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Natàlia findet die Tagebücher ihrer Mutter Judit und entdeckt bei der Lektüre eine Seite an der Verstorbenen, die sie bisher nicht gekannt hat: Die zarte und leidenschaftliche Judit pflegte in den 1930er-Jahren eine sehr enge Beziehung zu Kati, einer Anarchistin und Unterstützerin der Republik, einer Bohemienne, die sie für ihre Unabhängigkeit bewunderte. Doch was war das für eine Beziehung? Je länger sich Natàlia in die Worte ihrer Mutter vertieft, desto mehr Fragen kommen auf: Liebten Kati und Judit einander auch auf eine romantische Art? Mussten sie unter der faschistischen Bedrohung eine lesbische Beziehung verheimlichen? Natàlia bittet ihre Freundin Norma, eine Schriftstellerin, die Aufzeichnungen ihrer Mutter in einem Roman zu verarbeiten. Als die beiden Frauen von der Sehnsucht Judits nach Freiheit und Selbstbestimmung lesen, beginnen sie sich zu fragen, wie es eigentlich um ihre eigenen Beziehungen bestellt ist: Norma ist gerade dabei, sich neu zu verlieben und Natàlia versucht sich von Jordí zu trennen, der sich nicht aus seiner Ehe lösen kann...
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2025
MONTSERRAT ROIG
Roman
Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt
Verlag Antje Kunstmann
Für Terttu Eskelinen, die mir in einer violetten Abendstunde zuhörte.
Für Juan Manuel Martín de Blas, der mir sagte, dass es Morgenstunden in derselben Farbe gibt.
Und, wie immer, für Joaquim Sempere.
At the violet hour, when the eyes and back
Turn upward from the desk, when the human engine waits
Like a taxi throbbing waiting,
I, Tiresias, though blind, throbbing between two lives,
Old man with wrinkled female breast, can see
At the violet hour …
T.S. Eliot, The Waste Land
FRÜHLING 1979
DIE VERLORENE STUNDE (NATÀLIA UND AGNÉS)
NATÀLIA LIEST AUF EINER MITTELMEERINSEL DIE ODYSSEE
DER ROMAN VON DER VIOLETTEN STUNDE
1958
1964 TANTE PATRÍCIA ERZÄHLT
JULI 1936
DIE UNBESTIMMTE STUNDE (DIE MÄNNER UND NORMA)
I
II
DIE OFFENE STUNDE
NATÀLIA LIEST AUF EINER MITTELMEERINSEL DIE ODYSSEE
Eines Tages gab mir meine Freundin Natàlia eine Reihe von Notizen, die sie über ihre Tante, Patrícia Miralpeix, angefertigt hatte, dazu ein paar Briefe von Kati und das Tagebuch ihrer Mutter Judit Fléchier. Judit hatte kein Tagebuch im eigentlichen Sinne geführt; es waren eher einzelne, von ihr datierte Blätter. Tante Patrícia hatte sie nach dem Tod von Natàlias Vater, Joan Miralpeix, gefunden und ihrer Nichte gegeben. Es waren nicht besonders viele. Natàlia schickte mir den ganzen Packen und rief mich einige Tage später an:
Meine Tante hat mir dieses Durcheinander überlassen und gesagt, ich soll damit machen, was ich will. Ich dachte, du könntest vielleicht was damit anfangen. Ich fände es schön, wenn du etwas über Mamà und Kati schreiben würdest, und zwar so, wie du über uns beide schreiben würdest.
Ich hatte gerade ein umfangreiches Buch über die Katalanen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern beendet und mir war, ehrlich gesagt, nicht danach, weiter in der Vergangenheit zu wühlen. Die Geschichte der Deportation hatte mich halb krank und ziemlich skeptisch gemacht. Und jetzt wollte Natàlia, dass ich in die Welt zweier Frauen eintauchte, die ich nie kennengelernt hatte, auch wenn sie in zwei meiner Romane vorkamen. Gerade interessierten sie mich nicht sonderlich. Eine Woche lang lag der Papierstapel auf meinem Schreibtisch – Ferran hatte kurz zuvor seine Aktenordner mitgenommen, und so hatte ich mehr Platz. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, das Päckchen zu öffnen. Die Vorstellung, über zwei Frauen aus dem Bürgertum zu schreiben, die sich ihrer Stellung nicht bewusst gewesen waren, reizte mich nicht. Schließlich rief ich Natàlia an:
Hör mal, ich habe keine Lust, schon wieder von deiner Mutter und Kati zu erzählen. Das ist doch Schnee von gestern.
Lies es erst mal, entgegnete Natàlia, du musst ja keine Biografie schreiben oder so. Ich fand es sehr hilfreich.
Fast hätte ich sie daran erinnert, dass Kati und Judit Menschen waren und keine Romanfiguren. Warum sollte ich mich jetzt mit ihnen beschäftigen, wo es so vieles gibt, über das man Reportagen schreiben könnte? Für mich waren Kati und Natàlias Mutter mausetot. Fast hätte ich ihr gesagt, dass ich mich an manchen Tagen kaum auf die Straße traute, um die dunklen Löcher nicht sehen zu müssen, in denen die Hausmeisterinnen des Eixample festsitzen. Ohne Luft, ohne Licht. Dass ich den Anblick unserer Hausmeisterin nicht ertrug, dieser fahlhäutigen Frau mit dem erloschenen Blick, die nur selten vor die Tür ging und stattdessen wie ein Maulwurf den ganzen Tag im Gasgeruch saß; dass ich flüchtete, sobald sie anfing zu erzählen, dass es in ihrem Dorf in Kastilien nur zweimal im Jahr Fleisch gab, an Weihnachten und am Tag, an dem die Weizenernte eingebracht war. Fast hätte ich Natàlia daran erinnert, dass wir eigentlich ein Buch über die psychisch kranken Frauen schreiben wollten, die in der Anstalt von Sant Boi verrotteten, und noch immer eine Reportage ausstand über Maria Felicitat, das Mädchen, das von der eigenen Mutter in einer 25-Quadratmeter-Wohnung mit einem Hammer erschlagen worden war.
Ein Mensch hat unzählige Facetten, und wenn man es schafft, in einem Roman drei oder vier davon zu beschreiben, genügt das schon. Trotzdem versprach ich Natàlia, die Aufzeichnungen zu lesen. Sie hatte meine Antwort gar nicht abgewartet, schon am darauffolgenden Tag überreichte mir die Hausmeisterin einen Brief, der bei ihr abgegeben worden war. Ich weiß nicht, ob es daran lag oder an Judits und Katis Aufzeichnungen; vielleicht hatte es auch mit der Leere zu tun, die ich seit der Trennung von Ferran in mir spürte: Jedenfalls beschloss ich, etwas über Kati und Judit zu schreiben, auch wenn ich nicht wusste, was. Doch bevor ich anfange, möchte ich hier Natàlias Brief wiedergeben:
Meine Rückkehr nach Barcelona ist nun schon fünf Jahre her, und trotzdem erinnere ich mich noch, wie erschöpft ich am ersten Tag war, als ich bei Tante Patrícia unterkam und feststellen musste, dass der Garten mit dem Zitronenbaum verschwunden war. Während ich zwischen den Lichtkuppeln mit den geteerten Rändern hindurch über den Hof ging, versuchte ich, den Garten meiner Kindheit heraufzubeschwören. Ich wollte wieder den Duft des Zitronenbaums riechen, wollte das von den Amoretten vergossene Wasser plätschern und den Kies unter meinen Schritten knirschen hören …
Ich glaube, wir wissen die Wirklichkeit erst dann zu schätzen, wenn sie Erinnerung geworden ist. Um sie so noch einmal erleben zu können. Deshalb glaube ich, dass die Literatur immer noch wichtig ist. Literatur ist nicht Geschichte. Literatur erfindet die Vergangenheit mithilfe von ein paar Details, die real waren, wenn vielleicht auch nur in unserer Vorstellung.
