Altes Zollhaus, Staatsgrenze West - Jochen Schimmang - E-Book

Altes Zollhaus, Staatsgrenze West E-Book

Jochen Schimmang

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Beschreibung

"Wer an der Grenze steht, kommt schnell mal einen Schritt vom Wege ab und gerät auf die andere Seite des Schlagbaums." Der geschasste Bonner Politikberater Gregor Korff hat sich abgefunden mit den Umwälzungen in seinem Leben, und er profitiert sogar davon: Eine Episode aus seiner Vergangenheit hat ihm in Form eines Bestsellerromans ein recht beachtliches Vermögen eingebracht, und so ist er heute, in den 2010er Jahren, Besitzer eines ehemaligen Zollhauses an der niederländischen Grenze, wo er zurück- gezogen lebt. Lange Zeit ist ein pensionierter Zöllner sein einziger Kontakt, dann aber kommt frischer Wind in sein Leben: Er lernt einen enttarnten ›Landesverräter‹ kennen; zwei serbische Kinder besuchen ihn auf der Durchreise; übers Kino tritt er in Kontakt mit zwei jungen Leuten aus der nahen niederrheinischen Kleinstadt, und ein Freund aus Gregors aktiven Tagen stattet ihm einen Besuch ab. Der "alte Spinner vom Zollhaus" wird nach und nach wieder vergesellschaet. Gregor Korff ist definitiv nicht auf der Höhe der Zeit, und eben dieser Abstand schärft seinen Blick. Altes Zollhaus, Staatsgrenze West ist ein kluger, subtil komischer Roman über die Freundscha, das Alter und das Verschwimmen von Zeiten und Grenzen.

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Jochen Schimmang

AltesZollhaus,Staatsgrenze West

Roman

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2016

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2017

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza

1. Auflage

ISBN 978-3-96054-035-9

All dies muss als etwas betrachtet werden,was von einer Romanfigur gesagt wird.Roland Barthes

Inhalt

1 Granderath

2 Nomade

3 Bleu de Mer

4 Blitze über der Biskaya

5 Früher war es so, dann war es so

6 Ein Schwarm Krähen

7 Brücke, Garten

8 Vom Reichtum

9 Glückliche Reise, rasende Fahrt

10 Vom Landesverrat

11 Boulevard de Bonne Nouvelle

12 Hubschrauber am Himmel

13 Besuch im weißen Haus

14 Die Zürcher Umarmung

15 Das Buch (der Bücher)

16 Mein Sohn

17 Farbenlehre Westeuropa

18 Moffenerbe

19 Der Flug der Roselmeise

20 Giuseppe und Maria

21 Verräter wie wir

22 Zeichenstunde

23 Von der Freundschaft, von der Angst

24 Verteidigung der Ärzte

25 Kino Kino

26 Thomann und Harnisch

27 Seltsame Heimfahrt

28 Ein Grenzzwischenfall

29 Die fröhlichen Baumeister

30 Unterhaltungen deutscher Eingeborener (I)

31 Mikroromane

32 Requiem

33 Unterhaltungen deutscher Eingeborener (II)

34 Hirte, Engel, Ende

35 Einspruch aus der Schreibschule

36 Die Widmung

1Granderath

Jetzt habe ich es geschafft; jetzt bin ich der alte Spinner vom Zollhaus.

Das hörte ich heute in meinem Rücken, als ich im Ort einkaufte. Da hatte jemand versehentlich etwas zu laut gesprochen, denn die Bemerkung war nicht an mich adressiert, nicht aggressiv, keineswegs als Beleidigung gedacht, die mich hinterrücks erreichen sollte. Eher schwang Respekt darin mit.

