Am Anfang war Erziehung - Alice Miller - E-Book

Am Anfang war Erziehung E-Book

Alice Miller

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Beschreibung

In diesem Buch öffnet uns Alice Miller die Augen über die verheerenden Folgen der Erziehung - die ja angeblich nur das Beste für das Kind will. Sie tut dies zum einen durch eine Analyse der »Schwarzen Pädagogik« und zum anderen durch die Darstellung der Kindheit einer Drogensüchtigen (Christiane F.), eines Diktators (Adolf Hitler) und eines Kindesmörders (Jürgen Bartsch). Ihr Buch verhilft uns zu einem nicht bloß intellektuellen und entsprechend folgenlosen Wissen, sondern auch zu einem emotionalen Wissen von der Tatsache, daß Psychosen, Drogensucht, Kriminalität ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen sind.

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Seitenzahl: 478

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»Was dem Kind in den ersten Lebensjahren passiert, schlägt unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurück. Psychosen, Drogensucht, Kriminalität sind ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen. Diese Erkenntnis wird meistens bestritten oder nur intellektuell zugelassen, während die Praxis (die politische, juristische oder psychiatrische) noch stark von mittelalterlichen, an Projektionen des Bösen reichen Vorstellungen beherrscht bleibt, weil der Intellekt die emotionalen Bereiche nicht erreicht.«

Alice Miller öffnet uns in diesem Buch die Augen über die verheerenden Folgen der Erziehung — die ja nur das Beste für das Kind will. Sie tut das einmal durch eine Analyse der »pädagogischen Haltung« und zum anderen durch die Darstellung der Kindheit einer Drogensüchtigen, eines politischen Führers und eines Kindesmörders.

Für seine Entfaltung braucht ein Kind den Respekt seiner Bezugspersonen, Toleranz für seine Gefühle, Sensibilität für seine Bedürfnisse und Kränkungen, die Echtheit seiner Eltern, deren eigene Freiheit — und nicht erzieherische Überlegungen – dem Kind natürliche Grenzen setzt.

Alice Miller

Am Anfang war Erziehung

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1980

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

Umschlagabbildung: Acrylbild von Alice Miller

eISBN 978-3-518-73935-8

www.suhrkamp.de

INHALT

Vorwort

ERZIEHUNG ALS VERFOLGUNG DES LEBENDIGEN

Die »Schwarze Pädagogik«

Einleitung

Brutstätten des Hasses (Erziehungsschriften aus zwei Jahrhunderten)

Zusammenfassung

Die heiligen Werte der Erziehung

Der Hauptmechanismus der »Schwarzen Pädagogik«: Abspaltung und Projektion

Gibt es eine »Weiße Pädagogik«?

Die sanfte Gewalt

Erzieher — nicht Kinder – brauchen die Pädagogik

DER LETZTE AKT DES STUMMEN DRAMAS -DIE WELT IST ENTSETZT

Einleitung

Der Vernichtungskrieg gegen das eigene Selbst

Die ungenützte Chance der Pubertät

Selbstsuche und Selbstzerstörung in der Droge (Das Leben der Christiane F.)

Die verborgene Logik des absurden Verhaltens

Die Kindheit Adolf Hitlers – vom verborgenen zum manifesten Grauen

Einleitung

Der Vater – sein Schicksal und die Beziehung zum Sohn

Die Mutter – ihre Stellung in der Familie und ihre Rolle in Adolfs Leben

Zusammenfassung

Jürgen Bartsch — ein Leben vom Ende her wahrgenommen

Einleitung

»Aus heiterem Himmel«?

Was erzählt ein Mord über die Kindheit des Mörders?

Die Mauern des Schweigens

Schlußbemerkungen

ANGST, ZORN UND TRAUER – ABER KEINE SCHULDGEFÜHLE – AUF DEM WEGE ZUR BEFREIUNG

Auch ungewollte Grausamkeit tut weh

Sylvia Plath und das Verbot zu leiden

Der ungelebte Zorn

Die Erlaubnis zu wissen

Nachwort

Nachwort 2006

Literaturverzeichnis

Es ist ganz natürlich, daß die Seele ihren Willen haben will, und wenn man nicht in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter anderen auch den Vorteil, daß man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen gehabt haben, und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben deswegen keine schlimmen Folgen.

(1748)

Ungehorsam ist ebensogut, als eine Kriegserklärung gegen eure Person. Euer Sohn will euch die Herrschaft rauben, und ihr seid befugt, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, um euer Ansehen zu befestigen, ohne welches bei ihm keine Erziehung stattfindet. Dieses Schlagen muß kein bloßes Spielwerk sein, sondern ihn überzeugen, daß ihr sein Herr seid.

(1752)

Die Bibel sagt (Sirach 30,1): »Wer sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Rute, daß er hernach Freude an ihm erlebe.«

(1902)

Ganz besonders wurde ich immer darauf hingewiesen, daß ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw., ja aller Erwachsenen bis zum Dienstpersonal unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfe. Was diese sagten, sei immer richtig. Diese Erziehungsgrundsätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen.

(Der Auschwitzkommandant Rudolf Höß)

Was für ein Glück für die Regierenden, daß die Menschen nicht denken.

(Adolf Hitler)

VORWORT

Man wirft der Psychotherapie vor, daß sie allenfalls einer privilegierten Minderheit, und dies nur sehr bedingt, helfen könne. Dieser Vorwurf ist durchaus berechtigt, solange die Früchte der durchgeführten Therapien wirklich nur Eigentum der wenigen Privilegierten bleiben. Das muß aber nicht so sein.

Die Reaktionen auf mein Buch über Das Drama des begabten Kindes lehrten mich, daß der Widerstand gegen das, was ich zu sagen habe, unter Laien keineswegs größer — in der jungen Generation vielleicht sogar kleiner — ist als unter Fachleuten und daß es deshalb sinnvoll und notwendig ist, das durch Therapien von wenigen gewonnene Wissen nicht in Bibliotheken zu speichern, sondern es der Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Diese Einsicht führte mich persönlich zu der Entscheidung, die nächsten Jahre meines Lebens dem Schreiben zu widmen.

Ich möchte hauptsächlich Vorgänge schildern, die sich überall im Leben abspielen, deren tieferes Verständnis aber auf psychotherapeutischer Erfahrung beruht. Das heißt freilich nicht, daß eine fertige Theorie »auf die Gesellschaft angewendet« würde, denn ich glaube, daß ich nur dann einen Menschen wirklich verstehe, wenn ich hören und fühlen kann, was er mir sagt, ohne mich mit Theorien gegen ihn abzusichern bzw. zu verschanzen. Doch die tiefenpsychologische Arbeit mit anderen und mit sich selber verschafft uns Einblicke in die menschliche Seele, die uns überall im Leben begleiten und unsere Sensibilität auch außerhalb des Sprechzimmers schärfen.

Das Bewußtsein der Öffentlichkeit indessen ist noch weit von der Erkenntnis entfernt, daß das, was dem Kind in den ersten Lebensjahren angetan wird, unweigerlich auf die ganze Gesellschaft zurückschlägt, daß Psychosen, Drogensucht, Kriminalität ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen sind. Diese Erkenntnis wird meistens bestritten oder nur intellektuell zugelassen, während die Praxis (die politische, juristische oder psychiatrische) noch stark von mittelalterlichen, an Projektionen des Bösen reichen Vorstellungen beherrscht bleibt, weil der Intellekt die emotionalen Bereiche nicht erreicht. Läßt sich ein emotionales Wissen mit Hilfe eines Buches erreichen? Ich weiß es nicht, aber die Hoffnung, daß durch die Lektüre bei dem einen oder anderen Leser ein innerer Prozeß in Gang kommen könne, scheint mir begründet genug, um es nicht unversucht zu lassen.

Das vorliegende Buch entstand aus meinem Bedürfnis, auf die zahlreichen Leserbriefe zum Drama des begabten Kindes einzugehen, die mir viel bedeutet haben und die ich nicht mehr persönlich beantworten konnte. Daran war auch, aber nicht nur, die zeitliche Überforderung schuld. Ich habe bald gemerkt, daß ich in der Darstellung meiner Gedanken und Erfahrungen der letzten Jahre dem Leser eine größere Ausführlichkeit schulde, weil ich mich nicht auf bestehende Literatur stützen kann. Aus den Fragen der Betroffenen haben sich für mich zwei Problemkomplexe herauskristallisiert: einerseits meine Begriffsbestimmung der frühkindlichen Realität, die vom Triebmodell der Psychoanalyse abweicht, andererseits die Notwendigkeit, den Unterschied zwischen Schuldgefühlen und Trauer noch klarer herauszuarbeiten. Damit hängt nämlich die brennende und oft wiederholte Frage der ernsthaft bemühten Eltern zusammen: Was können wir noch für unsere Kinder tun, wenn wir einmal realisiert haben, wie stark wir dem Wiederholungszwang ausgeliefert sind?

