Die Frauen vom Café Nuria - Montserrat Roig - E-Book

Die Frauen vom Café Nuria E-Book

Montserrat Roig

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Beschreibung

Mundeta ist eine Dame der höheren Gesellschaft von Barcelona im Fin de Siècle; ihre Tage bestehen aus Spaziergängen, Opernbesuchen, Diners und der Lektüre von Heiligenbiografien – nur ihrem Tagebuch vertraut sie ihre Träume von Freiheit, fernen Ländern und einer Liebe auf Augenhöhe an. Nach dem Tod ihres Mannes trifft sie zusammen mit ihrer Tochter jede Woche ihre Freundinnen Kati, Sixta und Patrícia im Café Nuria. Es sind die Dreißigerjahre und Spanien ist im Bürgerkrieg. Die Bewunderung ihrer erwachsenen Tochter gilt vor allem Kati, der Anarchistin und Anhängerin der Republik. Doch sie selbst ist in einer Vernunftehe gefangen, aus der es keinen Ausweg gibt. Zwanzig Jahre später schließt sich deren Tochter einer Gruppe von Studierenden an, die im Widerstand gegen das Franco-Regime aktiv sind und auch gegen verkrustete gesellschaftliche Konventionen kämpfen. Sie verliebt sich in Jordi und muss feststellen, dass die Freiheiten, die die Männer für sich in Anspruch nehmen, für Frauen noch lange nicht gelten. Anders als ihre Mutter und Großmutter will sie sich damit nicht abfinden – und trifft eine Entscheidung, die ihr Leben und das ihrer Familie für immer verändern wird.

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Seitenzahl: 293

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MONTSERRAT ROIG

Die Frauenvom Café Núria

Roman

Aus dem Katalanischen vonUrsula Bachhausen und Kirsten Brandt

Verlag Antje Kunstmann

Es ist wahr, dass die Liebe eine große und umfassende Zuneigung ist, die man zu der Sache hat, die einem gefällt, was den Wunsch mit sich bringt, ihr in allen Dingen zu Willen zu sein; und diese Liebe dauert so lange, wie einem die Person oder Sache gefällt, denn nachher gibt es keine Liebe mehr.

Curial und Güelfa, I. S. 61

Sie zitterte immer noch am ganzen Leibe und erwog wieder, zu fliehen. Doch es war zu spät. »Wofür und für wen sollte sie Liebe, Vermögen und Leben opfern?«

Narcís Oller, Pilar Prim

Inhalt

Die Frauen vom Café Nuria

6. Dezember 1894

7. Dezember 1894

15. Dezember 1894

17. Dezember 1894

10. Januar 1898

16. Juli 1898

28. September 1898

10. Januar 1899

25. Februar 1899

5. März 1899

3. Juni 1899

9. Juni 1899

2. Januar 1900

6. Februar 1901

15. Februar 1901

3. März 1901

10. März 1901

15. März 1901

25. März 1901

3. April 1901

10. April 1901

14. April 1901

15. April 1901

18. April 1901

25. April 1901

10. Mai 1901

25. Mai 1901

10. Juni 1901

12. Juni 1901

15. Juni 1901

18. Juni 1901

18. Juni 1901

9. Juni 1909

28. Juli 1909

3. Dezember 1918

6. Dezember 1918

2. Januar 1919

Aus den Mündungen der Metroschächte roch es nach vergorenen Orangen und ich hielt die Luft an, als ich an der Treppe vorüberging. Aber noch entsetzlicher war der Gestank von Füßen, von Fußschweiß, von all den Menschen, die sich in die Nähe der Zugänge oder gleich in den Untergrund geflüchtet hatten, weil sie kein Zuhause hatten. Jeder Bombenangriff erschreckte sie halb zu Tode. Auch ich hatte Angst, aber ich riss mich zusammen, damit mir niemand ansah, dass ich meinen Mann suchte. Er hatte vor, zu den Franquisten überzulaufen. Ich fasste mir ein Herz und hoffte, ich würde Kati treffen, um ihr zu erzählen, dass ich mich ganz allein und ohne fremde Hilfe auf die Suche gemacht hatte. In der Bibliothek hatte man mir gesagt, Kati sei heute schon früh gegangen, denn ein paar Leute von der Iberischen Anarchistischen Föderation, die drei Kühe beschlagnahmt hatten, hätten ihr Milch für den Sohn ihrer Hausmeisterin versprochen. Der Junge hieß Manuel und war aus Linares, wie seine Eltern. Sein Körper war übersät von Ausschlag und Schorf, und der Bauch des armen, abgemagerten Kerlchens war ganz aufgebläht. Seine Mutter war verzweifelt, weil er nicht trinken wollte, wenn sie ihm die Brust gab. Und in zwei Monaten erwartete sie schon wieder ein Kind. Kati hatte mit ihr geschimpft, Mädchen, sei nicht dumm, du bringst ihn noch um. Die Muttermilch wird schlecht, wenn eine Frau schwanger ist. Schon vor geraumer Zeit hatte sie ihr geraten, Kurse zu besuchen, die ein paar Ärzte in Badalona anboten; dort würde sie erfahren, wie das mit dem Kinderkriegen geht. Mich wollte Kati auch hinschicken, aber Joan hielt nichts davon. Er meinte, ich sollte mich nicht so viel sehen lassen, sonst würde ich ihn früher oder später kompromittieren.