Den Roman Das Sonja-Komplott, der mir letztendlich diese komfortable Position ermöglicht hat, habe ich nicht selber geschrieben, auch wenn auf allen Ausgaben ziemlich groß – zu groß für meinen Geschmack – mein Name prangte und es auch im Abspann des Dreizehnteilers, den das Fernsehen daraus später gemacht hat, immer hieß: Nach Motiven des Romans »Das Sonja-Komplott« von Gregor Korff. Ich bin nie in meinem Leben Romancier gewesen. Der Verfasser war ein gewisser Z., dessen Klarnamen ich auch heute nicht enthüllen möchte, obwohl er tot ist. Z. war Bonner Korrespondent einer norddeutschen Regionalzeitung gewesen und hatte die Ostverschiebung in den neunziger Jahren nicht mehr mitgemacht, sondern war in Bonn geblieben. Einige Jahre, nachdem Sonjas wahre Rolle aufgeflogen war und ich gehen musste, erzählte ich ihm die Geschichte in allen Einzelheiten, und Z. machte innerhalb eines halben Jahres einen Achthundertseitenklotz daraus, einen Politthriller mit sämtlichen Geheimdiensten dieser Welt, mit kaltblütigen Morden, Intrigen, Ministerstürzen und allen Arten von Verrat, nicht zu vergessen der Liebesverrat. Sein Held, ein Mann namens Norbert Sethe, durchlebt die absurdesten Abenteuer, und es ist ein Wunder, dass er sie, eingekeilt zwischen BND, Mossad, CIA, MI6 und anderen Monstern, alle überlebt. Aber das muss er, weil Z. ihn zum Ich-Erzähler seiner Geschichten macht. Lauter Geschichten, die ich mir nicht hätte ausdenken können, denn ich habe keine Phantasie, wie Proust zu seiner Haushälterin sagte. Ich habe an dem Manuskript dann lediglich stilistische Korrekturen vorgenommen und die größten Peinlichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten gestrichen. Auf den Gedanken, selbst ein Buch zu schreiben, wäre ich nie gekommen, denn ich verabscheue den Trieb, der das Papier ununterbrochen mit seinen Produkten bedeckt.

Als er einen Verlag gefunden hatte, in Zürich, war es Z.s Idee, dass ich meinen Namen als Verfasser hergeben sollte, weil er sich davon mehr Erfolg für das Buch versprach. Vielleicht hatte ihn auch der Verlag dazu gedrängt. Z. schien die Verkaufschancen des Romans nicht allzu hoch einzuschätzen, weil er dann doch keine Beteiligung, sondern einen gut dotierten Buyout-Vertrag wollte. Wie viel er bekommen hat, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall war sein Pauschalhonorar eher bescheiden, gemessen an dem, was sein Machwerk ihm an Autorenhonoraren eingebracht hätte und nun mir zugefallen ist. Immerhin hat er von dem schnellen Geld dann noch etwas gehabt, bevor er ein Jahr nach Erscheinen des Buches während eines Unwetters im Siebengebirge von einem Blitz erschlagen wurde.

Der Erfolg des Buches ist bekannt. Er hat niemanden mehr überrascht als mich, der ich angeblich sein Autor bin. Das erste Jahr nach dem Erscheinen war etwas anstrengend, weil ich ständig auf Buchpräsentationen anwesend sein und sogar vorlesen musste. Dabei habe ich mein Buch nie ganz gelesen, weil es mir einfach zu dick war. Das fiel jedoch nie auf, weil die Fragen auf diesen Veranstaltungen in der Regel weniger literarischer Art waren, sondern sich auf meine ehemalige Tätigkeit als Ministerberater bezogen. Und wenigstens den Sonja-Strang der Handlung kannte ich ja gut, weil ich ihn in den Grundzügen selbst erlebt und erlitten hatte. Ein paar Jahre nach meinem fünfzigsten Geburtstag aber konnte ich, wie es sich nur wirklich bedeutende Autoren erlauben können, erklären, dass ich keine Veranstaltungen und Lesungen mehr mache, und mich als Privatier niederlassen.