Da ich nicht an die Wirksamkeit von Rezepten und Ratschlägen glaube, zumindest wenn es sich um unbewußtes Verhalten handelt, sehe ich meine Aufgabe nicht in Appellen an die Eltern, ihre Kinder anders zu behandeln, als es ihnen möglich ist, sondern im Herausstellen der Zusammenhänge, in der bildhaften und gefühlsverbundenen Information für das Kind im Erwachsenen. Solange dieses nicht merken darf, was ihm geschah, ist ein Teil seines Gefühlslebens eingefroren und seine Sensibilität für die Demütigungen der Kindheit daher abgestumpft.

Alle Appelle an die Liebe, Solidarität und Barmherzigkeit müssen aber erfolglos bleiben, wenn diese wichtige Voraussetzung des mitmenschlichen Fühlens und Verstehens fehlt.

Diese Tatsache ist bei professionellen Psychologen besonders gravierend, weil sie ohne Empathie ihr Fachwissen nicht hilfreich einsetzen können, unabhängig davon, wieviel Zeit sie den Patienten widmen. Das gilt ebenfalls für die Hilflosigkeit der Eltern, denen weder der hohe Bildungsgrad noch die verfügbare Freizeit helfen, ihr Kind zu verstehen, sofern sie sich vom Leiden ihrer eigenen Kindheit emotional distanzieren müssen. Umgekehrt kann eine berufstätige Mutter unter Umständen die Situation ihres Kindes in wenigen Sekunden begreifen, wenn sie innerlich dafür offen und frei ist.

Ich sehe daher meine Aufgabe darin, die Öffentlichkeit für das frühkindliche Leiden zu sensibilisieren, und versuche dies auf zwei verschiedenen Ebenen, wobei ich auf beiden Ebenen das einstige Kind im erwachsenen Leser ansprechen möchte. Im ersten Teil tue ich das mit der Darstellung der »Schwarzen Pädagogik«, d. h. der Erziehungsmethoden, mit denen unsere Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Bei manchen Lesern wird das erste Kapitel möglicherweise Gefühle von Zorn und Wut auslösen, die sich als sehr heilsam erweisen können. Im zweiten Teil schildere ich die Kindheiten einer Drogensüchtigen, eines politischen Führers und eines Kindesmörders, die selber als Kinder Opfer von schweren Demütigungen und Mißhandlungen waren. Besonders in zwei Fällen stütze ich mich auf deren eigene Schilderungen der Kindheit und des späteren Schicksals und möchte dem Leser helfen, diese erschütternden Zeugnisse aufzunehmen. Alle drei Schicksale bezeugen die verheerende Rolle der Erziehung, ihre Vernichtung des Lebendigen, ihre Gefahr für die Gesellschaft. Auch in der Psychoanalyse, besonders im Triebmodell, lassen sich Spuren der pädagogischen Haltung nachweisen. Die Untersuchung über dieses Thema wurde zunächst als ein Kapitel dieses Buches geplant, mußte aber im Hinblick auf ihren Umfang Gegenstand einer gesonderten Publikation werden, die demnächst erscheinen soll. Dort wird auch die Abgrenzung meiner Gedanken von den einzelnen psychoanalytischen Theorien und Modellen deutlicher werden als in den bisherigen Publikationen.

Das vorliegende Buch ist aus dem inneren Dialog mit den Lesern des Dramas hervorgegangen und als dessen Fortsetzung zu verstehen. Man kann es auch ohne die Kenntnis des Dramas lesen; sollten aber die hier beschriebenen Sachverhalte zu Schuldgefühlen statt zu Trauer führen, dann wäre es ratsam, auch die frühere Arbeit zu kennen. Es wäre auch wichtig und hilfreich, sich bei der Lektüre stets vor Augen zu halten, daß mit Eltern und Kindern nicht bestimmte Personen gemeint sind, sondern bestimmte Zustände, Situationen oder Rechtslagen, die uns alle betreffen, weil alle Eltern einst Kinder gewesen sind und die meisten Kinder von heute einmal Eltern sein werden.

Als Galileo Galilei 1613 mathematische Beweise für die kopernikanische These vorlegte, daß sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, wurde dies von der Kirche als »falsch und absurd« bezeichnet. Galilei wurde gezwungen, seiner These abzuschwören, und erblindete in der Folge. Erst 300 Jahre später entschloß sich die Kirche endlich, ihre Täuschung aufzugeben und Galileis Schriften vom Index zu streichen und freizugeben.

Heute befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie die Kirche zur Zeit Galileis, aber heute steht für uns viel mehr auf dem Spiel. Unsere Entscheidung für die Wahrheit oder für die Täuschung wird viel schwerwiegendere Konsequenzen für das Überleben der Menschheit haben, als dies im 17. Jahrhundert der Fall war. Seit einigen Jahren ist es nämlich bereits erwiesen – was uns immer noch verboten ist, zur Kenntnis zu nehmen -, daß die verheerenden Folgen der Traumatisierung der Kinder unweigerlich auf die Gesellschaft zurückschlagen. Dieses Wissen betrifft jeden einzelnen Menschen und muß – wenn genügend verbreitet – zur grundlegenden Veränderung unserer Gesellschaft, vor allem zur Befreiung von der blinden Eskalation der Gewalt führen. Die folgenden Punkte versuchen anzudeuten, was hier gemeint ist:

Jedes Kind kommt auf die Welt, um zu wachsen, sich zu entfalten, zu leben, zu lieben und seine Bedürfnisse und Gefühle zu seinem Schutz zu artikulieren.

Um sich entfalten zu können, braucht das Kind die Achtung und den Schutz der Erwachsenen, die es ernst nehmen, lieben und ihm ehrlich helfen, sich zu orientieren.

Werden diese lebenswichtigen Bedürfnisse des Kindes frustriert, wird das Kind statt dessen für die Bedürfnisse Erwachsener ausgebeutet, geschlagen, gestraft, mißbraucht, manipuliert, vernachlässigt, betrogen, ohne daß je ein Zeuge eingreift, so wird die Integrität des Kindes nachhaltig verletzt.

Die normale Reaktion auf die Verletzung wäre Zorn und Schmerz. Da der Zorn aber in einer verletzenden Umgebung dem Kind verboten bleibt und da das Erlebnis der Schmerzen in der Einsamkeit unerträglich wäre, muß es diese Gefühle unterdrücken, die Erinnerung an das Trauma verdrängen und seine Angreifer idealisieren. Es weiß später nicht, was ihm angetan wurde.

Die nun von ihrem eigentlichen Grund abgespalteten Gefühle von Zorn, Ohnmacht, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst und Schmerz verschaffen sich dennoch Ausdruck in zerstörerischen Akten gegen andere (Kriminalität, Völkermord) oder gegen sich selbst (Drogensucht, Alkoholismus, Prostitution, psychische Krankheiten, Suizid).

Opfer der Racheakte sind sehr häufig eigene Kinder, die eine Sündenbockfunktion haben und deren Verfolgung in unserer Gesellschaft immer noch voll legitimiert ist, ja sogar in hohem Ansehen steht, sobald sie sich als Erziehung bezeichnet. Tragischerweise schlägt man sein eigenes Kind, um nicht zu spüren, was die eigenen Eltern getan hatten.

Damit ein mißhandeltes Kind nicht zum Verbrecher oder Geisteskranken wird, ist es nötig, daß es zumindest einmal in seinem Leben einem Menschen begegnet, der eindeutig weiß, daß nicht das geschlagene, hilflose Kind, sondern seine Umgebung ver-rückt ist. Insofern kann das Wissen oder Nichtwissen der Gesellschaft das Leben retten helfen oder zu seiner Zerstörung beitragen. Hierin liegt die große Möglichkeit von Verwandten, Anwälten, Richtern, Ärzten und Pflegenden eindeutig für das Kind Partei zu ergreifen und ihm zu glauben.

Bisher schützt die Gesellschaft die Erwachsenen und beschuldigt die Opfer. Sie wurde in ihrer Blindheit von Theorien unterstützt, die, noch ganz dem Erziehungsmuster unserer Urgroßväter entsprechend, im Kind ein verschlagenes, von bösen Trieben beherrschtes Wesen sahen, das lügenhafte Geschichten erfindet und die unschuldigen Eltern angreift oder sie sexuell begehrt. In Wahrheit neigt jedes Kind dazu, sich selber für die Grausamkeiten der Eltern zu beschuldigen und den Eltern, die es immer liebt, die Verantwortung abzunehmen.

Erst seit einigen Jahren läßt es sich dank der Anwendung von neuen therapeutischen Methoden beweisen, daß verdrängte traumatische Erlebnisse der Kindheit im Körper gespeichert sind und daß sie sich, unbewußt geblieben, auf das spätere Leben des erwachsenen Menschen auswirken. Ferner haben elektronische Messungen an noch ungeborenen Kindern eine Tatsache enthüllt, die von den meisten Erwachsenen bisher noch nicht wahrgenommen wurde, nämlich daß

das Kind sowohl Zärtlichkeit als auch Grausamkeit von Anfang an fühlt und lernt.