Vergeblich versuchte ich mir das leuchtende Grün des Efeus vorzustellen. Die Umrisse der Blätter blieben vage, ich hatte nicht ihre genaue Farbe vor Augen, sondern nur ein Schema, einen Schatten. Die Erinnerung setzte sich aus vielen verschiedenen Farben und Gerüchen zusammen, und ich bestimmte, welche Form sie annahm. Ich erschuf die Vergangenheit aus meinen Empfindungen, ich machte daraus meine eigene Zeit.
Aber eigentlich wollte ich dir nicht von dem Zitronenbaum oder dem Oleander und auch nicht vom Duft von Tante Patrícias Garten erzählen.
Seit vier Jahren fotografiere ich die sogenannte Wirklichkeit. Ich bin erfolgreich, was kein besonderes Verdienst ist – schließlich kenne ich das Elend dieses Landes. Die Kritiker bezeichnen mich als einen der besten Porträtfotografen. Sie benutzen das Maskulinum, und tatsächlich weiß ich nicht, mit welcher Frau sie mich vergleichen könnten … Im Grunde ist es amüsant, in einem Land, das so klein ist wie unseres, in was auch immer als der oder die Beste zu gelten. Eine Zeit lang habe ich es sogar geglaubt. Du musst dich nur ein kleines bisschen von den anderen abheben, schon wird über dich berichtet … Dabei kennen sie dein Werk nicht einmal. Sie schmeicheln deiner Eitelkeit, und sofort hältst du dich für ein kleines Genie. So klein wie das ganze Land.
Und dann hältst du eines Tages inne, betrachtest dein Werk, vergleichst es mit anderen und stellst fest, dass du ordentliches Mittelmaß in einem Land ordentlicher Krämerseelen bist … Gerade heute habe ich mit Jordi darüber gesprochen. Ich sagte zu ihm: Wir suchen nicht etwa nach der grausamsten Wirklichkeit, um den Schmerz zu lindern, sondern um ihn abzubilden, und dafür wollen wir bewundert werden. Ich sagte, ich hätte Lust, eine Weile mit dem Fotografieren aufzuhören, ich sei es leid, immer wieder den flüchtigen Augenblick der Ereignisse einzufangen, die exakte äußerliche Wirklichkeit wiederzugeben. Als wären meine Augen eine Kamera, die immer ins Außen gerichtet ist. Viel lieber würde ich herausfinden, was in meinem Inneren passiert. Jordi hat mich nur geistesabwesend angelächelt. Er hat seinen eigenen Wahnsinn, angesiedelt irgendwo zwischen Experiment und Engagement. Wie du ist er Geisteswissenschaftler, und seine Arbeit stützt sich auf eine konkrete Sprache und Kultur. Er hat seine Milch auf einen Schluck ausgetrunken und ist gegangen, weil er es eilig hatte, Anna zu treffen, eine ehemalige Kommilitonin. (Jordi hat es immer eilig. Eine typische Szene mit ihm läuft so ab: Ich will etwas mit ihm besprechen, ihm etwas erzählen oder einfach nur eine Bemerkung fallen lassen, da stopft er hastig seine Papiere in die Aktentasche und erklärt mir, er könne sich damit jetzt nicht aufhalten, er sei in Eile. Ich sehe Jordi vor mir, wie er nervös seine Papiere in die Tasche steckt. Ich sehe Jordi, die Papiere, die Aktentasche und höre ihn sagen: nicht jetzt, nicht jetzt, wir reden später …) Mit Anna hat er sich vor zwei Tagen verabredet. Anscheinend findet er es höchst amüsant, sich mit dem ehemaligen »Liebchen« der Studentenführer aus den Sechzigern zu treffen. Die jetzt »eine adrette Frisur hat«, wie er sagt.
Jetzt sitze ich hier allein, mit dem Kugelschreiber vor einem weißen Blatt Papier. Vor ein paar Monaten hätte ich dich vielleicht nicht gebeten, etwas über Judit und Kati zu schreiben. Aber da lebte Papà noch, und ich kannte keine Fakten, also die Fakten aus Mamàs Tagebuch und den Familienbriefen, meine ich. Du wirst es nicht glauben, aber dieser ganze Papierstapel hat mich dazu gebracht, über mich selbst nachzudenken. In mich hineinzublicken. (Hast du schon mal versucht, in den Spiegel zu schauen, ohne zu überprüfen, ob du noch jung oder attraktiv bist? Ich meine, in den Spiegel zu schauen und dich nur auf deine Augen zu konzentrieren, deinen Blick? Versuch es mal: Es ist schwer, deine eigene Blöße länger auszuhalten …)
Weißt du was? Ich glaube, Jordi möchte zu Agnès zurück. Und du errätst nie, warum … Ich habe gehört, er hätte sich in eine junge Frau verliebt, in eine, die sehr viel jünger ist als ich. Ein Mädchen, das wahrscheinlich weniger von ihm verlangt, das ihn auf eine Weise liebt, die sich mit Agnès vereinen lässt. Ist das nicht zum Lachen? Ich weiß nicht mehr, wer kürzlich zu mir sagte: Egal, wie großherzig und intelligent Männer sind – wenn sie dich ersetzen wollen, suchen sie sich immer etwas Weibliches, Junges, Hübsches. Ich glaube, die Bemerkung fiel in den Kreisen jener Feministinnen, die alles, was passiert, entweder der Kategorie »der Mann, der Schuft« oder »die Frau, das Opfer« zuordnen. Oder kam sie am Ende von dir? Ich könnte es dir nicht verübeln. Ich hätte dir das Gleiche gesagt. Gedacht habe ich es mir jedenfalls, als Ferran so lange brauchte, um dir zu gestehen, dass er sich in eine dieser langbeinigen Schönheiten verliebt hatte (aber darüber will ich eigentlich nicht sprechen, das tut gerade nichts zur Sache).
Jordi und du, ihr habt die Wörter, um euch auszudrücken. Ich habe die Bilder, und eine Zeit lang glaubte ich, in jedem Foto stecke ein Gutteil von mir selbst. Jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Für Jordi ist das politische Engagement ein beinahe körperliches Bedürfnis. Vielleicht würde mich das Schreiben beruhigen. Aber ich fürchte, wenn es um Judit und Kati geht, würde ich lügen. Ich habe zu wenig Abstand. Und es kränkt mich, dass Mamà mehr Judit als meine Mutter war. Das haben mir die Aufzeichnungen gezeigt, sicher ist es dir schon aufgefallen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was mich an den beiden mehr interessiert, ob ihr Wesen oder die Beziehung, die sie verband. Ich bin mir sicher, dass es ihnen gut ging, solange sie sich liebten. Und als ihre Beziehung mit Katis Tod endete, verlor Judit einen Teil ihrer selbst.
Ich habe versucht, die Geschichte von meiner Mutter und Kati selbst zu erzählen, wollte mir meine Mutter lebendig vorstellen, wie sie in der Küche stand. Wie zu meiner Teenager-Zeit, als sie noch der häusliche Mittelpunkt war. Ich habe sogar ein paar Zeilen zu Papier gebracht. Hier sind sie:
Heute hast du erschöpft ausgesehen, deine Augenringe sind dunkler als sonst, du achtest nicht auf dich. Als ich nach Hause kam, ging ich geradewegs in die Küche, wo du gerade dabei warst, die Einkäufe vom Markt einzuräumen. Du sahst krank aus, aber ich habe es dir nicht gesagt. Sílvia ließ einen Hähnchenschenkel für Màrius anbrennen, Encarna trocknete die Teller ab. Eine Welt der Frauen. Ich ging ins Esszimmer, um nicht so lang mit euch zusammen sein zu müssen. Die Pflanzen in der Loggia schwammen im Licht.