Aber ich sollte zunächst von dem Traum von heute Morgen erzählen. Meine Erinnerungen daran nach dem Aufwachen waren außergewöhnlich scharf – und hell. Hell, während meine sonstigen Traumerinnerungen eher trübgrau, bestenfalls milchig sind und sich auf wenige Bruchstücke beschränken, wie bei den meisten Menschen. Als ich meine Analyse machte, damals in Köln, versorgte ich meinen Analytiker nur spärlich mit Träumen, und um überhaupt brauchbares Material zu liefern, musste ich sie meistens kräftig mit Bildern und Verbindungsgliedern anreichern, die ich vermutlich gar nicht geträumt hatte. Er war ein sympathischer Mann, und ich wollte ihn nicht enttäuschen.

Heute Morgen nach dem Erwachen dagegen, es war kurz vor halb neun, waren alle Bilder sehr präsent, und ich fühlte mich merkwürdig erfrischt. Geträumt hatte ich anscheinend von Europa und Deutschland in den Grenzen von 1988. An den Grenzen, auch und gerade an der innerdeutschen, herrschte jedoch nicht jene dumpfe, depressive Stimmung der Bedrohung und der Angst, die ich damals noch gut kennengelernt habe. Die Übergänge – oder der Übergang, ich war in meinem Traum eindeutig am vertrauten Punkt Helmstedt/Marienborn und reiste als Transitler nach Westberlin – sahen noch ebenso aus wie früher, aber die Atmosphäre war viel entspannter. Es schien so etwas wie eine allgemeine Erleichterung auf allen Seiten zu herrschen. Wie damals gab es den Blick in den Pass, dann den Blick auf mich, den Blick in den Pass, dann auf mich, in den Pass, dann auf mich, dreimal, viermal oder öfter, bevor der Pass zurückgereicht und ich zur Weiterfahrt aufgefordert wurde. Aber das Ganze schien diesmal eher ein Spiel zu sein, und das Herz klopfte einem nicht im Halse wie früher. An Selbstschussanlagen mochte man hier nicht mehr denken.

Auch beim Transit selbst hatte sich einiges geändert. Die Straßen waren in einem wesentlich besseren Zustand, und an den Tankstellen gab es kein Minol, sondern westliche Markenbenzine. Der Rasthof Magdeburger Börde dagegen sah so aus wie damals, und es gab dort auch wieder einen Intershop. Auch die Volkspolizei, deren Wagen hier und da am Rand der Transitstrecke oder halb verborgen auf kleinen Parkplätzen standen, trug die bekannten Uniformen von damals. Es fehlte auch nicht an der bewussten Brücke die Aufschrift Plaste und Elaste aus Schkopau, stark verblasst. Die sozialistischen Parolen von früher sah man allerdings jetzt nicht mehr an der Strecke. Dafür las ich kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz Wir sind das Volk!, aber dies war die einzige ernsthafte Drohung, der ich auf meiner Fahrt begegnete.

Die Erleichterung, die ich zu spüren meinte, schien daher zu rühren, dass man übereingekommen war, einander auf umgängliche Art in Ruhe zu lassen. Man wickelte den notwendigen Austausch ab, wesentlich freundlicher als früher, aber die eine Seite musste nicht irgendwelche Standards erreichen und sich anpassen, und die andere musste sich nicht mehr bemühen, zu verstehen, was in den Köpfen der Anderen vor sich ging. Ich hatte so wenig wie damals ein Bedürfnis, von der Strecke abzuweichen und mit irgendwelchen Bürgern des anderen Staates ins Gespräch zu kommen, obwohl das jetzt nicht mehr explizit verboten schien. Dieses ganze Gebiet machte nun eher den Eindruck eines Reservats als eines Staates, eines Reservats allerdings, dessen Bewohner es wie damals nur mit Genehmigung verlassen durften. Die Stadt Leipzig, das meinte ich einem Schild unterwegs entnehmen zu können, hatte darin einen halbautonomen Sonderstatus. Dass mein Traum keine Rückkehr in die Vergangenheit, keine leicht verschobene Reminiszenz war, merkte ich daran, dass ich selbst ganz deutlich kein junger Mensch mehr war, sondern mein jetziges Alter hatte, dass ich also auch während der Traumzeit der alte Spinner vom Zollhaus blieb, hier an der Staatsgrenze West.