Ich durfte niemandem erzählen, dass Joan vorhatte, nach San Sebastián zu fahren. Nicht mal Tante Sixta oder Patrícia. Mundeta, hatte er zu mir gesagt, das Blatt wendet sich zugunsten der Franquisten. Joan hatte bei den Juncosas, die beim Socorro Blanco, der katholischen Hilfsorganisation, sind, Radio Burgos gehört und erfahren, dass die Franquisten nach der Einnahme von Teruel nun auf das Ebro-Delta vorrückten. Joan hatte mir gesagt, ich solle weiterhin die Seriennummern der Geldscheine notieren, die noch gültig waren. Die kauften wir und warteten auf eine Gelegenheit, sie dreimal so teuer weiterzuverkaufen. Joan wusste, wie man im Krieg durchkommt. Mamà hatte es anfangs missfallen, dass ich Joan heiratete, denn sie hielt ihn für einen armen Schlucker und Hohlkopf, der noch nie in seinem Leben ein Buch gelesen hatte, aber später, als sie sah, wie gut er sich darauf verstand, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hielt sie den Mund. Die Damen aus der Sommerfrischlerkolonie in Valldoreix brachte er mit schlüpfrigen Witzen zum Lachen, und weil er aussah wie ein reicher Gitano. Er war immer aufmerksam, vor allem den Damen gegenüber, und bei unserem ersten gemeinsamen Spaziergang schenkte er mir einen Kaktus. Joan sagte, er würde für ein paar Tage nach San Sebastián fahren, um die Lage zu sondieren, ich solle mir keine Sorgen machen. Aber ich bin nun mal von Natur eine Schwarzseherin, und jetzt, wo Mamà in Siurana ist, erst recht. Mamà ist in Siurana, weil sie nicht mit ansehen will, wie die Anarchisten Kirchen in Brand setzen und Priester und Mönche umbringen. Sie sagt, sie verstehe den Krieg nicht, und dass sich gewöhnliche Leute mit der Kirche anlegten, gefällt ihr nicht. Was soll der arme Pater Pere denn getan haben, sagt sie. Mamà hat sich zeit ihres Lebens als Republikanerin gefühlt, auch wenn sie eine Schwäche für König Alfonso XIII. hatte. Einmal fuhr sie mit einer ihrer Freundinnen, Pauleta Forns, in einer Droschke auf dem Passeig de Gràcia spazieren, beide in ihren hübschen weißen Kleidern und mit Sonnenschirm, als ihnen plötzlich eine geschlossene Kutsche folgte, in der, wie sich herausstellte, der König saß. Das Foto wurde in Blanco y Negro abgedruckt.

Joan musste zu einer Frau vom Socorro Blanco, die auf den Corts Catalanes gegenüber vom Colisèum-Kino wohnte. Ich sollte mir nur die Namen Comalada und Colisèum merken, falls etwas schiefging. Über alles andere sollte ich Stillschweigen bewahren und mich dumm stellen. Beide Namen begannen mit Co, Comalada-Colisèum, so viel wusste ich noch. Falls etwas Unvorhergesehenes geschah, sollte ich Artal Bescheid sagen, aber ich durfte auf keinen Fall ins Gewerkschaftslokal der CNT gehen, um ihn nicht zu kompromittieren. Stattdessen sollte ich zu ihm nach Hause, zur Plaça de Santa Caterina. Aber nicht heute, so hatte Joan mir eingeschärft, sondern erst in ein paar Tagen. Heute bleibst du schön brav zu Hause, hatte er gesagt. Joan sagt immer, ich sei eine dumme Gans und könne von Glück reden, dass ich in ihm jemanden habe, der mich durchs Leben führt. Joan ist so klug.

Von der Grenze aus sollte er nach San Sebastián fahren und dort auf Pujol warten, der ihm versichert hatte, die Banken der Regierung von Burgos würden ihm Kredit geben. Joan war hocherfreut. Er war so süß und kaufte mir auf dem Schwarzmarkt einen Unterrock aus glänzender, schwarzer französischer Seide mit einem gewellten Spitzensaum. Und für das Kind, das ich erwarte, brachte er einmal eine Porzellanpuppe mit, mit einem Kleid wie von Marie-Antoinette, die Artal auf dem Landsitz der Familie Bertran i Musitu beschlagnahmt hatte. Joan wünscht sich ein Mädchen. Ich will kein Mädchen, ich will einen Jungen. Wir Mädchen sind alle strohdumm. Bis auf Kati und meine Mutter natürlich. Joan sagt, wir würden reich werden, man müsse die Situation ausnutzen. Ich solle mir keine Sorgen machen, die Franquisten gewännen offenbar die Oberhand. Zusammen mit Artal solle ich den Handel mit den Gemälden weiterführen, es war wichtig, den Geldfluss aufrechtzuerhalten. Ich würde nicht lange allein sein, nur ein paar Tage. Er würde mir Bescheid geben, und dann träfen wir uns in Burgos. Joan war wütend auf meine Mutter, weil sie in Siurana war, für solch weibische Capricen, wie er sagte, habe er kein Verständnis; was für eine Schnapsidee, und das, wo du ein Kind erwartest, sagte er. Joan sagt immer, meine Mutter säße auf einem hohen Ross und tue so, als brauche sie nichts und niemanden. Manchmal reden sie tagelang kein Wort miteinander, dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich sitze zwischen den Stühlen und muss von allen Seiten einstecken. Kati meint, es sei zum Teil meine eigene Schuld, ich ließe mich von beiden herumschubsen und solle mir lieber Arbeit als Sekretärin oder Schreibkraft suchen; sie könne mir eine Stelle bei der Generalitat verschaffen, weil sie mit der Tochter eines Ministers zur Schule gegangen ist. Aber ich bin so dumm, dass ich mich kaum noch daran erinnere, was sie mir im Institut für weibliche Bildung beigebracht haben. Der Gedanke, Kati nicht zu finden, löste Panik in mir aus, denn wie sollte ich bloß ohne sie meinen Mann finden. Und an Patrícia oder Tante Sixta wollte ich mich nicht wenden, obwohl Joan mir gesagt hatte, sie würden mir helfen, wenn ihm irgendetwas zustieße und er nicht zurückkäme. Ich solle Artal vertrauen und dürfe ihn, Joan, unter keinen Umständen suchen oder frühestens nach ein paar Tagen. Aber seit der Sprengstofflastwagen genau vor dem Colisèum-Kino in die Luft geflogen ist, kann ich vor lauter Angst kaum mehr atmen.