Dank dieser Erkenntnisse offenbart jedes absurde Verhalten seine bisher verborgene Logik, sobald die in der Kindheit gemachten traumatischen Erfahrungen nicht mehr im dunkeln bleiben müssen.

Unsere Sensibilisierung für die bisher allgemein geleugneten Grausamkeiten in der Kindheit und deren Folgen wird von selbst dazu führen, daß das Weitergeben der Gewalt von Generation zu Generation ein Ende findet.

Menschen, deren Integrität in der Kindheit nicht verletzt wurde, die bei ihren Eltern Schutz, Respekt und Ehrlichkeit erfahren durften, werden in ihrer Jugend und auch später intelligent, sensibel, einfühlsam und hoch empfindungsfähig sein. Sie werden Freude am Leben haben und kein Bedürfnis verspüren, jemanden oder sich selber zu schädigen oder gar umzubringen. Sie werden ihre Macht gebrauchen, um sich zu verteidigen, aber nicht, um andere anzugreifen. Sie werden gar nicht anders können, als Schwächere, also auch ihre Kinder, zu achten und zu beschützen, weil sie dies einst selber erfahren haben und weil

dieses

Wissen (und nicht die Grausamkeit) in ihnen von Anfang an gespeichert wurde. Diese Menschen werden nie imstande sein zu verstehen, weshalb ihre Ahnen einst eine gigantische Kriegsindustrie haben aufbauen müssen, um sich in dieser Welt wohl und sicher zu fühlen. Da die Abwehr von frühesten Bedrohungen nicht ihre unbewußte Lebensaufgabe sein wird, werden sie mit realen Bedrohungen rationaler und kreativer umgehen können.

Erziehung als Verfolgung des Lebendigen

DIE »SCHWARZE PÄDAGOGIK«

Die Strafe folgte auf großem Fuß. Zehn Tage lang, zu lang für jedes Gewissen, segnete mein Vater die ausgestreckten, vier Jahre alten Handflächen seines Kindes mit scharfem Stöckchen. Sieben Tatzen täglich auf jede Hand: macht hundertvierzig Tatzen und etwas mehr: es machte der Unschuld des Kindes ein Ende. Was immer im Paradies geschah, mit Adam, Eva, Lilith, Schlange und Apfel, das gerechte biblische Schlagwetter vor der Zeit, das Gebrüll des Allmächtigen und sein ausweisender Finger – ich weiß davon nichts. Es war mein Vater, der mich von dort vertrieb.

Chr. Meckel (1980), S. 59

Wer sich nach unserer Kindheit erkundigt, will etwas von unserer Seele wissen. Wenn die Frage keine rhetorische Floskel ist und der Frager Geduld hat zum Zuhören, wird er zur Kenntnis nehmen müssen, daß wir mit Grauen lieben und in unerklärlicher Liebe hassen, was uns die größten Schmerzen und Mühen bereitete.

Erika Burkart (1979), S. 352

Einleitung

Jeder, der einmal Mutter oder Vater war und nicht in einer perfekten Verleugnung lebt, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es einem Menschen fallen kann, bestimmte Seiten seines Kindes zu tolerieren. Dies einzusehen ist besonders schmerzhaft, wenn wir das Kind lieben, es wirklich in seiner Eigenart achten möchten und es doch nicht können. Großzügigkeit und Toleranz lassen sich nicht mit Hilfe von intellektuellem Wissen erreichen. Falls wir keine Möglichkeit hatten, die uns in der eigenen Kindheit erwiesene Verachtung bewußt zu erleben und zu verarbeiten, geben wir sie weiter. Das bloß intellektuelle Wissen über Gesetze der kindlichen Entwicklung schützt uns nicht vor Ärger oder Wut, wenn das Verhalten des Kindes unseren Vorstellungen oder Bedürfnissen nicht entspricht, geschweige denn, wenn es unsere Abwehrmechanismen bedroht.

Ganz anders ist es bei Kindern: ihnen steht keine Vorgeschichte im Wege, und ihre Toleranz Eltern gegenüber kennt keine Grenzen. Jede bewußte oder unbewußte seelische Grausamkeit der Eltern ist in der Liebe des Kindes sicher vor der Entdeckung geschützt. Was alles einem Kind straflos zugemutet werden kann, läßt sich in den neuesten Geschichten der Kindheit unschwer nachlesen (vgl. z. B. Ph. Ariès, 1960; L. de Mause, 1974; M. Schatzman, 1978; I. Weber-Kellermann, 1979; R. E. Helfer u. C. H. Kempe [Hrsg.], 1978).

Die einstige physische Verstümmelung, Ausbeutung und Verfolgung des Kindes scheint in der Neuzeit immer mehr durch seelische Grausamkeit abgelöst worden zu sein, die außerdem mit dem wohlwollenden Wort »Erziehung« mystifiziert werden konnte. Da die Erziehung bei manchen Völkern schon im Säuglingsalter, in der Phase der symbiotischen Verbindung von Mutter und Kind begann, garantierte diese frühe Konditionierung, daß der wahre Sachverhalt vom Kind kaum entdeckt werden konnte. Die Abhängigkeit des Kindes von der Liebe seiner Eltern macht es ihm auch später unmöglich, die Traumatisierungen zu erkennen, die oft das ganze Leben lang hinter den Idealisierungen der Eltern der ersten Jahre verborgen bleiben.

Der Vater des von Freud beschriebenen paranoiden Patienten Schreber hatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Erziehungsbücher geschrieben, die in Deutschland so populär waren, daß sie zum Teil vierzig Mal aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Darin wird immer wieder betont, daß man so früh wie möglich, schon im 5. Monat, beginnen müsse, das Kind zu erziehen, wenn man es vom schädlichen »Unkraut befreien« wolle. Mir sind ähnliche Ansichten in Briefen und Tagebüchern der Eltern begegnet. Sie erhellen für einen Außenstehenden sehr klar die Gründe für die schweren Erkrankungen ihrer Kinder, die später meine Patienten waren. Aber diese konnten mit solchen Tagebüchern zunächst nicht viel anfangen und brauchten lange und tiefe Analysen, bis sie die darin beschriebene Realität überhaupt sehen durften. Sie mußten sich zunächst aus der Verwobenheit mit ihren Eltern zu abgegrenzten Persönlichkeiten entwickeln.

Die Überzeugung, daß alles Recht auf seiten der Eltern und jede — bewußte oder unbewußte – Grausamkeit Ausdruck ihrer Liebe sei, bleibt so tief im Menschen verwurzelt, weil sie in Verinnerlichungen der ersten Lebensmonate, also in der Zeit vor- der Trennung vom Objekt, gründet.

Zwei Stellen aus Dr. Schrebers Ratschlägen für die Erzieher aus dem Jahre 1858 mögen illustrieren, wie sich dieser Vorgang gewöhnlich abspielt:

Als die ersten Proben, an denen sich die geistig-erzieherischen Grundsätze bewähren sollen, sind die durch grundloses Schreien und Weinen sich kundgebenden Launen der Kleinen zu betrachten ... Hat man sich überzeugt, daß kein richtiges Bedürfnis, kein lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden ist, so kann man sicher sein, daß das Schreien eben nur der Ausdruck einer Laune, einer Grille, das erste Auftauchen des Eigensinns ist. Man darf sich jetzt nicht mehr wie anfangs ausschließlich abwartend dabei verhalten, sondern muß schon in etwas positiverer Weise entgegentreten: durch schnelle Ablenkung der Aufmerksamkeit, ernste Worte, drohende Gebärden, Klopfen ans Bett ..., oder wenn dieses alles nicht hilft – durch natürlich entsprechend milde, aber in kleinen Pausen bis zur Beruhigung oder zum Einschlafen des Kindes beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen ...

Eine solche Prozedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nötig, und — man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Blick, ein Wort, eine einzige drohende Gebärde, um das Kind zu regieren. Man bedenke, daß man dadurch dem Kinde selbst die größte Wohltat erzeigt, indem man ihm viele seinem Gedeihen hinderliche Stunden der Unruhe erspart und es von allen jenen inneren Quälgeistern befreit, die außerdem gar leicht zu ernsteren und immer schwerer besiegbaren Lebensfeinden emporwuchern (vgl. Schatzman, 1978, S. 32 f.).

Dr. Schreber weiß nicht, daß er im Grunde seine eigenen Impulse in den Kindern bekämpft, und es besteht für ihn gar kein Zweifel darüber, daß er seine Macht lediglich im Interesse des Kindes ausübt:

Bleiben hierin die Eltern sich selbst treu, so werden sie bald durch den Eintritt jenes schönen Verhältnisses belohnt, wo das Kind fast durchgehend nur mit einem elterlichen Blick regiert wird (vgl. ebd., S. 36)1

So erzogene Kinder merken häufig noch im hohen Alter nicht, wenn sie von einem Menschen mißbraucht werden, solange dieser »freundlich« mit ihnen spricht.