Die alte Grenzstation Granderath, die ich heute bewohne, entdeckte ich sechs Jahre, nachdem Das Sonja-Komplott erschienen war. Gerade waren die ersten Folgen der Fernsehadaption gelaufen, die den selten dämlichen Titel Im Visier der Dienste trug. Ich kam aus Amsterdam zurück. Auf der deutschen Seite der Grenze benutzte ich nicht mehr die Autobahn, sondern fuhr hinter Emmerich den Niederrhein auf Bundesstraßen hinunter und bog dann südlich Kevelaer auf eine noch kleinere Straße ab. Dort fand ich einige Kilometer nordwestlich von Straelen das unmittelbar an der Grenze gelegene Örtchen Granderath, von dem ich nie zuvor gehört hatte, im Grunde nicht mehr als ein Straßendorf mit Ausfransungen in die ehemaligen Felder zu beiden Seiten. Am Ende der Hauptstraße stand tatsächlich ein altes Zollhaus, ein Klinkerbau, an dem die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, von deren Existenz ich in diesem Moment zum ersten Mal erfuhr, annoncierte, dieses Haus stehe zum Verkauf.

Ich will nicht die Unzahl der Telefonate und sonstigen Gespräche, die Notartermine und den umfangreichen Schriftwechsel mit der BImA hier anführen, der nötig wurde. Diese Anstalt, deren Sitz sich praktischerweise in Bonn befand, war gerade erst vor einem Vierteljahr gegründet worden, als Nachfolgerin der Bundesvermögensverwaltung, und musste sich selbst noch finden.

Dabei hätte alles schnell über die Bühne gehen können, weil ich beim geplanten Erwerb dieses Hauses keinerlei Konkurrenten hatte und der Preis lächerlich gering war. Aber es waren zunächst einmal innerhalb der Behörde die zuständigen Leute zu finden; es musste geklärt werden, ob ich an dem Haus nach meinem Gutdünken Um- und vielleicht sogar Anbauten ausführen lassen konnte, und plötzlich schien es, obwohl man mir das nie im Klartext sagte, ein Problem zu sein, dass ich vor anderthalb Jahrzehnten das Opfer einer Inoffiziellen Mitarbeiterin der Stasi gewesen war. Nur an meiner Solvenz gab es keinen Zweifel. Dort also, wo ich wirklich Hochstapler war, als angeblicher Autor des Romans Das Sonja-Komplott, erschien ich der Anstalt am seriösesten.

Es dauerte demnach noch ein ganzes Jahr und einen Regierungswechsel, bis ich im Frühjahr 2006 zum ersten Mal in meinem Leben Wohneigentum erwarb, und noch ein weiteres, bis ich nach den Umbauten in dieses Wohneigentum einziehen konnte.

Und es dauerte beinahe weitere zehn Jahre, bis ich für die Granderather der alte Spinner vom Zollhaus wurde. Vertrauen muss man sich hart erkämpfen. Solange man sich nicht ein so freundliches Attribut wie das genannte verdient hat, das einem mit der Harmlosigkeit zugleich eine Art Zugehörigkeit bescheinigt, solange bleibt man draußen und hat das Misstrauen gegenüber dem Fremden nicht besiegt. Mit meinem Namen verbanden die Granderather nichts als das Gerücht, dass ich aus Bonn gekommen war und ziemlich begütert sein musste, auch wenn sie wussten, dass ich das Haus selbst zu einem lächerlichen Preis gekauft hatte. Aber die Umbauten! Zwar konnte keiner Genaues darüber wissen, weil alle Handwerker, die daran beteiligt waren, nicht aus dem Ort kamen. Aber Geld muss man reinstecken, das weiß man ja, und wer das kann, der hat’s auch. Woher es kam, wussten sie nicht. Selbst wenn sie Im Visier der Dienste gesehen hatten, lasen sie im Abspann ganz sicher nicht den Hinweis Nach Motiven des Romans »Das SonjaKomplott« von Gregor Korff, zumal ich, als die Serie lief, hier noch gar nicht wohnte. Und selbst wenn einer im Ort sogar den Roman gelesen hat, was nicht auszuschließen ist, verbindet er den Namen des Verfassers nicht mit dem Gregor Korff, der dort in der alten Grenzstation haust. Sie kennen mich nur vom Einkaufen in einem Minisupermarkt mit Postagentur, der in diesen Tagen schwer um sein Überleben kämpft, und vom Tanken am Ortsrand. Schon meine Bankgeschäfte musste ich ja von Anfang an in Straelen abwickeln, weil es in Granderath seit Jahren keine Bankniederlassung mehr gab. Und Besuch aus dem Ort habe ich in all den Jahren bis heute nur von Martin Taubert bekommen.

