Am Ende Paris - Tanja Kaiser - E-Book
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Am Ende Paris E-Book

Tanja Kaiser

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Beschreibung

Nadja hatte sich eine romantische Liebe mit Paul erhofft, doch das Schicksal hat etwas anderes für sie bereit: eine tiefe Freundschaft. Zugeben würde sie das niemals – welche Frau würde das schon? Inmitten dieser ungeplanten Wendung trifft sie auf Adrians ungezügelten Charme. Er ist Pauls unverschämter, ungeschliffener Bruder, der sie konstant an den Rand der Verzweiflung treibt. Noch nie hat Nadja jemanden erlebt, der so anders, so wild und unberechenbar ist – und der sie trotz allem zum Lachen bringt.

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Kapitel 2:
Kapitel 3:
Kapitel 4:
Kapitel 5:
Kapitel 6:
Kapitel 7:
Kapitel 8:
Kapitel 9:
Kapitel 10:
Kapitel 11:
Kapitel 12:
Kapitel 13:
Kapitel 14:
Kapitel 15:
Kapitel 16:
Kapitel 17:
Kapitel 18:
Kapitel 19:
Kapitel 20:
Kapitel 21:
Kapitel 22:
Kapitel 23:
Kapitel 24:
Kapitel 25:
Kapitel 26:
Kapitel 27:
Kapitel 28:
Kapitel 29:
Kapitel 30:
Kapitel 31:
Kapitel 32:
Kapitel 33:
Kapitel 34:
Kapitel 35:
Kapitel 36:
Kapitel 37:
Kapitel 38:
Kapitel 39:
Kapitel 40:
Kapitel 41:
Kapitel 42:
Kapitel 43:
Kapitel 44:
Kapitel 45:
Kapitel 46:
Kapitel 47:
Kapitel 48:
Kapitel 49:
Kapitel 50:
Kapitel 51:
Kapitel 52:
Kapitel 53:
Kapitel 54:
Kapitel 55:
Kapitel 56:
Kapitel 57:
Nachwort:

Kapitel 1:

„Du bist so ein Arsch!“

Die Tasse landete klirrend an der Küchenwand und ich griff nach dem nächstbesten Teil in meiner Nähe.

Auch wenn grobe Gewalt eigentlich nicht unbedingt zu meinen vordergründigen Eigenschaften gehörten, so empfand ich die Scherben auf dem Boden doch als wahnsinnig erleichternd.

„Du spinnst. Hör auf die Einrichtung zu zerdeppern!“

Er hob die Hände und sah dabei irgendwie hilflos aus. Vermutlich hatte er nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet, was ich ihm nicht wirklich vorwerfen konnte, aber was hatte er gedacht, wie ich sonst reagieren sollte?!

„Das ist meine Einrichtung, und ich zerdepper hier so viel, wie es mir passt!“

Eine Blumenvase landete neben ihm an der Wand und er duckte sich erschrocken vor mir in Deckung.

„Nadja, es reicht!“

Er riss mir das nächste Teil aus der Hand und hielt meine Handgelenke fest, was mich nur noch mehr auf die Palme brachte. Ich wollte mich aufregen!

Ich wollte mich aufregen, Dinge zerstören, und mich danach besser fühlen!

„Lass mich los!“

Ich zerrte an ihm herum und wollte frei kommen, aber seine Hände lagen wie Schraubstöcke um meine Gelenke.

„Jetzt beruhig dich doch endlich! Das ist völlig sinnlos!“

Beruhigen? Das war das Letzte, was ich aktuell wollte. Ich zappelte weiter.

„Lass mich los!“

„Nein, jetzt reicht es! Hör auf!“

Er war mittlerweile auch auf hundertachtzig, seine Stimme wurde immer lauter, und tief in mir wunderte ich mich darüber. Hörte ich dort so etwas wie Dominanz?

Wie merkwürdig, er war doch sonst so ein ruhiger Zeitgenosse.

Er klemmte mich zwischen Küchentisch und sich selbst ein, und hielt noch immer meine Hände fest umschlungen, während ich wie eine Geistesgestörte versuchte, mich aus seinem Klammergriff zu lösen.

Erfolglos zerrte ich an meinen Armen und zappelte, doch es brachte absolut gar nichts.

Nie im Leben hatte ich ihm eine solche Kraft zugetraut, und ein wenig imponierte es mir. Vielleicht war er doch ein richtiger Mann, und ich hatte ihn einfach völlig falsch eingeschätzt.

In meinen Augen war er ein Weichei gewesen, irgendwie zu passiv und auch langweilig, und so wie jetzt gerade, hatte ich ihn nie erlebt.

„Jetzt hör auf mit dem Scheiß und beruhige dich. Wir müssen das in Ruhe klären.“ Seine Stimme war etwas sanfter, und ich versuchte mit aller Macht, mich etwas zu herunterzuleveln. Es gelang mir nicht.

„Du hast es mir nicht gesagt!“

Ich schrie ihn an und war selbst über das Kreischen meiner Stimme erschrocken. Warum genau war ich so wütend?

„Ja, ich hab es dir nicht gesagt, weil ich genau wusste, dass das hier passiert.“

Er blickte mich an und mir war bewusst, dass er recht hatte. Das hier war typisch für mich, auch wenn ich es nicht gerne zugab.

Ich war nicht für Gewalt, aber ich war für Dramen. Ich regte mich manchmal zu gerne auf, brüllte dann rum, und so manches Mal war ich mir dabei selbst etwas dumm vorgekommen. Trotzdem fühlte ich mich besser, wenn ich es nach draußen ließ, und tat es deshalb immer wieder.

Selbst dann, wenn ich selbst wusste, dass es absolut nichts bringen würde.

Hatte es nie, würde es nie.

Ich hörte auf mich zu wehren und fing unvermittelt an zu schniefen. Das hier war absolut furchtbar.

„Du verlässt mich!“

Zwischen zwei Schniefern quiekte ich den Vorwurf. Es klang etwas theatralisch, und selbst mir war klar, dass er es auch so empfinden würde.

„Das ist eine riesen Chance, Nadja. Das musst du doch einsehen.“

Ja, das war sie. Er hatte ein Angebot bekommen, das wohl niemand ablehnen konnte. Beruflich gesehen würde es ihn in den Olymp schießen, und er würde deutlich mehr verdienen. Er würde die Karriereleiter eine, ach was, zehn Stufen auf einmal hoch fallen. 250km weit weg von mir.

„Aber was wird dann aus uns?“

Ich sah ihn hoffnungsvoll an, wohl wissend, dass es „uns“ dann sicher nicht mehr geben würde.

„Ach komm, wir sind doch erst ein paar Monate zusammen. Du wirst hier dein Leben nicht aufgeben, und ich werde diese Chance kein zweites Mal bekommen.“

Ich widerstand dem dringenden Impuls ihn zu schlagen.

„So wichtig war ich dir also?“

„Nadja, werd nicht kindisch. Es war schön mit dir, aber es geht hier um den Rest meines Lebens!“

Das er nicht mal die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, dass ich auch Teil vom Rest seines Lebens sein könnte, machte mich rasend. Er hätte mich doch zumindest fragen können, ob ich ihn begleiten würde!

Sicher hätte ich das nicht getan, aber er hätte doch wenigstens fragen können!

Manchmal ging es im Leben gar nicht darum, es war völlig klar, dass ich mein Zuhause und mein Leben nicht für ihn aufgeben würde, aber er hätte mich trotzdem fragen können!

Ich ließ die Hände sinken und er lockerte den Schraubstock um meine Handgelenke. Das war es also.

„Ich werd jetzt meine Sachen packen und gehen. Wir telefonieren, wenn du dich etwas beruhigt hast.“

Er ließ meine Hände nun endgültig los und blickte mich weiter an.

„Ich will nicht telefonieren!“

Ich schniefte weiter und kam mir total kindisch vor. Ich wollte nicht betteln, aber es hörte sich irgendwie so an.

„Hör zu, ich denke wir lassen das jetzt. Ich geh jetzt, und wenn du nochmal darüber sprechen möchtest, rufst du mich an, okay?“

Er war genervt, das hörte ich.

„Okay.“

Was sollte ich noch sagen? Offensichtlich hatte er sich gut auf diese Situation vorbereitet. Im Gegensatz zu mir.

War ich wirklich so einschätzbar? War ihm vorher schon klar gewesen, dass ich so ausrasten würde?

Dafür muss man nicht studiert haben, antwortete mein Unterbewusstsein.

Ja, ich war etwas impulsiv. Aber waren das nicht alle Frauen?

Ich hörte ihn im Nebenzimmer ein paar Schränke öffnen, Schubladen gingen auf und zu. Er ging wirklich.

Mein Hirn war nicht dazu fähig, das hier irgendwie zu verarbeiten, und ich kramte nach einem Taschentuch in meiner Hosentasche.

Das hier war eindeutig eine Niederlage.

Wir waren nicht sehr lange zusammen gewesen, vier Monate vielleicht. Er hatte seine Wohnung, ich meine, und eigentlich hatte mir das gereicht.