Ich bin oft gefragt worden, warum ich im Drama des begabten Kindes meistens von Müttern und so wenig von Vätern spreche. Die wichtigste Bezugsperson des Kindes in seinem ersten Lebensjahr bezeichne ich als »Mutter«. Das muß nicht unbedingt die biologische Mutter, ja nicht einmal eine Frau sein.

Es war mir im Drama wichtig, darauf hinzuweisen, daß die verbietenden, verachtenden Blicke, die der Säugling aufnimmt, zum Entstehen schwerer Störungen, u. a. Perversionen und Zwangsneurosen, im Erwachsenenalter beitragen können. In der Familie Schreber war es nicht die leibliche Mutter, die die beiden Söhne in ihrer Säuglingszeit »mit Blicken regierte«, sondern der Vater. Beide Söhne litten später an Geisteskrankheiten mit Verfolgungswahn.

Ich habe mich bisher nirgends mit soziologischen Theorien über die Väter- bzw. Mütterrollen befaßt.

In den letzten Jahrzehnten gibt es immer mehr Väter, die auch die positiven mütterlichen Funktionen übernehmen und dem Kind Zärtlichkeit, Wärme und Einfühlung in seine Bedürfnisse entgegenbringen können. Im Gegensatz zu den Zeiten der patriarchalischen Familie befinden wir uns jetzt in einer Phase des gesunden Experimentierens mit der Geschlechterrolle, und in diesem Stadium habe ich Mühe, über die »soziale Rolle« des Vaters oder der Mutter zu sprechen, ohne überholten normativen Kategorien zu verfallen. Ich kann lediglich sagen, daß jedes kleine Kind einen empathischen und nicht regierenden Menschen (egal ob Vater oder Mutter) als Begleitung braucht.

Man kann in den ersten zwei Jahren unendlich viel mit dem Kind machen, es biegen, über es verfügen, ihm gute Gewohnheiten beibringen, es züchtigen und strafen, ohne daß dem Erzieher etwas passiert, ohne daß das Kind sich rächt. Das Kind wird nur dann das ihm zugefügte Unrecht ohne schwerwiegende Folgen überwinden, wenn es sich wehren, d. h. wenn es seinen Schmerz und Zorn artikulieren darf. Ist es ihm aber verwehrt, in seiner Weise zu reagieren, weil die Eltern seine Reaktionen (den Schrei, die Trauer, die Wut) nicht ertragen können und sie ihm mit Hilfe von Blicken oder anderen Erziehungsmaßnahmen verbieten, dann wird das Kind lernen, stumm zu sein. Seine Stummheit garantiert zwar die Wirksamkeit der Erziehungsprinzipien, birgt aber zugleich die Gefahrenherde der späteren Entwicklung. Mußten adäquate Reaktionen auf erlittene Kränkungen, Demütigungen und Vergewaltigungen im weitesten Sinn ausbleiben, dann können diese Erlebnisse nicht in die Persönlichkeit integriert werden, die Gefühle bleiben unterdrückt, und das Bedürfnis, sie zu artikulieren, bleibt ungestillt, ohne Hoffnung auf Erfüllung. Es ist diese Hoffnungslosigkeit, die unbewußten Traumata je mit den dazugehörigen Gefühlen artikulieren zu können, die die meisten Menschen in schwere seelische Not bringt. Nicht im realen Geschehen, sondern in der Notwendigkeit der Verdrängung liegt bekanntlich der Ursprung der Neurose. Ich werde versuchen zu belegen, daß diese Tragik nicht nur an der Entstehung der Neurose beteiligt ist.

Die Unterdrückung der Triebbedürfnisse ist nur ein Teil der massiven Unterdrückung des Individuums, die die Gesellschaft ausübt. Weil sie aber nicht erst im Erwachsenenalter, sondern bereits von den ersten Tagen an durch das Medium der oft gutmeinenden Eltern damit anfängt, kann das Individuum die Spuren dieser Unterdrückung ohne spätere Hilfe nicht in sich entdecken. Es ist wie ein Mensch, dem man ein Mal auf seinen Rücken aufgedrückt hat, das er ohne Spiegel niemals wird sehen können. Einen solchen Spiegel bietet u.a. die analytische Situation.

Die Psychoanalyse bleibt ein Privileg2 von wenigen, und ihre therapeutischen Ergebnisse werden oft bestritten. Wenn man aber mehrmals mit verschiedenen Menschen erlebt hat, welche Kräfte freiwerden, wenn die Folgen der Erziehung abgebaut werden konnten; wenn man sieht, wie diese Kräfte überall sonst destruktiv eingesetzt werden müssen, um das Lebendige bei sich und bei anderen zu zerstören, weil dieses von klein auf als böse und bedrohlich angesehen wurde, dann möchte man etwas von den in der analytischen Situation gewonnenen Erfahrungen der Gesellschaft vermitteln. Ob diese Vermittlung gelingt, bleibt eine offene Frage. Doch die Gesellschaft hat ein Recht darauf, soweit dies überhaupt möglich ist, zu erfahren, was in den Räumen der Analytiker eigentlich geschieht. Denn was hier zum Vorschein kommt, ist nicht nur eine Privatangelegenheit einiger Kranker oder Verwirrter, sondern Sache von uns allen.

Brutstätten des Hasses (Erziehungsschriften aus zwei Jahrhunderten)

Seit längerer Zeit stelle ich mir die Frage, wie ich in einer anschaulichen und nicht rein intellektuellen Form zeigen könnte, was in vielen Fällen den Kindern am Anfang ihres Lebens angetan wird und welche Konsequenzen dies für die Gesellschaft hat; wie kann ich erzählen, fragte ich mich oft, was Menschen in ihrer jahrelangen mühsamen Rekonstruktionsarbeit an den Ursprüngen ihres Lebens vorgefunden haben. Zu der Schwierigkeit der Darstellung kommt der alte Konflikt: auf der einen Seite steht meine Schweigepflicht, auf der anderen steht die Überzeugung, daß hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt, die nicht nur wenigen Eingeweihten vorbehalten bleiben sollte. Andererseits kenne ich die Abwehr des nicht analysierten Lesers, die Schuldgefühle, die sich einstellen, wenn von Grausamkeit gesprochen wird und der Weg zur Trauer noch versperrt bleiben muß. Was soll man dann mit diesem traurigen Wissen tun?

Wir sind so gewöhnt, alles, was wir hören, als Vorschriften und Moralpredigten zu empfangen, daß zuweilen auch reine Informationen als Vorwürfe erlebt und deshalb gar nicht aufgenommen werden können. Wir wehren uns mit Recht gegen neue Forderungen, wenn wir zu früh und nicht selten mit Gewalt von Ansprüchen der Moral überfordert wurden. Nächstenliebe, Selbstaufgabe, Opferbereitschaft – wie schön klingen diese Worte, und wieviel Grausamkeit kann sich in ihnen verbergen, allein weil sie dem Menschenkind aufgezwungen werden und dies schon zu einer Zeit, in der die Voraussetzungen der Nächstenliebe unmöglich vorhanden sein können. Durch den Zwang werden diese Voraussetzungen nicht selten im Keim erstickt, und was dann bleibt, ist eine lebenslange Anstrengung. Sie ist wie ein zu harter Boden, auf dem nichts wachsen kann, und die einzige Hoffnung, die geforderte Liebe doch noch erzwingen zu können, liegt in der Erziehung der eigenen Kinder, bei der man diese wiederum gnadenlos fordern kann.

Aus diesem Grund möchte ich mich jeglichen Moralisierens enthalten. Ich möchte ausdrücklich nicht sagen, daß man dieses oder jenes tun bzw. nicht tun soll, z. B. nicht hassen soll, denn solche Sätze halte ich für nutzlos. Meine Aufgabe sehe ich vielmehr darin, die Wurzeln des Hasses aufzuzeigen, die nur wenige zu erblicken scheinen, und die Erklärung dafür zu suchen, warum es so wenige sind.

Während ich mich mit diesen Fragen beschäftigte, fiel mir Katharina Rutschkys Schwarze Pädagogik (1977) in die Hand. Es handelt sich um eine Sammlung von Erziehungsschriften, in denen alle Techniken der frühen Konditionierung zum Nicht-Merken dessen, was eigentlich mit einem geschieht, so klar beschrieben werden, daß sie von der Realität her Rekonstruktionen bestätigen, zu denen ich im Laufe der langen analytischen Arbeit gelangt bin. So kam mir die Idee, aus diesem ausgezeichneten, aber sehr umfangreichen Buch einige Passagen so zusammenzustellen, daß der Leser sich mit ihrer Hilfe selber und ganz persönlich Fragen beantworten kann, die ich aufwerfen möchte. Es sind vor allem die Fragen: Wie wurden unsere Eltern erzogen? Was mußten und durften sie mit uns machen? Wie hätten wir das als kleine Kinder merken können? Wie hätten wir es mit unseren Kindern anders machen können? Läßt sich dieser Teufelskreis je durchbrechen? Und schließlich: Ist die Schuld kleiner, wenn man sich die Augen verbindet?

