Am Ende ist es wie am Anfang. Nur anders! - Jakobus Richter - E-Book

Am Ende ist es wie am Anfang. Nur anders! E-Book

Jakobus Richter

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Beschreibung

Jakobus Richter, Jahrgang 1946, erzählt seinen Weg vom kränklichen Nachkriegskind, das nie genug zu essen bekommen konnte, über seine Zeit als evangelischer Mönch in einer evangelischen Kommunität und später als Leiter einer christlichen Lebensgemeinschaft bis hin zu der selbst für ihn überraschenden Wendung, mit 64 Jahren noch zu heiraten. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist das große Thema, das sich in seiner Lebensgeschichte widerspiegelt. Diese Suche hat Jakobus Richter zu Gott gebracht, aber auch in ganz unterschiedliche Formen von Gemeinschaft, die zugleich Erfüllung und Herausforderung waren. Dieser reiche Schatz von erfahrener und reflektierter Gemeinschaft hat ihn schließlich zu einem Menschen gemacht, der andere mit seinem Leben ermutigt, und so ist er heute ein gefragter Prediger, Seelsorger und Therapeut. Die Spuren Gottes können wir in jedem Leben finden. Jakobus Richter fing seinen geistlichen Lebensweg als glücklicher Mönch an und ist heute mit seiner Frau Annerose glücklich verheiratet. Was für eine erstaunliche Geschichte! Am Ende ist es wie am Anfang, nur anders!

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Jakobus Richter

Am Ende ist es wie am Anfang.Nur anders!

Mein Weg vom glücklichen Mönchzum glücklichen Ehemann

GloryWorld-Medien

 

 

 

 

 

1. E-Book-Auflage 2018

© 2018 Jakobus Richter

© 2018 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de

Alle Rechte vorbehalten

Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Zürcher Bibel (Ausgabe 2007) entnommen.

Das Buch folgt den Regeln der Deutschen Rechtschreibreform. Die Bibelzitate wurden diesen Rechtschreibregeln angepasst.

Lektorat: Judith Kauper, Thomas Grüniger und Manfred MayerSatz: Manfred MayerUmschlaggestaltung: Marc Benseler, Ludwigsburg, www.benseler-design.de

ISBN (epub): 978-3-95578-451-5

ISBN (Druck): 978-3-95578-351-8

 

Inhalt

Vorwort

1 Meine Eltern

2 Gnadenthal

3 El Al

4 Wenn der Horizont zur Hoffnung wird

5 Wie man sich in zwei Zimmern und mit einem Badeofen als Schlossherr fühlen kann

6 Am Ende ist es wie am Anfang. Nur anders!

 

 

Für Dietmar.Ein Freund, wie man sich ihn wünscht.

Mein besonderer Dank gilt Judith Kauper und Thomas Grüniger. Ohne ihre Hilfe und Korrektur wäre dieses Buch nicht entstanden.

Und natürlich Annerose, meiner Frau. Sie hat mich immer wieder ermutigt und zugehört, wenn ich ihr aus dem Manuskript vorgelesen habe.

 

Vorwort

Eine Lebensgeschichte ist wie ein Mosaik; es setzt sich aus vielen verschiedenfarbigen Steinchen mit unterschiedlichen Formen zusammen. Jedes Einzelne davon kann gut gelungen sein, manches auch misslungen. Bestimmte Steinchen können Schönheit ausstrahlen und für sich stehen. Aber richtig zur Entfaltung kommen die einzelnen Steinchen erst, wenn wir das ganze Bild sehen, das ganze Mosaik.

Wer Jakobus Richter begegnet ist, kennt auch einzelne Erfahrungen aus seinem Leben. Er selber hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er immer bereit war, aus den Ereignissen seines Lebens zu lernen. Vielleicht aus den negativen Erfahrungen noch mehr als aus den positiven.

Ich habe viele einzelne Geschichten aus dem Leben des Autors gehört. Ich kannte manche Geschichten so gut, als ob ich dabei gewesen wäre. Und doch war alles anders, als ich die Gelegenheit hatte, aus seinem eigenen Mund eine Beschreibung seines Lebens zu hören. Sofort fügten sich die einzelnen Versatzstücke zu einem großen Ganzen. Was für eine interessante Lebensgeschichte zeichnete sich da ab! Eine Geschichte, die es Wert ist, dass auch andere davon erfahren.

In dieser Lebensgeschichte spiegelt sich ein großes Thema wieder: die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Niemand hat dieses Sehnen nach Gemeinschaft besser formuliert als Carson McCullers mit dem Titel ihres Romans „Das Herz ist ein einsamer Jäger“. Diese Suche hat Jakobus Richter zu Gott gebracht, aber auch in ganz unterschiedliche Formen von Gemeinschaft, die zugleich Erfüllung und Herausforderung waren.

Dieser reiche Schatz von erfahrener und reflektierter Gemeinschaft hat ihn schließlich zu einem Menschen gemacht, der andere mit seinem Leben ermutigt.

Oft genug fragen wir im alltäglichen Leben nach Gott. Im Rückblick auf unser Leben zeichnen sich die Spuren Gottes klarer ab. Gerade die Krisen und Abbrüche machen deutlich, wohin Gott uns führen will und was wir lernen sollen. Wir können das bei anderen entdecken und dann bei uns selber finden. Deshalb zahlt es sich aus zurückzublicken.

