Alternative Fakten - Nils C. Kumkar - E-Book

Alternative Fakten E-Book

Nils C. Kumkar

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Beschreibung

Begriffe wie »postfaktisch« und »Alternative Fakten« haben Konjunktur. Sie verweisen darauf, dass in vielen Gesellschaften ein Kampf um die Wirklichkeit der Wirklichkeit entbrannt zu sein scheint. Der Soziologe Nils C. Kumkar betrachtet diese Phänomene jedoch aus einem anderen Blickwinkel: Ausgehend von Fallstudien zu den Auseinandersetzungen um Corona, den Klimawandel und die Größe des Publikums bei der Amtseinführung Donald Trumps, plädiert er dafür, »Alternative Fakten« nicht primär als Versatzstücke einer Parallelwelt zu verstehen, sondern als diskursive Nebelkerzen im Kontext polarisierter Debatten. Sie wirken, so Kumkar, nicht als Beitrag zur Konstruktion einer alternativen Realität, sondern als kommunikative Realitätsdestruktion, die es erlaubt, wider besseres Wissen weiterzumachen wie bisher.

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Titel

3Nils C. Kumkar

Alternative Fakten

Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2811.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77472-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung: Suspicious Minds

Glaubensfragen: Der Diskurs um alternative Fakten

Alternative Fakten als kommunikative Form: Eine neue theoretische Perspektive

Zum Aufbau des Buches

1. Die größte Feier der Geschichte: Alternative Fakten an der Schwelle von Politik und Massenmedien

Alternative Fakten im Dialog: Pressebriefing und Interview

Das Problem der Legitimation: Populistische und populäre Präsidenten

Massenmedien, Politik und Publikum als Resonanzkörper alternativer Fakten

2. Eine zweite Meinung zum Klima-Konsens: Alternative Fakten an der Schwelle von Wissenschaft und Politik

Expertise und Gegenexpertise als Problemlösung und als Problem

Gegenexpertise als unbestimmte Negation: Die alternativen Fakten der Klimaskepsis

Die Funktion alternativer Fakten in der Kommunikation über Wissenschaft

Gelöste Probleme und problematisierte Lösungen: Alternative Fakten und die Epistemisierung des Politischen

3. Masken und Maulkörbe: Alternative Fakten in den sozialen Medien

Hidden in plain sight:

Wer beobachtet was in den sozialen Medien?

Von Durchblickern und Schlafschafen: Alternative Fakten in rechtspopulistischen Social-Media-Diskursen

Realitätsdestruktion und Verschwörungstheorie

Verschwörungstheorien als Stützen alternativer Fakten

Alternative Fakten stützen primär Verschwörungstheorien

Alternative Fakten und Verschwörungstheorien stützen sich gegenseitig

4. Querdenker, quergelesen: Alternative Fakten in den Massenmedien

Der freie Stuhl: Eine Debatte sucht ihren Dissens

Der Auftritt der Querdenker:

Not the (anti)hero we need, but the (anti)hero we deserve

Die kommunikative Funktion des Bezugs auf die Querdenker: Legitimation und Nicht-Verständigung

Fazit: Alternative Fakten und die Wahrheit der Gesellschaft

Der gemeinsame Nenner: Formale Negation

Epistemologische Entwarnung und zeitdiagnostische Überlegungen

Soziologische Selbstbegrenzung und Aufklärung

Literatur

Danksagung

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7Einleitung: Suspicious Minds

We can't go on together with suspicious minds …

Elvis Presley, »Suspicious Minds« (1969)

Als die Beraterin des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, Kellyanne Conway, im Januar 2017 vor die Presse trat, wusste sie vermutlich schon, dass sie zu dem eigentümlichen Auftritt des Sprechers des Weißen Hauses befragt werden würde, der in seiner ersten Pressekonferenz ganz offensichtlich Unwahrheiten über die Größe des Publikums bei der Amtsantrittsfeier des Präsidenten behauptet hatte.[1]  Auch dass die Befragung eher konfrontativ ausfiel, dürfte sie nicht überrascht haben, schließlich hatte Sean Spicer sein Briefing hauptsächlich damit zugebracht, die anwesenden Pressevertreter:innen zu maßregeln und einer parteiischen Berichterstattung zu bezichtigen. Was sie vermutlich nicht ahnte, war allerdings, dass die originelle Begriffsprägung, mit der sie Spicers Falschbehauptungen zu kaschieren suchte – er habe nicht gelogen, sondern alternative facts, also alternative Fakten, präsentiert –, sich wie ein Lauffeuer verbreiten und, ins Negative gewendet, zum Label wie zum Inhalt einer Krisendiagnose über den Zustand der Demokratie avancieren sollte.

8Zwar mühte sich Conway im Nachhinein, ihrer Schöpfung die beunruhigende Spitze zu nehmen, und erklärte, sie habe lediglich alternative Informationen im Sinne einer anderen Perspektive gemeint – so wie die Frage, ob ein Glas halb voll oder halb leer sei, eben eine Frage der Perspektive sei.[2]  Doch der Ausdruck war in der Welt und passte viel zu gut zur Selbstwahrnehmung der Zeit, um derart einfach entzaubert zu werden. Gerade erst hatten die Gesellschaft für deutsche Sprache »postfaktisch« und das Oxford Dictionary »post truth« zum jeweiligen Wort des Jahres 2016 ernannt,[3]  die ehrwürdige Washington Post gab sich wenige Tage später das Motto »Democracy Dies in Darkness«, um die allgemeine Gefahrenlage und die eigene Bedeutung zu würdigen, und George Orwells 1984 führte drohend die Bestsellerlisten an.[4]  In dieses Klima passte der Ausdruck »alternative Fakten« hervorragend als Emblem für das dystopische Unwohlsein darüber, 9dass mit der Trump-Administration etwas unwiederbringlich zu zerbrechen schien. Allerdings fehlte dieser Stimmungslage der Begriff, wodurch eine an schillernden Schlagworten reiche Suche begann, die darauf zentriert war, dass die Wirklichkeit selbst in Gefahr sei. Zusammen mit verwandten Begriffen wie »Fake News«, »postfaktisch«, »post-truth« oder »Verschwörungsmythen«, die in den vergangenen fünf Jahren geprägt, umgedeutet und massenmedial diskutiert wurden, verweist diese steile Karriere einer eigenwilligen Wortschöpfung auf eine tiefgreifende Verunsicherung in der gesellschaftlichen Selbstverständigung.