Es ist nicht auszuschließen, daß ich mit diesen Texten etwas erreichen möchte, das entweder gar nicht möglich oder völlig überflüssig ist. Denn solange ein Mensch etwas nicht sehen darf, wird er es übersehen, mißverstehen, auf irgendeine Weise abwehren müssen. Ist es ihm aber bereits früher zugänglich geworden, dann braucht er es nicht erst durch mich zu erfahren. Diese Überlegung ist richtig, und trotzdem möchte ich mein Vorhaben nicht aufgeben, denn der Versuch scheint mir sinnvoll, auch wenn im Moment nur wenige Leser von diesen Zitaten profitieren sollten.

In den ausgewählten Texten werden m. E. Techniken enthüllt, mit denen man nicht nur »bestimmte Kinder«, sondern mehr oder weniger uns alle (aber vor allem unsere Eltern und Ahnen) auf das Nicht-Merken abgerichtet hat.

Ich gebrauche hier das Wort »enthüllt«, obwohl diese Schriften nicht geheim, sondern öffentlich verbreitet waren und zahlreiche Auflagen erhielten. Doch ein Mensch der heutigen Generation kann etwas aus ihnen herauslesen, das ihn persönlich angeht und das seinen Eltern noch verborgen blieb. Diese Lektüre kann ihm das Gefühl geben, hinter ein Geheimnis gekommen zu sein, hinter etwas Neues, aber auch Altbekanntes, das bisher sein Leben verschleierte und gleichzeitig bestimmte. So ist es mir persönlich bei der Lektüre der Schwarzen Pädagogik gegangen. Ihre Spuren in den psychoanalytischen Theorien, in der Politik und in den unzähligen Zwängen des Alltags sind mir plötzlich deutlicher aufgefallen.

Die größte Sorge bereitet den Erziehern seit jeher die »Halsstarrigkeit«, der Eigensinn, der Trotz und die Heftigkeit der kindlichen Gefühle. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß mit der Erziehung zum Gehorsam nicht früh genug angefangen werden kann. Sehen wir uns als Beispiel die folgenden Ausführungen von J. Sulzer an:

Was nun den Eigensinn betrifft, so äußert sich derselbe als ein natürliches Mittel gleich in der ersten Kindheit, sobald die Kinder ihr Verlangen nach etwas durch Gebärden zu verstehen geben können. Sie sehen etwas, das sie gern haben möchten; sie können es nicht bekommen, sie erbosen sich darüber, schreien und schlagen um sich. Oder man gibt ihnen etwas, das ihnen nicht ansteht; sie schmeißen es weg und fangen an zu schreien. Dies sind gefährliche Unarten, welche die ganze Erziehung hindern und nichts Gutes bei den Kindern aufkommen lassen. Wo der Eigensinn und die Bosheit nicht vertrieben werden, da kann man unmöglich einem Kinde eine gute Erziehung geben. Sobald sich also diese Fehler bei einem Kinde äußern, so ist es hohe Zeit, dem Übel zu wehren, damit es nicht durch die Gewohnheit hartnäckiger und die Kinder ganz verdorben werden.

Ich rate also allen denen, die Kinder zu erziehen haben, daß sie die Vertreibung des Eigensinns und der Bosheit gleich ihre Hauptarbeit sein lassen und so lange daran arbeiten, bis sie zum Ziel gekommensind. Man kann, wie ich oben bemerkt habe, unmündigen Kindern nicht mit Gründen beikommen; also muß der Eigensinn auf eine mechanische Weise vertrieben werden, und hierfür gibt es kein anderes Mittel, als daß man den Kindern den Ernst zeigt. Gibt man ihrem Eigensinn einmal nach, so ist er das zweitemal schon stärker und schwerer zu vertreiben. Haben die Kinder einmal erfahren, daß sie durch Erbosen und Schreien ihren Willen durchsetzen, so werden sie nicht ermangeln, dieselben Mittel wieder anzuwenden. Endlich werden sie zu Meistern ihrer Eltern und Aufwärterinnen und bekommen ein böses, eigensinniges und unleidliches Gemüt, wodurch sie hernach ihre Eltern, als wohlverdienten Lohn der guten Erziehung, solange sie leben, plagen und quälen. Sind aber die Eltern so glücklich, daß sie ihnen gleich anfangs durch ernstliches Schelten und durch die Rute den Eigensinn vertreiben, so bekommen sie gehorsame, biegsame und gute Kinder, denen sie hernach eine gute Erziehung geben können. Wo einmal ein guter Grund der Erziehung gelegt werden soll, da muß man nicht nachlassen zu arbeiten, bis man sieht, daß der Eigensinn weg ist, denn dieser darf absolut nicht da sein. Es bilde sich niemand ein, daß er etwas Gutes in der Erziehung wird tun können, ehe diese zwei Hauptfehler behoben sind. Er wird vergeblich arbeiten. Hier muß notwendig erst das Fundament gelegt werden.

Dieses sind also die zwei vornehmsten Stücke, auf die man im ersten Jahr der Erziehung sehen muß. Sind nun die Kinder schon über ein Jahr alt, wenn sie also anfangen etwas zu verstehen und zu sprechen, so muß man auch auf andere Dinge denken, doch nicht anders als mit der Bedingung, daß der Eigensinn der Hauptvorwurf aller Arbeit sei, bis er völlig beseitigt ist. Unsere Hauptabsicht ist immer, die Kinder zu rechtschaffenen, tugendhaften Menschen zu machen, und an diese Hauptabsicht sollen die Eltern allemal denken, so oft sie ihre Kinder ansehen, damit sie keinen Anlaß versäumen, an ihnen zu arbeiten. Sie müssen auch immer den Grundriß oder die Abbildung eines zur Tugend geschickten Gemütes, die ich oben gegeben, in frischem Gedächtnis behalten, damit sie wissen, was sie vorzunehmen haben. Das erste und allgemeinste, worauf man nun zu sehen hat, ist, daß man den Kindern eine Liebe zur Ordnung einpflanzt: das ist das erste Stück, das wir zur Tugend fordern. Dieses kann aber in den drei ersten Jahren, wie alle andern Dinge, die man mit den Kindern vornehmen will, nicht anders als auf eine ganz mechanische Art geschehen. Man muß nämlich alles, was man mit den Kindern vornimmt, nach den Regeln einer guten Ordnung vornehmen. Das Essen und Trinken, die Kleidung, das Schlafen, und überhaupt die ganze kleine Haushaltung der Kinder, muß ordentlich sein und ja niemals nach ihrem Eigensinn oder ihrer Wunderlichkeit im geringsten abgeändert werden, damit sie in ihrer ersten Kindheit lernen, sich den Regeln der Ordnung genau zu unterwerfen. Die Ordnung, die man mit ihnen hält, hat unstreitig einen Einfluß auf das Gemüt, und wenn die Kinder ganz jung einer guten Ordnung gewohnt werden, so vermeinen sie hernach, daß dieselbe ganz natürlich sei; weil sie nicht mehr wissen, daß man sie ihnen durch die Kunst beigebracht hat. Wolle man aus Gefälligkeit gegen ein Kind die Ordnung seiner kleinen Haushaltung ändern, so oft es seine Wunderlichkeit haben will, so würde es auf die Gedanken kommen, daß an der Ordnung nicht viel gelegen, und daß sie unserer Wunderlichkeit immer weichen muß; dies wäre ein Vorurteil, das seinen Schaden weit und breit in das moralische Leben erstrecken würde, wie leicht aus dem zu entnehmen ist, was ich oben von der Ordnung gesagt habe. Kann man nun schon mit den Kindern sprechen, so muß man ihnen bei allen Anlässen die Ordnung als etwas Heiliges und Unverletzliches vorstellen. Wollen sie etwas haben, das wider die Ordnung ist, so sage man ihnen: Mein liebes Kind, dies kann unmöglich geschehen, es ist wider die Ordnung, diese darf niemals überschritten werden u. dgl. [...]

Das zweite Hauptstück, worauf man sich bei der Erziehung gleich anfangs im zweiten und dritten Jahr befleißigen muß, ist ein genauer Gehorsam gegen Eltern und Vorgesetzte und eine kindliche Zufriedenheit mit allem, was sie tun. Diese Eigenschaften sind nicht nur für den Erfolg der Erziehung schlechterdings notwendig, sondern sie haben einen sehr starken Einfluß auf die Erziehung überhaupt. Für die Erziehung sind sie notwendig, weil sie dem Gemüt überhaupt Ordnung und Unterwürfigkeit gegen die Gesetze geben. Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch, wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft gern unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem Willen zu handeln. Dieser Gehorsam ist so wichtig, daß eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams. Es ist ein überall anerkannter Satz, daß hohe Personen, die zur Regierung ganzer Staaten bestimmt sind, die Regierungskunst durch Gehorsam erlernen müssen. Qui nescit obedire, nescit imperare, davon aber kann man keinen andern Grund als diesen geben, weil der Gehorsam den Menschen tüchtig macht nach den Gesetzen zu folgen, welches die erste Eigenschaft eines Regenten ist. Nachdem man also durch die erste Arbeit an den Kindern den Eigensinn aus ihren zarten Gemütern vertrieben hat, so soll das Hauptwerk der Arbeit auf den Gehorsam gehen. Diesen Gehorsam aber den Kindern einzupflanzen, ist nicht sehr leicht. Es ist ganz natürlich, daß die Seele ihren Willen haben will, und wenn man nicht in den ersten zwei Jahren die Sache richtig gemacht hat, so kommt man hernach schwerlich zum Ziel. Diese ersten Jahre haben unter andern auch den Vorteil, daß man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen gehabt haben und die Schärfe, die man wird brauchen müssen, hat auch eben deswegen keine schlimmen Folgen.