Ich muss mich zusammenreißen. Wenn Kati davon erfährt, sagt sie sicher, wie tapfer ich bin. Dabei habe ich sie kaum anschauen können, als ich sie zum ersten Mal traf. Ich fand sie eingebildet und kokett. Sie lachte immerzu, und als sie mich sah, meinte sie, schau an, eine Figur wie eine Königin. Das machte mich verlegen, und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Sie redete ständig über Gedichte und Bücher, deswegen verstand sie sich auch so gut mit meiner Mutter. Die Leute aus Valldoreix erzählten sich merkwürdige Dinge über sie, sie sei mit Naturisten, Vegetariern und Freimaurern befreundet und so weiter. Wenn wir nachmittags im Núria saßen, schaute sie sich unverhohlen um; anfangs dachte ich, sie würde gleich anfangen, über die Leute herzuziehen, aber jetzt, wo ich sie besser kenne, weiß ich, dass sie einfach neugierig war, denn sie sagt immer, man solle für alles in der Welt offen sein. Tante Sixta zufolge werden Frauen Bibliothekarinnen, wenn sie keinen Mann finden. Meiner Ansicht nach ist Kati sehr klug, offenbar braucht sie die Männer nicht. Sie sagt, der Krieg habe ihr die Augen geöffnet, sie habe gemerkt, dass Frauen zu etwas nütze sind und nicht bloß hübsch aussehen müssen. Joan allerdings hält sie für verbittert, weil sie ledig ist, und sagt, sie habe nicht geheiratet, weil kein Mann sie haben will, sie sei zu freigeistig und so was mögen die Männer nicht. Er will nicht, dass ich mich mit Kati abgebe, er sagt, wenn ich auf sie höre, werde ich noch enden wie sie.

Als ich erfuhr, dass bei dem Bombenangriff am Morgen ein Lastwagen mit Sprengstoff explodiert war, packte mich die nackte Angst. Ich hatte mir gleich gedacht, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste, denn die Scheiben der Loggia waren zersplittert, und seitdem heulen die Sirenen pausenlos. Kopflos rannte ich auf die Straße und wusste nicht, wohin. Zwei Stunden lief ich vor dem Colisèum auf und ab, aber ringsherum standen Soldaten, die uns zum Weitergehen aufforderten. Mir zitterten die Knie und ich wagte nicht, mich nach den Namen der Toten zu erkundigen. Ein alter Mann griff nach mir, er war verwundet, und sein faltiges Gesicht war schmutzverschmiert. Völlig außer mir rannte ich davon und irrte orientierungslos durch die Straßen. Seit Ausbruch des Krieges war ich nur noch selten allein unterwegs. Meist war meine Mutter dabei oder Joan, wenn er Zeit hatte. Es erschütterte mich, die Berge an Abfall und verrottendem Müll zu sehen. Überall stank es nach faulen Eiern und zerkochtem Kohl. Viele Häuser waren eingestürzt, und zwischen den Trümmern lagen Stühle, Tische, manchmal auch Wiegen und Stoffpuppen. Ruinen haben mich schon immer traurig gemacht. Wenn wir früher einen Ausflug zu einer Burg gemacht haben, nach Burriac oder Tona, sind mir beim Anblick der einsamen, schutzlosen Mauern jedes Mal die Tränen gekommen. Joan nannte mich dann immer eine Heulsuse; ob ich den Verstand verloren hätte, wegen ein paar Steinen rumzuflennen. Doch meine Mutter nahm mich in Schutz, lass sie, sie ist genauso eine Romantikerin wie ich.

Auf der Suche nach etwas Essbarem wühlten viele Leute im Abfall, vor allem Alte und Kinder. Ich machte einen Bogen um sie, weil ich mich schon immer vor Müll, vor zerdrückten Eiern, Bananenschalen, Knochen und Kaninchengedärm geekelt hatte. Noch schlimmer waren allerdings die Orangenschwaden, die aus den Metroschächten aufstiegen. Es war ein widerlicher, stechender Geruch, der sich mir in der Nase festsetzte. Mir wurde vor Übelkeit schwarz vor Augen, und die Adern in meinen Schläfen pochten. Neben einem Hauseingang musste ich mich übergeben. Die Hausmeisterin kam heraus und erkundigte sich, was ist denn, fühlst du dich nicht gut? Als ich ihr sagte, dass ich ein Kind erwarte, erwiderte sie, armes Ding, das tut mir leid, wer kommt bloß in diesen elenden Zeiten auf die Idee, ein Kind zu bekommen. Sie wollte wissen, ob mein Mann an der Front sei, und ich sagte Ja, weil Joan mir eingeschärft hatte, ich dürfe außer Artal niemandem sagen, dass er nach San Sebastián wollte. Pausenlos fuhren Krankenwagen vorüber, und ihr Geheul schrillte mir in den Ohren. Ich hörte Fliegeralarm, zum vierten Mal an nur einem Tag. Die wenigen Passanten eilten davon, ohne sich nach anderen umzuschauen. Ein Hund nagte an meinem Schuh. Er war so dürr, dass man seine Rippen zählen konnte, sein Schwanz war struppig und seine Augen traurig. Ich musste an Ignasi denken und begann zu weinen.