Wir können die Spuren Gottes in jedem Leben finden. Am Ende ist es wie am Anfang, nur anders. Jakobus fing seinen geistlichen Lebensweg als glücklicher Mönch an und ist heute mit seiner Frau Annerose glücklich verheiratet. Was für eine erstaunliche Geschichte.

 

Im August 2018

 

Detlef Kauper1

 

 

1 Detlef Kauper lebt mit seiner Frau Johanna in Erfurt und ist Pfarrer der Thüringischen Landeskirche. Er ist Gründer des Checkpoint Jesus in Erfurt. 2010 hat er Annerose und mich getraut.

Kapitel 1: Meine Eltern

Er hob das Kind in das schmale Licht der Stalllaterne, die über dem Küchentisch schwebte, der als Entbindungsstation diente. Dann sagte er laut und deutlich: „Du sollst eines Tages in einer Klosterschule1 erzogen werden!“ Ich hatte das glücklicherweise nicht gleich verstanden, brüllte mich ins Leben hinein – und wurde krank. Dass es überhaupt zu diesem Augenblick kam, beginnt mit der Geschichte meiner Familie in Berlin.

Es war der 8. November 1938. Meine Mutter war 16 Jahre alt. Sie spürte die aufgeheizte Stimmung in der Stadt und ahnte das kommende Unheil. Sie sah aus dem ersten Stock ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg, wie es überall brannte. Aber sie begriff wie viele andere nicht, was da wirklich vor sich ging. Warum machten sie das? Wieso entlud sich eine solche Gewalt? Was hatten die Juden getan? Sie waren bis dahin die freundlichen Nachbarn, Geschäftsleute und Ärzte, die plötzlich dem Mob preisgegeben waren. Später war in den Zeitungen zu lesen und in den Nachrichten zu hören, dass es die Reichskristallnacht war. Sie hatte den Beginn der Vernichtungsmaschinerie der Nazis mit eigenen Augen gesehen.

Meine Mutter war die Tochter einer Schauspielerin und eines Seemanns. Mein Großvater war Barkeeper auf großen Passagierdampfern. In seinen Adern floss Seemannsblut. Beide hatten enge, freundschaftliche Beziehungen zu Juden. Meine Mutter hat später oft davon erzählt, wie ihre Mutter den in Not geratenen Juden geholfen hat, aus der Stadt zu kommen, oder wie sie ihnen etwas zu Essen besorgt hat. Angst, Not und Schrecken hatten sich in so vielen Familien breitgemacht und keiner wusste, wie das ausgehen würde. Die Propaganda und die Realität des Alltags passten nicht zusammen. Die Verunglimpfung der Juden und die persönliche Erfahrung mit ihnen wurden zur Zerreißprobe, die kaum auszuhalten war. Aber genau das war auch die Absicht der Nazis.

Diese Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sie sich wünschte, sollte sich wie ein Schatten über ihr Leben legen. Als meine Großmutter schwanger wurde, wollte mein Großvater sie heiraten, aber meine Großmutter wollte nicht. Dann fuhr er wieder zur See. Später eröffnete er in Hamburg auf dem Hans-Albers-Platz ein gutgehendes Leihhaus. Als er später ein Barmädchen heiratete, brach der Kontakt zu seiner Tochter, meiner Mutter, ab.

Die ersten Lebensjahre verbrachte meine Mutter bei ihrer Mutter in Berlin. Die Beziehung war schwierig. Meine Mutter sagte später, sie mochten sich beide nicht. Da meine Großmutter ihrer Tochter keine Liebe und Wärme zeigen konnte, gab sie sie nach Hamburg zu Pflegeeltern. Obwohl ihr Pflegevater kein Mädchen haben wollte, nahm er sie doch und erzog sie wie einen Jungen. Als meine Mutter alt genug war, ging sie nach Berlin zurück und lernte in der damals berühmten Rackowschule Stenotypistin. Mit 18 hatte sie die Schule abgeschlossen. Sie war begabt und fand 1940 eine Stelle bei der Deutschen Wehrmacht. Jetzt hatte sie eine Zukunftsperspektive, konnte sich ihre eigene Wohnung leisten und war frei, ihr eigenes Leben zu gestalten.

Auch wenn die Voraussetzungen durch den Krieg schwierig waren, hatte sie mit dem, was war, gelebt und ihr Leben gestaltet. Diese Kraft habe ich von ihr geerbt. Wir waren seelenverwandt. Meine Mutter hatte nie eine intakte Familie erlebt, in der sie Geborgenheit und Ermutigung fand. Bis zu ihrem Lebensende hatte sie eine Sehnsucht nach Familie und liebevoller Gemeinschaft. Sie hat immer versucht, uns Kindern das Gefühl von Geborgenheit zu geben. Wenn wir Menschen leiden sahen, hat sie uns ermutigt, mitfühlend zu sein. Wenn wir mit dem Finger auf diese Menschen zeigten, ermahnte sie uns, dass die drei anderen Finger auf uns selbst gerichtet sind.

Ihren Glauben an Gott hat sie nicht durch eine kirchliche Verbundenheit gelebt. Sie hatte ein Gespür für die christlichen Werte. Sie lebte ein wertschätzendes Leben, war dankbar, treu, freundlich und ehrlich. Sie hat vergeben, wo Vergebung wichtig war. Sie hat uns das Beten gelehrt und Gott immer als jemanden gesehen, der es trotz aller widrigen Umstände gut mit uns meint.