Es ist erstaunlich, wieviel psychologisches Wissen dieser Erzieher bereits vor 200 Jahren besaß. Es stimmt nämlich wirklich, daß Kinder mit den Jahren alles vergessen, was ihnen in der frühen Kindheit begegnet ist. »Sie erinnern sich hernach niemals mehr, daß sie einen Willen gehabt haben« — zweifellos. Aber die Fortsetzung dieses Satzes stimmt leider nicht, nämlich daß die Schärfe, die man wird brauchen müssen, ... auch eben deswegen keine schlimmen Folgen hat.

Das Gegenteil ist der Fall: Juristen, Politiker, Psychiater, Ärzte und Gefängniswärter haben beruflich gerade mitdiesen schlimmen Folgen ein Leben lang zu tun, meistens ohne es zu wissen. Die psychoanalytische Arbeit braucht Jahre, um sich an ihre Ursprünge heranzutasten, aber wenn sie gelingt, erreicht sie damit tatsächlich die Befreiung von Symptomen.

Immer wieder wird von Laien der Einwand erhoben, daß es Menschen gebe, die eine nachweisbar schwere Kindheit hatten, ohne neurotisch zu werden, während andere, die in sogenannten »behüteten Verhältnissen« aufgewachsen sind, psychisch krank werden. Damit soll auf eine angeborene Veranlagung hingewiesen und der Einfluß des Elternhauses abgestritten werden.

Die oben zitierte Stelle hilft zu verstehen, wie es zu diesem Irrtum in allen Bevölkerungsschichten kommen kann (und soll?). Neurosen und Psychosen sind nämlich nicht direkte Folgen realer Frustrationen, sondern sie sind Ausdruck der Verdrängung von Traumen. Wenn es vor allem darum geht, Kinder so zu erziehen, daß sie nicht merken, was man ihnen zufügt, was man ihnen nimmt, was sie dabei verlieren, wer sie sonst gewesen wären und wer sie überhaupt sind, und wenn diese Erziehung früh genug einsetzt, wird der Erwachsene später den Willen des anderen, ungeachtet seiner Intelligenz, als den eigenen erleben. Wie kann er wissen, daß sein eigener Wille gebrochen wurde, da er ihn nie erfahren durfte? Und doch wird er daran erkranken können. Hat aber ein Kind Hunger, Flucht, Bombenangriffe so erlebt, daß es sich von seinen Eltern als abgetrennte Person ernstgenommen und respektiert fühlte, dann wird es nicht aufgrund dieser realen Traumen krank werden. Es hat sogar die Chance, Erinnerungen an diese Erlebnisse zu behalten (weil zugewandte Bezugspersonen es begleitet haben) und damit seine Innenwelt zu bereichern.

Die nächste Stelle, von J. G. Krüger, verrät, warum es den Erziehern so wichtig war (und ist), »Halsstarrigkeit« energisch zu bekämpfen.

Meinen Gedanken nach muß man Kinder niemals schlagen wegen Fehlern, die sie aus Schwachheit begehen. Das einzige Laster, welches Schläge verdient, ist die Halsstarrigkeit. Es ist also unrecht, wenn man Kinder wegen des Lernens schlägt, es ist unrecht, wenn man sie schlägt, daß sie gefallen sind, es ist unrecht, daß man sie schlägt, wenn sie aus Versehen Schaden getan haben, es ist unrecht, wenn man sie wegen des Weinens schlägt; aber es ist recht und billig, sie wegen aller dieser Verbrechen, ja wegen noch anderer Kleinigkeiten zu schlagen, wenn sie es aus Bosheit getan haben. Wenn euer Sohn nichts lernen will, weil ihr es haben wollt, wenn er in der Absicht weint, um euch zu trotzen, wenn er Schaden tut, um euch zu kränken, kurz, wenn er seinen Kopf aufsetzt:

Dann prügelt ihn, dann laßt ihn schrein:

Nein, nein, Papa, nein, nein!

Denn ein solcher Ungehorsam ist ebensogut, als eine Kriegserklärung gegen eure Person. Euer Sohn will euch die Herrschaft rauben, und ihr seid befugt, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, um euer Ansehen zu befestigen, ohne welches bei ihm keine Erziehung stattfindet. Dieses Schlagen muß kein bloßes Spielwerk sein, sondern ihn überzeugen, daß ihr sein Herr seid. Daher müßt ihr ja nicht eher aufhören, bis er das tut, dessen er sich vorher aus Bosheit weigerte. Nehmt ihr dieses nicht in acht, so habt ihr eine Schlacht geliefert, über welche sein böses Herz im Triumph aufzieht, und sich fest vornimmt, auch künftig die Schläge nicht zu beachten, um nur der Herrschaft der Eltern nicht unterworfen zu sein. Hat er sich aber das erstemal für überwunden erkannt, und sich vor euch demütigen müssen, so wird ihm schon der Mut genommen sein, aufs neue zu rebellieren. Doch habt ihr euch dabei sehr in acht zu nehmen, daß ihr euch bei dem Strafen von dem Zorn nicht überwältigen laßt. Denn das Kind wird scharfsichtig genug sein, eure Schwachheit zu erblicken, und die Strafe für eine Wirkung des Zorns ansehen, die es für eine Ausübung der Gerechtigkeit halten sollte. Könnt ihr euch also hierin nicht mäßigen, so überlaßt lieber die Exekution einem andern, schärft ihm aber ja ein, nicht eher aufzuhören, bis das Kind den Willen des Vaters erfüllt hat, und kommt, euch um Vergebung zu bitten. Diese Vergebung müßt ihr ihm, wie Locke sehr wohl bemerkt, zwar nicht ganz abschlagen, sie ihm aber doch etwas sauer machen, und eure völlige Zuneigung nicht eher wieder zu erkennen geben, als bis er durch völligen Gehorsam sein voriges Verbrechen gebessert und bewiesen hat, daß er entschlossen sei, ein treuer Untertan seiner Eltern zu bleiben. Wenn man nun Kinder von Jugend auf mit gehöriger Klugheit erzieht, so wird es gewiß sehr selten nötig sein, zu dergleichen gewaltsamen Mitteln zu schreiten; allein es wird sich kaum ändern lassen, wenn man sie erst in seine Zucht bekommt, da sie vorher ihren Eigenwillen gehabt haben. Doch kann man auch manchesmal, besonders wenn sie ehrgeizig sind, selbst bei großen Verbrechen, der Schläge überhoben sein, wenn man sie zum Exempel barfuß gehen, hungern und bei Tisch aufwarten läßt, oder sie sonst an einem solchen Ort angreift, wo es ihnen weh tut. (Aus: J. G. Krüger, Gedanken von der Erziehung der Kinder, 1752, zit. n. KR, S. 170 f.)

Hier ist noch alles offen ausgesprochen. In den neueren Erziehungsbüchern sind die Herrschaftsansprüche der Erzieher viel besser verschleiert. Man hat inzwischen ein feines Instrumentarium von Argumenten entwickelt, um die Notwendigkeit der Schläge zum Wohle des Kindes zu beweisen. Hier aber wird noch offen vom »Herrschaftsraub«, von »treuen Untertanen« usw. gesprochen, und damit auch die traurige Wahrheit, die noch heute leider gilt, enthüllt. Denn die Motive des Schlagens sind die gleichen geblieben: die Eltern kämpfen bei ihrem Kind um die Macht, die sie bei ihren eigenen Eltern eingebüßt haben. Das Bedrohtsein der ersten Lebensjahre, das sie nicht erinnern können (vgl. Sulzer), erleben sie bei den eigenen Kindern zum ersten Mal, und hier erst, beim Schwächeren, wehren sie sich oft ganz massiv. Dazu dienen unzählige Rationalisierungen, die sich bis heute erhalten haben. Obwohl Eltern immer aus inneren Gründen, d. h. aus der eigenen Not, ihre Kinder mißhandeln, gilt es in unserer Gesellschaft als klare, ausgemachte Sache, daß diese Behandlung für die Kinder gut sein soll. Nicht zuletzt die Sorgfalt, die man dieser Argumentation angedeihen läßt, verrät ihre Doppelbödigkeit. Obwohl diese Argumente jeder psychologischen Erfahrung widersprechen, werden sie von Generation zu Generation weitergereicht.