Katis Hausmeisterin sagte, Kati sei noch nicht da, ob ich auf sie warten wolle. Sie sei in Sants, denn die Leute vom Komitee für die Verpflegung dieses Viertels hätten ihr echte Kuhmilch versprochen. Sie zeigte mir ihr Kind; seine Wangen waren hohl, und es hatte kahle Stellen auf dem Kopf und konnte die verkrusteten Äuglein nicht öffnen. Auf seinem geschwollenen, steinharten Bauch schimmerten die lilafarbenen Venen. Die Hausmeisterin erging sich in Lobliedern auf Katis Tapferkeit und fragte erneut, ob ich warten wolle. Sie holte mir einen niedrigen, schmutzigen Weidenhocker. Ich bedankte mich und sagte, ich würde wiederkommen.

Tante Sixta wollte wissen, warum in aller Welt Joan zum Colisèum gegangen war. Mir lag auf der Zunge, dass sie das nichts anginge, sagte aber, ich wisse es nicht.

»Bist du sicher, dass er dort war?«

»Ich glaube schon.«

Und ich dachte an die zwei Worte mit Co: Comalada-Colisèum. Tante Sixta jammerte, wie schrecklich die Bomben heute waren, Herr im Himmel, die Flieger kennen kein Erbarmen, weder die Weißen noch die Roten. Sicher sind die Leute dort alle tot. Das wird nie ein Ende haben. Tante Sixta ließ Patrícia Miralpeix kommen, die in der Nähe wohnte, und beide beratschlagten, was ich tun sollte. Die eine meinte, ich solle umgehend die Krankenhäuser abklappern, und die andere, ich müsse meine Mutter benachrichtigen. Aber als ich vorschlug, erst einmal abzuwarten, was Kati darüber dachte, fielen sie beide über mich her. Kati werde von Tag zu Tag roter, sie sei ja schon immer eine moderne junge Frau gewesen, aber jetzt gehe sie entschieden zu weit, sie sei mit Milizionären gesehen worden. Patrícia sagte, die Explosion am Colisèum sei furchtbar gewesen. Habt ihr diesen Knall gehört, fragte Tante Sixta. Ja, natürlich, antworteten wir beide, und ich fügte hinzu, dass ich noch im Bett gewesen sei, weil mir heute die Krampfadern in den Beinen so wehgetan hätten; die Scheiben der Loggia seien zersprungen. Tante Sixta und Patrícia sagten beide wie aus einem Mund, sicher würden viele der Häuser einstürzen, als wären sie aus Pappe. Der schwarze Rauch der Brände verdunkelte den Himmel über der Stadt, und die Balkone waren von Schmutz und Staub bedeckt.

»Dass der Lastwagen mit dem Sprengstoff ausgerechnet dort stand, ist schon ein verdammter Zufall.«

Die Menschen mussten wie Wattebäusche durch die Luft geflogen sein. Sicher haben die Soldaten auf Jahre damit zu tun, nach den Toten zu suchen. Sie lassen niemanden in die Nähe. Geh lieber nicht hin, sagte Tante Sixta. Morgen machen wir in Ruhe eine Runde durch die Krankenhäuser. Heute finden wir ohnehin nichts heraus.

»Auf was für Ideen deine Mutter kommt. Ausgerechnet jetzt wegzufahren, wo du ein Kind erwartest.«

Ich verzog das Gesicht, weil ich es nicht leiden kann, wenn jemand schlecht über meine Mutter spricht. Und Tante Sixta nutzte jede Gelegenheit, um in meiner Gegenwart über sie herzuziehen. Sie war neidisch auf sie. Offenbar war meine Mutter in ihrer Jugend sehr hübsch gewesen. Sie hatte sehr zarte, helle Haut und Hände, so schlank wie die Strahlen des Mondes. Ich bin jedes Mal fasziniert, wenn sie ihr langes, kräftiges Haar kämmt. Tante Sixta dagegen trägt eine Perücke, weil sie kahl ist, und sie hat überhaupt keinen Geschmack. Wie oft hat Kati sie ausgelacht, weil sie den Hut verkehrt herum aufgesetzt hatte. Und wenn wir nachmittags im Núria waren, zupfte sie ständig an ihren Handschuhen herum.