Mein Vater war der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns. Er hatte einen Tabakladen und ein Kolonialwarengeschäft. Hier verkaufte er Lebensmittel und Genussmittel, die aus den Kolonien eingeführt wurden. Ihm gehörte das größte Haus in Herford. Als das Gas für die Haushalte erfunden wurde, war das Haus meiner Großeltern das erste Haus mit Gasanschluss. Zu dieser Zeit lebte mein Vater schon in Berlin, sonst hätte ihn vielleicht das gleiche Schicksal ereilt, wie seine beiden Brüder. Die verlegten Leitungen des damals noch geruchlosen Gases waren nicht dicht. In der ersten Nacht, als das Gas strömte, starben seine Brüder an Gasvergiftung. Seine Schwester und seine Eltern überlebten unbeschadet. Nach diesem Unglück verkauften meine Großeltern ihr Anwesen; sie zogen nach Berlin und kauften sich in ein Bauunternehmen ein. Das machte Pleite, und so starben meine Großeltern am Ende in Armut. Mein Vater hatte Glück, dass er noch vom Wohlstand seiner Eltern leben konnte. Sie wollten, dass ihr Sohn Medizin studiert. Er immatrikulierte sich an der Charité in Berlin. Studiert hat er aber nur Musik. Das war seine Leidenschaft und seine große Begabung. Damit er nicht lügen musste, wenn er Geld brauchte, schrieb er sich vorsorglich bei den Medizinern ein.

Mit Beginn des Krieges unterbrach mein Vater sein Studium. Er wollte für Deutschland und den Führer in den Krieg ziehen, was er im Spätsommer 1939 als Sanitätssoldat auch tat. Er war ganz am Anfang mit dabei, als die Deutschen in Polen einfielen. Und er war einer von denen, die bejahten, was Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast als Frage gestellt hatte: Wollt ihr den totalen Krieg? Ja, er wollte den totalen Krieg, weil er daran glaubte, dass Hitler alles richtig machte. Er konnte nicht ahnen, wie so viele andere mit ihm, dass das Tausendjährige Reich, das Hitler propagierte, nur ein paar Jahre halten würde.

Vom Krieg in Polen bekam mein Vater ein paar Tage Urlaub. Endlich war er wieder in Berlin. Die Sehnsucht meiner Mutter nach ihrem Geliebten war groß gewesen. Nun floh die Einsamkeit, und die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft strahlte durch das Fenster. Geborgenheit schien näher zu rücken. Sie hatte ihn nicht freiwillig für den Krieg hergegeben und an die Notwendigkeit dieses Krieges nicht geglaubt. Sie wollte Familie und Geborgenheit. Und dann war er da. Für Stunden war die Welt der Verliebten wieder in Ordnung und die Sehnsucht nach dem Geliebten wurde für viel zu kurze Augenblicke gestillt. In dieser Nacht wurde mein Bruder gezeugt. Er wurde 1941 in Berlin geboren und bekam den Namen Heiko. Er war zeitlebens ein Mann mit liebendem und gütigem Herzen. Ein Liebhaber, der die Frauen und das Meer liebte.

Noch ein zweites Mal wurde meine Mutter bei so einem kurzen Fronturlaub meines Vaters in Berlin schwanger. 1943 wurde es in der Stadt aber so schlimm, dass Mütter und Kinder evakuiert wurden. Meine schwangere Mutter kam mit Heiko nach Kölleda in Thüringen. Ihre beste Freundin, die auch einen kleinen Sohn hatte, durfte mit ihr gehen. Als sie sich in der zugewiesenen Wohnung gerade etwas eingerichtet hatten, legte meine Mutter sich ins Bett. Die Wehen kamen. Meine Schwester wollte das Licht der Welt sehen. Am 2. Januar 1944 erzählte die Freundin meiner Mutter ihr einen Witz. Sie musste so lachen, dass das Bett, in dem sie lag zusammenbrach und meine Schwester in einer Sturzgeburt geboren wurde. Der Krieg hatte auch seine lustigen Seiten.

Meine Eltern waren zum Zeitpunkt der Geburt meiner Schwester noch nicht verheiratet. So wurde auch meine Schwester Heidrun unehelich geboren. Meine Eltern liebten sich und wollten trotz Krieg und widrigen Umständen heiraten. Doch es gab zwei Hindernisse. Die Schwester meines Vaters wollte meine Mutter nicht als Schwägerin. Auch wenn meine Tante eine einfache Frau ohne Berufsausbildung war, hatte sie den Eindruck, etwas Besseres zu sein. Sie hatte andere Pläne für ihren Bruder und versuchte durch Intrigen meine Großeltern dazu zu bewegen, diese Hochzeit zu verhindern. Der andere unglückliche Umstand war der, dass die Urlaube aus dem Krieg zu kurz für die rechtlichen Formalitäten waren. Zweimal hätte die Hochzeit fast geklappt, aber mein Vater wurde frühzeitig zurück an die Front beordert.