Es ist das Ziel dieses Buches, diese Verunsicherung präziser zu bestimmen; also genauer zu benennen, welche Probleme eigentlich in der hitzigen Debatte um alternative Fakten bearbeitet werden. Ein erster Blick auf die Diskussion legt nahe, dass es mindestens drei verschiedene Formen der Irritation sind, die sich in der Verunsicherung der gesellschaftlichen Selbstverständigung über die Wirklichkeit verbinden, die alle mit alternativen Fakten in Verbindung stehen, ohne auf sie reduzierbar zu sein: (1) unerwartete Ereignisse, die bisherige Realitätsannahmen problematisch erscheinen lassen; (2) lautstark angemeldete Zweifel darüber, ob nicht alles in Wahrheit ganz anders sei; und (3) eine stärkere Sichtbarkeit von auf den ersten Blick völlig abwegig erscheinenden Tatsachenbehauptungen.

Die Finanzkrise 2008, das Brexit-Referendum und der Wahlsieg Trumps 2016, die rassistischen und antisemitischen Anschläge in Christchurch, Halle und Hanau, das Aufdecken weitverzweigter rechtsextremer 10Netzwerke in der Bundesrepublik, die Coronapandemie, der versuchte Sturm auf den Reichstag in Berlin im August 2020 und der erfolgreiche Sturm auf das Kapitol im Januar 2021, »das Klimathema«, das »aus irgendeinem Grund […] plötzlich ein weltweites Thema geworden« sei (so Armin Laschet 2019),[5]  und der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022: All das sind nur Beispiele für die zahlreichen einschneidenden Ereignisse und Entwicklungen, von denen man – und das ist entscheidend – im Nachhinein meinte, man hätte sie vorher schon kommen sehen können. Während die Ereignisse die meisten scheinbar völlig unvorbereitet trafen, bemühten sich doch vor allem die journalistischen Kommentator:innen nach Kräften, es im Nachhinein schon gewusst zu haben, und erklärten das, was gestern noch eine unproblematisch geteilte Zukunftserwartung war, im Handstreich zur Naivität. Damit verstetigt sich situatives Erschrecken zum konstanten Zweifel: Worauf kann man noch vertrauen? Wenn man es hätte wissen können, warum wusste ich es nicht? Und was wird sonst noch vor mir geheim gehalten?

Dazu kommt, dass die Rechtsextremen und Rechtspopulist:innen, denen im Zuge fast aller dieser Ereignisse verstärkte Aufmerksamkeit zuteilwurde (wenn sie nicht gleich das Ereignis selbst waren), nicht müde werden, ihrerseits gegen die angebliche »Lügenpresse« zu 11polemisieren und damit die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion unter Feuer zu nehmen. »Mut zur Wahrheit«, so plakatiert die Alternative für Deutschland (AfD), die wie die gleichermaßen aufgeweckten »Querdenker« keinen Zweifel daran lassen will, dass sie die Bevölkerungsmehrheit für eine irregeleitete Herde von »Schlafschafen« hält, die man zur Konfrontation mit der Wirklichkeit zwingen müsse. Als zum Beispiel Hans-Georg Maaßen, damals noch amtierender Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, erklärte, die rassistischen Hetzjagden in Chemnitz (noch so ein Ereignis, das man hätte kommen sehen können) hätten gar nicht stattgefunden, sondern seien inszeniert worden,[6]  drehte er die Schraube der Verunsicherung noch eine Windung weiter: Es passieren nicht nur erschreckende Dinge, von denen man sich fragen muss, wie sie geschehen konnten, nun wird auch noch problematisiert, ob sie wirklich geschehen sind.

Als wäre das nicht schon genug Grund zur Verunsicherung, muss sich die Mehrheit der »Schlafschafe« wiederum mit der Frage auseinandersetzen, wie es dazu kommt, dass gerade diejenigen, die am lautesten alle anderen der Realitätsleugnung bezichtigen, selbst bizarre Falschbehauptungen und Verschwörungstheorien verbreiten. Denn es gab allgemein verfügbare Fotos und Videoaufnahmen von Donald Trumps eben eher klei12nen Amtseinführung. Im italienischen Bergamo mussten Armee-Lkw eingesetzt werden, um die Leichen an Corona Verstorbener abzutransportieren – und auch davon existieren Videoaufnahmen. Mindestens eine Partei in diesem Streit muss also den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben. Nur: Wie soll man das ausdiskutieren und woran soll man festmachen, auf welche der beiden Parteien das zutrifft? An der Unsicherheit anzusetzen, mit der alle in diesen Krisensituationen zu kämpfen haben, und geduldig darüber aufzuklären, dass die andere Seite im Irrtum sei, ist dabei offensichtlich keine erfolgversprechende Strategie. Selber Fake News, könnte man die Nullstufe der Kommunikation zusammenfassen, die diese Konfrontation begleitet.

Aus der im öffentlichen Diskurs tonangebenden Perspektive lässt sich das Problem wie folgt zusammenfassen: Es gibt erstens eine Verunsicherung über die Wahrnehmung der Realität, deren erratische Ausschläge Zweifel daran wecken, ob ihre grundlegende Mechanik richtig eingeschätzt wird. Diese Situation wird zweitens dadurch verschärft, dass immer wieder der Verdacht kolportiert wird, dass es wirklich anders ist, dass es wirklich eine kollektive Realitätsblindheit gibt, der man auch selbst zum Opfer fällt. Und drittens ist jede:r mit Behauptungen über die Wirklichkeit konfrontiert, die so abwegig scheinen, dass man, wie unsicher das eigene Verhältnis zur Realität auch sein mag, doch sicher zu sein glaubt, dass die anderen den Kontakt auf jeden Fall verloren haben. Alle drei Verunsicherungen beziehen sich auf zwei Verhältnisse, die schon unter Normalbedingungen intransparent sind: Die Welt 13entzieht sich meiner sicheren Erkenntnis, und ich kann meinem Gegenüber nicht »in den Kopf schauen«. Gerade weil diese Undurchsichtigkeit aber eben nichts Neues ist, stellt sich einer zeitdiagnostisch interessierten Soziologie brennend die Frage, warum diese Intransparenz, die außerhalb von Philosophieseminaren und Beziehungskrisen normalerweise gut entproblematisiert werden kann, gesellschaftlich auf einmal so ein hitzig verhandeltes Problem darstellt.