»Wenn du dich fürchtest, kannst du heute Nacht bei uns schlafen. Unser Viertel ist ziemlich ruhig.«

Wie unverfroren. Tante Sixta konnte einem das Blaue vom Himmel herunter versprechen, doch am Ende hielt sie nichts davon. Unzählige Male hatte sie mir angekündigt, sie würde mir Kaninchen schenken, einen Rammler und eine Zibbe, die könnten dann Nachwuchs bekommen. Als der Krieg ausbrach, stellte sie in ihrem Garten zwei Käfige auf, den einen für Kaninchen und den anderen für Hühner. Ich wagte nie, sie um die Tiere zu bitten. Meine Mutter hatte auch Kaninchen gezüchtet, aber die hatten wir vor ihrer Abreise nach Siurana verspeist. Joan gab ihr drei Kisten Zigarren mit, die sie bei den Verwandten auf dem Land gegen Kartoffeln und Viehzeug eintauschen sollte. Und jetzt aßen wir Pferdefleisch; Kaninchenfleisch wollte ich nicht essen, wenn wir es nicht von Bekannten bekamen, denn angeblich wurden Katzen als Kaninchen verkauft. Die Katzen der Zugehfrau waren jedenfalls allesamt verschwunden, und sie hatte sechs gehabt. Meine Mutter panierte die Rippchen des Kaninchens immer einzeln mit Eipulver und Semmelbröseln. So ist es, als hätten wir jeden Tag etwas anderes zu essen, sagte sie. Und darüber geriet Tante Sixta noch mehr in Rage, weil sie nur Kaninchenbraten zubereiten konnte.

»Ich verstehe ja, dass du besorgt bist, meine Liebe. Aber man weiß ja nie. Joan bringt es fertig und taucht gesund und munter wieder auf, und dann hast du dich ganz umsonst verrückt gemacht.«

Doch ich ließ mich nicht beirren und dachte an die beiden Worte mit Co: Comalada-Colisèum.

»Du bist ein Dickkopf.«

Patrícia hatte gehört, dass die Luftwaffe der Franquisten nicht von den Stellungen ablassen wollte, die die Armee am Boden gutgemacht hatte. Und Tante Sixta sagte, sie halte es nicht mehr aus; wenn es noch mehr Angriffe gebe, würde sie Barcelona verlassen. Es sei die Hölle, sollten die sich doch gegenseitig umbringen, wenn es ihnen Spaß mache. Patrícia fand es richtig, dass meine Mutter nach Siurana gereist war, aber es sei ein Jammer, dass ich nicht mitgefahren sei. Ich musste bei Joan bleiben. Natürlich, die Frau hat bei ihrem Ehemann zu sein. Tante Sixta meinte, ich solle zumindest ein Weilchen bleiben, wenn ich schon nicht bei ihr übernachten wolle. Aber ich wollte nichts wie weg, denn meine Gedanken kreisten nur um die beiden Worte mit Co, Comalada-Colisèum.

»Ich meine es nur gut mit dir, meine Liebe.«

Tante Sixta sagte, draußen gebe es viele Männer, die wahre Bestien seien. Und die Regierung hätte zwar für Ordnung sorgen wollen, doch davon merke man nichts. Ihr Ehemann, der von seinen Renten lebte, war einmal verschleppt worden und hatte sich nur dank eines Cousins, der zwar Kommunist, aber ein guter Mensch war, im letzten Moment vor der Erschießung retten können. Er höre jeden Tag Radio Burgos und habe erfahren, dass die Roten beim Einnehmen eines Dorfes alle Mädchen zuerst vergewaltigen und dann töten, immer vor der Kirche. Ich erwiderte, dass Joan ebenfalls Radio Burgos höre und manchmal auch den italienischen Sender, der Verdad heißt, Wahrheit, und dass er mir von solchen Ungeheuerlichkeiten nie etwas erzählt habe. Bestimmt wollte er dich nicht aufregen, meine Liebe, sagte Patrícia. Und Tante Sixta fuhr fort, diese Dinge müssten ans Licht kommen, wir sollten es uns alle eine Lehre sein lassen, welche Torheiten während der Republik begangen wurden. Einst müssten wir vor Unserem Herrn Rechenschaft ablegen über die ungeheuerlichen Verbrechen, die diese Anarchisten von der »Columna de Hierro« und vom »Batallón de la Muerte« zu verantworten hätten, und weder Durruti oder El Campesino noch Abad de Santillán – und wer weiß wie viele Namen sie noch aufzählte – sollten Ihm unter die Augen kommen, weil Er weder für sie noch für ihre Kinder Gnade kennen würde. Tante Sixta wusste Bescheid über den Krieg; wir dürften die Augen nicht vor der Welt verschließen, sagte ihr Mann, sonst bezögen wir Prügel, wenn wir am wenigsten damit rechneten, und würden nicht mehr auf die Füße kommen. Meine Mutter sagt immer, dass sich Tante Sixta aufführe wie ein Klageweib und sich selbst als Opfer inszeniere, doch in Wahrheit sei sie ein Biest. Falsche Schlangen kann meine Mutter nicht leiden, Frauen, die sich ohne Grund vor ihren Männern kleinmachen, aber nachher hinter ihrem Rücken über sie lästern. Meine Mutter nimmt kein Blatt vor den Mund. Damit hat sie sich schon viel Ärger eingehandelt, so wie damals, als die ganze Sache losging und alle kopflos umherrannten und die Anarchisten das Sagen hatten. Da erklärte ihr das Dienstmädchen, sie würde fortgehen, denn ihr Verlobter sei Anarchist; er wolle nicht, dass sie ihr Leben im Dienst von Kirchgängern vergeude. Meine Mutter wurde fuchsteufelswild und fragte, schämt ihr euch nicht für eure Taten. Das Dienstmädchen ging unter Tränen fort, weil sie meine Mutter eigentlich gernhatte, doch zwei Tage später kam ein Trupp und durchsuchte unsere Wohnung, und Joan sagte zu meiner Mutter, dass sie sich doch bitte nicht in anderer Leute Angelegenheiten einmischen solle, was sie sich denn dabei gedacht habe. Und schon gab es wieder Krach.