Als der Krieg 1945 endlich zu Ende war, wollten meine Eltern im thüringischen Erfurt heiraten. Die Familie sollte eine rechtmäßige Form bekommen. Für dieses nahestehende große Ereignis ging meine Mutter zum Frisör, um sich für diesen besonderen Tag schön zu machen. Der Frisör schaute in ihren Haarschopf und sagte: „Ich kann sie leider nicht frisieren!“ Meine Mutter war entsetzt und fragte fast verzweifelt: „Warum nicht?“ „Sie haben Läuse!“ So war das eben im Nachhinein im tausendjährigen Reich der Nazis. Sie hatten nichts zu essen, aber viele hatten Läuse.

Dass mein Vater überhaupt so früh zurück zu seiner Familie kam, war ein Glück, das viele seiner Kameraden nicht hatten. Eigentlich war er russischer Kriegsgefangener. Aus irgendeinem Grund aber, den wir nie herausbekamen, kam er plötzlich in englische Kriegsgefangenschaft. Das war sein Glück, denn die englischen Kriegsgefangenen wurden relativ schnell entlassen.

Meine Mutter war zu dieser Zeit noch in Kölleda (Thüringen), wo große Armut herrschte. Die einzige Chance, etwas zu essen zu bekommen, war die Mitarbeit in einem politischen Amt. Meine Mutter sah ihre Chance und wurde Referentin für Jugend und Sport. Dadurch bekam sie Lebensmittelkarten und Milch für ihre Kinder. Sie war nie politisch engagiert, weder bei den Nazis noch in der aufkommenden DDR. Aber hier ging es um das nackte Überleben ihrer Kinder, und dafür war sie auch bereit, ein politisches Amt zu übernehmen. Vielleicht hatte sie von ihrer Mutter genug schauspielerisches Talent geerbt, um eine Rolle zu übernehmen, aus der sie wieder heraustreten konnte, wenn das Seil zu Ende war.

Die Hochzeit meiner Eltern sollte in Herford in Westfalen nachgeholt werden. Da mein Vater inzwischen aus der englischen Kriegsgefangenschaft entlassen war, bahnte sich für meine Mutter das Ende des Rollenspiels in der DDR an. Als mein Vater sie endlich nach Herford holte, war das für sie zugleich die Erlösung aus einer unerträglichen Situation. Das Spiel war zu Ende, der eiserne Vorhang fiel hinter ihr herunter und sie war wieder die Frau, die endlich mit dem Mann, den sie liebte, Familie werden konnte. Meine zwei Geschwister wurden von meinem Vater adoptiert. Jetzt hießen alle vier Richter.

Herford

Die Zeiten waren schlecht und Armut und Hunger waren der tägliche Begleiter vieler Familien. Die englische Armee hatte in meinem Vater das Übersetzertalent entdeckt. Er wurde eingestellt und übersetzte Beipackzettel deutscher Medikamente ins Englische.

Zu dieser Zeit gab es für deutsche Zuckerkranke kein Insulin. Mein Vater hatte aber gute Beziehungen zu den Engländern aufgebaut und bei ihnen Insulin besorgt. Er gab es einem deutschen Arzt, der überglücklich war. Nun konnte er auch denen helfen, die in großer Not waren. Der Arzt kam aus einer großen Landwirtschaft. Der Deal mit ihm war, dass kein Geld floss. Mein Vater wollte kein Geld dafür, aber Lebensmittel waren in Ordnung. Sie waren für alle knapp und wir hatten Hunger. Hunger hatten in dieser Zeit fast alle. Aber jetzt hatten wir plötzlich genug Fleisch und Wurst zu essen. Wie genau mein Vater an das Insulin kam, blieb für immer ein Geheimnis. Als mein Vater einmal Schweinefleisch nahe der holländischen Grenze organisierte und es in zwei Koffern nach Herford transportierte, wurde er festgenommen und kam dafür einige Zeit ins Gefängnis. Schwarzhandel wurde streng bestraft. Trotzdem durfte er tagsüber bei den Engländern arbeiten, und meine Mutter hatte die Möglichkeit, ihn mit den zwei Kindern täglich zu sehen. Nachts musste er ins Gefängnis. Von meiner Mutter habe ich diese Präsenz geerbt, von meinem Vater das Organisieren. Er war ein echtes Organisationstalent, das er für seine Familie und Menschen in Not einsetzte. Wie sagen die Westfalen? „Das kann man nicht lernen, das muss einem gegeben sein!“

Am 31. Oktober 1946 legte sich meine Mutter auf den Tisch in der Küche. Über ihr eine sparsame Stalllaterne. Jetzt wurde ich geboren. Ich machte gleich Probleme. An der Mutterbrust saugte ich mir den Magen voll und spuckte alles wieder aus. Diagnose: Magenpförtnerkrampf. Zu der damaligen Zeit war es für die meisten Babys ein Todesurteil. Ich hatte Glück. Denn Dr. Lemke in Herford hatte gerade die Humana-Milch entwickelt und ich war eines der ersten Babys, das mit dieser Milch am Leben blieb. Ein viertel Jahr bekam ich gerade so viel, dass ich daran nicht starb. Aber zum Wachsen war es auch zu wenig. So wog ich mit drei Monaten weniger als bei der Geburt. Aber ich durfte leben! Später, viel später, habe ich begriffen, dass solche frühkindlichen Situationen dazu führen können, dass das Gefühl bleibt, nicht genug zu bekommen. Das führt zur Gier. Das hat bei mir zu diesem unersättlichen Jähzorn geführt. In der Phase des Magenpförtnerkrampfes hatte ich Hunger, den ich nicht stillen konnte. Darum habe ich wie am Spieß geschrien. Ich konnte nicht sagen, dass ich Hunger hatte, ich konnte es nur fühlen und dem Gefühl durch Schreien Luft machen. Besser kann ich mir die Entwicklung zum Jähzorn nicht erklären. Außerdem hatte ich als Kind immer Hunger und musste mich zeitlebens daran gewöhnen, dass Sättigung bei mir kein körperliches Gefühl ist, sondern ein Willensakt. Oft genug war der Wille gegen eine zweite Portion Essen nicht stark genug. Ich habe an Gewicht alles nachgeholt, was mir im ersten Vierteljahr meines Lebens vorenthalten wurde.