Hier habe ich aufgehört. Das Ende gefiel mir nicht, vor allem wegen des abfälligen Tonfalls, der in »eine Welt der Frauen« mitschwingt. Und dann der Satz »Die Pflanzen in der Loggia schwammen im Licht«. Eine literarische Flucht aus der Welt der Frauen. Was haben die Pflanzen in der Loggia mit meiner Vorstellung von Mamà in der Küche zu tun? Ich hing fest und kam nicht weiter. Vielleicht ginge es, wenn meine Mutter noch am Leben wäre. Dann könnte das Schreiben über sie der Versuch einer »echten« Versöhnung sein. Aber was für einen Sinn hat es, über Mamà zu schreiben, genauer gesagt, sie neu zu schreiben, wenn sie tot ist? Mir ist bewusst, dass ich mir widerspreche, denn das ist genau das, worum ich dich bitte, Norma. Jedenfalls frage ich mich, ob das bedeuten könnte, dass ich aufrecht geblieben bin; vielleicht glaube ich immer noch, dass die Kunst um der Gerechtigkeit willen einen praktischen Wert haben muss.
Vor Kurzem war ich Zeugin einer Diskussion zwischen Jordi und einem seiner Freunde, der Arzt ist. Sie stritten darüber, ob Ärzte produktive Arbeit leisten oder nicht. Also, ob man sie den Produktivkräften zuordnen kann. Anscheinend interessierte sie das Thema brennend, und weil sie sich nicht einig wurden, kramten sie Das Kapital hervor, um nachzusehen, ob Meister Marx die Zweifel des Arztes, ein Teil der Produktionsverhältnisse zu sein, ausräumen konnte.
Die Diskussion erschien mir lächerlich. Nie hätte ich mir diese Frage in Bezug auf meine Arbeit gestellt. Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob ich als Fotografin – und somit als eine Frau, die weder Autos noch Waschmaschinen produziert – Teil dieses Modells war. Tatsächlich ist es mir vollkommen gleichgültig, ob meine Arbeit nützlich ist, jemandem dient, oder nicht. Jordi sagte: Man könnte meinen, ihr Frauen habt mit Arbeit gar nichts zu tun.
Früher hätte mich das noch gekränkt. Aber ich glaube, ich schweife ab … Zurück zu Mamà und Kati (vielleicht haben mich ihre Aufzeichnungen auf all diese Gedanken gebracht, ich weiß es nicht). Wie gesagt: Ich glaube, wenn Mamà noch lebte, hätte ich ihr einen Brief geschrieben, der folgendermaßen beginnt: Heute hast du müde ausgesehen, deine Augenringe sind dunkler als sonst, und so weiter und so fort. Es wäre ein Versuch gewesen, mich selbst und sie besser zu verstehen. Aber zu ihren Lebzeiten habe ich meine Mutter gehasst. Nun ja, ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Hass war, was ich empfand. Vielleicht war es eher Wut. Ich ärgerte mich darüber, was sie früher erlebt hatte, dass sie als Mutter versagt hatte. Ich wollte nicht mit ihr unter einem Dach leben. Selbst vor ihrem Schlaganfall war sie jahrelang eine lebende Tote. Sie ging mir auf die Nerven. Ich liebte sie. Dann ging sie mir wieder auf die Nerven. Dieser ewig leere Blick. Vielleicht habe ich erst nach ihrem Tod angefangen, über sie nachzudenken. Und seit ich von zu Hause weg war. Dass sie gestorben war, verstand ich erst zwei Jahre nach ihrem Tod. Deine Mutter lebt also nicht mehr, sagte ich zu mir selbst. Mein Bruder Lluís hatte mir geschrieben – zu der Zeit hatte ich keinen Kontakt zu Papà –, aber ich hatte seine Nachricht ignoriert. Mein Elternhaus war eine fremde Welt. Ich gehörte nicht zu meiner Familie, weder im Leben noch im Tod. Ich glaube, mir ging es wie den Männern, die ihre Ehefrau erst lieben können, wenn sie tot ist.
Damals hätte ich keine einzige Zeile schreiben können. Ich hatte kein anderes Bild von Mamà als das, was sie mir geboten hatte. Einen Teil davon hast du in einen deiner Romane übernommen und dabei einige meiner Eindrücke verarbeitet. Du hast eine ordentliche Portion Intuition beigefügt und ein wenig von der Familiengeschichte, Dinge, die mir Papà in der Anstalt anvertraut und die ich von Tante Patrícia in den langweiligen Gesprächen nach dem Frühstück erfahren habe. Aber dank Katis Briefen und Mamàs Tagebuch habe ich ein ganz neues Bild von ihr gewonnen. Oder bin ich im Gegensatz zu früher erst jetzt bereit, sie mit anderen Augen zu sehen? Was meinst du? Außerdem haben mir die Aufzeichnungen deutlich gemacht, wie aufrichtig die Liebe meiner Mutter zu meinem früh verstorbenen Bruder Pere war. Diese Liebe war nicht etwa, wie ich eine Zeit lang glaubte, von den Schuldgefühlen geprägt, die Mütter oft für ihre behinderten Kinder empfinden. Diese Liebe war ganz anders, als ich damals dachte – und doch war sie sinnlos. Aber gibt es überhaupt eine Liebe, die nicht sinnlos ist?
Die Aufzeichnungen haben mir gezeigt, dass die Mamà der Nachkriegszeit nichts mit der früheren Judit gemein hatte. Ich glaube jetzt, dass meine Mutter nach dem Krieg eigentlich nur körperlich anwesend war. Und mir kam der Gedanke, dass wir uns die anderen aus der Beziehung erschaffen, die wir zu ihnen haben. Nachdem ich die Aufzeichnungen mehrmals gelesen hatte, konnte ich die beiden Frauen nicht mehr auseinanderhalten, so, als wären sie eine einzige Person oder als wären sie du und ich und sogar Agnès – auf die ich, offen gestanden, eifersüchtig bin. Als wären sie alle verlorenen oder beschädigten Frauen dieser Welt. Mir schien, als müsste ich mithilfe von Worten all das retten, was von der Geschichte, der großen Geschichte – also der Geschichte der Männer – verwischt, verurteilt oder idealisiert worden war. Ist die Kunst nicht der hartnäckige Versuch des Menschen, seine persönliche Freiheit wiederzuerlangen? Glaubst du nicht, dass auch wir Frauen in der Kunst (soll heißen, im Traum) frei sein können? Ich kann dein spöttisches Lächeln förmlich sehen. Sicher denkst du, Natàlia hat diese verrückten Ideen, weil sie noch nie einem Kind den Hintern abgewischt hat. Belassen wir es also dabei.
Weißt du, was ich glaube? Für uns beide ist der Zug abgefahren. Du wirst einwenden, dass ich mehr »gelebt« habe als du, weil ich andere Länder gesehen habe, weil ich jede Art von Einsamkeit akzeptiere und weil ich weiß, dass meine Liebe zu Jordi relativ ist. Trotzdem erscheint es mir manchmal, als sei die Qualität und nicht die Quantität der Maßstab des Lebens. Und ich habe mich überallhin aufgeteilt, auf meine Liebhaber, Emilio, Sergio und Jimmy … Ich habe mich in unzählige Partikel geteilt, in Fragmente, aufgelöste Teile meiner selbst, ich habe mich geteilt, um mich nicht finden zu müssen. Für einen Mann kann die Einsamkeit der erste Schritt zu Macht und Kreativität sein. Für eine Frau bedeutet sie Leere, Wahnsinn oder Selbstmord. Was bleibt von uns, wenn wir uns in tausend Teile zerstreuen, wenn wir von den Männern gemacht und unter den Genies aufgeteilt werden? Und deshalb interessiert mich die Geschichte von Judit und Kati, den beiden Frauen, die für einen kurzen Augenblick glaubten, dem Schicksal ihres Geschlechts entkommen zu können. Ist das nicht eine gewaltige Hoffnung?