Trotzdem war ich der Meinung gewesen, es liefe ganz gut zwischen uns, und seine plötzliche Ansage hatte mich völlig aus der Bahn geworfen.

In seinem Beruf als Programmierer war er erfolgreich, offensichtlich erfolgreicher als mir bewusst gewesen war, und ich fragte mich zum ersten Mal, ob ich ihn unterschätzt hatte.

Als ich ihn das erste Mal getroffen hatte, in einer Bar in der Innenstadt, hatte ich den stillen, etwas nerdigen Typ fast übersehen. Aber im Verlauf des Abends hatte er mich zum Lachen gebracht und nach ein paar Tagen waren wir ein Paar geworden. Er war unauffällig, aber irgendwie auch ganz süß, mit seiner Brille und den dunkelblonden Haaren, ich mochte ihn einfach.

Er schien die Art von Mann zu sein, die dir nicht das Herz brachen. Glaubte ich zumindest.

Eigentlich ein langweiliger Typ, aber neben ihm konnte ich glänzen, und er war nicht anstrengend. Ben war nie der Mittelpunkt der Veranstaltung, er gab keine Kommentare, und er stellte keine Forderungen.

Eigentlich der perfekte Mann, wie ich schon nach sehr kurzer Zeit festgestellt hatte. Auch wenn er meinem Geschmack nur mäßig entsprach, und auch die Gefühle für ihn nur halbwegs brauchbar wirkten, so schien er mir doch passend.

Was ich brauchte, war jemand, der da war und mich nicht aufbrauchte. Davon hatte ich in der Vergangenheit genug Jungs gehabt, die allesamt anstrengend und vor allem aufreibend gewesen waren.

Aber er war nicht so. Er war Gleichklang, Zustimmung und Abende mit Serien auf der Couch. Jemand, den man ohne Probleme mit zu seinen Freunden nehmen konnte, weil er nie negativ auffiel.

Ich hatte mich an ihn gewöhnt, und der Gedanke, dass er jetzt einfach gehen könnte, war unerträglich.

Er war so ganz anders als ich, die immer an der Anschlagsgrenze lebte, und jetzt war es vorbei, weil er es beendet hatte. Wer hätte das gedacht.

Ich hörte die Türe im Flur zufallen. Er war weg und ich wieder alleine.

Kapitel 2:

Ich drehte das Handy in meiner Hand und war in Versuchung ihn anzurufen. Irgendwie fehlte er mir.

Obwohl wir nicht lange zusammen gewesen waren, vermisste ich ihn doch sehr.

Wir hatten seit vier Wochen nicht miteinander gesprochen, was sich als äußerst schwierig erwiesen hatte. Mehr als hundert Mal hatte ich darüber nachgedacht, ihn anzurufen, und jedes Mal hatte mein Stolz es verhindert.

Dass ich jemanden wie ihn vermissen könnte, hatte ich nicht mal ansatzweise geahnt.

Immer war ich die antreibende Kraft gewesen, nie hatte ich eingelenkt, und immer hatte ich geglaubt, er sei der derjenige, der das schwache Glied in der Kette sein würde.

Wie sehr ich mich doch geirrt hatte.

Die ersten beiden Wochen hatte ich damit verbracht, stinkwütend auf ihn zu sein, die anderen beiden damit, in Selbstmitleid zu zerfließen. Ich hatte mich in meiner Freizeit mit meiner Wolldecke auf der Couch eingeigelt, und eigentlich schon beschlossen, nie wieder aufzustehen.

Ich hatte einfach kein Glück. Nicht mal mit dem Computernerd.

Das war eigentlich das Schlimmste daran. Nicht mal jemanden wie ihn konnte ich an mich binden. Nicht mal das.

Wie gemein diese Meinung über ihn eigentlich war, verdrängte ich dabei.

Es ärgerte mich maßlos, dass er die Möglichkeit mich mitzunehmen, eindeutig nicht mal in Betracht gezogen hatte.

Das ließ das Ganze für mich fast wie eine Flucht wirken, und kratze an meinem Ego auf eine Art, die ich vorher nie so erlebt hatte. War ich wirklich so schlimm?

Ben war in meinen Augen der perfekte Partner gewesen. Er gab keine Widerworte, war ruhig und ausgeglichen, und was immer ich vorgeschlagen hatte, es war ihm recht gewesen. Er hatte keine Ansprüche an mich gestellt, zumindest hatte ich das geglaubt, und war mir nicht auf den Geist gegangen.

Jede meiner Eskapaden hatte er ertragen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, und hatte danach das Chaos hinter mir beseitigt. Ich kochte, er räumte danach die Küche auf. Ich ließ den Staub von Tagen auf dem Teppich, er saugte.

Genau so einen Mann hatte ich gebraucht, brauchte ihn eigentlich noch immer, nur er schien keinen Gedanken mehr an mich zu verschwenden.

Die ersten Tage hatte ich noch fest daran geglaubt, er würde irgendwann wieder vor meiner Tür auftauchen. Oder wenigstens auf anderem Wege Kontakt aufnehmen.

Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass er ohne mich einfach sein Leben weiterleben würde. Warum auch? Es war ihm gut mit mir gegangen, zumindest sah ich das so, und eigentlich hatte es ihm an nichts gefehlt.

Aus irgendwelchen Gründen war ich der Meinung gewesen, er hätte riesen Glück gehabt, das gerade ich ihn gewählt hatte.

Schließlich war ich hier diejenige gewesen, der Männer auf der Straße hinterher sahen.

Und jetzt war er weg.

Mit Anfang dreißig war ich wieder einmal allein. Wie andere das machten, war mir ein Rätsel. Ich war nie auch nur annähernd in die Nähe der Gründung einer Familie gekommen, und nie hatten meine Beziehungen länger als ein paar Monate gehalten.

Ich selbst war der Meinung, dass es immer an den Männern gelegen hatte, aber so langsam wurde selbst mir klar, dass dem wohl nicht so war.

Ich blickte auf den kleinen Hund neben mir auf der Couch, der in der letzten Woche eindeutig zu kurz gekommen war.

Der kleine schwarz-weiße Mischling sollte eigentlich bei mir Urlaub machen, aber bis jetzt hatte ich mich nicht wirklich intensiv um ihn gekümmert. Ich hatte ihn gefüttert, war mit ihm Gassi gegangen, ja, aber viel mehr auch nicht.

Im Grunde hatte ich auch nicht mal den blassesten Schimmer, was Hunde gerne taten. Aber was auch immer es sein würde, ich hatte nichts davon geliefert.

Meine Freundin Jessica hatte ihn mir praktisch aufgedrängt. Zum einen, weil sie niemanden hatte, der ihn über ihren Urlaub hinweg nehmen konnte, zum anderen, weil sie es für eine gute Idee hielt, um mich aus meiner Phase des Selbstmitleids zu befreien. Also war Jessica nun auf Malaga und der winzige Hund saß neben mir.

Der kleine Kerl war eigentlich ganz niedlich, auch wenn ich eigentlich nicht viel mit Handtaschenhunden anfangen konnte, aber auch das war ja nicht wirklich seine Schuld.

„Jetzt komm du bloß nicht auch noch auf die Idee, mich zu verlassen.“

Der Hund legte den Kopf schief, als wolle er mir damit sagen: „Wohin denn?“

Was für ein Elend. Wie tief war ich eigentlich gesunken, hier in Selbstmitleid zu zerfließen und still darauf zu hoffen, er würde irgendwann auf Knien zu mir zurückkehren?

Dass ich jetzt schon einen Hund zu meinem Gesprächspartner machte, sprach eindeutig für fehlende Sozialkontakte. Seit Wochen schon war ich weder ausgegangen noch sonst etwas, und so langsam glaubte ich selbst, dass ich in nächster Zeit den Verstand verlieren würde.

Das ganze Herumgehocke, das viele Nachdenken, was mich am Ende keinen Schritt weitergebracht hatte. Er war fertig mit mir, er hatte es mir mehr als deutlich gezeigt, und ich würde sicher nicht auf Knien darum bitten, dass er meinem Leben neuen Sinn geben sollte.

Wenn er tatsächlich glaubte, am anderen Ende der Welt jemand besseres zu finden, dann sollte er doch. Sollte er doch weggehen, ein neues Leben beginnen, und auch eine andere Frau finden.

Ich jedenfalls würde damit abschließen, endgültig, und jemandem wie ihm keine Träne mehr nachweinen.

Ich beschloss, Ben eine letzte SMS zu schreiben, eine klärende SMS, um endlich mit all dem Abschließen zu können. Im Grunde war nicht sicher, ob mich ein Telefonat mit ihm nicht doch wieder auf Palme bringen würde, und so schien mir dieser Weg doch sinnvoller.

Nach Wochen ohne einen einzigen Ton, in denen wir weder geschrieben noch telefoniert hatten, schien einzig und alleine ich gelitten zu haben. Nicht mal eine betrunkene SMS von ihm hatte mich erreicht, und auch das kratze an meinem Seelenleben.

Noch vor ein paar Monaten war es anders gewesen. Nach jedem noch so kleinen Streit hatte er gelitten, während ich kaum darüber nachgedacht hatte. Betrunken hatte er mir dann liebe Sachen geschrieben, mir immer wieder versichert, wie wichtig ich ihm war, und ich hatte mich in seiner Bewunderung und seinem Kämpfergeist gesonnt.