Jetzt waren wir drei Kinder. Mein Vater war eines jener Opfer des sinnlosen Krieges, das nicht mehr auf die Beine kam. Der Zweite Weltkrieg spiegelte sich in den Trümmern der Häuser noch lange wider, aber auch in den verwüsteten Landschaften. Er hinterließ Schäden in den Seelen der Männer und Frauen, die geglaubt hatten, es richtig gemacht zu haben. Wenn die Hoffnung in Trümmern liegt, verbiegen sich auf ihren Ruinen die Seelen. Der Alkohol wurde für meinen Vater ein ständiger Begleiter. Es gab keinen psychologischen Beistand. Jeder musste irgendwie sehen, dass er wieder auf die Beine kam. Die Leidenschaft der Musik hatte keinen Raum mehr in seinem Leben. Alles war zerbrochen. Er und viele andere ertrugen das Leben nur noch im Rausch. Vom Organisationstalent meines Vaters war nicht mehr viel übriggeblieben. Darum hatten wir kein Geld und oft nicht das Nötigste, um Essen zu kaufen.

1948 wurde meine Schwester Brigitte im Krankenhaus in Herford auf der Entbindungsstation geboren. Da blieb sie auch, als meine Mutter entlassen wurde. Sie wollte sie nicht mit nach Hause nehmen, weil sie nicht wusste, wie sie sie ernähren sollte. Einen Tag später holte sie sie in unsere Familie. Lieber gemeinsam hungern als eines der Kinder nicht bei sich zu haben. Mein Vater versank total im Alkohol. Ich war 8 Jahre alt, als ich einen entsetzlichen Schrei meiner Mutter hörte. Wir alle sprangen aus den Betten und suchten sie. Der Schrei kam aus dem Keller. Sie fand meinen Vater aufgehängt im Kellergang.

Glückliche Kindheit

Ab jetzt lebten wir ohne Vater, aber mit einer willensstarken Mutter. Sie gab uns alles, was sie konnte. Sie war nicht nur eine selbstbewusste Frau, sondern sorgte auch aufopfernd für uns. Wir hatten wenig Geld, wenig zu essen, aber eine glückliche Kindheit. Wir lebten auf dem Land. Meine Freunde waren Bauernsöhne und ich verbrachte die meiste Zeit auf einem der Bauernhöfe und half mit, wo ich konnte. Wir bauten uns Tunnel in den Strohlagern auf dem Dachboden der Höfe und wussten nicht, wie gefährlich das war.

Ich spürte nichts von dem Unterschied zwischen den reichen Bauern und der armen Familie – nur einmal, als ich half, das große Tor des Wohnhauses vom Bauernhof zu streichen. Grün, so wie es bei einem westfälischen Bauernhof üblich ist. Die beiden riesigen Flügeltüren, durch welche die Fruchtwagen und Strohladungen passten, und die kleine Tür in einem der Flügel, durch die man ging, wenn das Tor verschlossen war. Abends, als ich nach Hause kam, hatte ich für meine Arbeit nichts bekommen. Ich war traurig, denn ich sah, wie die Bauersfamilie in ihrer großen Küche um den Abendbrottisch saß, und ich hatte Hunger. Wie so oft ging ich hungrig nach Hause. Nach etwa einer Stunde klingelte es bei uns an der Haustür und der Bauernsohn, mein Freund, brachte uns einen Schinken. An diesem Abend aßen wir Schinken mit etwas Brot und die Welt war wieder in Ordnung!

Wir waren auch glücklich, wenn wir eine Woche Kartoffeln mit Spiegelei, die andere Woche Spiegelei mit Kartoffeln aßen, und dann in der nächsten Woche Kartoffelbrei mit Spiegelei und in der darauffolgenden Woche Bratkartoffeln mit Ei bekamen. Hunger hatten wir eigentlich immer. Ich sowieso und meinen Geschwistern erging es nicht besser. Wir lernten Dankbarkeit auf ganz natürlichem Weg. Zu unserer Tischkultur gehörte es, dass wir vor jedem Essen beteten. Als wir später in die Pubertät kamen, leierten wir das Tischgebet nur noch herunter. Da schlug meine Mutter vor, wir sollten es doch lassen, wenn es uns kein Anliegen mehr ist. Ob es das in der Tiefe des Glaubens jemals war, kann ich für meine Geschwister nicht beantworten, für mich gehörte es einfach dazu. Wir hörten auf zu beten. 14 Tage später baten wir meine Mutter, dass wir doch wieder beten wollten. „Warum?“ fragte sie. „Wir wissen sonst nicht so recht, wie wir mit dem Essen beginnen können!“ So beteten wir wieder, was ich bis zum heutigen Tag tue. Auch bei McDonald’s oder im feinsten Restaurant. Es ist mir wichtig, Gott für das zu danken, was so viele andere Menschen nicht haben. Ich weiß es aus eigener, schmerzlicher Erfahrung, dass die Nachkriegsgeneration sehr gehungert hat und dass sattwerden keine Selbstverständlichkeit war.