Martin Taubert ist inzwischen neunzig Jahre alt. Er hatte allen Grund und alles Recht, mich in meiner neuen Behausung aufzusuchen, denn sie ist in anderer Gestalt über vierzig Jahre lang sein Arbeitsplatz gewesen. Er ist kurz nach dem Krieg in den Zolldienst eingetreten und bis zum Ende seiner Dienstzeit in der Grenzaufsicht in Granderath tätig gewesen. Grenzaufsicht, Grenzaufsichtsdienst, zollamtliche Überwachung, Zollkommissariat, zollrechtliche Grenzsicherung, Mobile Kontrollgruppe: lauter Wörter, die ich durch Martin kennengelernt habe, für ihn exakte, genau definierte Fachtermini, in meinen Ohren, je öfter ich sie hörte, die reine Poesie.

Martin klingelte ein halbes Jahr, nachdem ich eingezogen war, an meiner Haustür, an einem nasskalten Novembertag mit heftigem Westwind. Er ist viel größer als ich und sah naturgemäß auf mich herab, als ich öffnete. Er ist immer noch hager, mit sehr großen, kräftigen, dabei schmalen Händen, von denen er mir die rechte entgegenstreckte und bat, eintreten zu dürfen, draußen sei es kalt und stürmisch, und er habe hier mal gearbeitet. Als ich ihm das umgebaute Haus zeigte, die langgestreckte ehemalige Grenzstation Granderath, bekam ich nicht heraus, ob sein jeweiliges kurzes Nicken beim Betreten der einzelnen Räume zustimmend oder missbilligend war, oder ob er sich einfach jeweils die frühere Gestalt und Aufteilung der Räume ins Gedächtnis rief. Später erzählte er mir, ihm sei damals besonders aufgefallen, wie viel Platz jetzt in den einzelnen Räumen gewesen sei, und er habe die ganze Zeit nach seinem alten Stahlschreibtisch gesucht. Ich habe mich in der Tat bemüht, die Wohnung möglichst leer zu halten. Was er allerdings nicht gesehen hat, ist der kleine Schuppen hinterm Haus, in dem ich alle Relikte meiner Vergangenheit aufbewahre, von denen ich mich bis jetzt nicht trennen konnte, eingeschlossen die Belegexemplare der einzelnen Auflagen des Sonja-Komplotts, sowohl im Hardcover wie im Taschenbuch. Selbstverständlich stehen hier auch noch jene obligatorischen zwei Kartons, die nach jedem Umzug ein Jahr, fünf Jahre, acht Jahre lang nicht ausgepackt und schließlich eines Tages im Sperrmüll entsorgt werden. Dieser Schuppen, den ich mir von einem holländischen Handwerker habe anbauen lassen, ist mein Giftschrank. Ich betrete ihn nur selten.

Martin wohnt am anderen Ende von Granderath, kurz vor der Tankstelle und gegenüber dem Friedhof. Er wollte so viel Abstand wie möglich von seinem alten Arbeitsplatz, nicht, weil er seine Arbeit nicht gemocht, sondern weil er sie geliebt hatte. Bei seinem ersten Besuch tranken wir Tee, und ich lud ihn ein, jederzeit wiederzukommen.