Ich weiß, wie sehr dich meine Darlegungen befremden müssen, höre dich verwundert fragen: Aber hast du nicht gesagt, Judit sei die große Liebe deines Vaters gewesen? Hast du mir nicht erzählt, die beiden hätten sich bis in den Tod geliebt, so sehr, dass Joan Miralpeix den Verstand verlor, als deine Mutter starb? Was um Himmels willen habe ich bloß in meinem Roman erzählt? Nein, glaub nicht, ich hätte dich belogen. Die Liebe zwischen meinen Eltern hat tatsächlich existiert. Aber es war eine besondere Art von Liebe. Es ist die Aufgabe der Schriftsteller, über alle Arten von Liebe zu berichten. Aber das ist nicht mehr meine Angelegenheit. Ich gebe dir die Aufzeichnungen, was willst du mehr? Mach was draus. Du hast verschiedene Möglichkeiten: dass Joan Judit liebte, aber sie ihn nicht. Dass Mamà und Papà sich ungeachtet der Umstände liebten. Dass Mamà Papà liebte, weil er sie liebte. Dass Mamà sich so sehr an die Liebe gewöhnt hatte, dass sie zu einem Teil von ihr geworden war. Dass mein Vater Mamà für sich erfand, vor allem nach ihrem Schlaganfall und ihrem Tod. Wie du siehst, es läuft alles auf dasselbe hinaus: Wir wissen nichts oder so gut wie nichts.
Trotzdem gilt meine Sorge gerade jetzt nicht meinen Eltern. Mich interessiert vielmehr die Beziehung zwischen Mamà und Kati und die zwischen Kati und Patrick. Sie erinnern mich an uns, an dich und mich. Ich weiß, dass meine Beziehung mit Jordi eines Tages zu Ende sein wird. Sie war nie besonders intensiv, vielleicht, weil sie von Anfang an etwas Provisorisches hatte. Das hört man ja heute oft: Mal sehen, wie lange es hält, schließlich hat alles mal ein Ende … Wir waren zu früh gebrannte Kinder. Ich weiß, was du mir jetzt entgegensetzen willst: Nie lässt du dich wirklich auf irgendetwas ein, weder auf die Liebe noch auf die Arbeit, du bleibst immer auf Distanz. Glaubst du wirklich, dass sich die Liebe abmessen lässt wie eine Handelsware? Je nachdem, was ich von dir bekomme, ich zahle es dir auf Heller und Pfennig zurück … Aber zu mehr bin ich nicht fähig. Wir Frauen dürfen einen guten Teil von uns auf keinen Fall zeigen. Wenn wir uns ganz hingeben, bleiben wir zuletzt allein, wie eine Biene ohne ihren Stock. Ja, ich weiß, du schüttelst den Kopf, wenn du das liest. Aber was erwartest du von mir? Ich bin fast zehn Jahre älter als du. Die Jahre lasten schwer auf mir.
Die Liebe zwischen Kati und Mamà war so intensiv, weil sie sich wünschten, sie würde ewig dauern. Sie dachten, sie werde niemals enden, trotz dieses schmutzigen Kriegs, wie ihn alle nennen, die ihn erlebt haben. Jordi verlangt nicht viel von mir: nur dass es so weitergeht wie bisher. Unsere Zeit ist zu mittelmäßig für intensive Gefühle. Aber es ist schon traurig, dass man einen Krieg braucht, um zu wissen, wie man liebt, so wie diese beiden Frauen, so wie Patrick und Kati … Und jetzt weiß ich auch, dass die Liebe meiner Mutter für Pere, meinen behinderten Bruder, so groß war, weil sie auf der Erinnerung an die Menschen beruhte, die sie im Krieg verloren hatte. Und mein anderer Bruder, Lluís … Armer Lluís. Hinter der Verbissenheit, mit der er uns allen zu beweisen versucht, dass er glücklich – soll heißen, erfolgreich – ist, verbirgt sich nichts weiter als seine Angst. Eine Zeit lang habe ich versucht, ihn zu verstehen, vor allem, weil er in deinem Roman die Figur ist, die am wenigsten sympathisch ist. Ich finde, du hast ein bisschen übertrieben. Natürlich ist er gut gelungen: Lluís war ein unmittelbares Kind des Faschismus, und daraus konnte er nur als Bösewicht oder Rebell hervorgehen. Trotzdem glaube ich, dass du mir ein bisschen zu wohlgesinnt warst. Möglicherweise aus Hass auf das männliche Geschlecht? Nein, Lluís ist weder völlig gut noch völlig schlecht. Er ist halbe-halbe, wie wir alle. Der einzige Unterschied ist, dass er es nicht weiß und sich selbst deshalb nicht akzeptiert.
Und aus all diesen Gründen wage ich es nicht, an den Aufzeichnungen Mamàs und Katis herumzudichten. Und wenn ich »herumdichten« schreibe, meine ich das wörtlich. In diesem Fall erscheint mir der Begriff nicht abwertend. Kati, vor allem aber Judit, die beiden sind mir zu nah, als dass ich ihnen gerecht werden könnte. Oder drücke ich mich vielleicht davor, weil ich zu stolz bin? Nein, das glaube ich nicht. An Patrícia wage ich mich ja schließlich auch heran. Trotz allem mag ich die Teile deines Romans, die von ihr handeln, am liebsten. Ich verstehe nicht, warum die Geschichte nicht mit ihrer Stimme ausklingt, ihrem Monolog an der Seite der toten Judit. Wie in deiner ersten Fassung? Patrícia würde damit das Leid der anderen Figuren sogar noch unterstreichen. Schließlich sind sowohl Patrícia als auch Encarna vollkommen naiv. Sie verkörpern den gesunden Menschenverstand, die einzige Philosophie, die mich interessiert. Vielleicht aber liegen sie mir auch deswegen so am Herzen, weil sie mehr als alle anderen aus der großen Geschichte verbannt sind. Jeder, selbst ich, macht sich gerade über meine Tante Patrícia lustig. Trotz ihrer siebenundsiebzig Jahre benimmt sie sich wie ein Teenager. Sie hat mahagonifarbene, künstliche Locken und lackierte Nägel, trägt grellbunte Kleider und sagt, sie hätte das »wahre Leben« entdeckt. Und weißt du, was das ist, ihr »wahres Leben«? Es bedeutet jeden Abend Süßwein, große Portionen Eis, ausgedehnte Einkaufsbummel … Sie ist arm wie eine Kirchenmaus, aber hat diese besondere Gabe, an allem Vergnügen zu finden. Ja, ich weiß: Für uns beide ist das ein Zeichen dafür, dass sie aufgegeben hat. Aber sie ist glücklicher als wir, weil sie weiß, dass es das Glück gar nicht gibt. Weißt du, was sie neulich gemacht hat? Sie hat Encarna und ihren Mann Jaume zu sich nach Hause eingeladen, um eine Oper zu sehen – Patrícia hat ihre halbe Leibrente für einen Farbfernseher ausgegeben. Und sie hat sie gebeten, in Galakleidung zu kommen, weil die Oper, Aida, eine Fernsehaufnahme aus dem Liceu war. Encarna hat ihr Hochzeitskleid in ein langes Abendkleid mit schwarzen Seidenvolants umgeändert. Jaume besitzt keinen Smoking, aber hat sich in Schale geschmissen. Patrícia hat den gesamten Familienschmuck angelegt, der noch nicht verpfändet ist. Sie reihte die von Mäusen zerfressenen, zerschlissenen Empirestühle vor dem Fernseher auf. Und dann saßen alle drei da, elegant und kerzengerade, und verbrachten einen »unvergesslichen« Abend, wie Patrícia sich ausdrückte. Ich bin mir sicher, dass weder du noch ich und auch nicht Jordi oder Ferran einen solchen Abend verbringen könnten, ohne uns danach selbst zu hinterfragen. Und wenn ich von solchen Leuten höre, die keinerlei Bedürfnis nach Unsterblichkeit haben, die also keinen Gedanken daran verschwenden, ihre Erlebnisse in Bildern oder Literatur festzuhalten, dann beneide ich dich am meisten. Ich wünschte, ich könnte in solch präzisen, überzeugenden Worten schreiben. Texte, in denen kein Bild zu viel ist und die Adjektive die wahre Natur des Substantivs erahnen lassen.