Dafür muß es emotionale Gründe geben, die sehr tief in allen Menschen verankert sind. Niemand könnte wohl auf die Dauer »Wahrheiten« gegen physikalische Gesetze verkünden (z. B. daß es gesund fürs Kind sei, im Winter im Badekleid und im Sommer im Pelzmantel herumzulaufen), ohne sich der Lächerlichkeit auszusetzen. Aber es ist durchaus üblich, über die Notwendigkeit des Schlagens, der Demütigung und Bevormundung zu sprechen, allerdings mit gewählteren Worten wie »Züchtigung«, »Erziehung« und »Lenkung zum Guten«. In den folgenden Ausschnitten aus der Schwarzen Pädagogik läßt sich beobachten, welchen Gewinn der Erzieher für seine verborgensten, uneingestandenen Bedürfnisse aus dieser Ideologie zieht. Das erklärt auch den großen Widerstand gegen die Rezeption und Integration des unbestreitbaren Wissens, das man in den letzten Jahrzehnten über psychologische Gesetzmäßigkeiten errungen hat.

Es gibt viele gute Bücher, die über die Schädlichkeit und Grausamkeit der Erziehung berichten (z. B. E. von Braunmühl, L. de Mause, K. Rutschky, M. Schatzman, K. Zimmer). Warum vermag dieses Wissen so wenig in der Öffentlichkeit zu verändern? Ich habe mich früher mit den zahlreichen individuellen Gründen für diese Schwierigkeiten beschäftigt, meine aber, daß in der Behandlung der Kinder auch eine allgemein gültige psychologische Gesetzmäßigkeit anzutreffen ist, die es aufzudecken gilt: die Machtausübung des Erwachsenen über das Kind, die wie keine andere verborgen und ungestraft bleiben kann. Die Aufdeckung dieses fast ubiquitären Mechanismus ist oberflächlich gesehen gegen das Interesse von uns allen (wer verzichtet schon leicht auf die Abfuhrmöglichkeit aufgestauter Affekte und auf die Rationalisierungen zur Erhaltung des guten Gewissens?), aber sie ist dringend notwendig im Interesse der späteren Generationen. Denn je leichter es dank der Technik sein wird, mit einem Knopfdruck Tausende von Menschen umzubringen, um so wichtiger ist es, daß im öffentlichen Bewußtsein die ganze Wahrheit darüber zugelassen werde, wie der Wunsch, das Leben von Millionen von Menschen auszulöschen, entstehen kann. Schläge sind nur eine Form der Mißhandlung, sie sind immer erniedrigend, weil das Kind sich nicht dagegen wehren darf und den Eltern dafür Dank und Respekt schulden soll. Aber neben der Prügelstrafe gibt es eine ganze Skala von raffinierten Maßnahmen »zum Wohle des Kindes«, die für das Kind schwer durchschaubar sind und gerade deshalb oft verheerende Wirkungen auf sein späteres Leben haben. Was geht z. B. in uns vor, wenn wir als Erwachsene versuchen, uns in das Kind einzufühlen, das von P. Villaume folgendermaßen erzogen wird:

Wenn das Kind auf der Tat ertappt worden ist, ist’s auch nicht schwer, ihm das Geständnis abzulocken. Sehr leicht wäre es, ihm zu sagen: Der und der hat gesehen, daß du dies und jenes getan hast. Ich möchte aber lieber einen Umweg nehmen; und deren gibt es mehrere.

Man hat das Kind über seinen kränklichen Zustand ausgefragt. Man hat von ihm selbst das Geständnis, daß es diese und jene Schmerzen, Beschwerden empfindet, welche man ihm beschreibt. Ich fahre fort:

»Du siehst mein Kind, daß ich deine jetzige Leiden weiß; ich habe dir solche gesagt. Du siehst also, daß ich deinen Zustand kenne. Ich weiß noch mehr: ich weiß, was du noch in der Zukunft leiden wirst, und will dir’s sagen; höre mich. Dein Gesicht wird noch welker, deine Haut braun werden; dein Hände werden zittern, du wirst eine Menge kleiner Geschwüre im Gesicht bekommen, deine Augen werden trüb, dein Gedächtnis schwach, dein Verstand stumpf werden. Alle Fröhlichkeit, Schlaf und Appetit wirst du verlieren usw.«

Schwerlich wird man ein Kind finden, das nicht erschrecken sollte. Weiter:

»Nun will ich dir noch mehr sagen; sei recht aufmerksam! Weißt du, woher alle deine Leiden kommen? Du magst es nicht wissen; ich aber weiß es. Du hast sie verschuldet! — Ich will dir sagen, was du im Verborgenen tust. Sieh usw.«

Ein Kind müßte aufs Äußerste verstockt sein, wenn es nicht mit Tränen gestehen sollte.

Der andre Weg zur Wahrheit ist folgender: Ich entlehne dieses Stück aus den Pädagogischen Unterhandlungen.

Ich rief Heinrich. »Höre einmal, Heinrich, dein Anfall hat mich ganz bedenklich gemacht.« (H. hatte einige Anfälle von der fallenden Sucht gehabt.) »Ich habe hin und her gesonnen, was wohl die Ursache sein mag, aber ich kann nichts finden. Bedenke dich; weißt du nichts!«

H. »Nein, ich weiß nichts.« (Er konnte wohl nichts wissen; denn ein Kind in diesem Fall weiß nicht, was es tut. Auch sollte das nur ein Eingang zu dem folgenden sein.)

»Es ist doch sonderbar! Hast du dich etwa erhitzt, und zu bald getrunken?«

H. »Nein; Sie wissen ja, ich bin schon lange nicht ausgegangen, als wenn Sie mich mitnahmen.«

»Ich kann es nicht begreifen – Ich weiß zwar auch eine Geschichte von einem Knaben von etwa zwölf Jahren (so alt war Heinrich), die ist sehr traurig – der Knabe starb zuletzt.«

(Der Erzieher schildert hier Heinrich selbst, unter einem andern Namen, und erschreckt ihn.)

»Er bekam auch unvermutet solche Verzuckungen wie du; und sagte, dann wäre ihm so, als wenn ihn jemand heftig kitzelte.«

H. »Ach Gott! Ich werde doch nicht sterben? Es ist mir auch so.« »Und manchmal wollte ihm der Kitzel den Odem benehmen.«

H. »Mir auch. Haben Sie es nicht gesehen?« (Hieraus sieht man, daß das arme Kind in der Tat nicht wußte, was die Ursache seines Elendes war.)

»Er fing dann heftig an zu lachen.«

H. »Nein, mir wird Angst, daß ich nicht weiß, wohin.«

(Dieses Lachen gibt der Erzieher nur vor; vielleicht um seine Absicht zu verhehlen. Mir deucht, es wäre besser gewesen, wenn er bei der Wahrheit geblieben wäre.)

»Das hielt alles eine Zeitlang an; endlich verfiel er in ein so starkes, heftiges und anhaltendes Lachen, daß er erstickte und starb.«

(Dies alles erzählte ich mit der größten Gleichgültigkeit, bemerkte seine Antworten gar nicht; suchte alles bis auf Mienen und Gebärden, so zu stellen, daß es das Ansehen freundschaftlicher Unterhaltung gewann.)

H. »Er starb vor Lachen? Kann man denn vor Lachen sterben?« »Jawohl; das hörst du hier. Hast du nicht jemals recht heftig gelacht? Da wird’s so enge um die Brust, und die Tränen kommen in die Augen.«

H. »Ja, das weiß ich.«

»Nun gut; so stelle dir vor, wenn das hätte sehr lange anhalten sollen, ob du es hättest ausstehen können? Du konntest aufhören, weil der Gegenstand oder die Sache, die dich zu Lachen machte, aufhörte auf dich zu wirken, oder weil sie dir nicht mehr so lächerlich vorkam. Bei dem armen Knaben aber war keine solche äußerliche Sache, die ihn lachen machte; sondern die Ursache war der Kitzel seiner Nerven, den er nicht nach seinem Willen aufhören machen konnte; und wie der fortdauerte, so dauerte auch sein Lachen fort, und bewirkte am Ende seinen Tod.«

H. »Der arme Knabe! – Wie hieß er?«

»Er hieß Heinrich.«

H. »Heinrich –!« (Er sah mich starr an).

(Gleichgültig) »Ja! Er war eines Kaufmanns Sohn in Leipzig.«

H. »So! Aber woher kam denn das?«

(Diese Frage wollte ich gern hören. Bisher war ich im Zimmer auf und ab gegangen; nun blieb ich stehen und faßte ihn scharf ins Gesicht, um ihn ganz genau zu bemerken.)