Dass die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion, also die Aushandlung dessen, was als Wirklichkeit in Auseinandersetzungen vorausgesetzt werden kann, sich nicht jenseits der Gesellschaft vollzieht, dass also Konflikt und Kritik nicht nur ihren Ausgangspunkt bei der »kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit«[7]  nehmen, sondern diese auch prägen, ist sowohl aus konstruktivistischer wie auch aus ideologiekritischer Perspektive eine Binsenweisheit. In diesem Ausmaß neu ist allerdings, dass dieser Konstruktionscharakter der Wirklichkeit selbst reflektiert und zum Einsatz im Konflikt wird: Man streitet heute eben nicht nur darüber, was wirklich ist, sondern auch und mitunter vor allem darüber, wer was aus welchen Gründen für wirklich hält – und wie man ihn oder sie davon abhalten könnte. Dieses Thema beschäftigt nicht mehr in erster Linie die Philosophie oder die Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern treibt (vielleicht sogar in erster Linie) ganz verschiedene politische Akteure auch praktisch um. Dass die World 14Health Organization zu Beginn der Coronapandemie vor einer »Infodemie« warnte, die mit Nachdruck bekämpft werden müsse, oder dass auf höchsten Regierungsebenen Sorgen artikuliert werden, andere Staaten könnten durch lancierte Falschmeldungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, legt davon ebenso Zeugnis ab wie aktuelle Sachbuch-Bestseller, die sich mit der Frage befassen, wie man mit denjenigen kommunizieren soll, die an das Falsche glauben.[8] 

Es verwundert deshalb nicht, dass »alternative Fakten« zum zeitdiagnostischen Schlagwort wurde. Denn wie kein anderer Begriff bringt der Ausdruck die Verunsicherung auf den Punkt, die sich aus diesen Entwicklungen speist und in der Frage kulminiert, ob wir überhaupt noch davon ausgehen können, in einer »gemeinsamen Wirklichkeit« zu leben.[9]  »Everyone is entitled to his own opinion, but not his own facts« – jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten –, diese etwas hemdsärmlige Formel von Daniel Patrick Moynihan, Berater ausgerechnet von US-Präsident Richard »Tricky Dick« Nixon, mag aus erkenntnistheoretischer Sicht unterkomplex sein (wir werden darauf zurückkommen), aber sie bringt das politische Alltagsverständnis, das sich durch alternative Fakten bedroht sieht, sehr griffig auf den Punkt.

15Auch in aktuellen sozial- und geisteswissenschaftlichen Zeitdiagnosen fehlt es wohl deshalb selten an Hinweisen auf alternative Fakten. Der Philosoph Markus Gabriel will mit seinem »neuen Realismus« »das Gespenst des postfaktischen Zeitalters […] bannen«.[10]  In ihrer jüngsten Bestandsaufnahme zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erklären Wilhelm Heitmeyer et al., eine Selbstverständlichkeit referierend: »Während der Pandemie [ist] geradezu ein Boom von Verschwörungsideologien zu beobachten«, die in der unübersichtlichen und beängstigenden Situation vielen (falsche) Orientierung und Gewissheit vermittelten.[11] 

Doch so eindeutig, wie in all diesen Arenen alternative Fakten als Problem behandelt werden, so schwierig ist es, empirisch oder theoretisch präzise festzumachen, welches Problem dabei eigentlich genau bearbeitet wird. Implizit gehen alle mir bekannten Überlegungen davon aus, dass wir es im weitesten Sinne mit einem Problem der Verunsicherung in Bezug auf die eigene Realitätswahrnehmung vor allem im Abgleich mit dem massenmedial vermittelten Bild der Wirklichkeit zu tun haben. Es geht aus dieser Perspektive also darum, dass viele Leute dem, was ihnen als Wahrheit in den Massenmedien vermittelt wird, nicht mehr vertrauen und ihr individuelles Deuten und Handeln nun an häretischen Tatsachenbehauptungen ausrichteten, denen sie stattdessen Glauben schenken. Genau das scheint aber zu16mindest fraglich: So zeigt zum Beispiel die Mainzer Studie zum Medienvertrauen 2020, dass das Vertrauen in die etablierten Medienformate seit Beginn der Erhebungen 2015 tendenziell zu-, die Zustimmung zu exemplarischen verschwörungstheoretischen Behauptungen im selben Zeitraum hingegen abgenommen hat. Am Ende des ersten Coronajahres befand sich der erste Wert auf einem Allzeithoch, der zweite auf einem Allzeittief.[12]  Studien zur Auswirkung von Falschmeldungen auf Wahlentscheidungen bei der US-Wahl 2016, die ja als Ausgangspunkt des Diskurses um alternative Fakten gelten kann, kommen zu dem Schluss, dass diese Auswirkungen vermutlich weit überschätzt werden.[13]  So vorsichtig solche Ergebnisse interpretiert werden sollten: Zumindest belegen sie wohl kaum einen »Boom« des Glaubens an alternative Fakten. Und auch wenn in Umfragen in den USA und in Deutschland immer wieder ein Großteil der Befragten angibt, alternative Fakten machten es zunehmend schwieriger, wahre von falschen Nachrichtenmeldungen zu unterscheiden, legen Untersuchungen, die sich näher mit der Frage befassen, was damit genau gemeint sein könnte, nahe, dass die meisten Befragten sich dabei, ein wenig wie die bereits zitierten Sozial- und Geisteswissenschaftler:innen, verhältnismäßig wenig Sorgen um ihre eigene Me17dienkompetenz machen.[14]  Verwirrt sind, so könnte man zuspitzend sagen, immer die anderen. Sind alternative Fakten also einfach eine diskursive Modeerscheinung, die vor allem daher rührt, dass diejenigen, die beruflich – als Geheimdienstmitarbeiter:innen, PR-Spezialist:innen, Journalist:innen oder Kultur- und Sozialwissenschaftler:innen – mit der gesellschaftlichen Selbstverständigung befasst sind, ihre Deutungshoheit verhandeln und festigen müssen? Dieses Buch schlägt eine andere Herangehensweise vor: Unbestritten sindalternative Fakten ein gesellschaftliches Problem – allerdings eines, das bisher soziologisch noch gar nicht befriedigend formuliert wurde.