»Sie werden mich nie stören«, sagte ich. »Ich habe nichts zu tun.«

»Granderath hat von der Grenze gelebt«, sagte Martin Taubert, bevor er ging. »Jetzt, wo es sie nicht mehr wirklich gibt, wird auch Granderath eines Tages verschwunden sein.«

2Nomade

Eigentlich hatte ich meinen Ort schon Anfang der Achtziger gefunden, als es mich nach Bonn verschlug, und ich hatte ihn spätestens verloren, als ich aus der Politik rausgeflogen war und auch mein Vertrag an der Frankfurter Uni nicht mehr verlängert wurde. Nachdem mein Vermieter mich endlich aus meiner Wohnung in der Bonner Südstadt vertrieben hatte, verzichtete ich darauf, diesen Ort länger zu verteidigen. Von meinem Besitz verkaufte ich das Meiste, sicher unter Wert – ich bin kein Geschäftsmann, sondern ein ehemaliger Staatsdiener –, den Rest lagerte ich ein. Das Möbel, das mir am liebsten war, den kleinen Schreibtisch aus der Wiener Werkstätte, wollte ich meinem Freund Uli Goergen schenken, Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls an der Frankfurter Universität. Er wollte ihn aber nur annehmen, wenn er mir dafür ein kleines Entgelt geben dürfe. Es wäre sinnlos gewesen, auf dieser Ebene mit ihm zu streiten, denn Uli, dessen berühmtester Satz das unter Freunden so oft gehörte Ich kann nur Ironie war, wurde in Wahrheit von früh an von einer Zwangsvorstellung verfolgt. Da er, nach eigenen Aussagen, sein Leben lang nur Glück gehabt hatte, lebte er in der ständigen Angst, dieses Glück werde ins allergrößte Unglück umschlagen, wenn er nicht immer und überall genug davon abgab. Das kleine Entgelt reichte für die nächsten drei Monate, ohne dass ich meine nicht allzu üppigen Rücklagen angreifen musste, und als ich von meinem ersten Streifzug zurückkam, nach etwas mehr als einem Jahr, hatte schon der Erfolgszug von Das Sonja-Komplott begonnen. Die Göttin Zufall, vielleicht war sie auch nur ein Schutzengel, griff damals wieder einmal freundlich in mein Leben ein.

Ich war keineswegs elf Monate lang Woche für Woche oder gar Tag für Tag an einen anderen Ort gezogen. Ich war Nomade, aber nicht auf der Flucht. Ich fuhr eine Weile an der Loire entlang und fand schließlich für mehrere Wochen ein Zimmer auf einer ehemaligen ferme nahe Meung-sur-Loire. Von dort aus machte ich meine kleinen Streifzüge, die bis nach Tours führten. Abends fuhr ich nach Meung zum Essen und mischte mich mit meinem schlechten Französisch unter die Leute.

In der letzten Woche wurde ich krank und verließ kaum noch mein Zimmer. Die Wirtin kümmerte sich rührend um mich und versuchte, mich mit zu viel Essen aufzupäppeln. Als ich dann wieder auf die Beine gekommen war, war es draußen deutlich kälter geworden.

Ich floh nach Paris und konnte eine gute Woche bei meinem Freund Pierre wohnen, der mir in seiner kleinen Wohnung in der Rue de Bourgogne großzügig ein Zimmer zurechtmachte. Er hatte viel zu tun in diesen Tagen, aber abends waren wir manchmal zusammen unterwegs. Paris leuchtete in jenem Herbst noch immer vom Sieg der Bleus im Sommer. Von riesigen Werbeplakaten sah das ernste Gesicht von Zinedine Zidane in stillem Triumph auf die Bewohner und Besucher der Stadt hinab. Wofür damit geworben wurde, ist mir entfallen: Zizous so strenger wie gütiger Blick auf die Massen ließ alle Markennamen verblassen.