Anfang der 1950er-Jahre wurde ich eingeschult. Das Lernen fiel mir leicht und machte mir Spaß. Schönschreiben war meine Leidenschaft. Ein Mitschüler und meine Mutter waren für mich große Vorbilder darin. Ich hatte große Pläne und Träume, was ich einmal werden wollte. Pfarrer wollte ich werden. Mir gefielen der Talar und die würdevolle Bewegung darin. Lokomotivführer wollte ich auch werden, oder Lehrer oder Professor.

In „Betragen“ bekam ich im Abschlusszeugnis der Volksschule eine 3. Das war die Rache unseres Schulleiters, weil ich seinen Sohn verprügelt hatte. Ich war ein Kämpfer für die Gerechtigkeit. Mut hatte ich und war bereit, Ungerechtigkeiten an der Schule zu thematisieren. Einmal verprügelte ich den Sohn unseres Schulleiters, weil er die Noten der Schüler verraten hatte, bevor sie bekannt wurden. Ein anderes Mal beschwerte ich mich, dass wir ein Gewächshaus in der Schule für den botanischen Unterricht hatten und der Rektor seine eigenen Gurken darin züchtete. Ich hatte nie Angst zu sagen, was ich sagen wollte. Mit diesem Auftreten handelte ich mir manchen Stockhieb und manche Ohrfeige ein. Nur ein Lehrer in unserer Dorfschule erkannte meine schulischen Fähigkeiten. Er förderte mich mit seiner ermutigenden Art und machte aus mir jemanden, der gut lesen und schreiben konnte.

Eines Tages kam ich mit meiner Schwester Heidrun von der Schule. Wir hatten Hunger und wussten, dass es in der Küche einen verschlossenen Schrank gab, in dem Brot lag. Ich wusste auch, wo der Schlüssel war. Wir schauten uns zustimmend an und ich holte den Schlüssel. Dann schnitten wir zwei Scheiben ab und träufelten Maggi drauf. Bevor wir aßen beteten wir: „Komm Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Es war geklaut, aber es war auch gesegnet.

Dann kam das Ende des vierten Schuljahres für mich. Damals gab es nur die Volksschule mit 8 Jahren Schulzeit. Jetzt war die Zeit, auf die Realschule oder das Gymnasium zu wechseln. Mein tiefster Herzenswunsch war, aufs Gymnasium zu gehen, weil ich eines Tages studieren wollte. Das Problem war: Um aufs Gymnasium gehen zu dürfen, musste ich eine Prüfung machen. Ich ging zu meiner Mutter und bat sie darum, die Prüfung machen zu dürfen. Sie nahm mich auf den Schoß und hatte Tränen in den Augen. „Du darfst das gerne machen, aber du wirst die Prüfung nicht bestehen. Nicht weil du zu dumm bist, sondern weil wir zu arm sind. Zum Gymnasium gehen nur die Söhne von großen Bauern, von Rechtsanwälten, Ärzten und eben von allen, die Geld haben. Wir haben kein Geld.“ Ich durfte die Prüfung machen und eine Woche später war ich durchgefallen. Das hat einen bleibenden, wunden Punkt in meinem Leben hinterlassen: „Ich genüge nicht!“ Das war Futter für meinen Jähzorn. Am Ende waren es 8 Jahre Volksschule. Damit konnte ich alles werden, was ich nicht wollte.

Ja, wir waren arm, sehr arm. Meine Mutter musste mit 280 Mark im Monat auskommen. Für eine fünfköpfige Familie ist das sehr wenig. Immer am Anfang des Monats, wenn meine Mutter das Geld vom Amt holte, durfte eines der Kinder mit zum Einkaufen gehen, weil es nur für eines der Kinder für etwas Schokolade reichte. Sie sagte dann: „Aber sag es den anderen nicht!“ Sie wollte nicht, dass den anderen das Herz blutet. Jeder von uns wusste, was es bedeutete, wenn einer von uns mitgehen durfte, aber wir hatten gelernt, dankbar für den zu sein, der dran war. Armut war für uns nie ein Grund, nicht großzügig zu sein. Wir schenkten meiner Mutter große Sträuße von Wiesenblumen, und weil wir keine Blumenvasen hatten, waren sie auch in Einkochgläsern sehr schön. Sie freute sich immer, auch wenn hin und wieder eine Blume aus Nachbars Garten dabei war.

Wenn wir Kinder beim Bauern Geld durch unsere Mitarbeit bekamen, kauften wir eine Kleinigkeit für meine Mutter. Sie zeigte ihre Dankbarkeit auch für die Süßigkeiten, die sie uns später wieder zuschob. Wenn sie konnte, legte sie etwas Geld zur Seite, weil irgendwann Weihnachten kam. Am Heiligen Abend durften wir nicht ins Wohnzimmer, bis sie die Wunderkerzen am Baum entzündet hatte und mit einem Glöckchen läutete, um uns hereinzubitten. Mit großen Kinderaugen staunten wir über den schön geschmückten, mit Lametta behängten Baum, und unsere Augen suchten nach dem Päckchen, nach dem Namen darauf, der auf dem Päckchen stand. Sie waren aber so geschickt platziert, dass keiner erraten konnte, welches Päckchen für wen gedacht war.

Die Frömmigkeit meiner Mutter war nie bedrängend, aber sie wollte, dass wir verstanden, was wir feiern. Wir sangen Weihnachtslieder, und weil ich der Frömmste von uns Kindern war, durfte ich die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorlesen. Danach war endlich die Bescherung. Es war nie viel, aber wir hatten Freude und waren dankbar für alles, was wir bekamen. Meine Mutter bekam auch etwas. Vor allem unsere fröhlichen Kinderaugen und die vielen gebastelten Dinge und Zeichnungen, über die sie sich sichtbar freute. Dankbarkeit war das Lebenselixier meiner Mutter, und damit erzog sie uns zur Großzügigkeit.

Als ich mein erstes Geld verdiente, kaufte ich ihr zu Weihnachten eine dreiteilige Schlaraffia-Matratze. Das war damals das Beste, was ich bekommen konnte. Bis dahin lag sie auf einer dünnen, mit „Stroh“ gefüllten dreiteiligen Matratze, die ihr mehr Rückenschmerzen als Nachtruhe bereitete. Auch meine Geschwister kauften in diesem Jahr für meine Mutter Geschenke. Alles wurde auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt und ein Bettlaken darüber, damit niemand sehen oder erahnen konnte, was darunter lag. In diesem Jahr stand meine Mutter auf dem Flur und wir Kinder entzündeten die Wunderkerzen und läuteten. Dann kam sie herein und sah das Bettlaken. Ein liebevolles Strahlen ging über ihr Gesicht. Wir sangen in diesem Jahr noch zwei Lieder zusätzlich, und ich las die Weihnachtsgeschichte ganz langsam vor. Wir hatten meine Mutter so platziert, dass sie immer auf das Bettlaken schauen konnte. Wir hatten eine Riesenfreude, ihre erwartungsvollen Blicke zu sehen. Endlich war die Bescherung und wir hatten mehr Freude an der Freude meiner Mutter, als an den Geschenken für uns. Es war unsere Dankbarkeit für all das, was sie für uns getan hatte. Dann bekam jeder von uns einen Kuss, und vor Freude hatte sie Tränen in den Augen.

Jeder Schritt, den wir aus Dankbarkeit machen, führt uns zum Glücklichsein. Es war der glücklichste Heilige Abend in unserer Familie.

Ich war oft niedergeschlagen, hatte depressive Gefühle, weil ich mit meinem Jähzorn und meiner Wut nicht zurechtkam. Ich zog mich häufig zurück, las Bücher über Menschen, die ihr Leben gemeistert hatten, die Erfolg hatten und etwas in ihrem Leben bewirkten. Es waren Männer und Frauen, die durch Leid und Armut, über Hindernisse und Verfolgung zu Menschen wurden, von denen ich mich so weit entfernt fühlte. Ich wusste nicht, wie ich meine Gefühle in den Griff bekommen konnte. Ich war unglücklich und sehnte mich nach dem Glücklichsein und nach einem Freund, mit dem ich alles besprechen konnte. Mir fehlte der Vater, aber das wusste ich damals nicht.

Nicht alle Tage zwischen Neujahr und Weihnachten waren glücklich. Mein Jähzorn beeinflusste die Beziehung zu meinen Geschwistern. Einmal biss ich vor Wut meiner älteren Schwester fast den kleinen Finger ab. Tränen flossen und Wut machte sich breit. Trotzdem waren wir auch glücklich miteinander. Wir hatten das Glück, viel draußen in der Natur sein zu können. Gleich hinter unserem Haus war ein kleiner Wald und ein Bach lief am Rande des Ortes durch die Wiesen. Wir bauten uns Hütten im Wald und stauten den Bach auf, um Kaulquappen zu fangen. In Einmachgläsern nahmen wir sie mit nach Hause und beobachteten sie, bis sie kleine Frösche wurden. Wir hatten keine Angst vor Dreck und kleinen Tieren. Wenn wir einen Apfel fanden, der etwas dreckig war, haben wir draufgespuckt und ihn an der Hose oder am Kleid abgerieben und gegessen. Das kann ich bis heute noch. „Dreck scheuert den Magen“, war die Antwort meiner Mutter.

Mein Bruder fand eines Tages ein Nest mit Mäusen. Er steckte die kleinen Mäuse in die Hosentasche und ging nach Hause. Dann bat er meine Mutter, in seine Hosentasche zu fassen. Sie tat das ohne jede Vorwarnung und tat das nach einem Schreckensschrei nie wieder.

Vier Kinder sind ein Geschenk des Himmels, auch wenn sie die Hölle auf Erden zelebrieren können. Meine Mutter war eine sehr impulsive Frau. Es flogen auch Gegenstände durch die Luft in Richtung Kind. Spätestens dann wussten wir, dass es Zeit für Frieden war. Das war natürlich nicht einfach. Meine Mutter warnte uns: „Wenn es jetzt nicht aufhört, dann knallt’s!“ Und dann hat es geknallt und alles war ruhig. Als wir älter wurden, hielten wir die Hand meiner Mutter fest, damit sie nicht schlagen konnte. Dann schrie sie, damit unsere tauben Ohren hörten, was sie sagte. Wir haben dann gebettelt: „Mutti, schrei doch nicht so laut, was sollen die Nachbarn sagen?“ Antwort der verzweifelten Mutter: „Das ist mir scheißegal, was die Nachbarn sagen, seid jetzt endlich friedlich!“ Wir gaben uns dann etwas Mühe, den Streit durch Auseinandergehen zu beenden.