Es ist diese Aufgabe, der sich dieses Buch stellt: einen Vorschlag zu unterbreiten, was alternative Fakten eigentlich ausmacht und, hiervon ausgehend, ein gehaltvolleres Verständnis davon zu entwickeln, warum sie gerade in den vergangenen Jahren gesellschaftlich so hitzig diskutiert worden sind. Dabei betrachte ich alternative Fakten vor allem als eine kommunikative Form. Denn auch wenn die Veröffentlichungen zu alternativen Fakten inzwischen kaum noch zu überschauen sind, wissen wir bisher erstaunlich wenig darüber, was 18alternative Fakten in ihren jeweiligen kommunikativen Kontexten eigentlich machen. Genauer, wie setzt man sie eigentlich, ganz pragmatisch, als kommunikative Schachzüge im Spiel der gesellschaftlichen Debatte ein? Die Klärung dieser Frage hilft auch dabei, besser zu verstehen, warum die Gesellschaft sich so sehr für alternative Fakten interessiert. Auf eine knappe Formel gebracht: Alternative Fakten sind, anders als oft implizit angenommen, keine Versatzstücke von Parallelwelten oder Ad-hoc-Hypothesen in unklaren Situationen, sondern kommunikative Ausflüchte aus Situationen, in denen die Faktenlage vorgängig klar ist, aber Dilemmata konstituiert, mit denen man sich nicht auseinandersetzen kann oder will. Und die Obsession, mit der sich die Gesellschaft an diesen alternativen Fakten als angeblichen Irrtümern abarbeitet, wiederholt und verstärkt diese Ausweichbewegung, indem sie die realen gesellschaftlichen Widersprüche in diesen Dilemmata hinter scholastischen oder pädagogischen Fragen nach der »Wahrheit« zum Verschwinden bringt. Statt sich mit der überfordernden Realität auseinanderzusetzen, sprechen wir über unser Verhältnis zur Wirklichkeit: Alternative Fakten sind gesellschaftlich relevant und wirken – aber eben nicht (oder zumindest nicht primär), weil viele Menschen sie glauben würden (das ist die gute Nachricht), sondern weil sie in der Kommunikation wie die Verdrängung irritierender Inhalte wirken (das ist die schlechte Nachricht).

Diese zugegebenermaßen etwas dürre und abstrakte Formel in der Auseinandersetzung mit konkreten Fällen von alternativen Fakten konkreter werden zu las19sen, sie gewissermaßen am Material mit gesellschaftstheoretischem Leben zu füllen, ist die Aufgabe der Fallstudien in diesem Buch. Bevor diese jedoch vorgestellt werden, soll in dieser Einleitung zunächst genauer herausgearbeitet werden, aus welcher theoretischen Perspektive sich das Buch alternativer Fakten annimmt und worin diese Perspektive sich von den bisher den Diskurs bestimmenden Sichtweisen auf alternative Fakten unterscheidet.

Glaubensfragen: Der Diskurs um alternative Fakten

Die Behauptung, dass das Problem der alternativen Fakten bisher nicht befriedigend gestellt wurde, mag etwas vollmundig klingen. Bevor also die spezifische Perspektive des Buches entwickelt wird, möchte ich etwas genauer herausstellen, warum ich meine, dass diese Perspektive eine Lücke schließt. Nicht im Sinne eines Forschungsstandes, sondern im Sinne einer kurzen Skizze dessen, was ich als eine wesentliche Achse des Diskurses bezeichnen möchte, über die sich klarer herausstellen lässt, warum ich meine, dass es nicht befriedigend wäre, bei dieser Ausgangslage stehenzubleiben.

Von Beginn an wurde in der Debatte um alternative Fakten eine wohlvertraute Kontroverse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften der vergangenen Dekaden wiederbelebt: die Auseinandersetzung um das Paradigma des Sozialkonstruktivismus (von seinen Gegnern oft eher verunklarend als »Postmoderne« gescholten). Es ist nicht überraschend, dass diese, auch wegen 20ihrer unheilvollen Verstrickung mit den sogenannten culture wars, weiter glimmende Debatte sich an dieser Frage wieder entzündete. Es ist – so viel konstruktivistische Parteinahme sei mir an dieser Stelle erlaubt – nun einmal so, dass ein neuer Gegenstand vor allem dann zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, wenn er sich an die etablierten Relevanzsysteme anschließen lässt. Ein Problem sieht man in einer neuen Entwicklung mit anderen Worten eben gerade dann, wenn man ihr Attribute zuordnen kann, die man schon für problematisch hält. Und gerade Verunsicherung über den Status der Realität, wie sie im Neologismus der alternativen Fakten auf den Punkt gebracht wird, ist nun einmal ein wichtiger Gegenstand der Debatte um den Konstruktivismus. Genauso wenig überraschend ist, dass dabei allerlei Spiegelfechterei betrieben wurde – auch das ist in dieser Debatte nichts Neues. Es soll hier aber nicht darum gehen, ob die Kontrahent:innen der Debatte sich gegenseitig richtig verstehen oder, schlimmer noch, wer recht hat, sondern darum, den Kern der jeweiligen Perspektiven auf das Problem alternativer Fakten und, ausgehend davon, den geteilten blinden Fleck herauszuarbeiten.

Zunächst scheint es, als würde der Sozialkonstruktivismus einen fast schon selbsterklärenden Zugriff auf das Phänomen der alternativen Fakten bieten: Schließlich geht die Kernthese dieses (in sich diversen) Paradigmas davon aus, dass Realität als Gegenstand von Deuten und Handeln immer sozial konstruiert ist. Jedes Faktum muss, um als solches eine Rolle spielen zu können, als solches aufgefasst werden. Wie man sich diesen 21Prozess des Auffassens genau vorzustellen hat, darin unterscheiden sich die Ansätze des Sozialkonstruktivismus durchaus. Einig sind sie sich jedoch darin, dass es sich dabei um einen unhintergehbar sozialen Prozess handelt.[15]  Da Gesellschaft kein wie auch immer integrierter Akteur ist, verwundert es nicht, dass die einen anderes als Fakt auffassen als die anderen. Doch gerade in dieser scheinbaren Trivialität der Lösung des Problems verbirgt sich die größte Schwierigkeit dieser Perspektive: Denn was genau ist dann das theoretische Problem, das alternative Fakten darstellen? Was unterscheidet sie dann eigentlich vom Normalvollzug der kontingenten sozialen Aushandlung von Realität? Denn gerade weil der Konstruktivismus keinen direkten Zugriff darauf erlaubt, was wahr – und damit eben auch darauf, was eindeutigfalsch – ist, tut er sich schwer damit zu erklären, warum alternative Fakten auf so eigentümliche Art und Weise problematisch sind.

Die Beiträge, die sich aus der Perspektive des Konstruktivismus um eine Klärung dieser Frage bemühen, kommen bisher nicht ohne den Rückgriff auf eklektische, mit der eigentlichen theoretischen Perspektive inkonsistente Zusatzannahmen aus. So führen die Medienwissenschaftler Fabian Zimmermann und Matthias Kohring in ihrer konstruktivistischen Definition von 22»Fake News« den Begriff der »Unwahrhaftigkeit« ein: Es muss sich um eine Mitteilung handeln, die um ihre eigene Unwahrheit weiß (also nicht um einen Irrtum im Sinne einer klassischen Zeitungsente). Das kommt nun zwar ohne Rekurs auf eine vorsoziale Realität aus, allerdings nur um den Preis einer Intentionszuschreibung und einer unterstellten Einsicht in die Realitätswahrnehmung der Sprecher:innen, die aus der Perspektive des Konstruktivismus kaum weniger problematisch sind.[16]  Einige Autor:innen scheinen auch deshalb alternative Fakten eher als Problem für den Konstruktivismus in dem Sinne zu betrachten, dass ihre Diskussion Angriffen auf den Konstruktivismus Vorschub leisten könnte.[17] 

Und in der Tat wurde auch genau dieses Problem von den realistischen Kontrahent:innen als Kritik gegen den Konstruktivismus gewendet. Aus der Perspektive des Realismus (die ich hier wieder mit Blick auf das Bezugs23problem bewusst holzschnittartig vereinfache) ist die Realität nämlich nicht (oder nur in begrenztem Umfang) sozial konstruiert, sondern wir haben in unseren Konzepten und Urteilen durchaus einen Zugriff auf die Realität, »wie sie ist« – was natürlich nicht bedeutet, dass wir sie immer richtig auffassen. Ganz im Gegenteil: Die Realität ist aus der Perspektive des Realismus gerade das, in Bezug worauf wir uns irren können. Der Konstruktivismus kann darum, so die Kernkritik, die ich wohlwollend den Realist:innen in den Mund legen würde, alternative Fakten nicht als das begreifen, was sie sind und was sie problematisch macht: dass sie nämlich schlicht nicht zutreffen, gar keine Fakten sind.

In der Debatte verbindet sich diese ja nicht unplausible (und oft nuancierter ausgearbeitete) Argumentation allerdings häufig mit einer Anschuldigung gegenüber dem Konstruktivismus. Dieser wird nämlich nicht nur als ungeeigneter Rahmen porträtiert, alternative Fakten zu verstehen, sondern, in einer eigentümlichen Überschätzung der Diskursmacht geisteswissenschaftlicher Moden, geradezu als eigentlicher Schuldiger an ihrer Konjunktur. Das ist nicht nur (wenn auch vor allem) in der polemischen Auseinandersetzung in den Feuilletons, sondern durchaus auch in der philosophischen Debatte selbst zu beobachten. So endet Markus Gabriels kritische Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus, anhand derer er sein Konzept eines neuen Realismus ausarbeitet, mit einem Appell, »das Gespenst des postfaktischen Zeitalters zu vertreiben«,[18]  der kaum 24einen anderen Schluss zulässt, als dass für ihn die Kritik des Sozialkonstruktivismus wenn nicht hinreichende, so doch mindestens notwendige Bedingung für diese Geisterjagd ist. Die Debatte um alternative Fakten ist aus dieser Perspektive deswegen so verwirrend, weil sich viele weigern, falsche Tatsachen einfach als falsche Tatsachen zu bezeichnen, und der Konstruktivismus trägt daran zumindest eine Mitschuld.

Wenn wir jedoch von dieser Überschätzung der Wirkmacht philosophischer Schulen einmal absehen, die vermutlich auch das Ergebnis eines Forschungs- und Publikationsbetriebs ist, der sich nicht zuletzt an dieser Art der Kontroverse selbst reproduziert, ist die realistische Perspektive vor allem aus zwei Gründen für die Fragestellung dieses Buches interessant. Zunächst, weil sie den Blick dafür schärft, was aus konstruktivistischer Perspektive vorschnell entproblematisiert zu werden droht: dass die Provokation alternativer Fakten nicht darin besteht, eben eine abweichende Tatsachenbehauptung zu sein, sondern dass sie (auf eine noch näher zu bestimmende Art und Weise) falsch erscheinen. Was diese besondere Art des falsch Scheinens allerdings ausmacht, die mehr und tiefer zu verunsichern scheint als die Lügen und Irrtümer, die uns schon seit Menschengedenken begleiten, dazu schweigen sich auch die Vertreter:innen des Realismus aus. Ihnen genügt zunächst die Feststellung, dass sie falsch sind, und das Beharren darauf, dass man dies bitte auch so zur Kenntnis nehmen möge. Ihre Leitfrage in Bezug auf das »postfaktische Zeitalter«, die auch für die konstruktivistische Betrachtung oft im Zentrum steht und die auch für einen Groß25teil der empirischen Forschung als gemeinsames Bezugsproblem ausgemacht werden kann, lautet darum eben: Warum glauben so viele Menschen die falschen Dinge?

Bei der Durchsicht der empirischen Forschung zu alternativen Fakten fällt auf, dass es vor allem zwei Disziplinen sind, die sich mit dem Phänomen befassen: Psychologie und Medienwissenschaften. Besonders die psychologische Auseinandersetzung stellt sich das Problem dabei ziemlich genau im Sinne der skizzierten Perspektive auf alternative Fakten: Sie setzt voraus, dass alternative Fakten ein Problem sind, weil so viele Menschen sie glauben – und fragt dann, wie es dazu kommt und was man dagegen tun kann.[19]  Die implizite oder explizite Grundannahme, dass der Begriff »alternative Fakten« als Problemstellung in letzter Instanz Glaubensinhalte bezeichnet, wird also interessanterweise sowohl von den entgegengesetzten erkenntnistheoretischen als auch von den verschiedenen empirischen Herangehensweisen an das Phänomen geteilt. Das trifft auch auf die Grundannahmen der Untersuchung von Nicola Gess zur Narratologie der »Halbwahrheiten« zu, auf deren Ergebnisse ich mich in der Folge immer wieder beziehen werde. Der von Gess vorgeschlagene 26Perspektivwechsel von der Frage »wahr/falsch« zu »glaubwürdig/unglaubwürdig«[20]  beruht dabei ebenfalls auf der Annahme, dass das zu bearbeitende Grundproblem darin bestehe, dass die betreffenden Behauptungen geglaubt werden.

Damit überspringen diese Untersuchungen gerade das interessante Problem, das ich in der Gegenüberstellung von Konstruktivismus und Realismus zu skizzieren versucht habe: dass nämlich die besondere Verunsicherung, die alternative Fakten hervorrufen, auch aus ihrem eigentümlich gebrochenen praktischen Verhältnis zur Wahrheit zu entspringen scheint. Es ist doch rätselhaft, dass eine Behauptung über eine vermeintliche Tatsachenwahrheit, egal ob sie als Ansatzpunkt einer Realitätskonstruktion oder als Zugriff auf die Beschaffenheit der Welt betrachtet wird, sich als alternative Tatsachenbehauptung präsentiert (denn das tun alternative Fakten, wie sich zeigen wird), damit die eigene Kontingenz geradezu offensiv ausstellt und gerade mit dieser offensiv ausgestellten Kontingenz so tief greifend verunsichert. Im Streit um alternative Fakten geht es also nicht nur um unterschiedliche Auffassungen der Wirklichkeit, die man dann daraufhin befragen könnte, wie diese Auffassungen jeweils zustande kommen. In diesem Streit wird, auch auf der Ebene der Äußerungen der Kontrahent:innen selbst, das Verhältnis zur Wirklichkeit selbst zum hitzig debattierten Thema.

Es ist, darauf deuten ja auch die bereits erwähnten 27Diskrepanzen in den Untersuchungen zur Verbreitung und Wirkung alternativer Fakten hin, keinesfalls ausgemacht, dass wir es primär mit einem Problem der Realitätswahrnehmung im Sinne von falschen oder divergierenden Glaubensinhalten zu tun haben. Und selbst wenn es so sein sollte, dann beantwortet die Entschlüsselung ihrer Genese und ihres Gehaltes immer noch nicht die Frage, warum sie in der Debatte derart verunsichernd wirken. Die Herausforderung liegt demnach darin, ein Konzept und eine Untersuchungsweise für alternative Fakten zu entwickeln, die das Dilemma der bisherigen konstruktivistischen und realistischen Zugriffe insofern umgeht, als sie nicht auf das Verhältnis der Fakten zur Wirklichkeit oder auf ihre Konstruktion als Wirklichkeit fokussiert, sondern sich vielmehr fragt, wie Äußerungen in der Kommunikation zu alternativen Fakten werden und was diese Äußerungen als kommunikative Form ausmacht. Die Frage lautet also in aller Einfachheit: Was macht alternative Fakten in der Kommunikation (denn nur dort erscheinen sie als solche) eigentlich zu alternativen Fakten?

Alternative Fakten als kommunikative Form: Eine neue theoretische Perspektive

Festzuhalten ist: Die gesellschaftliche Verunsicherung, die von alternativen Fakten ausgeht, holt man theoretisch und empirisch nicht ein, indem man die individuellen Überzeugungen nachvollzieht, die ihrer Artikulation jeweils zugrunde liegen. Dafür bedarf es vielmehr 28eines besseren Verständnisses davon, was alternative Fakten eigentlich ausmacht. Und diese Frage lässt sich, so die These dieses Buches, nur beantworten, wenn man ihre kommunikative Funktion rekonstruiert, wenn man also versteht, was mit alternativen Fakten in der Kommunikation gemacht wird und welchen Unterschied alternative Fakten in der Kommunikation machen. Die Funktion einer Äußerung (oder einer Klasse vergleichbarer Äußerungen) bezeichnet dabei die aus der Perspektive der Beobachter:innen identifizierbare Veränderung des kommunikativen Kontexts, die mit der Äußerung einhergeht und die also – funktional äquivalent – auch anders hätte zustande kommen können. Zum Beispiel wäre die Funktion der Äußerung »Es geht mir gut« im Kontext eines Gesprächs, das konventionell mit dem Austausch von Höflichkeiten beginnt, der Abschluss dieses thematischen Abschnitts, damit ein anderes Thema initiiert werden kann. Man könnte natürlich auch sagen »Ach, wissen Sie, lassen Sie uns doch zum eigentlichen Thema kommen« – nur würde man sich damit andere Folgeprobleme einhandeln, weil man zum Beispiel als unhöflich gälte oder weil damit eine Meta-Diskussion darüber anheben könnte, worum es im Gespräch eigentlich geht. Wie an diesem Beispiel ebenfalls deutlich wird, kann eine solche Funktion durchaus auch intentional in Anspruch genommen werden (ich will das Thema wechseln) – dies ist allerdings nicht notwendig der Fall und auch nicht die Regel. Wir werden sehen, dass bei alternativen Fakten gelegentlich beides denkbar ist: eine bewusst-strategische Indienstnahme, aber auch eine Funktion, die sich gewisserma29ßen »hinter dem Rücken« der Beteiligten Geltung verschafft.[21] 

Der Fokus auf die Funktion bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Fragen, die darauf abstellen, warum und wie alternative Fakten geglaubt werden, als irrelevant abgetan werden sollten. Es geht vielmehr darum, sie vorübergehend abzuschatten, um den Blick darauf freizugeben, wie sie in der Kommunikation funktionieren. Denn in der Alltagseinstellung, die sich ja auch in der Forschung nie dauerhaft abschalten lässt, droht sonst die erste Frage die zweite ständig zu überstrahlen. Wir alle tun in der Regel so, als ob der Umstand, dass jemand etwas glaubt, ein hinreichender und notwendiger Grund wäre, es auch zu sagen. Wer etwas Falsches sagt, der muss dementsprechend irren oder lügen, wer etwas Wahres nicht sagt, der verschweigt es, und alles, was dann noch bleibt, ist die Frage, warum: Er irrt, lügt oder verschweigt.