Nach einer Woche verabschiedete ich mich. Im gesamten Jahrzehnt meines Nomadentums habe ich immer wieder solche Kurzbesuche bei Freunden und Bekannten gemacht, selbstverständlich auch in Deutschland. Ulrich Goergen und seine Frau Barbara haben mich in diesen Jahren sehr oft beherbergt; ich war dort jederzeit willkommen und konnte auch länger bleiben. Ich starb also nicht an zu viel Alleinsein, sondern gehörte eher zu den Gyrovagen, jener vierten Art der Mönche, von denen es in der Regel des heiligen Benedikt heißt: Ihr Leben lang ziehen sie landauf und landab und lassen sich für drei oder vier Tage in verschiedenen Klöstern beherbergen. Immer unterwegs, nie beständig, sind sie Sklaven der Launen ihres Eigenwillens und der Gelüste ihres Gaumens. Die Benediktinerregel hatte ich an dem Tag gekauft, als ich meine leergeräumte Wohnung in der Bonner Kurfürstenstraße endgültig verließ und mich auf den Weg machte, und die bösen Sätze, mit denen der heilige Benedikt auf mich, auf meinen Eigenwillen und meine Gaumengelüste zeigte, las ich ausgerechnet in Paris am frühen Abend, bevor ich mit Pierre ein letztes Mal essen ging.

Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg nach Norden, und gut vier Stunden danach war ich angekommen an meinem heimlichen Ort, meiner spröden, verhärmten Geliebten unter den Städten, von der niemand nichts weiß.

3Bleu de Mer

An diesem Ort blieb ich den ganzen Winter.

Seitdem ich 1982 nach Bonn gekommen war, ins Herz der Macht, wie mein Chef sich entgegen seiner sonstigen Redeweise damals etwas blumig ausdrückte, hatten mich meine kleinen Fluchten am Wochenende oder in ganz kurzen Urlaubszeiten immer wieder dorthin geführt. Ostende kannte ich lange nur von der Fähre nach und von England, angefangen mit meinem ersten Besuch in London 1966. Dann, in den späten Siebzigern, damals arbeitete ich noch in Speyer, verpasste ich einmal eine Fähre und musste übernachten. Es war schon Oktober, aber noch hatte alles geöffnet, und als ich nach dem Essen an der Albert-Promenade am Meer entlangging, das sich zwar im Dunkel versteckte, aber gut zu hören war, und dann durch die Straßen des Zentrums – auf der anderen Straßenseite einmal angetrunkene, grölende Engländer, dann aber wieder überraschend stille Ecken –, dachte ich, die Stadt sei vielleicht einen längeren Aufenthalt wert, in der Vor- oder Nachsaison womöglich, in einem kleinen Hotel, das nicht unbedingt Meerblick haben musste, und abends Muscheln in einem der Restaurants an der Promenade: Moules frites, Moules à la Crème, Moules marinières und so weiter.

So ist es auch gekommen, das erste Mal 1983 und danach immer, wenn es sich ergab. Verlängerte Wochenenden, Kurzurlaube, Karnevalsfluchten. Keinem meiner Freunde habe ich je davon erzählt, und ich wäre lange nicht auf den Gedanken gekommen, Sonja nach Ostende mitzunehmen, bis auf dieses eine Mal, bevor sie endgültig verschwand. Aber ich war dann im letzten Moment nach Knokke abgebogen, wo wir das Wochenende verbrachten, und hatte mein Geheimnis bewahrt. Selbst in dieser Phase schlimmster Verfallenheit, als ich kurz davor stand, sie heiraten zu wollen, mochte ich Ostende nicht mit ihr teilen.

Ich konnte sie mir auch nicht im Hotel Louisa vorstellen, das ich bei meiner damaligen, durch die verpasste Fähre erzwungenen Übernachtung entdeckt hatte und dem ich treu blieb.

Kam ich nach Ostende, kam ich auf eine Art und Weise nach Hause wie an keinen anderen Ort der Welt. Dabei hatte ich von früh an ein großes Talent, schnell zu Hause zu sein; vielleicht ist das mein größtes Talent überhaupt. Auch der Nomade, gerade er, braucht die Orte, an denen er jeweils zur genau richtigen Zeit zu Hause ist.

Aus dem Journal meiner Tätigkeiten in Ostende, seit damals:

Am frühen und am späten Abend über den Strand laufen, vor und nach dem Essen. Am frühen Abend unter vielen Menschen, die alle hungrig werden wollen, wobei bekanntlich nichts so sehr hilft wie Seeluft. Am späten Abend oft allein oder nur mit wenigen Anderen, vermutlich Einheimische.