Ja, ich war es wert, dass man um mich kämpfte!

Auf diese Stufe würde ich mich jedoch nie herabbegeben, so verzweifelt würde ich nie sein, und ganz sicher würde ich mir diese Blöße einfach nicht geben.

Hi

Sekunden später folgte die Antwort, was mich nicht wunderte. Er, dem das Handy praktisch an der Hand festgewachsen war, hatte immer sofort auf jede meiner Nachrichten reagiert. Genugtuung stieg in mir auf. Ja, er reagierte sofort, und ich wertete es als gutes Zeichen.

Vielleicht wartete er seit Tagen auf ein Lebenszeichen von mir, und ich war hier nicht die Einzige, die nächtelang auf ein dunkles Display gestarrt hatte.

Schön, dass du dich meldest.

Ich straffte die Schultern. Das hörte sich fast so an, als hätte er mich auch vermisst. Ein Funken Hoffnung machte sich in mir breit, auch wenn ich ihm Grunde schon wusste, dass es kein Zurück mehr geben würde. Aber es würde mich trösten, wenn es ihm wenigstens etwas schlecht wegen mir gehen würde.

Wie geht es dir?

Toll, Hamburg ist spitze!

Ich seufzte. Es ging ihm also gut. Im Gegensatz zu mir.

Ich überlegte, ob ich ihm noch weiter schreiben sollte, entschied mich aber dagegen. Ich hätte nichts Passendes antworten können, und ich wollte mir nicht die Blöße geben, ihm zu schreiben, dass es mir schlecht ging.

Das es dabei eher um mein Ego als um ihn ging, gestand ich mir nicht ein.

Er hatte keine Frage gestellt, nichts geschrieben, an das ich hätte anknüpfen können, also tat ich es auch nicht. Auf keinen Fall wollte ich verzweifelt klingen, schon gar nicht, als wolle ich mit aller Gewalt ein Gespräch beginnen, deshalb legte ich das Handy zur Seite. Das war eine miese Idee gewesen, ich hatte diesen ersten Schritt gar nicht machen wollen. Ich hatte nicht einknicken wollen, schon gar nicht ihn wissen lassen, dass ich noch immer an ihn dachte.

Alles, was ich jetzt hätte noch schreiben können, hätte genau darauf hingewiesen, und verdient hatte er das nicht.

Also würde ich einfach nicht antworten, und ihn einfach mit der Frage nach dem „warum“ zurücklassen.

Vielleicht merkte er dann, wie dämlich seine Antwort gewesen war und wie wenig man darauf reagieren konnte.

Der kleine Hund schnaubte und sah sehnsüchtig zum Fenster.

„Musst du schon wieder?“

Er sah mich an und hopste dann von der Couch.

„Wie kann ein so kleiner Hund so oft müssen?“

Er legte den Kopf schief.

Ich stand mühevoll von meinem Lager der letzten Wochen auf und ging ins Bad. Meine Höhle hatte ich nur für ihn überhaupt verlassen, zumindest dazu hatte er mich gebracht, und ansonsten hatte ich ihn praktisch ignoriert.

Wie man wirklich mit einem Hund umging, davon hatte ich keine Ahnung, und eigentlich hatte ich auch wirklich andere Sorgen.

Selbst zum Einkaufen hatte mir die Energie gefehlt, und ich hatte die meiste Zeit von Tütensuppen und den Resten meiner Schränke gelebt. Warum ich überhaupt Urlaub genommen hatte, verstand ich selbst nicht wirklich. Sicher wäre es mir besser ergangen, wenn ich weiter jeden Tag zur Arbeit gegangen wäre. Ein bisschen Alltag, der Druck, den ein Job eben mit sich brachte, all das hätte mir gutgetan.

Aber ich, dumm und dämlich, hätte Urlaub genommen, und die letzten zwei Wochen komplett auf der Couch festgeklebt. Die ersten beiden Wochen hatte ich funktioniert, meine Wut hatte mich angetrieben, aber danach war ich fast in Schockstarre gefallen.

Ich hatte mich gefühlt, als sei mein Leben komplett zum Stillstand gekommen, und langsam aber sicher hatte sich ungeahnte Trauer breitgemacht.

Schon beim ersten Anzeichen von Tränen hatte ich um Urlaub gebeten, ihn erstaunlicherweise auch erhalten, und mich danach einfach fallenlassen.

Fallenlassen in meine Trauer, mein Selbstmitleid, und zuletzt auch in meine Faulheit. Anstatt ihm zu schreiben, ihm zu sagen, was ich wirklich empfand, hatte ich nichts getan. Absolut gar nichts.

Und jetzt wunderte ich mich, warum es ihm besser ging als mir. Was für ein Hohn.

Im Spiegel sah ich mein blasses, müdes Gesicht, umrahmt von traurigen blonden Strähnen. Wie konnte man sich nur so gehenlassen?

Ich hatte mich tatsächlich sehr wenig um mich selbst gekümmert in den letzten Wochen. Warum auch? Es gab niemanden mehr, den es interessiert hätte.

Ich war immer sehr eitel gewesen, es war mir wichtig, wie ich auf Menschen wirkte. Allerdings musste ich auch nicht sehr viel dafür tun, es war mir immer leicht gefallen, die Menschen für mich zu begeistern. Vor allem Männer.

Auch das war mir zum Verhängnis geworden, denn ich hatte einfach geglaubt, dass ich für einen Typen wie Ben ein Geschenk gewesen war. Eins, dass er ohne meine Aufopferung nie erhalten hätte.

Wie dämlich das war, das war mir nun selbst klar. Selbst jemand wie er, hatte keinen Grund, sich so weit unter Wert zu verkaufen, und sich von jemandem wie mir wie ein Schoßhund behandeln zu lassen.

Auch das war mir erst in der letzten Woche wirklich bewusst geworden, und machte einen großen Teil meines Kummers aus.

Ich hatte ihn rumgeschubst, ihn bevormundet, und nie wirklich ernst genommen. Weil ich die Hübsche war, der Magnet in der Masse, und er der unscheinbare Computernerd. Automatisch war ich davon ausgegangen, dass ich der Diamant an seinem Finger sein würde, und er mir auf ewig dankbar sein müsste, dass ich mich gerade für ihn entschieden hatte.

Am Ende jedoch musste ich mir eingestehen, dass er viel eher mein Anker gewesen war, in einem Leben, in dem ich alleine kaum klar kam.

Er war es gewesen, der all die komplizierten Dinge geregelt hatte, er war es auch, der Ordnung in mein Chaos gebracht hatte.

In den wenigen Monaten hatte ich auch das als legitim angesehen, immerhin konnte er dafür mit mir angeben, aber anscheinend wollte er das gar nicht.

Warum sonst hatte er sich sonst so einfach von mir trennen können, ohne wirklich zu leiden? War er vielleicht sogar froh darüber, mich so einfach loswerden zu können?

Lustlos band ich meine Haare zu einem Zopf. Das musste reichen.

Das war immerhin mehr, als in den letzten Wochen, und mehr, als zu dem ich eigentlich in der Lage war. Irgendwann würde ich wieder duschen, mich zurechtmachen, und irgendwann danach, würde ich vielleicht auch wieder ich selbst sein.

Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann wieder.

Das ramponierte Ich, was jetzt eindeutig lang genug die Couch verunstaltet hatte, würde weichen müssen. Das Leben ging weiter, mit oder ohne ihn, und schlussendlich wusste ich doch selbst: Ben zu mögen, war einfach nicht genug, um all das zu rechtfertigen.

Von Anfang an hatte ich keine Liebe empfunden, höchstens Sympathie, und warum es mich trotzdem so fertig machte, verstand ich selbst nicht. War ich so selbstsüchtig, so auf mich selbst fixiert, dass ich diese Niederlage einfach nicht verkraften konnte?

Ich tappte in den Flur, um meine Schuhe anzuziehen, und der kleine Hund hüpfte aufgeregt auf dem Teppich herum. Für ihn war das ein Highlight. Immerhin.

Nachdem ich mir meine Jacke übergezogen hatte, griff ich nach der Leine neben der Tür. Die Welt da draußen musste ja auch irgendwann wieder die Meinige sein.

„Komm, Cujo!“

Kapitel 3:

Ich lief mit dem Hund durch die Unterführung hinter dem Haus, und praktisch zeitgleich verfluchte ich ihn.

Unverständlich, warum mache Leute es so feierten, dass ein Hund sie bei Wind und Wetter nach draußen zwang. Für mich gehörte da eine gehörige Portion Selbstgeißelung dazu, denn erfrischend war das nun wirklich nicht.

Draußen zu sein fühlte sich schrecklich an, wie auch schon in den letzten Tagen, und auch das Wetter war alles andere als einladend.

Es war einfach zu windig, um auch nur halbwegs erträglich zu sein, und ich zog die offensichtlich zu dünn gewählte Jacke enger um mich.