Dabei wissen wir das, wenn wir unsere Alltagspraxis betrachten, eigentlich besser, wie drei kleine, uns allen 30vertraute Beispiele verdeutlichen dürften. Zum Beispiel erwähne ich schon seit Jahren die Tatsachenwahrheit, dass Wasser bei 100 ‌° ‌C siedet, so gut wie nie, obwohl ich sie wirklich glaube (versprochen!). Dass es mir gut geht hingegen, habe ich schon sehr häufig wider besseres Wissen behauptet. Beides ist alltagspraktisch völlig unproblematisch: Das eine ist keine verschwiegene Wahrheit und das andere (wenn man nicht gerade eine jugendlich-existentialistische Phase fundamentaler Authentizitätssehnsucht durchmacht) keine Lüge. Beide Situationen erklären sich aus der kommunikativen Funktion: Ersteres ist fast nie eine Äußerung, bei der ich den Eindruck habe, den anderen etwas Neues mitzuteilen. Und selbst wenn ich davon ausgehen würde, dass sie es nicht wissen, wäre es immer noch sehr unwahrscheinlich, dass sie sich dafür interessieren, dass es für sie deutungs- oder handlungspraktisch relevant wäre. Zweiteres hingegen ist eine Äußerung, bei der in der Regel davon ausgegangen werden kann, dass die eigentliche Information sich gar nicht auf meinen Gemütszustand bezieht – sondern darauf, dass auch ich lieber zum interessanten Teil des Gesprächs fortschreiten möchte. Und gelegentlich teile ich auch Tatsachenwahrheiten mit, die ich glaube, aber nicht, weil ich sie mitteilen möchte: Zum Beispiel nutze ich den Umstand, dass die Sonne im Osten aufgeht, derart häufig als Beispiel dafür, dass man Selbstverständliches nicht sagt (und damit eben gerade nicht als Aussage darüber, ob die Sonne im Osten aufgeht), dass es sich als Beispiel eigentlich schon nicht mehr anbietet (weswegen ich es an anderer Stelle des Texts durch den Siedepunkt des Wassers er31setzt habe). Kurzum: Die Frage nach dem Glauben lässt sich von der Frage nach der Funktion der Artikulation einer Tatsachenbehauptung trennen, und wenn man Zweitere untersuchen möchte, tut man deshalb gut daran, Erstere für den Moment abzuschatten.

Das Buch betrachtet alternative Fakten von dieser Warte aus und untersucht sie auf die Frage hin, wie sie sich auf die Kommunikation beziehen, in deren Kontext sie geäußert werden, und wie die Kommunikation sich wiederum auf diese Äußerungen bezieht. Das heißt, es begreift alternative Fakten als eine bestimmte Form eines kommunikativen Schachzugs in einer spezifischen Situation, deren Besonderheiten interpretierend erschlossen werden müssen: Was alternative Fakten ausmacht, das wird in diesem Sinne erst im Verlauf der Untersuchung deutlich werden, die an verschiedenen vom massenmedialen Diskurs als »alternative Fakten« bezeichneten Äußerungen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der kommunikativen Bezugnahme herausarbeitet. Die Plausibilität der Ergebnisse hängt also nicht zuletzt an einer geschickten Auswahl der Fälle, an denen die Untersuchung durchgeführt wird. Konkret waren dabei zwei Überlegungen leitend: Die Fälle sollten untereinander divers genug sein, um sicherzustellen, dass die herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten nicht nur für eine sehr spezifische Untermenge gelten (es sind also nicht nur Beispiele aus der Debatte um Wissenschaft oder nur aus den sozialen Medien). Zugleich sollten sie aber zumindest in der Hinsicht ähnlich sein, dass sie auch wirklich alle gemeinhin als »alternative Fakten« bezeichnet wurden.

32Zwei konzeptionelle Einschränkungen bei der Fallauswahl habe ich dennoch schon im Vorfeld vorgenommen – und möchte sie deshalb auch gern im Vorfeld begründen: Den Begriff alternative Fakten werde ich in der Folge für solche Äußerungen reservieren, die zumindest auf den ersten Blick Anspruch auf faktische Geltung in Bezug auf empirische Sachverhalte erheben – auf Tatsachenwahrheiten, wie sie zum Beispiel Hannah Arendt in ihren Überlegungen zu Wahrheit und Lüge in der Politik auffasst.[22]  Das heißt unter anderem, dass Werturteile nicht unter diesen Begriff fallen. Unabhängig von der philosophischen Frage, ob Werturteilen ebenfalls objektive Geltung zukommen könnte, werden sie zumindest, wie es ja auch im bereits zitierten Diktum »Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten« angedeutet ist, gesellschaftlich nicht so behandelt. Hätte Sean Spicer in seiner Pressekonferenz nicht behauptet, dass die Amtseinführungsfeier Donald Trumps die größte, sondern vielmehr die großartigste Feier in der Geschichte gewesen sei, dann wäre ein Großteil der Beobachter:innen sicherlich nicht seiner Meinung gewesen, allein, dass er gelogen hätte, wäre wohl trotzdem kaum jemandem eingefallen.

Ebenso unterschieden werden müssen alternative Fakten von Hintergrundtheorien zu Tatsachenfeststellungen und damit eben auch von Verschwörungstheorien. Diese Entscheidung mag mit Blick auf die gängige 33Verwendungsweise in der Debatte zunächst verwirren. Ich möchte die enge Verknüpfung der beiden Phänomene, die ich in Kapitel 3 näher untersuchen werde, nicht leugnen. Allein, sie umstandslos in eins zu setzen, würde einen Verlust an Trennschärfe bedeuten, denn offensichtlich können die beiden unterschiedliche Verhältnisse eingehen. Die Behauptung, dass John F. Kennedy am 22. November 1963 nicht von Lee Harvey Oswald erschossen wurde, kann man als Ausgangspunkt einer Verschwörungstheorie und – potenziell – als alternativen Fakt verstehen. Der Verdacht, dass »mehr dahintersteckt«, ist dabei das verschwörungstheoretische Element,[23]  die Tatsachenbehauptung, dass Oswald nicht der Schütze sei, der alternative Fakt. Häufig besteht die Prozesslogik der Verschwörungstheorien primär darin, allgemein anerkannte Tatsachenfeststellungen spekulativ[24]  so zu verknüpfen, dass sie einen anderen Sinn ergeben. Würde man zum Beispiel behaupten, dass Lee Harvey Oswald unter Billigung oder sogar mit Unterstützung des FBI Kennedy erschossen hätte, weil sich der Vorgang in seiner brutalen Einfachheit sonst kaum erklären ließe, dann hätte man eine Verschwörungstheorie entworfen, die in Bezug auf das Attentat selbst ohne alternativen Fakt auskommt. Die Behauptung, Elvis sei gar nicht tot, wäre andersherum ein potenziel34ler alternativer Fakt, der, wie Sean Spicers Behauptung von der größten Amtseinführungsfeier der US-Geschichte, zumindest zunächst keine Verschwörungstheorie impliziert – auch wenn er sich ohne eine solche auf Dauer kaum aufrechterhalten ließe.

Gerade weil sich die Untersuchung also auf Tatsachenbehauptungen beschränkt, ist das Ergebnis umso überraschender: dass es sich nämlich bei alternativen Fakten, obwohl sie, für sich genommen, als Tatsachenbehauptungen vorgebracht werden, funktional gar nicht primär um solche handelt. Alternative Fakten funktionieren nichtals Tatsachenbehauptungen, sondern als Widersprüchezu Tatsachenbehauptungen. Sie wirken nicht als Beitrag zur Realitätskonstruktion, sondern als kommunikative Realitätsdestruktion, die es erlaubt, wider besseres Wissen weiterzumachen.

Zum Aufbau des Buches

Um dieses Argument zu entfalten und nachvollziehbar zu machen, welche Schlüsse daraus gezogen werden können, untersucht das Buch drei sehr unterschiedliche Fälle der Artikulation alternativer Fakten in ihren jeweiligen kommunikativen Kontexten. In allen diesen Fällen wird sich zeigen, dass der Gehalt des jeweiligen alternativen Fakts bis zu einem gewissen Grad beliebig ist, da es in dem jeweiligen Kontext viel eher darum geht, einem Sachverhalt zu widersprechen, als darum, einen alternativen Sachverhalt zu kommunizieren.

Wie genau diese Form der Erkenntnisabwehr aller35dings zustande kommt und wie der jeweilige kommunikative Kontext dazu beiträgt, dass diese Äußerungen funktionieren, wie sie funktionieren, das variiert erheblich zwischen den einzelnen Fällen. Zusammen ergeben sie darum ein facettenreiches Bild davon, wie alternative Fakten sich in die kommunikative Landschaft unserer Zeit einfügen, und sie stützen die zeitdiagnostische Abschlussthese dieses Buches, die gewissermaßen die realistische Pointe einer konstruktivistischen Untersuchung bildet: Bei alternativen Fakten handelt es sich um eine kommunikative Form der sozialen Verleugnung, der kommunikativen Erkenntnisabwehr. Sie sind weit davon entfernt, gesellschaftliche Wahrheit dauerhaft zu verdrängen, sondern legen vielmehr in ihrem praktischen, beobachtbaren Vollzug Zeugnis von der anhaltenden Arbeit daran ab, die Auseinandersetzung mit den eigentlich bekannten Wahrheiten und ihren konfliktbehafteten Konsequenzen zu vermeiden.

Die erste Fallstudie, »Die größte Feier der Geschichte«, widmet sich dem bereits eingangs erwähnten Briefing des damaligen Pressesprechers des Weißen Hauses, Sean Spicer, in dessen Verlauf dieser die nachweislich falsche Tatsachenbehauptung aufstellte, die Amtseinführungsfeier sei die größte in der Geschichte der Vereinigten Staaten gewesen, sowie der Verteidigungsstrategie, mit der die Beraterin des damaligen Präsidenten, Kellyanne Conway, diese Äußerung gegen die empörte Kritik in den Massenmedien zu rechtfertigen suchte. Dieses Beispiel bietet sich als Ausgangspunkt der Untersuchung vor allem deswegen an, weil hier der Begriff der alternativen Fakten erstmals geprägt wurde – und 36weil bei aller diskursiven Unschärfe, die den Begriff umgibt, die Familienähnlichkeit mit diesem Fall deshalb als einheitsstiftendes Prinzip verstanden werden kann. Als Äußerung im offiziellen, institutionalisierten Setting eines Pressebriefings durch die Regierung selbst entfalten diese alternativen Fakten zur Größe des Publikums als Maßstab der Unterstützung des Präsidenten ihre Wirkung an der Schnittstelle zwischen den sozialen Systemen der Politik und der Massenmedien und verdanken ihre steile Karriere nicht zuletzt einem Ringen um Deutungshoheit, das, so die These dieser Fallstudie, als Symptom einer in diesem Konflikt latent wirkenden Legitimationskrise verstanden werden muss. Diese drängte sowohl die politischen als auch die journalistischen Akteure beständig dazu, die mit ihren Rollen verbundenen Verhaltenserwartungen zu überschreiten – und sich genau dafür dann gegenseitig zu kritisieren.

Die zweite Fallstudie, »Eine zweite Meinung zum Klima-Konsens«, setzt sich mit dem Phänomen der wissenschaftlichen Gegenexpertise auseinander. Am Beispiel der von konservativen Thinktanks und erdölindustrienahen Forschungsinstituten vorgebrachten alternativen Fakten zum menschengemachten Klimawandel zeigt sich, dass das Phänomen alternativer Fakten zumindest in diesem Fall älter ist als der Begriff – und dass sie auch schon länger funktionieren. An der Schnittstelle von Politik, Wissenschaft und Massenmedien wird auch in diesem Fall offenbar, wie die Wirkweise alternativer Fakten sich der permanenten Überschreitung von Rollen verdankt, die man bei den jeweiligen Gegner:innen 37zugleich lauthals anprangert: Im konstitutiv unklaren Setting der Expert:innenanhörung und des Policy-Papers wird die Wissenschaft verdächtigt, Politik zu machen, die Politik bezichtigt, in die Wissenschaft hineinzuregieren – und alle führen diese Auseinandersetzung zugleich vor einem Publikum auf, dem unterstellt wird, diese Unterschiede nicht zu verstehen, an das aber ständig appelliert wird, sich »nicht für dumm verkaufen zu lassen«. An diesem Beispiel wird zugleich auch klarer, wie diese kommunikative Form als Verleugnung von Erkenntnis funktioniert: In den Stellungnahmen der Klimawandelleugner:innen wird, wenig subtil, immer wieder eingestanden, dass der eigentliche Gegenstand der Kritik nicht die wissenschaftliche Erkenntnis des menschengemachten Klimawandels ist – sondern die politischen Konsequenzen, die das Eingeständnis dieser Erkenntnis hätte. Und die Zugeständnisse, die den Behauptungen der mangelnden Solidität der wissenschaftlichen Erkenntnis in Massenmedien und Politik gemacht werden, wirken mit an einer Themenverlagerung, die dazu beiträgt, dass diese politischen Konsequenzen nicht eintreten – unabhängig davon, wer den Gegenexpertisen im emphatischen Sinne eigentlich Glauben schenkt.

Die dritte Fallstudie »Masken und Maulkörbe« befasst sich mit Konversationen zu Corona und zur Pandemiepolitik auf den Facebook-Seiten der AfD und mit der kommunikativen Funktion, die alternative Fakten in diesen Konversationen haben. Dieses Beispiel ist vor allem deshalb interessant, weil es den Fokus gegenüber den beiden anderen Fällen in doppelter Hinsicht ver38