Wieder sehe ich dein spöttisches Lächeln vor mir. Vergiss es, ich erkläre dir nur, worum es mir geht. Ich weiß, dass ich es niemals tun würde, dazu fehlt mir der Tiefsinn. Natürlich könnte ich auch das »Klima« in diesem Land dafür verantwortlich machen, einem kranken, neurotischen Land, das es nie geben wird, aber dagegen würdest du zu Recht einwenden, dass dies die billige Ausrede der Mittelmäßigen ist: Das »Klima« sind wir.
Als du deinen Roman über die Liebe zwischen meinen Eltern und Patrícias Schwärmerei für Gonçal Rodés veröffentlicht hast, habe ich dir vorgeworfen, du hättest dich von den Fakten mitreißen lassen, vom »der und der hat dieses und jenes gesagt und getan«. Du hättest dich von der äußeren Geschichte einwickeln lassen und, abgesehen von zwei oder drei Figuren, die Soziologie nicht aus dem Spiel lassen können. Ich habe dir gesagt – du wirst dich daran erinnern, weil du ein gutes Gedächtnis hast und deshalb nachtragend bist –, du hättest gewissermaßen einen Sittenroman geschrieben. Jetzt, einige Zeit später, muss ich dir zugestehen, dass du den Roman immerhin geschrieben hast. Ich kann nicht schreiben. Ich habe das Material dazu, ich spüre ihn in Kopf und Körper, aber ich bringe ihn nicht zustande.
Ich habe Angst vor dem schöpferischen Akt, weiß, dass ich nie jene Harmonie zwischen sinnlich-geistiger Erfahrung und Wirklichkeit erreichen werde, die einem hilft, diese Erfahrung lebendig zu machen. Und aus all diesen Gründen habe ich dir die Aufzeichnungen von Mamà und Kati überlassen, zusammen mit meinen Notizen über Tante Patrícia. Ich weiß, dass du mich brauchst, um die Arbeit zu tun. Und ich weiß, dass du in der Lage bist, es zuzugeben. Ich bin gespannt, ob du es schaffst.
Alles Liebe, Natàlia
Wild peitscht das Meer gegen die Felsen. Gischt spritzt auf und leckt zornig am Sand. Die Frau des Fischers mit ihrer karierten Schürze und dem Haarnetz sieht unablässig zum Leuchtturm auf dem Berg La Mola hinüber. Das Wetter ist umgeschlagen, und ihr Mann ist noch nicht zurück. Ich höre, wie die Frau des Fischers einer Touristin erzählt, das Boot sei zwar robust, aber klein. Betreten tröstet die Touristin die Frau, sie will sie offenbar auf das Schlimmste vorbereiten. Ein paar andere Urlauber tunken ungerührt ihr Brot in riesige Milchschalen. Der Himmel ist düster und im Westen ziehen schwarze Wolken auf. Die Wellen rollen hartnäckig heran, wie von einer dunklen Kraft getrieben, und ersterben nacheinander wütend und erschöpft an den Klippen. Das Meer changiert sanft von flaschengrün über himmelblau zu kobaltfarben.
Ich würde die Szenerie gerne fotografieren, um sie deutlicher zu machen.
Einsame Strände öffnen die kleine Insel zum Meer. Wegen der Tramuntana, die hier kräftig weht, stützen die Inselbewohner die Zwergfeigenbäume mit Stöcken. Auf den kargen Böden grasen Schafe und Lämmer. Es ist eine fast hellenisch anmutende kleine Insel, die seit Urzeiten so gut wie unberührt geblieben ist.
Ein warmer Wind wirbelt den feinen Sand auf und begleitet das Tosen der Brandung. Weißt du, Jordi, ich meine darin die Klagen von Circe zu hören, der Zauberin, von der die Geschichte ein so negatives Bild zeichnet, weil sie Männer in Tiere verwandelte. Vielleicht war ihre einzige Sünde, Odysseus zu lieben. Ist dir aufgefallen, dass ich den Begriff Sünde verwendet habe, Jordi? Circe verzauberte die Männer, weil sie eine Göttin war und ihr Leid nicht als Waffe benutzen wollte. Sie wollte kein Opfer sein. Und ich will das nicht, Jordi. Auch Kalypso wollte nicht leiden. Der Dichter erzählt, wie sie den geliebten Krieger unter Tränen ziehen ließ. Er beschreibt es so:
Grausam seid ihr, ihr Götter, und eifersüchtig vor allen anderen, die ihr den Göttinnen neidet, bei Männern zu schlafen offen, wenn eine sich einen zum lieben Gatten erwählt hat.
Natürlich will Odysseus nach Hause zurück. Nach Hause, Jordi. Und das, obwohl er behauptet, dass Penelope Kalypso an Schönheit und Größe nicht das Wasser reichen kann. Aber Penelope hält eben den Mund. Und das ist es doch, was am Ende zählt, nicht wahr, den Mund zu halten? Auf jeden Fall lagen die beiden einander in den Armen und genossen zum Abschied noch einmal die Freuden der Liebe (ich mag diesen Ausdruck: die Freuden der Liebe genießen. Aber das sagt heutzutage ja jeder). So beschreibt es der Dichter, der viel verstand von Schönheit und Worten. Daran denke ich, mein Jordi, während ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es war, in deinen Armen die Freuden der Liebe zu genießen. Weißt du, dass ich mich kaum daran erinnern kann?
Am Ende gewann Penelope. Sie war eben eine kluge Frau. Während sie webte und das Gewebte stets wieder auftrennte, schuf sie ganz subtil ein Netz der Erinnerung an den Mann, dessen Rückkehr sie ersehnte. Einen Käfig für Odysseus, einen Käfig aus nächtlichem Seufzen, Schluchzen, Weinen. Aus Verzweiflung. Und bilde dir nicht ein, dass ich dabei an deine Frau denke, tue ich nicht. (Ein bisschen vielleicht.)
Ich weiß, was du denkst, Liebster: Dass ich sowohl Kalypso als auch Penelope bin. Was soll ich dazu sagen … Du bist jedenfalls nicht Odysseus, oder? Odysseus verstand etwas von Kriegsführung und Herrschaft. Er verstand es, mit den Göttern zu sprechen, und wusste, was Mut ist. Sag mir, Liebster, gibt es heute noch solche Männer?
Aber von Gefühlen verstand Odysseus nichts. Das ist bei euch Männern meistens so. Sie tauchen vor euch auf wie aus dem Nichts, verletzen und überraschen euch. Auch du bist ganz perplex, wenn ein Gefühl dich überkommt, und weißt nichts damit anzufangen. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke … Dir kommen Worte über die Lippen, die du nicht kontrollieren kannst, dir rinnt eine Träne über die Wange, die du sofort zu verbergen versuchst. Wenn dir die Augen feucht werden, schaust du weg (ich merke, der Hass hackt an meinem Inneren wie eine Krähe, und das tut mir weh).
Ja, Liebster, Odysseus verstand es, Krieg zu führen und zu herrschen. Und todesmutig zu sein. Odysseus war nicht etwa der Liebling der Götter, weil er wusste, wie man liebt, sondern weil er wusste, wie man kämpft. Er war dafür geschaffen zu kämpfen und sein kleines Land in Ordnung zu halten. Circe, Kalypso und Penelope, weise Frauen seit Anbeginn der Welt, wussten, wie man ihn erobert, die ersten beiden, um sich ihm hinzugeben, Penelope, um ihn zu halten (und ich konnte dich nicht halten, was ist also meine Rolle?). Mochten Kalypso und Circe auch unsterbliche Göttinnen sein, sie wussten, dass sie ihn früher oder später verlieren würden. Penelope, die einfach nur extrem geduldig war, trug schließlich den Sieg davon (sie war die Stärkste, nicht wahr?).
Aber Odysseus
Griff mit den wuchtigen Händen den weiten purpurnen Mantel,
Zog ihn sich über das Haupt und verbarg so sein herrliches Antlitz,
Denn er schämte sich vor den Phaiaken der reichlichen Tränen.
Siehst du, Odysseus, der Städtezerstörer, schämte sich seiner Tränen. Ja, ja, ich weiß, du schämst dich deiner Tränen nicht, das sagst du mir oft genug, angeblich kannst du einfach nicht weinen (ich habe dich aber schon zweimal weinen sehen, ganz sicher). Bei Penelope war das anders, Penelope wusste: Je mehr sie weinte, desto mehr würden die Götter ihr helfen. Desto sicherer würde sie siegen. Ganz gleich, wie viele Jahre voller Kummer und Entsagung vergingen, ob ein Tag wie der andere wäre, Liebster. Am Ende würde Penelope, die die Welt nur mit seinen Augen sehen konnte, Odysseus zurückgewinnen. Odysseus hatte große Angst, und wenn das innere Feuer seiner Leidenschaft erst einmal erloschen wäre, würde er nach Ithaka zurückkehren. Schließlich war die Welt seiner sterblichen Seele feindlich gesinnt. Nur in Ithaka würde er Frieden finden.
Genau wie du, nicht wahr?
Ich habe schon lange nicht mehr geweint. Es würde mir schwerfallen. Ehrlich gesagt, es fasziniert mich, wie leicht Norma die Tränen kommen. Oder Sílvia. Na ja, die ist sowieso nah am Wasser gebaut. Vor Kurzem hat sie zu mir gesagt: Das Leben entgleitet mir, was habe ich bloß getan? Und ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Ich besitze nicht Normas Geduld für Lebensbeichten aller Art. Manche Frauen gehen mir einfach auf die Nerven. Sílvia zum Beispiel. Ich verstehe, dass Lluís ein Vollidiot ist, der sie nur ausgenutzt hat. Aber einige Frauen haben sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben. Was hat sie bloß in meinem Bruder gesehen? Wenn ich ihn jetzt mit mehr Distanz betrachte wie jemanden, der schauspielert, sehe ich Folgendes: Geheimratsecken, erloschener Blick und Bauchansatz, während er mir mit dem Whiskyglas in der Hand erklärt, wie unglücklich er ist, vor allem seit Papàs Tod … (Mich hat an dem Tag niemand weinen sehen.) Seine Geschichten wecken in mir nicht etwa Mitgefühl, sondern machen mich wütend. Ich mag ihn lieber, wenn er auftrumpft, lauthals lacht oder einer jungen Frau auf den Hintern schaut …
Die See hat sich beruhigt, aber der Fischer ist noch nicht wieder da. Der Mann in der Bar sagt zu der Frau, das sei merkwürdig, alle anderen Boote seien zurück, aber vielleicht sei der Mann ja weiter bis nach Ibiza gefahren. Ich werde nicht müde, das Meer zu betrachten. Am Horizont zeichnet sich ein weißes Segel ab, ein Sonnenstrahl streichelt mich sacht. Die Erinnerungen kommen und gehen. Worte, die ganz von allein entstehen und im Klang der Wellen sterben. Ich denke an dich, Jordi, und auch an Penelope. Als wärt ihr ein und derselbe Mensch. Ja, ich weiß, du hast nichts mit deiner Frau gemeinsam. Ich weiß, dass du dich für deine Feigheit schämst, du hast es mir schon so oft gesagt! Hat Penelope aufs Meer hinausgestarrt? Oder ist sie ins Landesinnere geflohen? Auch Penelope hatte das Recht, zu lieben (selbst wenn ich das nie laut sagen würde). Penelope liebte, wie man einen König lieben muss: still und demütig (meine Frau ist langweilig, hast du mir erzählt). Circe verzauberte die Männer in ihrer Raserei und Verliebtheit. So wie Norma. Weißt du, Jordi, Norma sagt immer, dass sie verliebt sein muss, um zu schreiben. Wie ich sie beneide. Ehrlich gesagt, hätte ich mir mit dir eher eine Freundschaft gewünscht. Ich glaube, mein Problem – unser Problem – ist, dass wir die Welt nach unserer Vorstellung gestalten wollen. Du mit deiner abstrakten Liebe für die Menschheit. Ich … Als ich mit dreiundzwanzig Simone de Beauvoirs Memoiren las, wollte ich unbedingt genauso leben wie diese Französin, und ich glaube, ich habe mir in den Kopf gesetzt, einen Jean-Paul Sartre zu finden. Ich wollte eine Welt nach meinem Geschmack. Deshalb konnte ich es nicht fassen, als ich dir begegnete. Weißt du noch? Am ersten Abend hast du mich in eine Spelunke ausgeführt und die ganze Zeit nur von der Partei geredet, von dem streikenden seat-Arbeiter, der von der Polizei erschossen worden war, der Assemblea de Catalunya, dem demokratischen Widerstand gegen das Franco-Regime … Du hast meine Finger genommen, die noch fleckig von der Arbeit in der Dunkelkammer waren, und gesagt, du gefällst mir, weißt du? Und nein, ich konnte es wirklich nicht fassen … In meiner Dummheit fiel mir nichts anderes ein, was ich dir anbieten konnte, als Sex. Das hat dich überrascht, damit hattest du nicht gerechnet. Wir streiften bis vier Uhr morgens durch ein feuchtes, stilles Barcelona, redeten über Politik, die tschechischen Dissidenten. Wir redeten viel. Und als wir vor der Tür meines Ateliers standen, fragte ich, warum kommst du nicht mit rauf? Gleich darauf habe ich es bereut. Du wolltest nicht, das sah ich in deinen Augen, die immer so einen überraschten Ausdruck haben. Aber du bist mitgegangen, und ich habe dir ein Glas Wein angeboten, ausgerechnet dir, der nicht trinkt. Ich habe das Zweite Klavierkonzert von Brahms aufgelegt und mir gesagt, jetzt hast du alles kaputt gemacht … Schnell hatte ich dir das ganze Atelier gezeigt, und wir standen mit dem Weinglas in der Hand auf der Terrasse und blickten auf Barcelona hinunter. Du hast mir von deiner Frau erzählt, sie ist eine Seele von Mensch, hast du gesagt. Und von deinen Kindern und dass sie ganz nach Agnès gerieten. Wir stießen ein paar Mal zusammen, aber ohne zu lachen. Vielleicht, wenn wir gelacht hätten … Und dann sind wir zusammen im Bett gelandet. Ich war einfach nur hungrig nach Sex, also habe ich dich aufs Bett geworfen und hätte dich am liebsten mit Haut und Haaren verschlungen … Nein, das stimmt nicht, ich war nicht sexhungrig. Ich wollte einfach, dass du bleibst, dass du nicht fortgehst. Du hast mich durchschaut und gesagt, du müsstest weg. Und beim Anblick deiner Silhouette vor dem Licht im Flur hatte ich dieses flaue Gefühl in der Magengrube, das laut Norma ein Anzeichen für Verliebtheit ist. Nein, ich habe mich nicht in deinen klugen Kopf verliebt, Jordi, nicht in deine allgemein bekannte Aufrichtigkeit und auch nicht in deine Gutherzigkeit. Ich habe mich in den Anblick deiner Silhouette vor dem Licht in meinem Flur verliebt. Kannst du dir etwas Alberneres vorstellen?
Ja, alles sollte so sein, wie ich es wollte. Die Männer, die Welt. Meinen Vater habe ich erst verstanden, nachdem er verrückt geworden war, stell dir das mal vor. Ich habe ihn erst geliebt, als er zu nichts mehr zu gebrauchen war. Und vielleicht liebe ich dich jetzt, da du mich verlässt, mehr denn je. Warum sind wir so? Kannst du mir das sagen?
Erst vereinte sich, da sie wusch, bei dem bauchigen Schiffe
Einer mit ihr auf dem Lager der Liebe, denn dieses betört
Bei den Frauen das Herz, wär’ eine auch festen Charakters.
Von Circe (oder Norma) habe ich schon gesprochen. Anschließend werde ich von Kalypso sprechen. Von Geburt an hatte sie etwas Unwiderstehliches … Athene? Athene verkleidet sich als Mann, um Telemachos zu besuchen. Die göttlichste aller Göttinnen, die Göttin der Weisheit. Und als solche verzieh der Dichter ihr alles. Sie lässt sich von der Liebe nicht betören. Man merkt, dass Homer aus ihr nicht schlau wurde, nicht wusste, ob er sein Augenmerk mehr auf ihre weibliche Zurückhaltung oder ihre Weisheit richten sollte. Es muss ihm schwergefallen sein, jemanden wie Athene einzuordnen.
Von mir wird keiner jemals etwas hören, Jordi. Deshalb verzeihe ich dir nicht, dass ich in deinen Augen so klein war. So schwach.
Wie du siehst, heißt es von den Frauen, sie ließen sich von der Liebe betören, selbst wenn sie festen Charakters sind. Aber bei mir war das nicht so, Jordi.
Der Wind verjagt die Wolken, und die Morgensonne beginnt mich zu wärmen. Aber die Wellen brechen sich noch immer tosend am Strand, und es klingt, als trügen sie die Schreie der Toten heran. All der Frauen, die gestorben sind, ohne von den Dichtern besungen worden zu sein. Ich genieße jeden einzelnen Sonnenstrahl, der treu meine Haut berührt (das ist Literatur, aber mir gefällt’s). Norma würde mir jetzt erklären, dass ich jeden Sonnenstrahl um seiner selbst lieben muss, dass ich ihn für mich bewahren muss, als würde er in mir verlöschen. Norma ist zu lebensfroh, und ich beneide sie darum. Fast kann ich sie hören: Du musst jeden Tropfen des Meeres lieben, den du auf deinem Gesicht spürst, meine Liebe, und auch den Geschmack von Salz, du musst es dir von Armen, Bauch, Schenkeln und Füßen lecken … Streichle die Felsen, die dich schützen. Und den Wind, der deine Erinnerungen erstickt. Norma, die Sinnliche.
Auch wenn wir noch so festen Charakters sind: Alle Frauen lassen sich von der Liebe betören … Die Armen, sagt der Dichter. Lass sie nur lieben, getrieben vom Verlangen. Auch wenn sie noch so charakterstark sind, werden sie dafür bezahlen müssen. Alle werden verdammt sein – außer Penelope, die am Ende die Siegerin ist, weil sie gelitten hat. Denkt nur an Klytaimnestra, die verwundete Mutter. Was war ihre Sünde? Dass sie Aigisthos liebte oder dass sie nicht warten konnte?
Norma: Willst du überhaupt mit ihm zusammenleben?
Natàlia: Nein, den Gedanken an traute Zweisamkeit finde ich grauenvoll!
Norma: Also, was denn nun? Was willst du?
Natàlia: Ich liebe ihn nun mal, ich liebe ihn! Und nie darf ich ihn anrufen, sondern muss immer warten! Immer muss ich warten. Ich habe es so satt!
Norma: Aber er sieht das vielleicht ganz anders. Vielleicht stellt er sich etwas ganz anderes unter einer Beziehung vor.
Natàlia: Ich weiß ja nicht mal mehr, was ich mir darunter vorstelle. Ich bin einundvierzig, verstehst du? Ich weiß nur, was ich nicht will.
Norma: Es kommt mir so vor, als würdest du das Leben immer nur von der negativen Seite betrachten. Du schaffst dir vom Hals, was du nicht willst, aber versuchst nie, zu bekommen, was du willst. Immer läufst du davon.
Kaum zu glauben, aber ein solches Gespräch kann ich mit Norma führen, nicht mit dir.
Drum sei auch du jetzt nie zu vertraulich mit deiner Gattin
Und teil nicht jeden Gedanken mit ihr, so gut du ihn selbst weißt, warnt Agamemnon Odysseus. Er sagt ihm, man könne den Frauen heutzutage nicht mehr vertrauen. Merkst du, Jordi, dass sich nie jemand Gedanken darum gemacht hat, ob Klytaimnestra auf Agamemnon warten sollte? Auf den Mann, der von Homer ausdrücklich dafür gelobt wird, dass er die halbe Welt zerstört hat. Dass er eine Stadt wie Troja dem Erdboden gleichgemacht hat. Ja, ich weiß, Jordi, du gibst mir recht. Männer wie du scheinen gerade zu lernen, dass man uns recht geben kann. Ihr habt den Rückzug angetreten. Als wäre das nicht euer Terrain. Ihr fühlt euch auf diesem Gebiet nicht wohl.
Der Fischer ist immer noch nicht zurück, aber niemand scheint mehr auf ihn zu warten. Alle haben sich wieder ihrer Arbeit zugewandt, vielleicht um die bösen Gedanken zu vertreiben. Von Zeit zu Zeit huschen verstohlene Blicke zum Haus des Fischers hinüber, in dem es still ist. Der Netzvorhang ist zugezogen. Aus einem Winkel der Pension weht der Duft nach Schmorgemüse zu mir herüber. Wenn Norma das riechen könnte, würde sie die Felsen hinaufklettern.
Du gefällst mir, weißt du?, hast du gesagt und meine von der Arbeit in der Dunkelkammer fleckigen Finger genommen. Und ich kam mir vor wie ein kleines Mädchen. Glühende Ohren. Leere um mich herum. Zu gerne hätte ich deinen Blick im Bild festgehalten. Ich frage mich, ob ich aus Stolz versuche, die Wirklichkeit abzubilden. Oder aus Rache. Wen interessiert es schon, ob du etwas im Bild festhältst, das sich Tag für Tag, jederzeit, überall auf der Welt wiederholt? Kein Bild ist jemals neu. Jedes Foto reproduziert Handlungen, Bewegungen, Gesten, Blicke, Glück und Trauer, alles, was sich überall und jederzeit ereignet.
Norma: Wenn wir alle so denken würden, könnten wir uns genauso gut im Schatten eines Baumes ausstrecken und uns den Bauch kratzen.
Natàlia: Merkst du denn nicht, dass wir uns wiederholen? Dass wir nichts Neues mehr sagen?
Norma: Na und? Die Kunst ordnet das Leben. Außerdem: Merkst du etwa nicht, dass wir Frauen uns endlich trauen, selbst Kunst zu machen?
Natàlia: Wir werden nichts verändern.
Norma: Du bist zu pessimistisch. Oder widersprichst du einfach nur gern?
Norma hat recht, Jordi. Nichts tue ich lieber, als zu widersprechen. Und manchmal sage ich etwas, ohne zu wissen, warum. Einfach nur, um mir Gehör zu verschaffen. Um mich meiner selbst zu vergewissern. Hättest du mir wenigstens ab und zu widersprochen und mir nicht ständig recht gegeben … Dann hätte ich tatsächlich das Gefühl gehabt, dass du mir zuhörst. Aber jetzt ist ohnehin nichts mehr zu machen. Immer habe ich das Gefühl, zu spät zu kommen, ob es nun um Dinge geht oder um Menschen. Genau deshalb bin ich Fotografin geworden, um einen Beruf zu haben. Dabei ist es im Grunde genommen egal, ich hätte tausend andere Dinge tun können. Es heißt, ich sei eine gute Fotografin. Na und? Sogar die Steine haben den Gefühlsausdruck auf den Gesichtern satt, eine Freude, die so allumfassend scheint und sich schließlich doch in Kummer wandelt. Ibsen sagte einmal, das Leben sei nicht tragisch, sondern lächerlich. Nein, das Leben – zumindest unseres – ist wirklich nicht tragisch. Es ist auch nicht lächerlich. Das Leben ist einfach nur eine ewige Wiederholung. Und wir glauben immer, wir wären die Ersten, die eine Erfahrung machen. Deshalb habe ich Norma gebeten, etwas über Judit und Kati zu schreiben. Aber ich werde ihr nichts aus meinem Leben erzählen. Das nicht. Ich denke immer, dass die Leben der anderen Thema sind, und nicht mein eigenes.
Dieses Leben ist das einzige, das ich habe, und ich muss es so beenden, wie ich es begonnen habe. Damit der Kreis sich schließt. Ohne Unterbrechungen.
Norma: Du bist zu stark, Natàlia. Du machst mir Angst. Man könnte meinen, du hast keinerlei Mitgefühl mit dir selbst.
Nein, Norma wird nichts über mich erfahren. Und ich will auch nichts wissen. Niemand wird sich einmischen, das werde ich mit aller Kraft verhindern. Niemand wird etwas darüber erfahren. Und jetzt, da die Sache mit uns zu Ende ist, Jordi, ist es, als würde der Vorhang endgültig fallen. Wenn ich gehe, bleibt nichts als Schweigen. Rein gar nichts. Deshalb gibt es auch kein Foto von mir. Ich werde alles mitnehmen, Jordi. Ich werde deine Silhouette im Licht meines Flurs mitnehmen, dein Bild vom ersten Tag, an dem du mit raufgekommen bist. Und den Augenblick, als du mir gesagt hast: Du gefällst mir, weißt du?
Meine Geschichte ist nicht beispielhaft. Sie ist langweilig. Während ich die Gesichter der anderen fotografiere, vergessen sie meines. Die Nonnen an meiner alten Schule würden mir sicher Hochmut vorwerfen.
Aber die kostbaren Erinnerungen kann mir keiner nehmen. Sie kommen, wenn es einem nicht gut geht. Noch mal, Jordi: Sich erinnern heißt, zweimal leben. Vielleicht ist es das, was uns unterscheidet: Seit du in der Politik bist, hast du keine Erinnerungen mehr. Und keine Träume. Es ist, als hättest du nie eine Kindheit gehabt. Und wie kann man einen Mann lieben, der keine Kindheit hatte? Norma sagt, ohne Erinnerung könne man nicht leben. Dabei kommt es mir so vor, als versuchte sie, die Vergangenheit auszulöschen. Immer läuft sie vor ihr davon, immer erfindet sie neue Figuren und neue Liebesgeschichten. Sie ist mir unbegreiflich in ihrer Leidenschaft für die Dinge … Manchmal frage ich mich, ob ich mich in die Erinnerung flüchte, weil ich nicht weiß, wie man lebt. Als hätte ich eine Tür zugeschlagen. Aber Erinnerung ist Literatur, Neuschöpfung. Und ich wünschte, ich könnte diese beiden Dinge zusammendenken.
Sie legte das rosa Kleid heraus, das Jordi so gerne mochte. Dann tauchte sie sanft ins Badewasser und blieb lange Zeit darin liegen. Sie hatte Lavendel und Rosmarin in die Wanne gegeben und fühlte sich nun wie eine auf dem Wasser treibende Blüte. Sie hatte dieses Kleid ausgesucht, weil Jordi sie abholen wollte. Er hatte am Telefon gesagt, ich will mit dir reden, es ist sehr wichtig, können wir uns sehen? Agnès hatte Jordi seit über sechs Monaten nicht mehr gesehen.
Und so hatte sie das rosa Kleid herausgesucht, ohne lang zu überlegen. Als sie in der Wanne lag, betrachtete sie ihre Beine, die er so oft geküsst hatte. Sie wollte sich daran erinnern, wie Jordis feuchte Lippen ihre Beine streiften, sie wollte sich daran erinnern, wie glücklich sie gewesen war. Deine Beine sind die schönsten, die ich je gesehen habe, hatte er zu ihr gesagt.
Dann waren seine Lippen hochgeglitten bis zu ihrem Unterleib, bis zu ihrem Brustansatz. Meine Bergspitzen, hatte er gesagt. Agnès liebte die Worte, die Jordi ihr ins Ohr flüsterte. Deine Beine und deine Brüste sind die schönsten, die ich je gesehen habe, Kleines. Und ganz hingerissen fragte sie ihn, wirklich? Und er antwortete ernst, wirklich.
Das war lange her.
Er hatte erst die eine Brustwarze geküsst und dann die andere, hatte mit dem Ohr darübergestreift und sich zuletzt in ihre Arme geschmiegt. Ich bin müde, Agnès. Und dann fuhr er ihr mit der Zunge ins Ohr, weil er wusste, dass sie das liebte.
Seit jenem Tag hatte sie das rosa Kleid nicht mehr getragen. Seit dem Tag, der den Anfang einer Kette leerer Vormittage bildete, dem Tag, an dem Agnès das Gefühl überkam, alles wäre nur ein Traum, nichts wäre echt, nur eine Szene aus einem Theaterstück, das man sie zwang anzusehen.
Den Morgen fürchtete sie mehr als die Nacht, weil er den Albträumen kein Ende setzte. Ihr Mund fühlte sich pelzig an, als wäre er voll grauem Staub, wie während der Schwangerschaft.
Nachts träumte sie, ein heftiger Sturm wirble ihr Staub ins Gesicht, er drang in jede Pore ihres Körpers, nahm ihr fast den Atem. Er war fein wie Sand, wie von behauenen Steinen, verfolgte sie lange, hüllte sie schließlich vollständig ein, trocknete ihre Kehle aus. Und morgens saß er ihr im Hals wie ein Kloß, den sie nicht loswurde. Es machte sie nicht traurig, dass Jordi nicht da war. Vielleicht, weil sie keine Zeit hatte, traurig zu sein, vielleicht, weil sie ihre ganze Kraft darauf verwenden musste, gegen diese Schicht aus Staub und den kratzigen Kloß in ihrer Kehle anzukämpfen. Sie wollte kein Drama veranstalten wie ihre Mutter. Nein, sie wollte nicht wie ihre Mutter sein, die im Flur vor der Wohnungstür gekniet und den Vater angefleht hatte, sie nicht zu verlassen. Obwohl das lange her war, hatte sie noch immer das Bild ihrer Mutter vor Augen, wie sie im Flur vor der Tür kauerte, den Türgriff umklammerte und lange, unartikulierte Schreie ausstieß. So war das gewesen, als ihr Vater ging. Und als sie dann Jordi traf und er ihr sagte, dass er sie liebte, drückte sie ihn fest an ihre Brust und sagte nur, verlass mich nicht, du darfst mich niemals verlassen, während sie innerlich vielleicht genauso lang und unartikuliert schrie wie ihre Mutter. Vielleicht hatte sie nicht ihre Worte benutzt, aber es war der Schrei ihrer Mutter gewesen, der sich in ihrem Inneren machtvoll einen Weg bahnte. Und sie hatte sich genauso an Jordis Körper geklammert wie ihre Mutter an den Türgriff. Ihre Hände waren wie Klauen gewesen, und sie hatte ihn mit einer nie gekannten Wut liebkost. Jordi verschmolz mit dem Bild von der Tür, und jetzt erinnert sie sich wieder an die Wut ihrer Hände, als sie Jordis Geschlecht gepackt und wie verrückt daran gesaugt hatte. Sie hätte seinen Penis am liebsten verschluckt, ihn bis auf den letzten Tropfen Flüssigkeit ausgesaugt, damit nichts davon übrig blieb, als könnte sie so das Bild der im Flur kauernden Mutter für alle Zeiten tilgen.
An welchem fern erspähten Strand erwartet mich immer
Ein einsamer Geist, beharrlich, beharrlich und herrenlos?
Ich weiß nicht, wieso mir jetzt diese Verse von Vicente Aleixandre in den Sinn kommen. Vielleicht, weil ich mir selbst schon vorkomme wie ein Geist und Schatten. Ich liebe es, den Hauch des Meeres an meinen Füßen zu spüren. Nein, so etwas würde ich nie schreiben. Zum Glück bin ich nicht wie Norma, die immer nur darauf wartet, einen möglichst literarischen, erhabenen Satz rauszuhauen, kaum dass ihr jemand zuhört. Ich verstehe Norma nicht.