit mit Sergio unbeschwert gewesen war. Sergios Tante, Tante Sofía aus Cuernavaca, hatte ihm ein hübsches Erbe hinterlassen, und so hatte Natàlia nicht arbeiten müssen. Sie hatte mit Sergio in Trastevere ungezwungene Tage verbracht. Niemals würde sie die Spaziergänge zwischen den alten, wäschegesäumten Renaissancepalästen vergessen, die Katzen, die in den Ruinen umherschlichen, das Gras, das aus jahrhundertealten Fenstern wuchs, die verblichenen, ockerfarbenen Fassaden. Es war eine Phase der Liebe und der Melancholie gewesen, aber das war eine andere Geschichte … Jedenfalls hatte Blanca ihr haarklein die ganze Sache von Puig Antich und den jungen Anarchisten berichtet, aber sie war überzeugt gewesen, dass sie ihn am Ende doch nicht hinrichten würden. Es gab Gerüchte über eine Begnadigung im letzten Moment, und es hieß, dass wirklich alle interveniert hätten, vom Abt von Montserrat bis zum Papst. Doch wenn freitags der Ministerrat zusammentrat, zogen Franco und seine Regierung es vor, die Sache zu ignorieren. Sie sitzen es einfach aus, glaubte Blanca, sie können ihn jetzt nicht umbringen, wo wir bald dem Gemeinsamen Markt beitreten, wie es heißt. Blancas Vater, ein namhafter Journalist, war allerdings anderer Meinung. Während die Linken sicher seien, dass Puig Antich nicht hingerichtet werde, befürchteten die Rechten – und zwar nicht die extremen, sondern die gemäßigten – sehr wohl, dass dies geschehen werde. Wie du siehst, fuhr Blanca fort, ist mein Vater noch immer davon überzeugt, dass die Linken hierzulande viel zu naiv sind. Die Stimmung hier schwankt zwischen Ruhe und Besorgnis, schrieb Blanca, aber alle hoffen auf Begnadigung. Sie können ihn nicht einfach hinrichten, hatte sie noch in ihrem letzten Brief beteuert.

Am Sonntag nach der Hinrichtung, dem Tag vor ihrer Abreise aus England, fuhr Natàlia nach Reading. Es war ein herrlicher Tag. Die Luft war frisch, und die Wiesen leuchteten saftig grün. Die englischen Paare spazierten an der Themse entlang, auf der Schwäne majestätisch dahinglitten. Auf den Rasenflächen jagten Kinder und Hunde hintereinander her und tollten herum wie wild. Natàlia fotografierte alles: die Wiesen am Fluss, die Boote und die Kinder, die Hunde und die Schwäne, die Brücke, die roten Backsteingebäude und das Zuchthaus von Reading. Neben einer der ältesten Fabriken der Grafschaft erhob sich die Festung, ein eher düsteres, viktorianisches Gefängnis, mit Türmen an allen vier Ecken und einem riesigen Eingangstor, das wie das Portal eines Schlosses wirkte. Auf der Suche nach dem kleinen blauen Zelt, das man auf dem Gefängnishof für Gottes Himmel hält, trottet der zum Tode Verurteilte bei Oscar Wilde durch diese Festung: Doch furchtbar zu schaun ist der Galgenbaum, weil er nur tote Früchte trägt. Natàlia hätte in diesem Moment gern aufgeschrieben, was sie fühlte, sie suchte sich ein Eckchen, das die Helligkeit dieses schönen Tages einfing, und dachte an Puig Antich, der nun auch ein Opfer des Galgenbaums geworden war. Jimmy hatte ihr seinerzeit von Oscar Wilde vorgeschwärmt, dem Dichter, der das Leben entdeckte, als er es zu verlieren drohte. Wir sahen alles: den schmierigen Strick an dem schwarzen Gebälk, den Henker, der eins zwei drei die Schlinge wirft und das letzte Gebet erwürgt zu heiserem Schrei. Und wir fühlten alles: den Schmerz, mit dem sein Herz sich schreiend Gott befahl, und die Reue so heiß und der blutige Schweiß waren mir wie eigne Qual. Denn der mehr Leben als eines lebt, stirbt öfter als einmal.

An jenem Sonntag war es sehr warm; Natàlia legte die Leica, die sie gebraucht gekauft hatte, neben sich ins Gras und ruhte sich aus. Sie betrachtete das große blaue Himmelszelt und die Wachteln, die aufstoben und um die Trauerweiden herumschwirrten. Wie jeden Sonntag hatte sie die Sunday Times gekauft. Die Nachricht über Puig Antich und Heinz Chez stand neben einem Foto von Wilson, der wie immer seinen Hund streichelte und Pfeife rauchte, und neben dem aalglatten Jeremy Thorpe mit seinem blassen Gesicht, der schon als Fünfzehnjähriger mit seinen Eltern durch Eton stolziert war und einen Zylinder getragen hatte. Two police killers garrotted in Spain, die ersten Zivilisten, die seit elf Jahren hingerichtet worden waren. Als Natàlia Katalonien verlassen hatte, war Puig Antich dreizehn gewesen.

Sag mal, Natàlia, fragte Jenny an dem Abend – sie hatten sich noch mal bei Henry getroffen, der in Gibraltar geboren war –, was ist eigentlich eine Garrotte? Jimmy, der immer alles wusste, antwortete: Die Garrotte besteht aus einem Metallband, einem Stuhl und einem Pfahl, der ebenfalls aus Metall ist. Das Opfer wird auf den Stuhl gebunden, der direkt vor dem Pfahl steht. Ihm wird das Band um den Hals gelegt, und der Henker zieht es zusammen, sodass eine daran befindliche Schraube ihm das Genick bricht. Das habe ich heute in der Britannica nachgeschaut, fügte er hinzu. Und dann macht der Hals krk, sagte Henry und sah Jenny forschend ins Gesicht, um ihre Reaktion zu sehen. O, sei still, mach mir keine Angst, sagte sie.

Natàlia war nach Reading gefahren, weil sie Jimmys Onkel, Mr Philip Hill, Lebewohl sagen wollte, bevor sie England verließ. Es war noch früh, als sie bei ihm eintraf, Nebel hing in der Luft, es würde erst später aufklaren. Mr Hill mähte in seinem kleinen Garten den Rasen und zog umständlich seine Gummihandschuhe aus, um Natàlia die Hand entgegenzustrecken. Zum allerersten Mal gab er ihr die Hand. Das wird doch wohl kein Lebewohl für immer sein, oder?, sagte Onkel Philip, ein dicklicher Mann mit aufgedunsenem Gesicht. Seine Haut hatte die Farbe eines jungen Pfirsichs, und seine Augen waren durchscheinend wässrig. Natàlia erwiderte, oh, das nehme ich nicht an, aber dann wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte, dabei hatte Mr Hill ihr doch so viel gegeben, mehr als jeder andere auf dieser Welt: Er hatte sie einen Beruf gelehrt, die Fotografie, und ihr so die Mittel an die Hand gegeben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Niemand, weder Sergio, der sie geliebt hatte, noch Jimmy, der ihr die Welt der Sinne gezeigt hatte, oder Emilio, der ihr die Augen geöffnet hatte, hatte ihr etwas so Wertvolles geschenkt wie der gute Onkel Philip, der kaum etwas über ihre Heimat oder ihre Vergangenheit wusste. Nun war sich Natàlia sicher, dass sie wirklich unabhängig sein und ihre Ziele und Lebensumstände selbst wählen konnte. Was bleibt mir mit meinen sechsunddreißig Jahren auch anderes übrig?, fragte sie sich. Anschaffen gehen oder heiraten. Natürlich hatte Onkel Philip keine Ahnung, wer Puig Antich war – warum sollte er das wissen, er, der sich in dieser Welt bereits eingerichtet hatte und Steuern zahlte, um Ihrer Majestät Elizabeth II. ein langes Leben zu bescheren –, aber er schwadronierte ein bisschen herablassend davon, dass in Spanien nun sicher eine gewisse Unruhe herrsche. Hatte sie nicht die Sunday Times gelesen? Ein Anarchist war hingerichtet worden, was für eine barbarische Art, einen Menschen zu töten, nicht wahr? Genau genommen sind alle Arten barbarisch, aber der arme Onkel Philip kannte Spanien nur vom Hörensagen, er mochte keine heißen Länder, mich zieht’s eher in die Kälte, sagte er oft. Natàlia hatte ihre liebe Not gehabt, ihm zu erklären, dass Barcelona nicht in der Nähe von Torremolinos lag. Mr Hill hatte sich auf Meeresfotografie spezialisiert und sein halbes Leben bei den Kabeljaufischern verbracht, die im Norden Englands und an den norwegischen Küsten kreuzten. Als Jimmy ihr seinerzeit seinen Onkel vorstellte, sagte Natàlia, Fotografieren müsse etwas Wunderbares sein – kurz zuvor hatte sie Antonionis Blow up gesehen – und sie würde es gern lernen. Onkel Philip musterte sie mit seinen Meerwasseraugen und sagte, na, dann los. Mir ist fad, ich habe sonst nichts zu tun und bringe dir gern bei, eine Fotografie zu komponieren und einem Bild einen Wert zu verleihen, was einfacher aussieht, als es ist.

Am Montagvormittag war sie noch in Bath gewesen, und mittags saß sie schon in dem Taxi, das sie zu Tante Patrícias Wohnung brachte. Die Plaça d’Espanya mit dem Brunnen im Zuckerbäckerstil in der Mitte erschien ihr noch schmutziger und hässlicher als je zuvor. Vielleicht war es der falsche Tag. Rund um die Mitte des Platzes drängten sich Autos und Busse – als sie fortgegangen war, hatte es noch Straßenbahnen gegeben –, und der Taxifahrer fluchte. Zu beiden Seiten der breiten Straße, die zum Montjuïc führte, hingen große Werbeplakate mit Porträts von Mao, Lenin und Che: Wissen Sie, warum sie Revolution gemacht haben? Unsere Sammelhefte geben Antwort: Geschichte der Revolutionen. Das allgemeine Hupkonzert schwoll noch mehr an, als ein Verkehrspolizist mit knallrotem Nacken von einer Seite zur anderen hetzte. Seine Pfiffe klingen wie ein heiserer Stieglitz. Der Taxifahrer war daran gewöhnt, er wappnete sich mit Geduld und plauderte mit Natàlia über die Zeit, als es noch nicht so viele Autos gab, was springt jetzt schon noch raus bei einer Fahrt? Kleckerkram. Wenn wir wenigstens Rabatt aufs Benzin bekämen. Der Mann stammte aus der Provinz Múrcia, genauer gesagt aus Albacete, und Natàlia, die schon lange nicht mehr Katalanisch gesprochen hatte, freute sich, als sie den Fahrer mit valencianischem Zungenschlag in ihrer Sprache reden hörte. Sehen Sie mal, ich weiß ja nicht, ob Sie schon lange im Ausland leben … zwölf Jahre? Donnerwetter! Dann werden Sie die Stadt sicher kaum wiedererkennen. Ich war Kanonenfutter, wissen Sie … Wie alt schätzen Sie mich? Fünfzig, oder? Nun, ich bin zweiundvierzig, und ich wünsche mir nur eins, dass meine Kinder nicht so knapsen müssen wie ich. Im Dorf haben die damals die Kartoffeln mitgenommen. Na, die halt, wer schon? Die, die gesiegt haben … Da erschien ihr das Grau in den Augen des Taxifahrers nicht mehr so stählern, sondern eher wie ein nebelverhangener Himmel.

Sie hatte Tante Patrícia ein Telegramm geschickt, komme Montag. Erschrick nicht, bleibe bei dir, bis ich eigene Wohnung finde. Sie hatte nicht den Mut gehabt, hinzuzufügen, dass sie abgebrannt war, aber Patrícia war ihre Patin und hatte sie immer ihre Lieblingsnichte genannt, obwohl Natàlia ein hitzköpfiges Kind gewesen war und sie sehr oft wütend gemacht hatte. Tante Patrícia sagte oft, Natàlia sei eine Mischung aus ihrer Schwester Paquita – die eingegangen ist wie eine Primel, obwohl sie doch mal so eine Schönheit gewesen war, mein Gott: Als sie sie gefunden haben, war sie mit Zeitungspapier zugedeckt, dabei war sie früher einmal so reich gewesen. Aber sie hat eben das ganze Vermögen ihres verstorbenen Gatten mit irgendwelchen Hallodris durchgebracht; ihre Favoriten waren Toreros und Flamencotänzer, und angeblich soll sie sogar etwas mit ihrem Schwager gehabt haben, einem jungen Dominikaner, Natàlia sei also eine Mischung aus Paquita und Kati, der verrückten Kati, die sich 1939 umgebracht hatte, möge der Herrgott ihr verzeihen. Während sich Natàlia in der Weltgeschichte herumtrieb – warum schrieb sie eigentlich nicht? –, war der armen Patrícia der Mann gestorben, der Dichter Esteve Miràngels. Tante Sixta sagte immer, der Name passe nicht zu ihm, denn er schaue nicht den Engeln, sondern lieber anderen Wesen nach … Und auch Judit, die 1958 einen Schlaganfall erlitten hatte, war gestorben. Ein paar Jahre lang hatte sie ohne erkennbare Hirntätigkeit dahinvegetiert, dann hatte eine Blutung sie umgebracht. Natàlias Vater, der alleine zurückgeblieben war, gab daraufhin seine Wohnung auf und zog zu Lluís und Sílvia, wie diese ihr geschrieben hatte. In den zwölf Jahren ihrer Abwesenheit hatte Natàlia Sílvia und Lluís nur zweimal gesehen. Das erste Mal in Paris, bei einem Blitzbesuch, zu dem Lluís Sílvia mitgenommen hatte, und das zweite Mal in London, irgendwann zu Ostern. Wie üblich hatte Sílvia vor Natàlia ihr Leben ausgebreitet, während sie die Londoner Boutiquen und Läden durchstöberten, und sich in der Tate Gallery fürchterlich gelangweilt. Weißt du, ich versteh nun mal nichts von Malerei, da kann man nichts machen. Letztlich unterhielten sie sich über Rezepte. Lluís war einmal heimlich für ein Wochenende in London gewesen, um eine Amerikanerin zu treffen, die er in Barcelona im Museu Picasso kennengelernt hatte. Aber von dieser Reise wusste weder Natàlia noch Sílvia. Natàlia hatte also durch diese sporadischen Reisen und ein paar auf Spanisch geschriebene Briefe von Sílvia und Patrícia erfahren, was es Neues in der Familie gab. Sie selbst schrieb ihrem Vater nie, und Joan Miralpeix konnte seiner Tochter nicht verzeihen, dass sie nicht zu Judits Beerdigung gekommen war.

Und obwohl sie zwölf Jahre lang kaum über diesen Moment nachgedacht hatte, war Natàlia flau im Magen, als das Taxi vor Tante Patrícias Haustür auf der Gran Via, zwischen der Carrer del Bruc und der Carrer de Girona, anhielt. Alles sah genauso aus wie damals, dieselbe Marmortreppe, das Geländer links, die modernistische Bronzestatue, die einen Globus hielt, die Loge der Hausmeisterin, die vielfarbige Decke, die gold glänzenden Griffe, die Milchglasscheiben, der schmiedeeiserne Schuhabstreifer – aus einer Zeit, als die Herrschaften in Barcelona von asphaltierten Straßen nicht einmal zu träumen wagten –, der lange, schmale, an den Rändern etwas zerschlissene granatrote Teppich … Alles war an seinem Platz, die polierten Objekte, die Stille im Treppenhaus, die Gerüche, der glänzende Marmor, auch wenn die Stufen ein wenig ausgetreten waren. Aus der Loge der Hausmeisterin kam ein Junge gerannt, mit langen Haaren und Federschmuck auf dem Kopf. Er trug einen blau gestreiften Schulkittel und einen dunkleren Gürtel. Ob das Constàncias Sohn ist? Constància war zehn gewesen, als sie fortgegangen war.

Die Wohnungstür in der Beletage hatte gold glänzende Beschläge, einen Türspion und trug eine Herz-Jesu-Plakette. Alles war wieder und wieder auf Hochglanz gewienert worden. Natàlia lächelte. Tante Patrícia, die Reinlichkeit in Person. Sie klingelte, und statt der alten Türschelle ertönte ein Glöckchen mit einem sehr albernen Klang. Zuerst hörte sie, wie eine Kette herunterfiel, dann das metallische Kratzen, als ein Riegel angehoben wurde, und dann spähte jemand durch den Türspion, wer ist da?, doch zum Antworten kam Natàlia nicht mehr, weil die Tür aufflog und jemand sie fest an sich drückte, warum hast du mir denn nicht gesagt, um wie viel Uhr du ankommst?

Encarna, das Dienstmädchen der Familie Miralpeix, war in Patrícias Dienste getreten, als Joan Miralpeix die Wohnung in der Carrer del Bruc aufgab und zu seinem Sohn Lluís und seiner Schwiegertochter Sílvia Claret zog. Sie war eine Andalusierin aus Granada mit schwarzem Haar, großen Augen und blutroten Lippen und hatte einen üppigen Busen und ein ausladendes Hinterteil. In der Familie Miralpeix gab sie den Ton an – vor allem seit Judits Schlaganfall –, und alle hatten nach ihrer Pfeife zu tanzen. Als sie jetzt Patrícias Ausruf vernahm, murrte sie vor sich hin, soso, das Mädchen ist zurück, wusch aber weiter das Geschirr vom Mittagessen ab, als hätte sie nichts gehört. Was bildete das Mädchen sich ein, so lange im Ausland zu leben, ganz allein und unter zweifelhaften Umständen, anstatt nach Hause zu kommen, um ihrer seligen Mamà die Augen zu schließen! Aber lange hielt sie es nicht aus, sie musste einfach raus auf den Flur und einen Blick riskieren. Sie wusch sich die Hände, die von der Seifenlauge ganz schrumpelig waren, und wischte sie an der Schürze ab. Durch den Spalt der Küchentür erspähte sie Natàlia von hinten. Sieh einer an, sie hat sich gar nicht verändert, dachte sie. Groß war sie, hatte das Haar wie immer ein wenig nachlässig zusammengebunden und trug eine Hose, die am Hintern arg knapp saß, Wildlederstiefel und einen Rollkragenpullover aus Kaschmir. Sie sieht aus wie eine Gammlerin, sagte sie sich und wartete noch ein Weilchen, bevor sie sich zeigte. Dann trat sie würdevoll, mit gereckter Brust und finsterer Miene in den Flur. Encarna, rief Patrícia, weißt du denn nicht, wer da ist? Jetzt, da Encarna Natàlia aus der Nähe sah, dachte sie, dass ihre Figur noch die eines jungen Mädchens war, nicht aber das Gesicht. Es war bleich wie bei der ganzen Familie Miralpeix und vor allem rund um die Augen und in den Mundwinkeln von scharfen Furchen und feinen Fältchen durchzogen. Alt ist sie geworden. Aber gleich darauf flogen Encarna und Natàlia aufeinander zu und umarmten sich kurz, aber heftig. Encarnas Busen hüpfte wie ein Auto, das über Kopfsteinpflaster rumpelt. Wie so oft, vor allem, wenn sie gerührt war, hatte sie Hitzewallungen. Und ich habe diesen kleinen Fratz großgezogen. Encarna trat ein paar Schritte zurück, damit niemand sah, dass ihr die Tränen in den Augen standen.

Patrícia machte sich sogleich daran, den neuesten Familientratsch aufzutischen. Unsere Encarna wird heiraten, sagte sie, wer hätte das gedacht, und Encarna reckte sich stolz wie eine Königin, die soeben ihrem Volk vorgestellt wurde. Dann bleibe ich mutterseelenallein zurück, sagte Patrícia, deshalb bin ich froh, dass du wieder da bist. Ich habe mich an das ständige Gezeter und das mürrische Gesicht dieser Frau gewöhnt. Und jetzt heiratet sie, stell dir nur vor. Mit zweiundfünfzig! Encarna tat, als wollte sie gehen, na hören Sie mal, das geht Sie gar nichts an, ob ich heirate oder nicht, das ist allein meine Sache. Aber natürlich ging sie nicht, sondern blieb reglos stehen und starrte in die Ferne, also auf den Spitzenvorhang mit den vergilbten Rändern, der vor dem Zugang zur Loggia hing. Sie heiratet einen Drogisten aus Sant Cugat, fuhr Patrícia fort, einen kinderlosen Witwer mit eigener Wohnung. Vor zehn Jahren haben sie sich bei Verwandten kennengelernt. Encarna präzisierte: Das war bei meiner Schwester Rosalia, die hat ganz in der Nähe von Jaumes Drogerie eine Bar eröffnet, weil ihr Mann von einem Gerüst gefallen war und seitdem ganz verblödet ist. Abwechselnd überboten sich Patrícia und Encarna mit Berichten von der Verlobungszeit, doch ihre Stimmen drangen immer leiser zu Natàlia durch, bis sie zuletzt nur noch ein Raunen wahrnahm. Sie sah zur Loggia hinüber, die vom grauen Licht dieses feuchten, nebligen Mittags erfüllt war, und suchte den Zitronenbaum und die Bougainvillea. Wo ist der Zitronenbaum?, fragte sie, ging ein paar Schritte auf die Loggia zu und blieb vor den Buntglasscheiben stehen. Wo ist der Zitronenbaum?, wiederholte sie. Was ist passiert, Tante, das sieht alles ganz anders aus! Ach, Kind, natürlich sieht alles ganz anders aus. Ich habe den Garten verkauft. Du hast den Garten verkauft?, fragte Natàlia. Sie trat hinaus ins Freie. Von der Loggia hatte früher eine gusseiserne Wendeltreppe hinab in den Garten geführt, aber jetzt war auf gleicher Höhe eine gewaltige, mit ausgeblichenen rosa Fliesen gepflasterte Terrasse, eine einheitliche Fläche, nur durchbrochen von Feuchtigkeitsflecken und den Oberlichtern eines darunterliegenden Raumes. Statt des einstigen Gartenzauns mit schwarzen Eisenspitzen umgab die Terrasse eine Mauer, von der an manchen Stellen der Putz abbröckelte. Ohne Rücksicht auf die zum Trocknen aufgehängte Wäsche zu nehmen, ging Natàlia von einem Ende zum anderen, was ihr einen giftigen Blick von Encarna eintrug. Die Besitzer vom Laden nebenan haben ihn mir abgekauft, sie brauchten mehr Büroraum. Hörst du nicht die Schreibmaschine klappern?, sagte Patrícia. Der Boden des Gartens war mit Kies bedeckt gewesen, der knirschte, wenn man darüberging. Als Kind hatte Natàlia sich immer die Taschen mit den Steinchen gefüllt und sich dann einen Spaß daraus gemacht, sie zu Hause vom Balkon auf die Köpfe der Passanten herabregnen zu lassen. Die beiden Zitronenbäume hatten direkt an der Grenze zu den benachbarten Innenhöfen gestanden, wo es einen Jungen gab, der ihr immer die Zunge herausstreckte, und linker Hand hatten Oleanderbüsche gestanden. Ihr müsst euch immer die Hände waschen, wenn ihr den Oleander anfasst, die Blüten sind giftig, hatte ihre Mutter ihnen eingeschärft, und eines Tages, als Natàlia sterben wollte, hatte sie eine der rosafarbenen klebrigen Blüten im Ganzen geschluckt. Aber sie war nicht gestorben und hatte gedacht, dass die Erwachsenen viele Lügen erzählen. Tante Patrícia sagte, sie habe schon genug Arbeit mit der Wohnung, und im Garten seien Disteln und Unkraut gewuchert. Außerdem hat er nur böse Erinnerungen in mir geweckt, fügte sie hinzu, ohne das näher zu erläutern. Von Zeit zu Zeit hatte Joan Miralpeix einen Gärtner vorbeigeschickt – er hatte Joan Claret darum gebeten, weil der Freunde bei der Stadtverwaltung hatte – und Esteve Miràngels war froh darüber gewesen: Er sagte, der Garten helfe ihm beim Verfassen seiner Sonette. In der Mitte des Gartens hatten sie einen kleinen ovalen Teich anlegen lassen, der mit grünen Fliesen und darin eingelassenen Muscheln ausgekleidet war. Rechts und links standen steinerne Schwäne, aus deren Schnäbeln sich kleine Wasserstrahlen in die Mitte des Teiches ergossen und eine Amorette mit an der Hüfte zusammengerafftem Gewand trafen. Die Figur hatte keinen Mund, jemand hatte ihn zerschlagen, wie Tante Patrícia der kleinen Natàlia erzählte. Natàlia hatte die Engelsfigur mit dem zerschlagenen Mund betrachtet. Und warum?, fragte sie. Damit er nicht reden kann, hatte Patrícia mit trauriger Stimme geantwortet, und mehr war ihr nicht zu entlocken gewesen. Auf der rechten Seite des Gartens standen zwei Mimosen, die Jahr für Jahr den Frühling ankündigten. Es war kein enger Garten gewesen, im Gegenteil, er hatte ein gutes Viertel des gesamten Häuserblocks eingenommen. Oft hatte Natàlia abends auf der Loggia gestanden und gebannt dem Quaken der Frösche gelauscht. Aber im Teich hatte es nicht nur Frösche gegeben, sondern auch Seerosen und Goldfische. Einmal, zu Allerheiligen, als alle damit beschäftigt waren, Kastanien zu essen, holten Lluís und Natàlia alle Fische aus dem Teich, um zu sehen, wie schnell sie sterben würden. Einige zuckten noch mit der Schwanzflosse, als Encarna sie erwischte, ihr seid böse, sagte sie, und Lluís entgegnete, du bist böse und eine Hexe, und du wirst niemals heiraten. Lluís hatte den dunkelgrünen Efeu abgerissen, der an den weißen Wänden hochkletterte, und das Moos herausgezupft, das rund um die steinernen Schwäne wuchs. Eure Mutter lässt euch alles durchgehen, hatte Encarna geschimpft und war gegangen. Jetzt gab es keinen Efeu mehr, sondern nur noch dürre Zweige und statt des Teiches die Oberlichter mit den geteerten Rändern. Und hier und da ein paar Blumentöpfe mit Hortensien und Geranien, die sind pflegeleicht, sagte Patrícia zu Natàlia, und dann, sieh nur! Sie zeigte auf einen dunklen, runzeligen Buckel, der sich mühsam über die Terrasse schob. Das prähistorische Tier, letztes Überbleibsel des Gartens, kroch ungerührt vor sich hin. Ehrlich gesagt, fand ich sie schon immer scheußlich, sagte Encarna und bedachte die Schildkröte mit einem angewiderten Blick.

Patrícias Wohnung war noch genau wie früher. Sie hätte gern die Küche renoviert, sie mit Steingutfliesen und neuen Schränken ausgestattet, aber Esteve hatte sie arm wie eine Kirchenmaus zurückgelassen, wie sie sagte. Und die Mieten kann ich auch nicht erhöhen, die Leute wohnen schon so lange hier! Was für ein Glück, dass ich wenigstens den Garten verkaufen konnte. Das war noch zu Esteves Lebzeiten, und so habe ich von ihm nun eine kleine Rente. Auch der Erker war unverändert; an einer Wand hing ein Gemälde, ein Geschenk von Francisco Ventura – eines dieser Aquarelle von Mundetas Francisco, die aussahen wie von Urgell gemalt –, es gab noch die beiden Schaukelstühle, von denen der eine durchgesessen war - wer soll mir den bloß reparieren? –, den Tisch mit dem Kohlebecken darunter und den Nähmaschinentisch. Das Esszimmer mit den Chippendale-Möbeln und dem Kronleuchter mit den blitzenden Kristallen, die Vitrinen voller Nippes – sieh nur, ich habe fast alles aus dem Pfandhaus zurückgeholt –, die Sèvres-Gläser, das Limoges-Geschirr, die Sammlung kleiner Schachteln – ich habe die von Judit behalten, in der die Orangenblüten sämtlicher Bräute der Familie aufbewahrt sind –, das Silberbesteck, die Gläser, die einen wunderschönen Klang von sich gaben, wenn man sie anstieß. Der riesige Tisch aus lackiertem Mahagoni mit der silbernen Obstschale, die Stühle im Empirestil, Urgroßvaters Uhr, die Anrichte mit dem gerahmten Spiegel. Die dunkelgrünen Samtvorhänge, die Natàlia jedes Mal Gänsehaut verursachten, wenn sie sie berührte. Das Sitzpolster der Stühle war löchrig, und bei zweien war ein Bein gebrochen, die Vorhänge waren zerschlissen, die Uhr war stehen geblieben, der Tisch wackelte, das Glas einer Vitrine hatte einen Sprung, am Kronleuchter fehlten Kristalle, und auf dem Boden einzelne Fliesen. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Im Flur entdeckte Natàlia den isabellinischen Wandleuchter und die Bilder aus der Ilustración Española, die die Unschuldigen Kinder darstellten. Auf einem Jugendstiltisch mit geschwungenen Beinen stand die Figur, vor der sie sich als Kind so gefürchtet hatte: eine alte Frau, die einem Jungen die Haare wusch. Die Alte hatte die Ärmel hochgekrempelt und die Finger in die eingeseiften Locken des Kindes gekrallt. Wenn Natàlia früher daran vorbeigegangen war, hatte sie sich immer die Augen zugehalten. Sie hatte die Statue nicht sehen wollen, nicht das zornige Gesicht der Alten mit den hervorquellenden Augen und dem zusammengepressten Mund und auch nicht die Grimasse des Jungen, der sich zu befreien suchte. Seine Augen waren blind von der Seife, und er fuchtelte mit den Armen in der Luft, auf der vergeblichen Suche nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Der kleinen Natàlia war die Figur immer als Sinnbild für die Welt der Erwachsenen erschienen.

Patrícia hatte für Natàlia das Zimmer hergerichtet, das auf den Lichtschacht hinausging. Sie hatte die Rokokokommode leer geräumt, in der sie sonst die gestärkten und mit Thymian bestreuten Abendmahlstücher und Tischdecken aufbewahrte, und ihr gesagt, du kannst so lange bleiben, wie du willst, so leistest du mir Gesellschaft. Als Tante Patrícia hinausging und sagte, vielleicht willst du dich ja umziehen, du musst müde sein, lächelte Natàlia. Und sie lächelte immer noch, als sie sich im Spiegel über der Kommode betrachtete, vor alledem bist du weggelaufen, weil es dir so abgestanden vorkam, und jetzt kommst du wieder angerannt.

Fast wirkte es, als wäre es Absicht gewesen, aber weder Patrícia noch Natàlia hatte die Familie erwähnt. Patrícia wusste nur allzu genau, was bei den Miralpeix’ vorgefallen war, als Natàlia im Streit mit ihrem Vater von zu Hause weggegangen war, ich will nicht in alten Wunden stochern, sagte sie sich. Wenn sie morgen zum Mittagessen zu Lluís und Sílvia ging, würde sie schon hören, was es Neues gab.

Am Abend aßen Patrícia und Natàlia zusammen Spinat, gekochte Eier, Vollkornbrot und Dosenpfirsiche. Natàlia musste mehrmals etwas unter ein Tischbein schieben, weil das Gewackel sie nervös machte. Sie ging früh zu Bett. Willst du nicht ein bisschen fernsehen?, fragte Patrícia, es gibt ein Theaterstück. Durch den Lichtschacht waren noch eine ganze Weile Geräusche zu hören. Gedämpfte Stimmen, das Brutzeln von Öl bei irgendeinem Nachbarn, der sich zu später Stunde noch etwas zu essen zubereitete, das Zischen, als er das Fleisch in die Pfanne legte, das Klappern, als er Eier schlug, ab und zu von Kindergeschrei unterbrochene Gespräche und als Schlusspunkt das Scheppern einer Spülmaschine. Dann folgte ein Moment der Stille und kurz darauf ferne Fernsehstimmen, Weinen, Lachen, ein Schrei. Der Ton war leise gestellt, aber manchmal wurde er lauter, und dann konnte man ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau hören. Zu guter Letzt das Tropfen eines Wasserhahns und das Rauschen der Toilettenspülung. Um Mitternacht schlief Natàlia endlich ein.

Gleich am nächsten Morgen beschloss Natàlia, auf Arbeitssuche zu gehen. Je eher, desto besser. Sie würde Harmonia besuchen. Außerdem musste sie eine kleine Wohnung finden. Beim Frühstück überreichte sie Patrícia und Encarna ihre Geschenke. Das Dienstmädchen tat unbeeindruckt und servierte weiter das Frühstück, Milch und gebutterten Toast. Tante Patrícia, die zu Durchfällen neigte, aß nur geriebenen Apfel. Von der dünnen, weißen indischen Bluse mit den Dreiviertelärmeln, den Schlitzen an den Seiten und den Stickereien um den Halsausschnitt, die Natàlia ihr mitgebracht hatte, war sie ganz begeistert. Glaubst du, die steht mir?, fragte sie und hielt sie mit beiden Händen vor sich, während sie sich im Spiegel der Anrichte betrachtete. Was für ein feiner Stoff, sagte sie. Auch Encarna stellte sich mit dem langen, schmalen Halstuch vor den Spiegel. Es war grellbunt mit großen, langschwänzigen Vögeln bedruckt. Zuerst legte sie es sich um den Hals, aber weil der so kurz war, versank sie bis zum Kinn darin, also wickelte sie es sich wie einen Turban um den Kopf, was ihr rabenschwarzes Haar noch stärker zur Geltung brachte.

Beim Frühstück beobachtete Natàlia ihre Tante, die unablässig redete. Dieser Darmkatarrh lässt mir einfach keine Ruhe, klagte sie. Glaub mir, ich habe schon alle Ärzte durchprobiert. Irgendetwas an Patrícias Gesichtszügen war neu, aber Natàlia kam nicht darauf, was es war. Vielleicht lag es an den Haaren – sie waren lockiger als früher, als käme sie frisch vom Friseur. Aus Tante Patrícias mahagonifarbenen Haaren spitzten hier und da ein paar weiße hervor, mussten sich aber rasch wieder unter den gefärbten Strähnen verstecken. Patrícias Hände waren weich, so gar nicht wie die einer alten Frau, und ihre Nägel waren in der Farbe von dunklem Holz lackiert. Als sie Natàlias Blick bemerkte, fragte sie, gefallen sie dir? Ich habe extra diese Farbe gewählt, weil sie zu den Haaren passt. Tante Patrícia redete und lachte viel, dabei war sie früher so traurig und niedergedrückt gewesen. Wenn Natàlia ihre Patentante besucht hatte, hatte sie sich immer schrecklich gelangweilt, weil Patrícia ständig am Jammern war. Sie schlich herum wie ein Schatten, hatte zu nichts eine Meinung und lebte zurückgezogen in ihrer kleinen Welt aus Tränen und Kummer. Und jetzt saß sie vor ihr mit gefärbtem Haar, lackierten Fingernägeln und geschwätzig wie eine Elster. Ja, Tante Patrícia hatte sich verändert. Nach dem Frühstück stand die Tante auf, öffnete eine Schublade der Anrichte, holte ein ledernes Zigarettenetui hervor und nahm eine Zigarette heraus. Möchtest du auch eine?, fragte sie Natàlia, sichtlich zufrieden über deren überraschte Miene. Was rauchst du, helle oder dunkle? Ich rauche dunkle, weißt du? Nach der Zigarette sagte Natàlia, dass sie Lluís und Sílvia anrufen und sich bei ihnen zum Mittagessen ankündigen wolle. Du wirst Augen machen, was sie für eine Wohnung haben, sagte Patricia, ganz herrschaftlich, fügte Encarna hinzu, die gerade den Tisch abräumte. Und bei der Gelegenheit sehe ich dann auch gleich Papà, erklärte Natàlia.

Den Blick, den Patrícia Encarna zuwarf, bemerkte sie nicht.

An dem Tag,an dem sie die Malerin Harmonia kennenlernte, erkannte Natàlia, dass es Frauen gab, die nicht wehleidig waren wie Patrícia und sich nicht vor der Welt verbargen wie Judit. Natàlia war zwanzig, als ihre Mutter den Schlaganfall erlitt und sie die Flucht ergriff vor dem Blick ihrer smaragdgrünen Augen, die so viel sagen wollten. Die beiden hatten sowieso nie mehr als das Notwendigste miteinander geredet. Ihre Mutter war sehr eigen, und Natàlia hatte sich lange das bewahrt, was man »kindliche Unschuld« nennt. Judit war keine hingebungsvolle Mutter; Pere, den Sohn mit dem Downsyndrom, liebte sie, vielleicht aus einem heimlichen Schuldgefühl heraus, doch um ihre anderen beiden Kinder, Natàlia und Lluís, kümmerte sie sich nicht. Als Pere starb, hatte Natàlia es schon aufgegeben, mit ihrer Mutter sprechen zu wollen. Nach dem Schlaganfall saß Judit den ganzen Tag in der Loggia auf einem Sessel, in den sie ein Loch für den Nachttopf gemacht hatten, und starrte mit toten Augen in den Innenhof. Deshalb wurde Natàlia neugierig, als die Schulleiterin verkündete, dass sie von nun an Zeichenunterricht bei einer bekannten Malerin namens Harmonia Carreras haben würden. Natàlia hatte schon einiges über sie gehört: Nachdem die Franquisten ihren Vater ermordet hatten, war sie in jungen Jahren nach Frankreich geflohen und hatte das Glück gehabt, von dort nach Mexiko zu entkommen, wo sie bei einem Schüler von Diego Rivera zehn Jahre lang Muralismo studiert hatte. Nach ihrer Rückkehr nach Katalonien wurde sie für ihre zerrissen wirkenden Figuren mit den erschrockenen Augen berühmt. In einer Ecke des Bildes befand sich immer eine Blume. Ihr Stil war eine Mischung aus mexikanischer naiver Kunst und Kubismus. Anfangs flößte Harmonia Natàlia ein wenig Unbehagen ein, weil sie aufbrausend war und keinen Widerspruch duldete. Sie war klein und schmal, klapperdürr, und die Haut spannte sich wie Pergament über ihr Gesicht. Obwohl sie noch keine vierzig war, als Natàlia sie kennenlernte, hatte sie schon graues Haar. Auch ihre Augen waren grau. Sie hatte milchweiße Haut, die bei Kälte bläulich anlief, und kleidete sich, wie es ihr gerade gefiel. An einem Tag erschien sie in einem peruanischen Poncho mit drei oder vier guatemaltekischen Ketten mit Anhängern, am nächsten Tag im Sari. Sie lebte allein, auch wenn angeblich jeder wusste, dass sie einen Geliebten hatte: einen blutjungen Amateurfilmer, der auf einem Festival einen Preis gewonnen hatte – dank ihr, wie es hieß. Böse Zungen behaupteten, sie sei lesbisch und kompensiere ihre »abwegigen« Neigungen mit dem Unterrichten junger Mädchen. Zudem machte sie keinen Hehl daraus, dass sie Atheistin war. Das und die Tatsache, dass sie bei den Treffen mit ihren männlichen Kollegen die Stimme erhob – um Gehör zu finden –, war in deren Augen unverzeihlich. Soll sie ruhig malen und herumlaufen, wie es ihr beliebt, sagten sie, aber sie braucht nicht zu glauben, sie könnte uns ihren Willen aufzwingen! Es einte sie ihre Geschlechtszugehörigkeit und die Angst vor einer Frau, die etwas Beunruhigendes und Unerhörtes tat: die sagte, was sie dachte. Ihre Schülerinnen hingegen schrie Harmonia nie an, mit ihnen sprach sie immer ruhig. Sie wurde nur laut, wenn ihr Umfeld sie daran hindern wollte, ihre Meinung zu äußern. Ihre größte Tugend war ihre Loyalität ihren Freunden, ihrem Land und ihrer Kunst gegenüber. Und ihr größter Fehler ihre Rechthaberei. Mexiko und Katalonien waren ihre größten Leidenschaften, sie hasste den Hochmut und die Engstirnigkeit der Spanier, dieses Kastiliens, das alles verachtet, was es nicht kennt, wie sie mit den Worten Antonio Machados sagte. Dieser Geist, erklärte sie, hatte sich die beiden Länder, die sie am meisten liebte, untertan gemacht und sie in einen Zustand dauerhafter Verwirrung versetzt, sodass sie ihre Wurzeln immer nur im Scheitern suchten.