Auf einer Bank am Kai in der Spätsommerwärme in einer deutschen Zeitung über den Tod von Georges Simenon lesen.

Mit dem Hotelier sprechen, mit Kellnerinnen, Verkäuferinnen. Kurze, zielgerichtete, in der Regel freundliche Dialoge, die zu keiner weiteren Beziehung führen.

Ein blau-weiß gestreiftes Sweatshirt mit der großen Aufschrift Bleu de mer und ein marineblaues T-Shirt mit dem gleichen Text kaufen, im atlantischen Küstensommer, als seien wir womöglich an der Côte d’azur.

Im Hotelzimmer im Fernsehen die Sportschau sehen und mich, weil in Deutschland niemand weiß, wo ich gerade bin, fühlen wie Rumpelstilzchen.

An einem Julitag aus sicherer Entfernung und mit gezügeltem Begehren ein Geschöpf am Strand liegen sehen, fünfzehn bis siebzehn Jahre, allein auf einer Decke, ab und an zuckend im Halbschlaf.

Den Möwen zusehen und zuhören, unter deren strengem Blick und unter deren mahnenden Rufen ich mich bis heute fühle wie damals auf der Couch meines Analytikers.

Früh und tief schlafen, wie nur an der See. Alle Jahreszeiten hier gewesen und auch einen Sturm erlebt, an einem Herbstmorgen im Wintergarten eines Restaurants, dort, unter einzelnen, ruhigen Gästen, saß ich hinter den großen, nassen Scheiben mit meinen Croissants und schaute ins näherkommende Meer.

Nicht einen einzigen Augenblick jedoch habe ich jemals daran gedacht, mich in Ostende niederzulassen. Ich wusste, dass ich nur als Fremder hier zu Hause sein würde. Das Versteck Ostende schützte mich nur so lange, wie ich mich nicht ansiedelte. Aber in meinem ersten Nomadenjahr, in jenem November, als ich hier ankam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich in einem köstlichen Halbzuhause niederzulassen, in diesem Appartement im sechsten Stock eines hässlichen Hochhauses an der Promenade, in dieser Stadt, die niemand schön nennen wird, der bei Sinnen ist.

Was ist ein Halbzuhause? Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, und den man, wenn die Zeit gekommen ist, ohne Schmerz verlassen kann.

4Blitze über der Biskaya

Schon früh, noch als Kind, hatte ich das Talent zum Alleinsein. Ich lebte zwar mit meinen Eltern unter einem Dach, aber meist in einer gewissen Entfernung von ihnen, oder sie von mir – das habe ich nie herausgefunden. Mein Bruder, sechs Jahre älter als ich, lebte in einer anderen Entfernung. Als ich sechs war, kam er wegen einer Erkrankung für zwei Jahre in ein Sanatorium sehr weit weg, im Schwarzwald. Meine Eltern besuchten ihn dort regelmäßig, einmal kam ich mit. Ich erinnere mich an zwei wichtige Erlebnisse während dieses Besuches. Hier gab es den ersten Grenzübertritt meines Lebens, denn wir fuhren einmal für ein paar Stunden bei Waldshut in die Schweiz hinein. Ich war erleichtert, als wir es schafften, ohne Probleme wieder zurückzukommen. Ich hatte mir das schwerer vorgestellt. Noch wichtiger war eine Begegnung in einer Kirche in irgendeinem der Örtchen der Gegend, vielleicht St. Blasien. An diesen Namen erinnere ich mich. Es kann aber auch gut in St. Georgen gewesen sein. Über einem Altar sah ich als lebensgroße Skulptur Gott thronen. Gott trug einen blauen Mantel mit einem goldenen Revers und goldenen Bündchen, und natürlich hatte er einen Bart. Das war das erste Bild von Gott, das ich sah, und meine Gottesvorstellung hat dieses Bild bis heute nicht überschritten.