Warum Leute Lobgesänge über Hunde sangen, verstand ich immer weniger. Warum war jemand froh darüber, bei Wind und Wetter in der Kälte herum zu laufen? Was daran war erstrebenswert?

Grundsätzlich mochte ich frische Luft, wenn das Wetter gut war. Ich mochte Spaziergänge, hielt mich gerne draußen auf, aber eben nur, wenn ich nicht von Wind und Regen genervt wurde.

Das Haus, in dem ich seit Jahren lebte, lag nah am Wasser, etwas das mir immer sehr wichtig gewesen war. Mein ganzes Leben lang hatte ich immer nah an Flüssen gelebt, und ich konnte mir nicht vorstellen, jemals anders zu leben.

Ich liebte das Wasser, und die Freiheit, die ich in seiner Nähe empfand.

Manchmal fragte ich mich, ob es nur mir so ging, oder ob Leute auf einem Berg ähnlich empfanden. Wenn man weit oben wohnte, würde man dann ihm Tal auch zurechtkommen?

Ich jedenfalls hatte es nicht mal drei Monate ohne Wasser ausgehalten, und mir sofort wieder eine Wohnung in der Nähe davon gesucht. Ein äußerst teurer Ausflug, den ich sicher nicht wiederholen würde.

Schon hinter der Unterführung sah ich das Ufer, und ich befreite Cujo von seiner Leine. Dieser nutze die Gelegenheit sofort, um einige Meter vorzupreschen und sich umzusehen. Er rannte am Straßenrand entlang, die Nase dicht am Boden, und seine winzigen Pfoten klackerten leise auf dem Asphalt.

„Zeitunglesen“, wie Jessica es nannte.

Der Austausch mit all den anderen Hunden, die vor ihm genau diese Strecke gelaufen waren, und mir schwante, dass er über das aktuelle Zeitgeschehen vermutlich besser informiert war als ich.

Es ging kaum voran, und trotz meiner Rufe ignorierte mich der Hund völlig ungeniert. Übel nehmen konnte ich es ihm nicht, immerhin hatte ich ihn ebenfalls für eine sehr lange Zeit ignoriert, und ich verlagerte mein Gewicht vom einen Bein auf das andere.

Zentimeter um Zentimeter kämpften wir uns die Straße entlang, und noch immer machte der Hund keine Anstalten von mir Notiz zu nehmen.

Er machte sein Ding, ich machte meins. Eine Routine, die wir in den letzten Tagen offenbar so gefestigt hatten.

Was ich tat, ob ich überhaupt noch da war, schien ihn absolut nicht zu interessieren, und selbst mein Pfeifen, ließ ihn kaum nach oben blicken.

Stattdessen beschnüffelte er jeden Grashalm, jedes Blatt, und begann irgendwann wie verrückt am Seitenrand des Gehwegs zu buddeln.

Die Brocken flogen im hohen Bogen hinter ihn, und ich wich dem Schwall aus brauner Erde aus. Sicher hatte er eine Maus entdeckt, die nun panisch versuchte, in ihren Bau unter der Erde zu flüchten.

Vielleicht hatte der doch mehr Hund in sich, als ich gedacht hatte. Von Hunden wie ihm, winzig und eigentlich für eine Tasche gedacht, hatte ich derartige Anfälle nun wirklich nicht erwartet, und ein wenig versöhnte ich mich mit Cujo. Immerhin hatte er Instinkte, und immerhin schien zumindest er Spaß an all dem zu haben.

Wenigstens einer von uns, würde diesen Ausflug als Erfolg verbuchen können.

Ich blickte auf das Wasser und die Spiegelung des Lichts auf seiner Oberfläche.

Wieder einmal wurde mir bewusst, warum andere Menschen hier Urlaub machten. Der Rhein und die Vielzahl an Bergen, die ihn auf beiden Seiten einfassten, waren einfach eine traumhaft schöne Kulisse. Beruhigend und sanft, und jedes Mal aufs Neue beeindruckend.

Die vielen Grüntöne der Wälder, das fließende Wasser und die Reihen der Häuser zu seinen Ufern, mehr würde ich niemals brauchen. Nur hier fühlte ich mich wie zu Hause, nur hier wollte ich sein. Für Sekunden war sogar ich versöhnt, bis der nächste Windstoß mich traf und ich erneut daran erinnert wurde, dass ich einfach nicht richtig angezogen war für diese Wetterverhältnisse.

Ich bog durch das riesige Metalltor in den kleinen Park ab, den ich auf meinem Touren eigentlich immer durchlief.

Groß war er nicht, aber mit Liebe angelegt, und im Gegensatz zum Rest dieser Stadt, sah es hier wirklich hübsch aus. Keine Zerstörung, keine Graffitis, kein Müll, den irgendjemand achtlos zurückgelassen hatte.

Aus mir unbekannten Gründen hatten die Menschen hier noch Respekt vor der Sache, obwohl der Park jederzeit für jeden zugänglich war.

Zu meiner Linken befand sich das Schloss, irgendwann einmal war es der Ferienwohnsitz einer reichen Familie gewesen, deren Namen vermutlich niemand mehr kannte.

Es war riesig und perfekt renoviert, und in seinem Inneren, so wusste ich, waren Wohnungen und Büros, die man mieten konnte.

Ich beneidete die Menschen, die sich so etwas leisten konnten. Wohnen in einem Gebäude wie diesem, das schien mir wirklich mehr als erstrebenswert.

Auch wenn ich sonst wenig Wert auf Luxus legte, diesen hätte auch ich mir gerne gegönnt. Schon immer hatte ich mich von solchen Bauten angezogen gefühlt, alles was alt war, sprach mich ohnehin an, und zu gerne, hätte ich in einer echten Altbauwohnung gewohnt. Leider lagen die meisten davon allerdings außerhalb meiner Möglichkeiten, und so hatte es lediglich zu einer Wohnung in einem der älteren Stadthäuser gereicht, die wenigstens ein wenig Geschichte in sich trugen.

Der Park gehörte eigentlich zu dem Schloss, aber irgendwer hatte immerhin so viel Güte besessen, ihn eben nicht zu einem Privatgrundstück zu bestimmen.

Oft hatte ich im Sommer hier gesessen und ein Buch gelesen, da ich keinen eigenen Garten oder Balkon hatte. Auch dafür hatten meine bescheidenen Mittel einfach nicht gereicht.

Alles hier war mir vertraut, ich kannte jede der Bänke und Bäume, und fast fühlte es sich an, als sei der Park ein Teil von mir. Tatsächlich glaubte ich, dass es vielen so ging, und sie deshalb so penibel darauf achteten, dass er nicht verkam.

Eine Oase am Rande der Häuser, in die man sich zurückziehen konnte, wenn einem danach war.

Cujo rannte voran, wie es eben so seine Art war. Auch er hatte sich diesen Park schon zu eigen gemacht, und vermutlich kannte er hier bereits jeden Baumstamm mit Vornamen.

Dass Hunde hier erlaubt waren, wunderte mich immer noch. In den meisten öffentlichen Parks waren sie verboten, nur hier gab es kein Schild dazu, und stattdessen hatte die Stadt kleine Ständer aufgestellt, in denen es Plastiktüten für ihre Hinterlassenschaften gab. Im Grunde fand ich es nett, immerhin gab es kaum Orte, an denen Hunde erlaubt waren, und auch Cujo schien den Park mittlerweile zu seinem Revier gemacht zu haben.

Rechts lag nun der Rhein hinter einer kleinen Sandsteinmauer, vor mir der Park, zu meiner linken das Schloss mit seinen riesigen Fenstern. Der perfekteste Ort auf der Welt, direkt vor meiner Haustüre.

Wie es wohl sein mochte dort zu wohnen? Mit Blick auf das Wasser?

Ich stellte es mir traumhaft vor, in diesen hohen Räumen, mit all seiner Geschichte zu leben, und dann noch mit einem solch atemberaubenden Ausblick.

Der Hund hüpfte durch die Blumenbeete und buddelte offensichtlich weiter nach Mäusen, während ich weiter schlenderte.

Ich hätte zu gerne gesehen, wie die Damen in früheren Zeiten in ihren tollen Kleidern hier lustwandelt hatten. Mit den vielen Blumen und dem Efeu, sah ohnehin alles verwunschen aus, und manchmal hatte ich darüber nachgedacht, dass es die perfekte Kulisse für einen Märchenfilm sein würde. Jede Prinzessin würde hier ihren Prinzen finden.

Mehr als einmal hatte ich mir Bilder wie diese ausgemalt, immerhin gab es diesen Garten schon viele hundert Jahre, und noch immer nutzten die Menschen ihn auf die gleiche Art und Weise.

Ob nun ich oder eine Dame in einem edlen Kleid hier lesen würde, machte am Ende keinen Unterschied.

Der Gedanke beruhigte mich, immerhin gab es Dinge die sich nicht oder nur wenig veränderten, und Gärten wie diese würden die Menschen sicher auch in weiteren hundert Jahren noch nutzen.

Cujo lief vor mir her, und ich kramte in meiner Tasche nach dem roten Ball, den ich vorsorglich für ihn mitgenommen hatte. Der rote Ball war sein ein und alles, und wann immer er ihn sah, war er völlig aus dem Häuschen. In Anbetracht meiner eher mangelhaften Nanny-Fähigkeiten, war ich ihm wohl weit mehr als das schuldig, aber immerhin würde es ihn etwas trösten.

Ich zeigte ihm den Ball und sein winziges Schwänzchen drehte sich sofort im Kreis.

Meine Wurfqualitäten ließen allerdings stark zu wünschen übrig, und der Ball landete nur wenige Meter vor mir im Gras. Der Hund sah etwas enttäuscht aus, brachte ihn jedoch anstandslos zurück.

Ich rechnete ihm hoch an, dass er nicht beleidigt einfach sitzengeblieben war. Er war auf jeden Fall entgegenkommender und nachsichtiger mit mir, als ich es eigentlich verdient hatte.

Ich holte weiter aus und warf ihn ein weiteres Mal.

Der Ball flog und landete hinter einer Hecke. Na Prima.

„Verdammt!“

Die Stimme hinter der Hecke klang verärgert und ich zuckte unvermittelt zusammen. Hatte ich etwa jemanden getroffen?

Cujo hastete dem Ball hinterher, wurde aber von der dichten Hecke gestoppt, was ihn sofort pöbeln ließ. Motzig und schnatternd rannte er von einer Seite auf die andere, und fast war ich in Versuchung laut zu lachen.

„Entschuldigung...!“

Ich rief über die Hecke hinweg, wo ich den Ursprung der Stimme vermutete.

Als ich nicht sofort eine Antwort bekam, ging ich weiter darauf zu, und stellte mich auf die Zehenspitzen.

„Entschuldigung...!“, wiederholte ich meine Worte, konnte jedoch nicht sofort erkennen, ob auch jemand sie hören würde.

Ich reckte mich, so weit ich konnte, aber sehen konnte ich noch immer niemanden. Hatte ich mich verhört? Ich sah auf den immer noch aufgeregt schnatternden Hund, der vermutlich nie wieder einen Ball holen würde, den ich geworfen hatte. Ich eignete mich eindeutig nicht für diesen Job.

Plötzlich erschien ein dunkler Haarschopf am oberen Rande der Büsche, und braune Augen direkt darunter.

Schöne Augen.

„Was war das denn für ein Mordanschlag?“

Die Stimme war warm und angenehm, ich machte mich noch etwas länger, um besser sehen zu können.

Der Mann war attraktiv. Schon fast zu attraktiv. Seine Haare waren wuschelig und sahen ganz weich aus. Solche Männer standen im Allgemeinen nicht bei Mistwetter hinter einer Hecke, und schon gar nicht hier, in einem Kaff mit einer Handvoll Einwohnern.

Sein Gesicht war kantig, aber auf eine angenehme Art, wie bei einer griechischen Statue. Ohne die dunklen, fast schwarzen Haare, hätte ich ihn vielleicht für einen Russen gehalten, aber die sahen normalerweise nicht so gut aus.

Jedenfalls hatte ich noch keinen gesehen, der auf mich einen so anziehenden Eindruck gemacht hatte.

Er trug ein weißes T-Shirt, eine schwarze Lederjacke, und erinnerte mich sofort an Travolta in „Grease“. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, was wirklich schade war. Zu jung für mich, vermutlich zu jung, um ihn näher kennenzulernen.

„Ich wollte dich nicht treffen, aber der Ball....“

Er hielt den Ball hoch, und erst jetzt merke ich, dass der kleine Hund nun unablässig bellte. Es regte ihn eindeutig auf, dass der Ball für ihn unerreichbar war.

Der Mann verschwand aus meinem Sichtfeld, nur um Sekunden später neben mir am Rand der Hecke zu erscheinen.

Er warf den Ball in die Weite des Parks, sehr viel weiter, als ich es je gekonnt hätte, und Cujo spurtete ihm hinterher. Neidisch sah ich ihm hinterher, und musste erneut einsehen, dass jeder für diesen Hund besser geeignet war, als ich.

„Sowas ist mir auch noch nicht passiert, dass mich jemand beim Müll raus bringen mit einem Gummiball abschießt.“

Er lächelte mich an und rieb sich dabei die Stirn.

„Es tut mir echt leid...“, ich klang kleinlaut. Das war einfach zu peinlich. Als hätte ich nicht genug Niederlagen in der letzten Zeit gehabt. Der einzige Mann, der offenbar halbwegs freundlich war, und ich knallte ihm einen Gummiball an den Schädel.

„War ja wohl hoffentlich keine Absicht!?“

Er klang etwas belustigt, und ich fühlte mich sofort etwas besser. Immerhin schien er weder sauer noch wütend, und vermutlich würde er mich auch nicht abstrafen wollen. Die meisten anderen Menschen hätten sicher anders reagiert, mich vielleicht sogar verklagt, aber er hier schien eher amüsiert.

„Nein, absolut nicht. Werfen ist nur nicht meine Stärke...“

Das war nicht mal gelogen, werfen konnte ich schon in der Schule nicht. Wann immer Wurfspiele angestanden hatten, hatte ich das Weite gesucht. Wie man jetzt sah, nicht ohne Grund.

„Ich bin Paul.“

Er hielt mir seine Hand entgegen und griff automatisch danach.

„Nadja.“

Irgendwie war das alles eine sehr absurde Situation. Aber nicht unangenehm. Er sah gut aus, und machte einen sympathischen und offenen Eindruck.

Auch das war neu, die Leute hier waren normalerweise nicht so. Man blieb unter sich, wenn man sich nicht ohnehin kannte oder miteinander verwandt war.

Neben der Lederjacke und dem weißen Shirt trug er schwarze Jeans und Boots. Eine durchaus ansprechende Kombi, stellte ich fest. Sofort ärgerte mich, dass ich mir nicht etwas mehr Mühe mit meinem Outfit gegeben hatte.

In Jeans und oller Windjacke sah ich eher aus, als würde ich den Müll nach draußen trage, und nicht er.

Aber wer hätte schon ahnen können, dass ich jemandem wie ihm begegnen würde?

„Ich wohne hier, dort oben.“

Er zeigte hinauf zu einem der hohen Fenster.

„Ach, wirklich? Das ist ja toll! Das muss unglaublich sein dort zu wohnen!“

Ich klang etwas zu begeistert, das war mir selbst klar, aber ich fand das ganze total aufregend. Ein fremder Mann, gutaussehenden und augenscheinlich auch ganz nett, serviert auf einem Silbertablett.

Dass ich aussah wie ein Sack Müll mit Pferdeschwanz, versuchte ich in dieser Situation zu übersehen. Wenigstens hatte ich eine Jacke an, und er sah den verwaschen Pullover aus Ringeljersey darunter nicht.

„Ja, ist es. Es ist ein sehr schönes Gebäude. Ich hatte immer davon geträumt in einem Schloss zu wohnen.“

Das konnte ich gut nachvollziehen. Ich hätte alles getan, um an einem Ort wie diesem zu wohnen.

„Aber das ist doch sicher sehr teuer?“

„Teuer liegt im Auge des Betrachters.“ Er lächelte.

Der Hund kam auf uns zugeschossen und er bückte sich zu ihm herab. Ein weiteres Mal flog der Ball.

„Wohnst du schon lange hier?“

„Nein, erst ein paar Monate. Ich habe die Wohnung übernommen, gleich nachdem sie renoviert worden ist.“

Ich hatte mitbekommen, wie das Schloss renoviert worden war. Stück für Stück hatten sie ihm den Glanz zurückgegeben, und ich hatte still gestaunt. Immer wieder hatte ich mich gefragt, was für eine Sorte Menschen hier einziehen würde, aber nie über jemanden wie ihn nachgedacht.

„Ich würde alles tun für diesen Ausblick!“

Ich stellte mir vor, wie es war, morgens nach dem Aufstehen schon das Wasser zu sehen. Nichts auf der Welt würde mich glücklicher machen.

„Ja, es ist sensationell. Vor allem bei Sonnenauf- oder Untergang.“

Ich beneidete ihn wirklich. Neid war eigentlich nicht unbedingt meine Art, aber auf das hier, darauf würde sogar ich neidisch sein.

„Möchtest du die Wohnung gerne sehen?“

Hatte er das wirklich gefragt? Ob ich seine Wohnung sehen wollte? Mein Unterbewusstsein rieb sich die Hände.

„Oh nein, das musst du wirklich nicht tun.“

Das wäre zu dreist, er kannte mich ja überhaupt nicht. Obwohl ich echt gerne gesehen hätte, wie sie aussah. In meinen Gedanken hatte ich mir ausgemalt, wie die Menschen dort lebten. Wie ihre Wohnungen aussahen, und wie der Blick aus einem der Fenster sein würde. Dass ich jetzt die Möglichkeit abschlug, endlich eine diese Traumwohnungen zu sehen, kostete mich all meine Überwindung.

„Nein, wirklich. Ich zeig sie dir gerne.“

Ich überlegte, ob das wirklich eine gute Idee war. Mit einem Fremden in seine Wohnung zu gehen, obwohl ich ihn gar nicht kannte. Er könnte ja auch ein Massenmörder oder Stalker sein.

Andererseits konnte mir wirklich Schlimmeres vorstellen, als von einem so attraktiven Mann gestalkt zu werden. Und die Wahrscheinlichkeit, dass mich ein solcher Mann stalken würde, wo ich doch so zerrupft und schnöde aussah, lag eigentlich auch jenseits jeder Logik.

Jemand wie er hatte das sicher nicht nötig.

„Ich würde sie sehr gerne sehen.“

Ich ohrfeigte mich innerlich. Das klang alles wirklich verzweifelt.

„Dann würde ich dir aber raten, den vorderen Eingang zu benutzen, sonst musst du dich hier auch durch die Hecke zwängen.“

Er zeigt auf den schmalen Ritz zwischen den Buchsbäumen, durch den er gekommen war.

„Ich komme dich dann vorne am Eingang abholen.“

Er verschwand wieder durch die Hecke und ich rief nach Cujo, der zu meiner Überraschung sofort erschien.

Eindeutig ein Wink des Schicksals, vermutete ich. Ein Zeichen dafür, dass das hier wirklich passieren sollte.

„So, dann musst du dich jetzt aber gut benehmen.“

Er sah mich nur verständnislos an. Ich doch immer, schien er zu sagen.

Ich lief den Weg zurück aus dem Park und um das Gelände zu dem großen Tor, das den Vorhof des Schlosses verdeckte. Was hatte mich nur dazu gebracht, mich so dreist praktisch selbst einzuladen? Er hatte es mir zwar angeboten, aber irgendwie war ihm ja auch fast nichts anderes übrig geblieben, und selbst ich, hätte nach all den Lobeshymnen kaum einen anderen Ausweg gesehen.

Vielleicht hatte er auf Grund meines Aussehens auch nur Mitleid gehabt. Sehr wahrscheinlich sogar, aber ich verbot mir, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Selbst wenn es nur Mitleid war, so war es doch eine einmalige, vermutlich nicht so schnell wiederkehrende Chance.

Wie auch immer, meine Neugier siegte, und die Vorfreude ließ mein Herz schneller schlagen.

Kapitel 4:

Die helle Treppe aus Marmor schlang sich majestätisch hinauf in die nächste Etage, und ich war nun wirklich restlos begeistert.

Alleine das geschwungene Geländer, mit den hunderten kleiner floraler Windungen, mochte ein Vermögen gekostet haben. Ich berührte das kalte Metall und ließ die Finger darüber gleiten.

Sicher hatten hunderte von Menschen in den vergangenen Jahrhunderten genau diese Stelle berührt, alle mit ihrer eigenen, speziellen Geschichte.

Vor lauter Aufregung hatte es mir die Sprache verschlagen, und die schiere Größe des Hausflurs hatte mir den Rest gegeben. Nie vorher war ich an einem Ort wie diesem gewesen, an dem tatsächlich Menschen lebten. Ganz normale Menschen, mit normalen Berufen, die am Ende ihres Arbeitstages hierher zurückkehrten. Genau wie ich es tat, die jeden Abend nach der Arbeit in den abgenutzten Hausflur des Mehrfamilienhauses trat.

Ich hatte Schlösser besichtigt, viele sogar, aber in keinem von ihnen hatte es Wohnungen gegeben.

Hier zu sein, fühlte sich majestätisch und wichtig an.

Ob sich dieses besondere Gefühl dann abnutzte, und man es als alltäglich empfand? Vorstellen konnte ich es mir nicht, aber möglich war es.

Paul stieg vor mir die Treppe hinauf und ich trug Cujo auf dem Arm bei mir.

Begeistert war er nicht, aber irgendwie glaubte ich nicht, dass ich ihn an diesem Ort einfach frei laufen lassen sollte.

„Das hier ist alles noch Original, es wurde lediglich restauriert. Der Marmor wurde aus Italien importiert, ein unfassbarer Aufwand für die damalige Zeit, und das Geländer ist einem Schloss in Frankreich nachempfunden.“

Ich war angemessen beeindruckt über sein Wissen und nickte nur still. Er schien sehr klug zu sein, und die Begeisterung, die er beim Sprechen zeigte, war unüberhörbar. Es schien ihn wirklich zu interessieren, und auch er schien sich seines außerordentlichen Glückes bewusst zu sein.

Für mich machte das ihn noch sympathischer, immerhin nahm er all das nicht als selbstverständlich hin, und er schien sich mit der Geschichte des Gebäudes zu beschäftigen.

Das war mal ein Mann, der mir gefallen würde. Klug und weltgewandt. Und sexy. Während er vor mir die Treppe nach oben ging, konnte ich seinen Hintern und die langen Beine sehen, und hatte das Gesamtpaket für mehr als gut befunden.

„Das ist echt... beeindruckend.“

Dümmlich fuhr ich mit der freien Hand weiter über das glatte Metall des Geländers. Ich mochte alte Dinge, die mit Geschichte. Wobei sich das in meinem Fall eindeutig in einer anderen Preisklasse bewegte.

Auch ich hatte alte Dinge, meist vom Flohmarkt oder aus Trödelgeschäften, aber nichts davon würde hiermit konkurrieren können.

„Hier ist sie.“

Er zeigte mit dem Finger auf eine Tür und kramte in der Jackentasche nach dem Schlüssel.

Ich sah mir den Stuck an der Decke genauer an, und dachte an die Styroporleisten aus dem Baumarkt an meiner eigenen Decke, die ich eher stümperhaft angebracht hatte, nur um eine Illusion zu erschaffen.

Hier war das alles echt, das alles hier hatte Jahrhunderte auf dem Buckel, und trotzdem schien es für weitere hundert Jahre gemacht.

Kein Vergleich mit den Neubauten der heutigen Zeit, in denen die Wände aus gibs waren. Und erst recht kein Vergleich zu dem Haus, in dem ich selbst wohnte, auch wenn es alt war.

Es gab gutes Alt und schlechtes Alt. Ich wohnte, auch wenn ich es nicht gerne zugab, in der zweiten Variante.

Die Tür sprang auf, und er machte eine geschmeidige Bewegung, die mich bat einzutreten.

Die Räume waren riesig. Sehr viel größer, als ich mir jemals vorgestellt hatte. Alleine schon das Wohnzimmer, war fast so groß wie meine ganze Wohnung.

Die Deckenhöhe war enorm, fast nicht schätzbar, und ich erinnerte mich daran, dass ich, wenn ich mich etwas streckte, die Decke meines eigenen Badezimmers mit den Fingern berühren konnte. Hier würde man eine sehr hohe Leiter benötigen, vermutlich sogar ein Gerüst.

Ich hatte keine Vorstellungen von seiner Wohnung gehabt, aber ich war überrascht, wie bunt alles war.

In dem riesigen Wohnzimmer gab es eine monströs große Couch mit bunten Kissen, und alles war irgendwie orientalisch angehaucht. Gemütlich und einladend, und so gar nicht einer Männerwohnung angepasst.

Praktisch alle Männer, die ich kannte, Ben eingeschlossen, hatten pragmatisch gelebt. Sie hatten Wohnungen, die alles Nötige beinhalteten, aber keinen Plunder. Es gab wenige Farben, keine aufeinander abgestimmten zumindest, und immer hatte ich sie sofort als Männer-Wohnungen erkannt.

Funktionelle Möbel von Ikea oder den obligatorischen Einrichtungshäusern, nichts, was einem speziellen Geschmack oder gar Stil gleichkam.

Hier war das nicht so, alles schien wohlüberlegt und aufeinander abgestimmt, und jedes Wohnmagazin dieser Welt, hätte diesen Ort ohne Überlegung ablichten können.

Auf der Titelseite natürlich, den alles andere wäre eine Beleidigung dieser Räume gewesen.

An der langen linken Wand standen mehrere gefüllte Bücherregale mit einem großen Sessel davor, daneben an der Wand ein alter Sekretär mit einem Laptop darauf.

Gegenüber der Couch gab es einen Flatscreen an der Wand, und einige kleine, sehr alt aussehende Regale mit Kleinigkeiten.

Alles sah teuer aus, jedenfalls teurer, als ich es mir je leisten können würde.

Ich nagte nicht am Hungertuch, ich kam im Grunde gut zurecht, aber das hier waren Dimensionen, denen ich einfach nie das Wasser würde reichen können.

Gegenüber der Tür, vor der ich noch immer wie festgewurzelt stand, war die Fensterfront. Drei riesige, sehr hohe Sprossenfenster, gaben den Ausblick auf den Park und das dahinter liegende Wasser frei. Es war mehr als atemberaubend.

„Möchtest du vielleicht einen Tee? Und setz dich doch bitte.“

Er machte eine Handbewegung zu der Couch.

„Oh ja, danke.“

Ich war immer noch praktisch sprachlos. Im Gegensatz zu meiner eigenen Wohnung, war das hier der absolute Wahnsinn, und eigentlich war er eindeutig zu jung für all das.

Einem älteren Herren mit Hut und Doktortitel, dem hätte ich solchen Protz wohl zugetraut, aber nicht einem Typen wie ihm.

Ich tappte zu der Couch, zog mir dabei die Jacke aus, und fragte mich augenblicklich, was ich hier gerade tat. Eine Wohnung anzusehen war das eine, sich hier zum Tee niederzulassen, eine völlig andere Geschichte.

Auch wenn er vielleicht gastfreundlich war, so war ich doch aktuell ganz schön dreist.

Kaum hatte ich die Jacke neben mich gelegt, wurde mir der Pulli wieder bewusst, und ich schlang sofort die Arme um den Körper. Sie wieder anzuziehen kam nicht in Frage, dass würde dämlich wirken, aber was sollte er jetzt von mir denken? Eine ramponierte Frau in einem wirklich fiesen Pullover, in dieser sensationellen Wohnung...

Erneut musste ich darüber nachdenken, dass ich diesen Pullover schon vor Monaten hatte entsorgen wollen. Weil er durch war, aussah, als gehörte er zu einem altmodischen Schlafanzug, und ich auch genug andere hatte.

Trotzdem trug ich ihn immer wieder, er war bequem und kuschelig, aber das hier sollte nun wirklich der Anlass sein, ihn bei nächster Gelegenheit seinem Schicksal zu überlassen.

Meine Augen waren komplett überfordert von so viel Information, ich wusste kaum, wo ich zuerst hinsehen sollte. Überall gab es etwas zu sehen, und überall haftete mein Auge, ohne dass ich es verstand.

Fast glich das alles einem Museum, oder einer Kunstausstellung, aber keinesfalls der Wohnung eines jungen Mannes. Nichts hier wirkte männlich, schon gar nicht wirklich jung, und erst recht nicht so, als würde der Travolta in der Küche irgendetwas damit zu tun haben.

Einige Bilder an den Wänden, alle sehr bunt und eher modern, passten irgendwie so gar nicht in den Raum. Oder vielleicht gerade deshalb besonders gut.

Ich fragte mich, was er wohl beruflich machte, dass er sich all diese Dinge leisten konnte. Ich selbst verdiente nicht schlecht, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir für mein sauer verdientes Geld Ölgemälde zu kaufen. Dann doch eher Schuhe.

Dieser Typ war eindeutig eine super Partie, da gab es keine Zweifel. Ich ärgerte mich maßlos, dass ich aussah, wie ich aussah, und beschloss nie wieder in Sack und Asche auf die Straße zu gehen. Andererseits aber saß ich ja hier, und daher konnte meine Optik so schlimm ja auch nicht sein.

„Hier.“

Er drückte mir die Tasse in die Hand und nahm neben mir Platz. Seine langen, schlanken Beine fanden kaum Platz in dem Spalt zwischen Couch und Tisch, und ich sah verschämt darauf.

Wie konnte man nur eine so perfekt sitzende Jeans finden?

Die meisten Männer trugen jedenfalls keine, immer waren die Hosen deutlich zu weit und saßen viel zu tief, mal ganz abgesehen von den grauenhaften Waschungen, die aktuell so modern waren.

Seine war dunkelblau, fast als hätte sie noch nie eine Waschmaschine gesehen, und sie schien wie auf seinen Leib geschneidert.

Sauteuer, raunzte mein Unterbewusstsein.

Er hatte die Lederjacke ausgezogen und ich sah auf seinem Unterarm eine Tätowierung, die aussah wie eine Art Wappen.

Es stand ihm gut, auch wenn ich für diese Art von Körperschmuck eigentlich nichts übrig hatte. Auch biss es sich irgendwie mit all dem anderen, und tatsächlich fand ich ihn von Minute zu Minute interessanter. Was war das bloß für ein Mann?

„Das ist echt eine sehr schöne Wohnung.“

Als wenn er das nicht selbst wüsste. Mein Unterbewusstsein schüttelte den Kopf und hielt sich die Hand vors Gesicht.

„Danke. Ich bin auch sehr froh hier.“

Er drehte die Tasse in seiner Hand, als sei es ihm peinlich, auch wenn es dazu eigentlich keinen Grund gab.

„Was machst du beruflich?“

„Ich handle mit Antiquitäten.“

Aha, das erklärte einiges.

„Echt? Das ist aber ein ungewöhnlicher Job.“

Er sah mich etwas verwirrt an, als sei es ein Job wie jeder andere, und als sei meine Bemerkung das eigentlich Ungewöhnliche.

„Nein, eigentlich nicht. Mein Bruder und ich haben einen Laden. Wir verkaufen vor allem Gemälde und Schmuck. Manchmal auch Möbel.“

Das klang eindeutig spannender als mein Job als Sekretärin. Es würde schwierig werden, hier ein Gespräch auf Augenhöhe stattfinden zu lassen.

„Wie seid ihr denn dadrauf gekommen?“

Wie kam man in der heutigen Zeit darauf, sich auf so etwas zu spezialisieren? Ich sah ihn von der Seite an und fragte mich, wie alt er wohl wirklich war. Sicher nicht älter als ich, eher jünger, und damit in meinen Augen zu jung für diese Art von Arbeit.

Menschen zu schätzen gehörte auch nicht zu meinen Stärken, aber auf keinen Fall konnte er so alt sein. Bei Antiquitäten dachte man an schrullige alte Männer, vielleicht auch an Herren in karierten Hosen, aber sicher nicht an jemanden wie ihn.

„Mein Vater hat auch schon in diesem Bereich gearbeitet, und es hat mich einfach interessiert. Mein Bruder ist der Speziallist für Gemälde und ich für den Rest.“

„Scheint auf jeden Fall lukrativ zu sein.“

Ich machte eine weit ausholende Handbewegung durch den Raum.

„Ich kann nicht klagen.“

Er grinste, und zum ersten Mal sah er überheblich aus. Nicht unangenehm, eher stolz auf das Erreichte.

„Und was machst du?“

„Ich bin Sekretärin, bei einem Anwalt.“

Er nickte, aber natürlich klang das bei weitem nicht so spannend, wie das, was er machte. Aber es konnte schließlich auch nicht jeder so einen außergewöhnlichen Job haben. Bis vor kurzem war ich noch stolz auf meinen Job gewesen. Es war ein guter Job mit guten Leuten, bei dem ich Verantwortung übernehmen konnte. Neben seinem allerdings klang er langweilig und stumpf.

Cujo hatte sich auf einem kleinen Teppich vor dem Bücherregal zusammengerollt, und schnarchte leise vor sich hin. Fast wirkte es, als würde er hierher gehören, und als würde er sich schon mehr als heimelig fühlen.

„Es freut mich sehr, dass du mir den Ball an den Kopf geworfen hast.“

Ich musste grinsen, und war insgeheim froh, dass er nicht weiter über meinen langweiligen Job sprechen wollte. Ein echter Gentleman, wie ich fand.

„Es freut mich, dass er dich getroffen hat.“

Jetzt grinste auch er.

Ich erzählte ihm, dass der Hund nicht meiner war, und das er bei mir auf Urlaub war, weil mir einfach nichts anderes einfiel.

Meine Smalltalk-Fähigkeiten waren ebenso grenzwertig wie mein Wurfverhalten, und eigentlich war es auch nicht mein Ziel, daran etwas zu ändern. Ich sprach nie Männer an, die taten das im Normalfall von alleine, und ich gab mir selten Mühe bei Gesprächen. Jetzt, hier, mit diesem außergewöhnlichen Mann, hatte ich zum ersten Mal Druck. Ich wollte interessant wirken, wollte, dass auch er mich mochte, und so plapperte ich drauflos, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Dann wird das wohl Schicksal gewesen sein heute.“

Mein Wortschwall brach ab, und ich merkte, wie meine Wangen begannen zu glühen. Er flirtete, eindeutig. Oder war er einfach nur nett?

Ob das vielleicht wirklich so war? War das hier Schicksal, damit ich endlich wieder aus meinem Schneckenhaus kam? War das hier der Wink mit dem Zaunpfahl, dass es dort draußen noch andere Männer gab? Welche, die nicht die Flucht vor mir ergriffen?

„Kann schon sein.“ Ich versuchte mein hübschestes Lächeln.

„Vielleicht hast du ja mal Lust mit mir auszugehen? Auf einen Cocktail oder so?“

Flirtete er gerade wirklich mit mir? Ich hatte eigentlich damit gerechnet, mich für eine Einladung noch etwas mehr ins Zeug legen zu müssen. Aber was solls.

„Ja, das würde ich sehr gerne.“

Ob ich das wirklich gerne wollte, wusste ich eigentlich gar nicht so genau. Schließlich war ich noch mittendrin in der Heulphase wegen Ben. Andererseits schien er mir nicht nachzutrauern, und dieser Mann hier war sicher nicht die schlechteste Partie. Selbst wenn er tatsächlich jünger war als ich, für ein kleines Abenteuer würde ich das in Kauf nehmen. Schließlich war er schon echt sexy, und wann bekam man schon eine Chance wie diese?

Kapitel 5:

Ich zog den letzten Wickler aus meinen Haaren und fuhr mit den Fingern durch die blonden Locken.

Ja, das sieht doch schon mal gar nicht schlecht aus, spornte mein Unterbewusstsein mich an.

Paul hatte mir seine Handynummer zum Abschied gegeben, und wir hatten in der letzten Woche ein paar Mal sehr intensiv geschrieben. Wobei das untertrieben wäre, denn so viel wie in den letzten Tagen, hatte ich sicher noch nie am Handy geklebt.

Seine Nachrichten waren jedes Mal ein Highlight, und ich verlor mich in kindischer Vorfreude, wann immer das Display meines Handys aufleuchtete.

Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Jemand, der seine ungeteilte Aufmerksamkeit an mich verschwendete.

Mein angeknackstes Ego schien sich erholt zu haben, ich fühlte mich endlich wieder wie ein ganzer Mensch.

Er war aufmerksam, aber nie aufdringlich, und immer wieder brachte er mich zum Lachen.

Ich hatte erfahren, dass sein Geschäft in der nächsten größeren Stadt war, und widerstand meinem Stalker-Ich, hinzufahren, nur um zu sehen wie es aussah. Auf keinen Fall wollte ich zu schnell nach vorne preschen, sondern genießen, was ich gerade hatte.

Egal wie kindisch das alles im Grunde war, so hatte es mich doch ins Leben zurückgeholt, und ich hatte kaum einen weiteren Gedanken an Ben verschwendet. Stattdessen war der Akku meines Handys jeden Abend leer, und auch mein Chef konnte meine gute Laune kaum übersehen. Ich grinste die meiste Zeit, fühlte mich wunderbar, und mehr brauchte ich aktuell noch nicht.

Wir waren uns ähnlich, auf tausend und eine Art, und nie kamen die Dinge zwischen uns ins Stocken. Wir schrieben über unsere Tage, unseren Alltag, die Dinge, die uns beschäftigten, und so langsam glaubte ich, ihn tatsächlich etwas zu kennen.

Ob das aus reinen Worten möglich war, dem war ich nicht sicher, aber immerhin kannte ich nun einige seiner Vorlieben und Abneigungen. Außerdem hatten wir wohl den gleichen Musikgeschmack, was ich als gut wertete, und mochten beide keine Talkshows.

Unser Date an diesem Freitag hatte ich zum Anlass genommen, mal wieder das ganze große Programm abzuspulen, und mich bereits den halben Tag dafür im Bad verschanzt.

Ich rasierte meine Beine und schmierte mir eine Maske ins Gesicht, endlich fühlte ich mich wieder wie eine echte Frau. Mein Leben hatte endlich wieder etwas Schwung bekommen, und so langsam kehrte mein eigentliches Ich zurück.

Den Ringpullover hatte ich der Mülltonne übergeben, die Berge von Schokolade im Schrank hatte ich nicht mehr angerührt, und auch mein Kaffeekonsum hatte sich deutlich reduziert.

Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich am Ende dieses Abends mein Ziel erreichen würde, sah meine Chancen aber bei etwa 80%.

Paul hatte mehrfach versichert, dass er sich auf das Date freuen würde, und schon anhand seiner Nachrichten las ich, dass auch er von diesem Abend etwas erwartete. Bildete ich mir zumindest ein.

Mein Endziel für diesen Abend war ihn flachzulegen, ganz klar. Egal wie.

Ich hatte das dringend nötig nach dem ganzen Ärger, und er schien mir das perfekte Opfer. Gutaussehend, gebildet, die perfekte Politur für mein angelaufenes Ego.

Außerdem war er ganz nett, und vielleicht würde sich etwas daraus entwickeln. Das stand zwar an zweiter Stelle, aber es könnte ein netter Nebeneffekt werden.

Vielleicht war das die Sorte Mann, mit der ich besser zurechtkommen würde.

Ich trug etwas Make-up auf und war extrem zufrieden mit mir. Endlich zurück im Spiel zu sein, fühlte sich gut an, und ich war guter Hoffnung, dass der Abend genau nach meinen Vorstellungen verlaufen würde. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich fallen zu lassen, wenn auch nur für ein paar Stunden, und mir selbst zu beweisen, dass Ben einen Fehler gemacht hatte.

Es war ein Fehler gewesen, mich nicht mitzunehmen, und es war auch ein Fehler von ihm gewesen, mich auf diese Weise abzuservieren.

Als Jessica nach ihrem Urlaub am letzten Dienstag Cujo wieder abgeholt hatte, war sie erstaunt über meine Verwandlung gewesen. Ich erzählte ihr von den Vorkommnissen und dem bevorstehenden Date und konnte meine Aufregung kaum verbergen.

Sie war unheimlich stolz auf Cujo, der das alles angezettelt hatte, und empfahl mir ernsthaft, mir auch einen Hund zuzulegen. Ich lehnte dankend ab.

„Hey, das hört sich ja alles richtig spannend an!“

Sie klang richtig aufgeregt.

„Ja, ich denke, da geht was.“

„Echt? Jetzt schon? Ben ist doch erst ein paar Wochen weg.“

Sie schien erstaunt, dass ich die Möglichkeit in Betracht zog, etwas mit ihm anzufangen.

„Hallo? Ich will ihn ja nicht heiraten... Ich will doch nur etwas Spaß haben, und er sieht echt heiß aus!“

Ich beschrieb ihr in allen Einzelheiten, wie super er in seiner Lederjacke und dem weißen Shirt ausgesehen hatte, und ließ auch die Parallelen zu Travolta nicht aus.

„Travolta ist schwul.“

Sie verzog das Gesicht.

„Aber er nicht. Da bin ich mir sicher.“

War ich mir eigentlich nicht, aber diese Möglichkeit schien mir nicht sehr wahrscheinlich. Schwule Männer flirteten nicht, und sicherlich wären auch unsere Nachrichten dann anders gewesen. Nein, eigentlich schloss ich es aus.

„Und was wenn er dich wirklich mag? Willst du ihm wehtun?“

„Mensch Jessica, nochmal: Ich will ihn nicht heiraten, und ich hab auch nicht vor ihn zu köpfen, zu pfählen, oder sonst etwas in der Art. Er ist ein erwachsener Mann, und er wird schon wissen, wie das läuft. Er kann sich ja wehren, wenn ich irgendwas mache, was er nicht will. Und ich hab ja auch nicht gesagt, dass ich ihn nicht wiedersehen will.“

„Bist du denn schon wieder bereit für eine neue Beziehung?“

Sie zog die Augenbraue nach oben und schien entrüstet.

Ich seufzte. Warum musste sie so sein? Ich bereute fast, ihr von meinen Plänen erzählt zu haben. Bei ihr gab es nur Hop oder Top. Sie war ebenso hübsch wie naiv, sie träumte von dem Prinzen auf dem Pferd.

Ihre langen dunklen Haare umspielten ihr Gesicht mit den vielen Sommersprossen wie einen Rahmen, und ihre grünen Augen leuchteten. Sie hatte alles, was ein Mann je wollen würde, aber sie setzte es nie ein.

Jessicas Bekanntschaften waren potentielle Lebenspartner. Immer. Es gab kein vielleicht, keine Spiele und auch kein eventuell. Jeder, der nicht in ihr Raster des Traum-Ehemanns passte, wurde gar nicht erst gedatet, und sollte sich jemand tatsächlich bis zu diesem ersten Date durchgekämpft haben, gab es danach meist kein weiteres.

Sie wartete auf den einen Richtigen, den, den sie heiraten würde. Jessica war sich sicher, diesen Einen sofort zu erkennen, wenn sie ihm begegnete. Ich selbst war sicher, dass ich, sollte er mir je begegnen, vermutlich eine Neonreklame benötigen würde, um ihn zu erkennen. Tatsächlich hatte ich noch niemanden getroffen, von dem ich auch nur annähernd das Gefühl hatte, er könnte der eine Richtige sein.

Was das betraf, hätten wir unterschiedlicher kaum sein können.

Ich bekam ein schlechtes Gewissen im Angesicht meines Vorhabens, wollte mir aber den Spaß auch nicht verderben lassen. Millionen Menschen lebten ihr Leben genau auf diese Weise, ohne auf der Suche nach dem EINEN zu sein. Warum sollte nicht auch ich so leben? Ein bisschen Spaß, eine Nettigkeit für mein angeschlagenes Ego, und die Möglichkeit, dass ganze irgendwann vielleicht auszubauen. Oder auch nicht, das würde ich nach diesem Abend entscheiden.

„Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es nicht versuche, werde ich es auch nicht erfahren.“

Sie sah mich verständnislos an. In ihrer Welt gab es solche Dinge nicht. Sie hatte keine Affären, sie probierte nicht aus, sie harrte aus. Darauf, dass der Prinz mit dem scheiß Gaul kam, und genau sie zu seiner Prinzessin machte.

Ich selbst glaubte daran zwar nicht, aber ich verurteilte sie auch nicht. An die große Liebe zu glauben, war ihr Ding, nicht meins.

Das Kleid, welches ich am Ende gewählt hatte, war der kleine schwarze Klassiker. Ich war mir sicher, damit nichts falsch machen zu können. Jeder Mann würde dieses Kleid mögen, und vermutlich auch dieser.

Sicher zehn hatte ich anprobiert, alle als Mist befunden, und war am Ende daran kleben geblieben.