Mein Bruder und meine ältere Schwester waren ein Team, meine jüngere Schwester und ich das andere. Gerade mit meiner jüngeren Schwester verband mich eine tiefe Herzensbeziehung, die bis heute hält. Aber mit mir war es nicht leicht zu leben. Ging ich als Kleinkind mit zum Einkaufen, wollte ich laufen. Auf dem Rückweg, wenn der Kinderwagen voll mit Lebensmitteln war, wollte ich nicht laufen. Ich schrie und machte meiner Wut dadurch Luft, dass ich mich auf dem Boden wälzte und nicht zu beruhigen war. Der Jähzorn in mir trieb Blüten! In ihrer Not ging meine Mutter zu unserem Hausarzt und holte sich Rat. Er empfahl ihr, mir den Hintern zu versohlen, wenn ich wieder so einen Anfall bekäme. Bei meinem nächsten Tobsuchtsanfall nahm sie unseren Handfeger und schlug auf mich ein. Einmal schlug sie daneben und der Stiel brach ab. Diesen Handfeger hatten wir noch, als ich später meine eigenen Wege ging. Ich blieb ein cholerischer, jähzorniger Mensch!

Weil 280 Mark nie ausreichten, hat meine Mutter alle Arbeiten angenommen, die ihr angeboten wurden. Bedingung war, dass sie immer ein Kind mitnehmen konnte. Sie arbeitete als Sekretärin, Putzfrau und flickte mit ihrer auf Raten gekauften Pfaff-Nähmaschine Wäsche.

Das Buch, das mein Leben prägen sollte

Als Elfjähriger wollte ich Mönch werden. Oder Pfarrer? Das Bäffchen und der schwarze Talar waren so würdevoll!

Dass ich Mönch werden wollte, begann mit einem Buch, das meine Mutter mir zu lesen gegeben hatte: „Sebastian“. Die Lebensgeschichte des Sebastian Franck. Sebastian war Sohn eines Webers in Donauwörth. Sein Vater wollte nicht, dass dieser Sohn an der Weberkrankheit stirbt und gab ihn in das nahegelegene Kloster. Hier wurde er Mönch und studierte Theologie. Als er von Luther hörte, schloss er sich dieser Bewegung an und verließ das Klosterleben. Er entwickelte ein eigenes Welt- und Geschichtsbild und stand für eine ungewöhnlich radikale Ablehnung jeder Form von religiöser Bevormundung ein. Als jemand, der den konfessionellen Dogmatismus kennengelernt hatte, trat er erbittert für die Glaubenskämpfe der Reformationszeit ein. Für ihn war die Wurzel allen Übels in der Kirche der konfessionelle Dogmatismus. Er machte das damalige Kirchenwesen dafür verantwortlich. Er löste sich von jeder kirchlichen Organisation und plädierte für Unparteilichkeit. Die kirchlichen Institutionen waren für ihn die Ursache der korrupten Seite des Christentums. Er kämpfte sein Leben lang für die Freiheit des Christenmenschen ohne kirchlichen Dogmatismus.

Ich verinnerlichte die Geschichte dieses Mannes tief in meinem Herzen. Sein Weg in das Kloster und die Möglichkeit, Theologe zu werden, berührten mein Herz. Heute erkenne ich in ihm die andere Seite, die mich immer wieder zu einem Verfechter der brüderlichen Liebe aller Christen ohne den kirchlichen Traditionalismus macht. Aber jetzt wollte ich erst einmal Mönch werden!

Ich habe mich oft gefragt, was mich mit Sebastian Frank verband und warum er mein Leben so geprägt hat. Es sind zwei ganz unterschiedliche Phasen.

Die erste Phase war die Faszination vom Mönchstum. Ich hatte die Idealvorstellung, dass Mönche in ihrer Lebensart ganz nah bei Gott sind. Das ist nicht einmal eine falsche Vorstellung, auch wenn es nicht für alle Mönche und in allen Zeiten so zutrifft. Die täglichen Stundengebete, das Lesen theologischer Bücher und Bildung passten in meine Vorstellungen. Auch die Gesänge, die Ordnung, die Liturgie und die Schönheit eines Gottesdienstes gehörten zu meinen Idealvorstellungen. Erst im Laufe der Zeit, nachdem ich selbst Mönch geworden war, erlebte ich etwas ganz anderes. Es geht nie um das Äußere in der Beziehung zu Gott. Es geht immer um das Herz und die Hingabe an ihn. Es geht um das Wissen, dass der Mensch allein aus Gnade gerettet ist. Wenn die äußeren Formen und Strukturen einer Kirche wichtiger werden als die Hingabe an Gott, dann läuft etwas schief. Genau das hat Sebastian Frank erlebt und genau das ist der Grund, weshalb diese Strukturen für mich zum Feind wurden. Das war die zweite Phase aus der Erkenntnis des Buches, das mich zum Mönch werden ließ.