Tante Sixta konnte ihre beiden Mädchen nicht allein lassen, wie sie sagte, sonst wäre sie mit mir gekommen. Und Patrícia war ein Nervenbündel, weil ihr Mann sie die ganze Zeit im Haus haben will und wir zurzeit mit Esteve Miràngels nicht auf allzu gutem Fuß stehen. Unternimm nichts, Mundeta, beschwor sie mich, selbst wenn dein Mann tot ist, wirst du niemals frieren müssen. Die Schnepfe erklärte mir, ich wisse ja gar nicht, was es heiße, zu frieren, und ich würde doch jederzeit wieder einen Mann finden. Aber ich bin ungerecht, einmal hatte sie mir drei Säcke Kartoffeln vom Hof in Gualba und zwei Krüge Milch geschenkt. Und ihr Mann widmete mir einmal zu Weihnachten ein sehr nettes, gefühlvolles Gedicht. Außerdem brachte Patrícia mir zu Beginn der Schwangerschaft regelmäßig zweimal die Woche einen Hähnchenschenkel. Die kaufte sie auf dem Markt in Badalona, wie sie erzählte, wenn man sich geduldig anstellte, bekam man sie dort ohne Lebensmittelkarte.

Nach einer Portion Linsen mit Speck brach ich auf. Ich nahm etwas Eigenartiges, Neues wahr; mir wurde flau im Magen, doch mein Verstand war mit einem Mal ganz klar, als die beiden mir sagten, dass sie mich nicht bei der Suche nach Joan begleiten würden. Ich konzentrierte mich auf die beiden Worte mit Co, Comalada-Colisèum. Als ich das Haus verließ, schlug mir eisige Kälte entgegen. Dieser Winter war bitterkalt, und das Pflaster war immer feucht. Ich sah Barcelona in neuem Licht, meine Augen entdeckten ein unbekanntes Schauspiel, ein Hin und Her von Menschen; es kam mir vor, als wäre ich in einer anderen Stadt. In der Straßenbahn hörte ich einen alten Mann sagen, die Flieger hätten ihre Bomben so präzise auf die zentralen Punkte abgeworfen, als hätten sie alles millimetergenau berechnet. Eine Dame sagte, sie sei derart erschüttert, sie könne so nicht weiterleben, wir würden noch alle vor Sorge, Angst und Gram umkommen. Ein alter Mann murrte, ja, ein Krieg sei natürlich etwas anderes als eine Revolution. Der Mann, der zuerst geredet hatte, erklärte, dass an allem bloß die Spione schuld seien. Na, dann gehören sie eben umgebracht, sagte der Alte. Warum hat Negrín das nicht längst veranlasst? Ach, Negrín, antwortete der Mann und gluckste in sich hinein. Die Dame sagte, die Frau ihres Krämers habe Verwandte in der Nähe des Colisèum-Kinos, und von ihr wisse sie, dass es bei der Explosion am Morgen mehr Tote gegeben hatte als im ganzen Krieg. Ich musste kreidebleich geworden sein, denn die Dame fragte, hast du etwas, mein Kind. Nein, antwortete ich, mir tun nur die Toten leid. Da sagte der Alte, seit der ganze Mist angefangen hat, ist das Mitleid so groß, dass die Welt dafür zu klein geworden ist. Und die Dame, natürlich, natürlich. Der Mann sagte zu dem Alten, das seien italienische und deutsche Flugzeuge, die kämen vom Stützpunkt auf Mallorca. Ja, genau, kommen solche Leute ins Haus, werfen sie uns bald hinaus, entgegnete eine Frau, die bisher geschwiegen hatte. Sie sah aus wie eine aus dem Süden, sprach aber Katalanisch. Das waren riesige Bomben, die wurden aus mindestens fünftausendzweihundert Metern Höhe abgeworfen; ich begreife noch immer nicht, wieso bei Bomben aus dieser Höhe nicht die ganze Stadt in die Luft fliegt, es wäre für alle das Beste, sagte der Alte. Ich schaute ihn mir näher an und sah, dass sein Gesicht ganz vernarbt war. Halten Sie doch den Mund, Schluss mit dem Unsinn, sagte die Dame. Sie stand auf und stellte sich an die Tür. Der Mann sagte zu dem Alten mit dem Narbengesicht, seien Sie vorsichtig, sonst werden Sie noch als Defätist verhaftet. Ich stellte mich hinter die Dame und fand mich im nächsten Augenblick erneut auf der Straße wieder.

In der Gegend um das Colisèum-Kino war kein Durchkommen. Krankenwagen brausten mit Sirenengeheul davon und kehrten wieder zurück. Es waren Militärkrankenwagen. Die Leute schrien, drängten und schubsten, um sich einen Weg zu bahnen. Die Soldaten baten, man solle sie in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Ein Kind, dem der Rotz aus der Nase hing, weinte. In den wirbelnden Staubwolken war es mal zu sehen und mal nicht. Ich dachte, da lassen die dich bestimmt nicht hin. An einer Seite stand eine dicke Frau mit zerzaustem Haar und gab Auskünfte. Ihr Gesicht war puterrot, und an ihrem linken Arm hing der Träger ihres Unterkleids herab, weil sie trotz der bitteren Kälte ärmellos ging. Ich hörte, wie sie von allen Seiten nach Leuten gefragt wurde, die in der Nähe wohnten, und wartete, bis ich direkt vor ihr stand. Vor mir waren noch zwei Ehepaare an der Reihe, eines davon war sehr alt; die Frau schluchzte und schnäuzte sich pausenlos. Ich fragte, Verzeihung, wissen Sie etwas über Senyora Comalada? Sie wollte wissen, ob sie aus Figueres sei, und ich sagte Ja, damit sie mir nicht womöglich die Antwort verweigerte, wenn ich zögerte. Da erklärte die Frau, Senyora Comalada wohne gleich gegenüber vom Colisèum, im ersten Stock, und ich drehte mich um, aber da stand nur noch eine Wand. Mehr nicht, nur eine Wand. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Die Frau erklärte, dass sie die Hausmeisterin der zwei Häuser die Straße hinunter war und alles mit angesehen hatte, Gott sei Dank seien das Haus und sie wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, aber der Schreck säße ihr noch immer in den Knochen und sie habe noch immer weiche Knie. Es stände zu befürchten, dass aus Senyora Comaladas Haus niemand lebend herausgekommen sei, aber man solle sich auf alle Fälle später erkundigen. Der Knall der Explosion sei so laut und dumpf gewesen wie ein Erdbeben, als ob sich die Erde aufgetan und nur ein pechschwarzes Loch zurückgelassen hätte, ein tiefes, schwarzes Loch. Als hätte Gott zwei schallende Ohrfeigen verteilt. Und Flammen, Geschrei, Gestöhn, Gejammer und Menschen, die sich an Trümmer klammerten, Arme, die inmitten der Ruinen winkten, und Tote. Es tut mir leid, sagte sie. Dann schaute sie mir forschend in die Augen und fragte, ob Senyora Comalada eine Verwandte von mir sei, und ich sagte zuerst Ja, dann Nein, nur eine Bekannte von Verwandten, ich hätte die Leute in der Straßenbahn über die Explosion reden hören und sei neugierig geworden. Da wurde die Frau sichtlich wütend; sieh an, wandte sie sich an die Umstehenden, neugierig ist sie, auf so etwas. Morbide, empörte sich ein Mann, und die alte Dame, die sich immerzu schnäuzte, meinte, es gäbe viele Leute, die sich am Unglück anderer weideten. Die Hausmeisterin schimpfte, die Soldaten müssten schon den ganzen Morgen Gaffer und Klatschmäuler loswerden, dafür hätten sie weder Zeit noch Kraft. Meine Krampfadern machten mir zu schaffen, und ich sagte, ich wolle nicht, dass sich meine Verwandten Sorgen machten, die Ärmsten hätten schon ihre beiden Söhne an der Front verloren. Ach, das sei natürlich etwas anderes, sagte die Frau und fügte hinzu, an meiner Stelle würde sie direkt in die Krankenhäuser gehen und sich dort erkundigen. Hier würde ich nicht viel herausbekommen. Es sei doch offensichtlich, wie erschöpft die Soldaten seien. Hier könne mir niemand weiterhelfen. Und durchlassen würde man mich auch nicht. Geh in die Krankenhäuser, glaub mir. Und das sage ich dir ganz ohne Hintergedanken, nur um dich zu beruhigen. Die alte Frau, die sich ständig schnäuzte, sagte, o Gott, o Gott, wenn mein Lluís tot ist, das ertrage ich nicht. Ich bedankte mich bei der Frau, die zwei Häuser neben Senyora Comalada wohnte.

Die Plaça Santa Catalina kam mir vor wie aus einer anderen Welt. Es lag dort mehr Müll herum als in anderen Vierteln, aber es war ruhig und die Passanten hatten keine Eile. Ein paar Jungen hatten sich in eine Reihe aufgestellt und riefen, der Wachturm, der Wachturm, wer zerstört den Wachturm, und gleich daneben standen Mädchen in einer zweiten Reihe und antworteten, der Wachturm, der Wachturm, ihr könnt ihn nicht zerstören; da riefen die Jungen, ich gehe mich beschweren, ich gehe mich beschweren, doch anstatt beim Großen König von Boúrbón, riefen sie, beim Präsident Companys. In der Nähe standen ein paar Frauen und unterhielten sich, und ich glaube, eine von ihnen lachte sogar. Ich ging auf sie zu, entschuldigen Sie bitte, wo finde ich Artal? Nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, erklärte eine der Frauen, die wie eine Milizionärin gekleidet war, der Name Artal sage ihr nichts. Eine andere, die Katzenaugen hatte, riet mir, eine Frau zu fragen, die gegenüber einen Hauseingang fegte, denn sie seien eigentlich nicht aus dem Viertel, sondern würden hier nur arbeiten; sie waren Lehrerinnen und wollten mit den Kindern in die Ferienlager fahren, sobald sich das Wetter besserte. Also ging ich zu der Frau, die fegte. Artal? Schon wieder, antwortete sie erbost. Der Kerl wohnt schon lange nicht mehr hier. Ich weiß nicht, wer euch immer schickt. Aber mir wurde gesagt … Ja, ja, ich weiß, unterbrach sie mich, dieser Nichtsnutz hat vor dem Krieg hier oben bei seinen Eltern gewohnt. Dann sind die alten Leute aus Kummer über ihren Jungen gestorben, und er hat scheinbar auf fragwürdige Weise Karriere gemacht. Das kennt man ja, da ist er nicht der Einzige. Alle schlagen Kapital aus dem Krieg. Und als ich sie fragte, wo er jetzt wohne, schien sie noch wütender zu werden und schimpfte, wie dumm bist du eigentlich, wenn ein Mann es zu etwas bringt, will er von seinem alten Leben nichts mehr wissen. Das hier war ihm nicht gut genug.

Inzwischen war es dunkel geworden. Die Frauen hatten sich zerstreut, und die Kinder waren fort. Ich ging die Carrer Clarís hinauf. Die Straßen waren leer und trist, und die wenigen brennenden Straßenlaternen spendeten nur ein kümmerliches Licht.

Ich dachte an den Tag, an dem ich Joan kennengelernt hatte, und an den Tag, an dem er mir sagte, ich gefiele ihm, er könne sehen, dass ich eine ebenso reinliche, eine ebenso gepflegte Frau sei wie seine Mutter. Dann fragte er mich, ob ich ihn heiraten wolle. Überglücklich stimmte ich zu, denn ich hatte schon befürchtet, als alte Jungfer zu enden. Seine Mutter hatte die Angewohnheit, die Betten, die nicht benutzt wurden, mit Laken und Decken zu beziehen und anschließend mit den weißen Stoffbezügen abzudecken, die man über die Möbel legt, bevor man in die Sommerfrische fährt. Seine Mutter starb zwei Monate nach Ausbruch des Krieges; Joan war untröstlich, es gab niemanden auf der Welt, der so war wie sie. Als ich sie damals kennenlernte, fand ich sie sympathisch, aber immer rastlos und nervös. Manchmal stand sie mitten im Gespräch auf, um einen Fussel vom Tisch zu fegen. Sie wohnte in der Carrer Aragó und klagte, jedes Mal, wenn sie die Rollläden auch nur ein kleines Stückchen öffnete, käme sofort der ganze Schmutz und Dreck der Züge herein, es sei unerträglich und würde sie sicher eines Tages umbringen. Wann immer ich sie besuchte, war die Wohnung verrammelt, und es war so heiß, dass meine Füße anschwollen. Bei meinem ersten Besuch fragte sie mich, wie oft meiner Meinung nach die Teppiche und Vorhänge im Haus gewaschen und gestärkt werden müssten, und als ich erwiderte, dass ich das nicht wisse, erklärte sie, mindestens dreimal die Woche. Nachher sagte meine Mutter zu mir, Joans Mutter würde sich offenbar langweilen, wenn sie Arbeit erfinden müsse. Als ich daran dachte, wie gut Joan an dem Nachmittag ausgesehen hatte, an dem ich ihn zum ersten Mal traf, schnürte es mir die Kehle zu. Nein, es durfte einfach nicht sein, dass er bei der Explosion vor dem Colisèum-Kino ums Leben gekommen war.

Die Nacht war so finster wie der Schlund eines Wolfes, und im Licht der wenigen Straßenlaternen warfen die Platanen Schatten. Mir war kalt, und ich hatte Hunger. Ich habe Joan in Valldoreix kennengelernt. Samstagnachmittags gingen die Frauen der Kolonie zum Bahnhof, um auf ihre Männer zu warten. Sie setzten sich in die anliegenden Grünanlagen und strickten, häkelten und schwatzten in einem fort. Über Nichtanwesende und ihre Gatten wurde nach Kräften hergezogen. Wenn der Zug um sieben Uhr ankommen sollte, gingen wir Sommerfrischlerinnen, wie die Leute aus dem Dorf uns nannten, immer schon um fünf Uhr hin. Es war ein großer Spaß. Eines Samstags begleitete ich Patrícia, und als der Zug einfuhr, fiel er mir sofort ins Auge. Eine Freundin von Patrícia erzählte mir, er sei ein Gast der Palaus, die am anderen Ende des Ortes in einer von Zypressen umstandenen Villa wohnten und Grabsteine sammelten. Ihre Tochter war eng mit der Tochter der Palaus befreundet und hatte ihr erzählt, er sei ein netter junger Mann, ein Spaßvogel, der es faustdick hinter den Ohren habe. Patrícia sagte, die jungen Leute wollen eben modern sein, das weiß man doch. Ich sah Joan an und verliebte mich sofort in seine kohlrabenschwarzen Locken.

Keine einzige Tram fuhr vorbei. Ich hatte mich wohl noch nie so sehr nach dem Gelb der Barceloner Straßenbahnen gesehnt. Es nieselte, und die Kälte wurde immer trostloser. Ich betrat das Hospital Clínic, wo mich ein Soldat in die Leichenhalle der Rechtsmedizin am anderen Ende des Gebäudes schickte. Ich ging durch einen sehr langen Flur mit feuchten Wänden, von denen der Putz abblätterte, dann durch einen weiteren Flur, und noch einen und noch einen, bis ich eine kleine Tür entdeckte; ich stieß sie auf und stand auf einmal mitten in der Leichenhalle. Darin waren viele Leute, die alle redeten. Es summte wie von einem Bienenschwarm. Es roch nach Tod, und um ein Haar hätte ich das Bewusstsein verloren, aber ich ballte die Fäuste und ging auf die andere Seite des Raumes hinüber, wo viele Menschen aufgebahrt waren. Es waren die Toten. Alle waren mit Schildern versehen, die mit einer Sicherheitsnadel an ihrer Kleidung