»Was denkst du wohl, Heinrich?«

H. »Ich weiß nicht.«

»Ich will dir’s sagen, was die Ursache war. (Folgendes sagte ich mit langsamem und nachdrücklichem Ton.) Der Knabe hatte von irgend jemand gesehen, daß er sich an den feinsten Nerven seines Körpers schadete, und dabei wunderliche Gebärden machte. Dieser Knabe, ohne zu wissen, daß er sich schaden würde, ahmte dieses nach. Es gefiel ihm so sehr, daß er endlich durch diese Handlung die Nerven seines Körpers in eine ungewöhnliche Bewegung setzte, sie dadurch schwächte und seinen Tod bewirkte.« (Heinrich war über und über rot, und in einer sichtbaren Verlegenheit.) – »Was fehlt dir, Heinrich?«

H. »Ach nichts!«

»Bekommst du etwa deinen Anfall wieder?«

H. »Ach nein! Wollen Sie mir erlauben, daß ich fortgehen darf?«

»Warum, Heinrich? Gefällt es dir nicht bei mir?«

H. »Ach ja! Aber -«

»Nun?«

H. »Ach nichts!«

»Höre, Heinrich, ich bin dein Freund, nicht wahr? Sei aufrichtig. Warum bist du so rot und so unruhig geworden, bei der Geschichte des armen Knaben, der sich auf so unglückliche Weise sein Leben verkürzte?«

H. »Rot? Ach, ich weiß nicht – Es tat mir leid um ihn.«

»Ist das alles? – Nein, Heinrich, es muß eine andre Ursache sein; dein Gesicht verrät’s. Du wirst unruhiger? Sei aufrichtig, Heinrich; durch Aufrichtigkeit machst du dich Gott, unserm lieben Vater, und allen Menschen angenehm.«

H. »Ach Gott – (Er fing an überlaut zu weinen, und war so erbarmungswürdig, daß mir auch die Tränen in die Augen stiegen – er sah’s, griff meine Hand und küßte sie heftig.)

»Nun, Heinrich, was weinst du?«

H. »Ach Gott!«

»Soll ich dir dein Geständnis ersparen? Nicht wahr, du hast eben das getan, was jener unglückliche Knabe tat?«

H. »Ach Gott! Ja.«

Diese letztere Methode möge vielleicht ersterer vorzuziehen sein, wenn man es mit Kindern von einem sanften, weichen Charakter zu tun hat. Jene hat schon etwas Hartes, indem sie das Kind geradezu angreift. (P. Villaume, 1787, zit. n. KR, S. 19 ff.)

Gefühle von Empörung und Wut über diese verlogene Manipulation können im Kind in dieser Situation gar nicht aufkommen, weil es die Manipulation gar nicht durchschaut. Es können lediglich Gefühle von Angst, Scham, Verunsicherung und Hilflosigkeit in ihm auftauchen, die möglicherweise schnell vergessen werden, nämlich sobald das Kind ein eigenes Opfer gefunden hat. Villaume sorgt, wie andere Erzieher, bewußt dafür, daß seine Methoden unbemerkt bleiben:

Man muß also auf das Kind aufmerksam sein, doch aber so, daß es davon nichts merkt, sonst verbirgt es sich, wird mißtrauisch, und es ist ihm gar nicht beizukommen. Da ohnehin die Scham solches Vergehen immer zu verheimlichen anrät, so ist die Sache an und für sich gar nicht leicht.

Wenn man einem Kind (doch immer unbemerkt) überall, und vornehmlich an heimlichen Orten, nachschleicht, so kann es geschehen, daß man es bei der Tat betrifft.

Man läßt die Kinder früher zu Bett gehen – wenn sie nun im ersten Schlaf sind, nimmt man ihnen ganz sacht die Decke ab, um zu sehen, wie ihre Hände liegen oder ob man einige Merkmale wahrnehmen kann. Ebenfalls am Morgen, ehe sie munter werden.

Kinder, vornehmlich wenn sie einiges Gefühl oder irgendeine Vermutung haben, daß ihr heimliches Betragen ungesittet ist, scheuen und verbergen sich vor den Erwachsenen. Aus dem Grund würde ich anraten, das Geschäft der Beobachtung irgendeinem Kameraden, und bei dem weiblichen Geschlecht einer jungen Freundin, einem treuen Dienstmädchen aufzutragen. Es versteht sich, daß solche Beobachter schon mit dem Geheimnis bekannt oder von einem Alter und Beschaffenheit sein müssen, in welchem die Bekanntmachung unschädlich ist. Solche nun würden unter dem Schein der Freundschaft (und es wäre wahrlich ein großer Freundschaftsdienst) jene beobachten. Ich wollte wohl raten, wenn man ihrer ganz versichert und es übrigens zur Beobachtung nötig wäre, daß die Beobachter mit den Kleinen in einem Bett schliefen. Im Bett fällt Scham und Mißtrauen leicht weg. Wenigstens wird’s nicht lange währen, daß sich die Kleinen nicht durch Reden oder Taten verraten. (P. Villaume, 1787, zit. n. KR, S. 316 f.)

Das bewußte Einsetzen der Demütigung, das die Bedürfnisse des Erziehers befriedigt, zerstört das Selbstbewußtsein des Kindes, macht es unsicher und gehemmt, wird aber als Wohltat gepriesen.

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, wie die Erzieher selbst nicht selten durch unverständiges Hervorheben der Vorzüge des Kindes den Dünkel wecken und steigern helfen, da sie selber nur oft größere Kinder sind und gleichen Dünkels voll. [...] Es kommt nun darauf an, den Dünkel wieder zu beseitigen. Unstreitig ist er eine Mißbildung, die, wenn sie nicht beizeiten bekämpft wird, sich verhärtet und, mit andern selbstsüchtigen Angelegenheiten zusammentretend, für das sittliche Leben höchst gefährlich werden kann, davon ganz abgesehen, daß der zur Hoffart gesteigerte Dünkel andern lästig oder lächerlich werden muß. Außerdem wird durch diesen auch die Wirksamkeit des Erziehers mannigfach beschränkt, das Gute, welches er lehrt und wozu er auffordert, glaubt ja der Dünkelvolle schon zu besitzen und hält es wenigstens für leicht erreichbar, Warnungen werden als übertriebene Ängstlichkeit, Worte des Tadels als Zeichen

einer grämlichen Strenge genommen. Da kann nur Demütigung helfen. Wie aber soll diese beschaffen sein? Vor allen Dingen nicht viele Worte. Worte sind überhaupt nicht gerade dasjenige, wodurch Sittliches begründet und entwickelt, Unsittliches abgeschafft und entfernt werden kann; sie können nur als Begleiter einer tiefer greifenden Operation von Wirkung sein. Am wenigsten möchten umständliche direkte Belehrungen und lange Strafpredigten, herbe Satiren und bitterer Spott zum Ziel führen: die ersteren erregen Langeweile und stumpfen ab, die letzteren erbittern und schlagen nieder. Am eindringlichsten lehrt immer das Leben. Man führe also den Dünkelvollen in Verhältnisse ein, wo er, ohne daß der Erzieher ein Wort verlieren darf, sich seiner Mangelhaftigkeit bewußt wird: der auf seine Kenntnisse ungebührlich Stolze werde mit Aufgaben beschäftigt, denen seine Kraft durchaus noch nicht gewachsen ist und man lasse ihn daher auch ungestört, wenn er zu hoch zu fliegen versucht, dulde aber bei solchen Versuchen keine Halbheit und Oberflächlichkeit; der mit seinem Fleiß sich Brüstende werde in Stunden, wo er nachläßt, ernst, aber kurz an seine Versäumnis erinnert, und man mache einem solchen selbst das in der Präparation fehlende oder falsch aufgeschriebene Wort bemerklich; wobei nur zu vermeiden ist, daß der Schüler nicht eine besondere Absichtlichkeit argwöhne. Nicht minder wirksam wird es sein, wenn der Erzieher seinen Zögling öfter in die Nähe des Großen und Erhabenen führt: dem talentvollen Knaben halte man entweder aus der lebendigen Umgebung oder aus der Geschichte Männer vor, die durch ein weit glänzenderes Talent ausgezeichnet sind und in Benutzung desselben Bewunderungswürdiges zustande gebracht oder solche, die, ohne besonders hervorleuchtende Geisteskräfte, durch angestrengten, eisernen Fleiß über den talentvollen Leichtsinn sich weit emporgehoben haben; natürlich auch hier ohne ausdrückliche Beziehung auf den Zögling, der diesen Vergleich schon von selbst in der Stille machen wird. Endlich wird es in bezug auf die bloß äußerlichen Güter zweckmäßig sein, an die Unsicherheit und Vergänglichkeit derselben durch gelegentliche Hinweisungen auf entsprechende Ereignisse zu erinnern; der Anblick einer jugendlichen Leiche, die Kunde vom Sturz eines Handelshauses demütigt mehr, als oft wiederholtes Abmahnen und Tadeln. (Aus: K. G. Hergang (Hrsg.), Pädagogische Realenzyklopädie,21851, zit. n. KR, S. 412f.)

Die Maske der Freundlichkeit hilft, die grausame Behandlung noch besser zu verbergen: