Am Fluss - Johannes Lengert - E-Book

Am Fluss E-Book

Johannes Lengert

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Beschreibung

Das Fischerdorf Alsum am Niederrhein existierte seit Jahrhunderten. Seine Bewohner lebten vom Fischfang und waren zum Teil auch Schiffer, die Waren stromaufwärts und -abwärts transportierten. Mit Seglern und später mit Dampfschiffen. Als aber die Schwerindustrie sich am Rhein niederließ und der Kohleabbau das Leben der Bevölkerung zu bestimmen begann, war das Ende des Fischer- und Schifferdorfes besiegelt. Der Roman erzählt die Geschichte Wilhelmines und ihrer Vorfahren aus Alsum bis in die Gegenwart. Schon Wilhelmines Vater kehrt dem Fluss den Rücken und will von der Industrie profitieren. Alsum ist nur noch ein Ausflugsort fürs Wochenende, wenn man mit der Fähre auf die andre, die grüne Rheinseite übersetzen möchte. Wilhelmines Enkel kennt einige der Geschichten vom Niederrhein durch die Erzählungen seiner Großmutter. Sie haben ihn neugierig gemacht auf den Fluss, den er selbst besser kennenlernen will. Auf seinen Fahrten den Strom entlang erlebt er Liebesfreud und Liebesleid und erfährt einiges über seine Vorfahren, deren Leben und deren Schicksal ungleich härter war als sein Liebeskummer. Seine letzte Fahrt macht er in die Niederlande auf einem Segler, und er hofft, dass sich am Ziel alles zum Guten wendet.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Impressum

Johannes Lengert

Nußaumer Str. 3-5

51469 Bergisch Gladbach

Johannes Lengert

Am Fluss

Ein Niederrhein-Roman

Das Fließen des Wassers und die Wege

der Liebe haben sich seit den Zeiten

der Götter nicht verändert.

Inhalt:

Teil I

Teil II

Teil III

Teil IV

Teil V

Teil I

1. Kapitel

Sie hauchte auf den Spiegel. Mit dem rechten Unter­armteil ihres Sonntagskleides wischte sie über die Glas­fläche. Viel schärfer wurde das Bild nicht. Der Spiegel war alt, fleckig, narbig, und dunkle Stel­len sowie der Riss, der diagonal durchs Glas ging, zeigten ein un­scharfes und verzogenes Kon­terfei. Ein Mädchenge­sicht. Die dunk­len Haare aufge­steckt. Es ragte aus dem hohen Spitzenkragen des hellgrauen Kleides heraus. Wenn Wil­helmine etwas vom Spiegel zu­rücktrat, sah sie die an den Schultern gebauschten Är­mel und auch die sil­berne Kette mit dem Kreuz, die ihr von der Pa­tentante zur Fir­mung geschenkt wurde. Sie musste sich noch nicht einmal auf die Zehenspit­zen stellen, um ihre Frisur zu begutachten. Denn für ihr Al­ter war sie schon recht groß. Und das hatte wohl den Ausschlag ge­geben, dass sie bei Merian angenommen wurde, natür­lich auch das gute Schulzeug­nis mit Rechnen und Schreiben und Betragen gut. Das Empfehlungs­schreiben des Rektors wäre da gar nicht mehr nötig ge­wesen. Der alte Merian verließ sich auf seine Menschenkennt­nis. Das hatte er zu ihrem Vater gesagt, der sie in die Villa begleitet hatte. Mit dem Lohn konnte sie eben­falls zufrieden sein. Gut war ebenso, dass Vater nicht versucht hatte, ihn hochzuhandeln. So was machte den Alten fuchsig, und es hätte alles zunichte machen kön­nen. Wil­helmine konnte froh sein, bei den Merians in Stellung gekommen zu sein, obwohl sie nicht katho­lisch waren. Da hatte der Vater lange gezög­ert. Denn li­beral und evangelisch, davor hatte der Pfarrer ge­warnt. Aber sie als die Älteste brauchte eine gut be­zahlte Anstel­lung. Noch sechs Kinder waren zu versor­gen.

Morgen früh um sieben würde sie ihre Stellung antre­ten. Nicht in diesem Kleid. Denn für die Arbeit stellten ihr die Herrschaften ein einfach geschnittenes schwarzes Kleid mit wei­ßem Kragen. Das Spitzenkleid war nur für feierliche Anlässe und für den sonntägli­chen Kirch­gang. Jetzt musste sie schnell herausschlüpfen. Sie wollte nicht von ihren jüngeren Brüdern erwischt wer­den, wenn sie sich vor dem Spiegel drehte. Die wür­den sie garantiert verpetzen und sich lustig über sie machen. Und das würde ihre gute Stimmung verder­ben.

2. Kapitel

Die Wellen des Rheins schlagen fast an meine Füße. Ich weiche noch ein Stück zurück. Der Fluss führt Hochwasser. Die starke Strömung transportiert Treib­gut in Richtung Niederlande. Äste, Teile von Baum­stämmen, Tuchfetzen haben sich in der Uferbö­schung verfan­gen. Immer wenn ein Schub­schiff mit mehreren Leichtern dem schwim­menden Treibgut in Richtung Grenze folgt, steigt der Pe­gel am alten Anle­ger ein paar Zentimeter höher. Dann begebe ich mich noch ein Stückchen zurück, bis ich am obe­ren Ende der Rampe ste­he, die man von der Fähre aus hochging, um den Fußweg nach Baerl zu erreichen.

Die Fähre von Alsum zum Baerler Ufer war eine reine Personenfäh­re. An Sonn- und Feiertagen konnte sie den Ansturm der Passagiere aus Beeck, Bruckhausen und Ham­born kaum bewältigen. Dann füll­ten sich die umliegenden Gaststätten und entleerten sich erst wie­der bei Sonnenuntergang. Den Alsumer Steig, das Ge­genstück zum Baer­ler Anleger, gibt es nicht mehr. Er ist verschwunden wie der ganze Stadtteil. Al­sum gibt es nicht mehr.

Mein Blick vom Baerler Ufer auf die gegenüberliegen­de Flussseite fällt auf giganti­sche Kokerei-Türme, die ununterbrochen Wasser­dampfwolken steil in den Him­mel blasen. Irgendwann vermi­schen sie sich mit den Wolkenwänden, die vom Meer her landwärts wehen. Eine Batterie von Schornsteinen, Koksbunkeranlagen und Strommas­ten besetzt das Ufer wie eine Verteidi­gungsfront. Undurchdringlich. Eine Fähre könnte nicht mehr landen. Der Alsu­mer Steig ist ja ver­schwunden.

Thyssen-Krupp-Steel herrscht hier, wo früher Fischer, Bauern und auch schon ein paar Stahlarbeiter wohnten. Deren Häuser, Läden und Kirchen mussten weichen. Sie muss­ten weichen, weil der Stadt­teil zu versinken drohte. Der Kohleabbau, der sich sich von Ost nach West unter dem Rhein lang zog, ließ das ehemalige Fischer- und Schiffer­dorf all­mählich absinken. Eine Rettung war nicht mehr möglich. Der Ort verschwand. Auf ak­tuellen Landkarten ist er nicht mehr zu fin­den. Nur alte Karten zeugen noch von sei­ner früheren Existenz. Das Ge­lände wurde aufbereitet für eine moderne Koks­produktion. Für den Koks, den man für die Hochöfen braucht. Etwas entfernt, aber noch nah genug in Bruckhausen, Beekerwerth und Schwelgern.

Wenn ich mich leicht nach rechts drehe, sehe ich die Umrisse der Hochofen-Anlagen. Durch das Rheinknie ist mir der Blick flussab­wärts nicht gestattet. Da müss­te Schwel­gern liegen, mit seinen Hafen­anlagen, um Steinkohle und Erze zu entladen. Der Alsu­mer Hafen dagegen war klein. Schon in den letzten Jahren nicht mehr tauglich für grö­ßere Güter. Aber immerhin war er ein Hafen, den der große Fluss mit dem Meer ver­band. Die Mündung war gar nicht mehr so weit entfernt. An­ders als der Ursprung des Stroms, der viele hundert Ki­lometer weit im Süden lag. Uns Kinder interes­sierte er aber nicht. Wenn wir Papierschiffe ins Wasser setzten, stellten wir uns vor, sie segelten ins Meer. Und schon hatten wir den Geruch von See in der Nase. Der kam aber eher von den ange­schwemmten toten Fischen, die hier und da in den Ufersteinen lagen.

Wir fanden uns fast regelmäßig am Alsumer Steig ein. Nach der Schule, mit den Rä­dern. Bei eini­germaßen schönem Wetter. Also, wenn es gerade nicht feste reg­nete. Wir stiegen nicht mal von den Rädern. Hockten auf den Querstangen und sahen den Schif­fen zu, die entweder bergauf oder tal­wärts fuhren. Man konnte aufs Wasser se­hen, ohne an etwas Besonderes zu den­ken. Wir sahen die Zeit ver­fließen. Vermutlich war das unsere Art von Entspannung. Vielleicht heißt das heute Medita­tion. Einfach an nichts denken. Dann, irgend­wann, drehten wir die Räder um 180°, bogen in die Uferstraße ab, kreuzten die Alsumer Straße, fuhren an der Nikolaus-Kirche vorbei und tauchten im Matena-Tunnel unter. Über uns lag der wuchtige Block der Au­gust-Thysen-Hütte, der die Stadtteile Bruckhausen und Alsum von einander trennte. Wenn wir ein paar Minu­ten später wie­der ins Freie fuhren, drangen die ätzen­den Gerüche der Koks,- Eisen- und Stahlproduktion in unsere Nasen ein. Die kurzen Momente der imaginier­ten freien Seeluft lagen schon wieder weit zurück.

Schon als kleines Kind war ich oft am Rhein. Mit mei­nen Eltern. Wie viele andere Fa­milien aus Bruckhau­sen und Hamborn drängte es uns bei schönem Wetter auf die an­dere Rheinseite, auf die grüne Seite, die von der Industrie unberührt war. In Alsum selbst hielten wir uns nicht auf, obwohl meine Großmutter von dort stammte. Ich glaube, aus der Seemannstraße. Manchmal nach dem Abendessen ka­men ihre Erinne­rungen hoch, dann erzählte sie von ihrer Kindheit und frühen Jugend und ihren Vorfahren. Langsam strich sie dabei mit ihrer lin­ken Hand über die Tisch­decke und ließ die untergegangene Welt ih­rer Vorfahren, die Welt der Rheinschif­fer, Fischer und Bauern leben­dig werden. Die Welt der Rheinschif­fer, die weit vor dem ers­ten Weltkrieg mit ihren Seg­lern zwischen Ruhrort und Rotterdam pen­delten. Die Welt der Fischer, die von ihren Booten aus am Steig den Fisch an die Hamborner, z. B. an den Probst der ehemaligen Abtei verkauften. Sie erzählte von den Fi­scher- und Land­wirtssöhnen, die dem Rhein den Rü­cken kehrten, um sich als Handwerker einen neue Existenz aufzubauen, weil das Leben am Fluss zu be­schwerlich war, Hochwasser und Eisgang fast regel­mäßig enorme Schäden im Dorf anrichteten.

Schon lange war meine Großmutter nicht mehr am Rhein gewesen. Sie hatte wohl in­nerlich damit abge­schlossen. Der Fluss lebte nur in ihrer Erinnerung fort. Ein Wieder­sehen schloss sie kategorisch aus. Gerade, wenn wir sie drängten, mit uns die Fähre nach Baerl zu neh­men. Denn wir hätten ja die Straßenbahn Linie 10 nehmen können, die sich als Schmalspurbahn durch den Matena-Tunnel wand und bis zur Uferstraße fuhr. Aber da war nichts zu machen. Und wir mussten dann manchmal Wo­chen warten, bis die Großmutter den Er­zählfaden wieder aufnahm und Geschichten von ihrer Kind­heit, ihren sechs Ge­schwistern, Cousins und Cou­sinen, Eltern und Großeltern zum Bes­ten gab.

Wenn ich in der Geschichte des untergegangenen Rheindorfes blätter­e, erfahre ich, dass es Alsum als Siedlung schon zur fränki­schen Zeit gegeben hat, in der Rheinaue gelegen, nahe an der Em­schermündung. Erst aus dem 14. Jahrhundert gibt es Überliefe­rungen von Landschenkungen an die Alsumer, angeblich vom Grafen Engel­bert von der Mark. So weit in die Ge­schichte brauchen wir nicht ein­zutauchen. Es reicht, weni­ger als 200 Jahre zurückzugehen, in die Welt meiner Großmut­ter und ihrer Vorfahren, um zu sehen, wie aus einem Fi­scherdorf ein In­dustrieort wurde, wie Lebens­läufe entstan­den und endeten - sowie Träu­me und Erwartungen bis in die Gegen­wart.

3. Kapitel

Schang, eigentlich Johann, flickte die Segel, die der starke böige Wind von der Fahrt von Ruhrort nach Al­sum, also nach Hause, an den Rändern zerfetzt hatte. Er hätte längst neue Segel gebraucht. Die jedoch konn­te er sich im Moment nicht leisten. Der Fischfang brach­te wenig ein, weil er seine Netze nur in der Nähe des rechten Rhein­ufers auswerfen konnte. Die Franzo­sen, die das linke Rheinufer be­setzt hielten, holten al­les aus dem Fluss raus, was sie in ihre Netze kriegten, und er konnte froh sein, wenn sie seinen Kahn nicht auf­brachten und ihm seinen Fisch nahmen. Der Fisch reichte gerade für die Fami­lie aus, verkaufen konnte er ihn nicht mehr, eine Einkom­mensquelle fiel also aus, aber noch nagten sie nicht am Hungertuch. Lachs und Mai­fisch, eigentlich die Brotfische der Fischer, hatte es im Früh­jahr noch gegeben, jetzt waren sie verschwun­den, der Maifisch sowie­so, aber auch die Lachse, die sonst um diese Jahreszeit noch Geld eingebracht hätten, befan­den sich jetzt wohl auf den Porzellan­tellern der französi­schen Bürgermeister auf der anderen Rheinseite.

Griets Schwester hatte davon vertellt, als sie neulich in „Frankreich“, wie sie sagte, war, um ihre Cousine zu besuchen, die noch einmal ein Mädchen be­kommen hatte. Ein süßes petit enfant. Also von Griets Schwes­ter wusste er, wie die Franzosen essen. Drei bis vier Sachen hintereinan­der. Alle auf neuen frisch ge­spülten Tellern mit Goldrand. Pastete. So etwas wie Leber­wurst, hatte man ihm erklärt. Lachs mit Kartof­feln in Sahnesauce. Natürlich sein Lachs! Ochsenbäck­chen mit Schmorge­müse. Dann zum Schluss: Crème brûlée. So eine Art Vanil­lepudding. Das brauchte er nicht mal zu Weihnachten. Lieber eine or­dentliche Fischsuppe mit einem Kanten vom frischen Ofenbrot. Dazu eine Kanne Bier. Nachher noch einen Schnaps. Seitdem Griets Schwester öfter bei den Franzosen war, tat sie so etepetete. Ja, noch nagten sie nicht am Hun­gertuch, wie Griet jeden Morgen voller Überzeugung sagte, wenn sie ihm die warme Biersuppe hinstellte. Seine Schwäge­rin trank inzwi­schen Kaffee und aß dazu Weißbrot. Weiß der Him­mel, woher sie das be­kam. Ja, sie hatten noch Fisch, al­lerdings keine Wan­derfische mehr wie Lachs und Maifisch, aber Bar­ben, Döbel und Bras­sen. Die holte er aus den Seitenarmen des Rheins, bei Emme­rich. Da kamen die Franzosen nicht hin. Das wa­ren jetzt ihre Brotfi­sche. Davon hat­ten sie genug. Unter der Hand ging noch einiges davon weg. Und dann brachte der Handel noch ei­niges ein.

Schang betrachtete das geflickte Segel. Etwas schief die Nähte. Aber sie würden hal­ten. Er faltete das ge­flickte Segel zusammen und legte es über das noch un­beschädigte, schon gefaltete Fockse­gel, verstaute das Werkzeug in der Kiste im Achterschiff. Er überprüfte noch ein­mal, ob der Kahn gut an der Hafenmole fest­gezurrt war, warf einen fast wehmütigen Blick auf das jetzt ruhig liegende Schiff mit seinem hohen Mast, sah die daneben liegenden Zweimaster, die Frachtschif­fe, und schlug den Heimweg ein. Der Zweimaster hatte den Vorteil, dass man mehr Waren transportieren, län­gere Stre­cken zurücklegen konnte. Aber dann hätte er die Fischerei aufgeben müssen und wäre oft tage­lang, wenn nicht wochenlang nicht zu Hause gewesen, bei Griet und den Kindern. Das wollte er nicht. Und Griet auch nicht. Für den Einmaster brauchte er nur einen zweiten Bootsmann, manch­mal bei den längeren Fahr­ten, wenn er Transporte über­nahm. Bald würde sein Erstgeborener mit an Bord sein, und wenn alles gut ging, in na­her Zukunft den Anton als Bootsmann erset­zen.

Wenn er an all dies dachte, fühlte er sich verbun­den mit der Erde und dem Strom. Mit der Erde, auf der das von den Vorfahren ererbte Haus mit dem Gar­ten drumherum stand, der ihnen Kartoffeln, Gemü­se und Obst gab, Lebensmittel, die sie über die kalte Jahres­zeit la­gern und einkochen konn­ten. Mit dem Strom, der sie mit fri­schem Fisch versorgte - noch, dachte Schang und bekreuzig­te sich - , mit dem Strom, der manch­mal wild über die Ufer trat, Land verwüs­tete und mitnahm, der in heißen Sommern zum Rinnsal wurde, den Fi­schen kein Leben mehr gab und sie tot am Ufer lie­gen ließ, schließ­lich mit dem Strom, der unsichtbar unter dicken aufgestauten Eis­panzern dahinf­loss, so dass trotz bitterster Kälte die Alsumer aufs Eis gingen und zur Mu­sik ei­ner eiligst zusam­mengetrommelten Ka­pelle tanzten. Wir Fi­scher bla­sen keine Trübsal, wenn das Wetter wendisch ist und der Herr­gott uns zeigt, wie klein wir Menschenkin­der sind. Pah, die Pfar­rer mit ihren Predigten vom Himmelreich. Er musste seine Familie jetzt durchbringen und trotz­dem die kleinen Freuden des Alltags genie­ßen.

Es war inzwischen dunkel, doch er kannte den Weg. Schwacher Lichtschein aus den umliegenden Häusern gab ihm Orientierung. Auch die zunehmende Entfer­nung zum Fluss, das nachlassende Glucksen des flie­ßenden Wassers ließen ihn wissen, dass sein Haus nicht mehr weit war. Zudem war heute der Himmel ziemlich wolken­frei, der Abendstern schon gut sichtbar. Griet glaubte an die Bedeut­ung der Gestirne. Sie bestimmen unser Leben! Doch Genaueres wusste sie dazu nicht zu sa­gen. Eine Tante, die bei ihr im El­ternhaus wohnte, hatte ihr wohl früher diesen Floh ins Ohr gesetzt. Humbug, nichts als Humbug, schnaubte er, wenn Griet wieder damit anfing. Das Wort hatte er neu­lich aufgeschnappt, in Ruhrort, als er mit ein paar Holländern über Frachttarife verhandelte. Und die hat­ten es aus England mitgebracht. Jedenfalls gaben sie damit mächtig an. Mit ih­rer Weltkenntnis. Mit ihrer Er­fahrung. Waren aber über Amsterdam nicht hinausge­kommen. Letztlich handelten sie nur mit Stockfisch, der eher für die ärmeren Leute war. Doch sein frischer Lachs und, wenn er Glück hatte, manchmal sein Kavia­rfisch, die „Herrenfische“, landeten auf dem Tisch der Reichen. Fischers Fritze fängt frische Fi­sche. Frische Fische fängt Fischers Fritze.

Die Barben und Brassen im wasservollen Holzeimer zappelten und schlugen mit den Schwän­zen. Um die Haustür zu öff­nen, musste er Eimer und Reuse abstellen. Er schnup­perte den holzigen Ge­ruch des Herdfeuers. Bald wür­den sie am Tisch sitzen, die Pfanne in der Mit­te, dane­ben die große Scha­le mit Kartoffeln. Jan-Pieter, der Älteste neben dem Jüngsten, dem Jakob auf der Holz­bank an der einen Längsseite des Tisches. Ihnen ge­genüber die Mädchen, Agnes und Anna auf der and­ren Bank. Griet und er an den Stirnseiten des Ti­sches. Ihm, dem Hausherrn, gebührte der Lehnstuhl, in dem er auch nach dem Essen sitzen blieb, um seine Pfeife zu rauchen. Griet brauchte nur einen niedrigen Hocker, weil sie ja sowieso mehr stand als saß, im Grunde im­mer ging, um auf- und abzu­räumen, in den Töpfen zu rühren, Brot nachzureichen und Wasser einzuschenken und dem Schang sein Bier nachzugießen. Griet tat das gern. Und jetzt ging es ihr auch wieder besser, nach­dem sie den plötzlichen Tod der Zwillinge etwas ver­wunden hatte. So einfach am Fieber gestor­ben. Mir nichts. Dir nichts. Von den Franzo­sen kommt das! Tuschel­ten manche, und auch der Pfarrer machte so seine Andeutungen. Al­les Quatsch hatte Schang gemeint, der den Pfarrer nicht leiden konn­te. Auf der anderen Rheinseite ster­ben sie doch auch. Die konnten sich selbst auch nicht helfen mit ihren neuen Gesetzen und dem Fort­schritt.

Die Sterne hatten es ihr vorhergesagt. Griet war sich da si­cher, und Tante Luise, mit der sie regel­mäßig Kontakt hielt, hatte es auch so gesehen. Ein Unglück wird deine Fa­milie heimsuchen. Du wirst ab­geben und leiden müs­sen. Sie hatte ge­litten und ge­geben, hatte Gott, dem Herrn gezürnt und ihre schwe­re Sünde gebeichtet. Die Zwillinge waren im Himmel. Das war ganz sicher. Das glaubte auch Schang, der manchmal eine lose Zunge hat­te, wenn es um den Glauben ging. Vielleicht hatte er zu viel von den Linksrheinischen aufgeschnappt, den Gottlosen.

Es gab da aber nicht nur die Sterne da oben, die den Menschen da unten Zeichen gaben. Hier unten, ganz in der Nähe, das spürte Griet, bewegten sich die Nixen, an den Ufern, in den kleineren Gewäs­sern, und Tante Luise hielt sich immer etwas darauf zugute, nahe der Em­schermündung Nixen gese­hen zu haben, wenn auch im Nebel. Doch ganz deutlich hat sie ihre Stimmen ge­hört. Andere Frauen im Schif­ferdorf meinten auch, wenn die Novembernebel so dicht über der Erde lagen, dass man nicht mehr Freund und Feind unterscheiden konnte, dann trauten sich die Wassergeister hervor, um nach Jünglin­gen zu suchen, die sie zu sich in die Tiefe ziehen konnten. Gisbert Koch, der von Wesel zugezo­gen war, um hier in Alsum das Schiffer­handwerk zu lernen, der bei den Tanzfesten und auf dem zugefrore­nen Rhein mit jeder getanzt hatte, die noch unverhei­ratet war, und der auch den Ver­heirateten schöne Au­gen machte, und Griet musste sich eingeste­hen, dass auch sie selbst gern in sei­nen Armen gelegen und sich sich im Takt der Musik gedreht hätte, bis ihr schwinde­lig geworden wäre, der schöne blonde Gis­bert war ei­nes Tages ver­schwunden. Weg für immer. Nie mehr gesehen. Es waren die Nixen, sagten sogleich die alten Weiber. Warum sollten sie sich diese Beute entgehen lassen? Unsinn, meinte Schang, das waren die Ehe­männer. Die wollten nicht gehörnt werden! Im Nebel kann viel pas­sieren. Gott hat den Schuldigen bestraft, sagten die ganz Frommen, hinter denen der Pfarrer steckte. Du sollst nicht ehebre­chen. Es gibt eben viele Mächte, die auf uns Menschen einwirken, dachte Griet, ohne dass sie dabei etwa Gott nicht achten wür­de. Gott stand ja sowieso über allem. Doch es gab auch die Zwerge und Drachen, weiter oben, den Rhein hoch, wo ein Gold­schatz versteckt sein sollte. Weit hinter den sie­ben Bergen. So weit waren Schang und die Schiffer, die sie kannte, noch nicht ge­kommen. Von Köln hatte er öfter erzählt. Ob er wirk­lich selbst da war? Oder nur weiter erzählt hatte, was er gehört hatte? Sie brauchte nicht da gewe­sen zu sein. Ruhrort reichte ihr. Einmal im Jahr, wenn Schang oder ein anderer Schiffer sie mitnahm, damit sie Sachen kaufen konnte, die in Alsum nicht ausgela­den wur­den, Sa­chen aus Holland, aus dem Land ihrer Vorfahren, Spitzen, Porzellan, Seide, die übers Meer kamen. Einmal im Jahr kaufte sie sich etwas. Einmal war es eine Tasse aus Delft. Wenn dann der Nebel dicht über dem Land lag und das Heim­weh sie befiel, trank sie aus dieser Tasse und träumte sich in die Welt des Helden aus dem Nebel­land hinein, in die Welt des Dra­chenbezwingers, der aus einer Stadt kam, in der sie auch noch nicht ge­wesen war, obwohl nicht weit ent­fernt, nur ei­nen halb­en Tag weiter bergab, doch schon etwas mehr der gro­ßen See zu. Und noch weiter dem Meer zu, da lag die Burg, von der aus der edle Ritter, der seinen Namen nicht nennen durfte, den Rhein hinauf fuhr, in einem Nachen, von einem wei­ßen Schwan gezogen.

Schang stand mit dem Rücken zur Haustür. Die grüne Farbe war ab­geblättert. Kein Immergrün. Auch die Fenster brauchen einen neuen Anstrich, meinte Griet. Oder hatte das ihre Etepetete-Schwester mal wieder ge­sagt? Wenn überhaupt, darum würde er sich später küm­mern. Er wartete auf Jan-Pieter, der ihn begleiten sollte. Gerade jetzt musste Griet Maß nehmen für eine neue Überja­cke, die sie ihm nä­hen wollte, aus Stoffres­ten, die sie über längere Zeit gesammelt hat­te, von al­ten Hosen, Westen und Jacken. Der Junge wuchs zu schnell aus seinen Sachen heraus. Schon jetzt war er fast so groß wie seine Mutter. Schang wurde ungedul­dig. Mit Geduld und Spucke fängt man eine Mucke. Was für ein Quatsch! Er hasste das Warten. Allzu leicht riss ihm in letzter Zeit der Gedulds­faden. Sie wollten nach Beeck. Dort an der Emscher lag die Werkstatt, wo sie seinen Nachen repa­rierten, der beim letzten Hochwasser Schaden genommen hatte. Im März war nochmal das Wasser gestiegen. Der Winter war lang gewesen, die Schneeschmelze schnell und ge­waltig, später als sonst. Die Wege im Schifferdorf bis runter nach Hamborn wa­ren überflutet. Und als der Lehrer Martin Ri­cken plötz­lich gestorben war, da konn­ten sie ihn zum Beecker Friedhof nur mit dem Nachen überfüh­ren. Die Alsumer Trauergemeinde folgte ihm in zwölf weiteren. Sei­ner war der letzte. Und weil er den vorausfahrenden im Blick behielt und nicht mehr auf die Wassertiefe achte­te, lief der Nachen auf Grund. Ein Stein riss ihm den Boden auf.

In der Werkstatt müssten sie ihn jetzt fertig haben. Lange ge­nug hat­ten sie ja gebraucht. Der März war längst vor­bei, die Bauern konnten ihre Rösslein erst Ende April anspannen, dann kam wieder so ein hei­ßer Sommer, und schon bald musste die Ern­te eingebracht wer­den. Doch Hein­rich Müller aus der Werkstatt hatte ihn im­mer ver­tröstet. Was brauchst du jetzt deinen Na­chen? Vielleicht haben wir wieder kaum Wasser in Rhein und Emscher. Was willst dann mit dem Nachen? Blödes Gerede, sag­te sich Schang. Bei dem heutigen Was­serstand kann der Jan-Piter zeigen, wie er mit dem Boot um­gehen kann. Kräftige Arme zum Rudern hat er schon. Außer­dem fahren wir mit der Strömung. Da gehts ums Steu­ern. Steuermann will er ja wer­den, auf einem Lasten­segler. Aber zuerst lernt er bei mir das Fischen und Segeln. Griet hat Angst, dass er sich später nach Hol­land ver­dingt, als Schiffer, wie manch ei­ner aus Alsum, der abgewandert ist. Da zahlen sie gut, und de meisje zijn mooi en lek­ker, wie seine Griet aus der Nähe von Arnheim. Das wusste er ja selbst am bes­ten. Be­sonders wenn er an die letzte Nacht dachte. Er hatte diesmal beson­ders aufgepasst. Auch die Frau wollte nicht noch einmal von vorn an­fangen. Den Tod der Zwillinge hat­te sie noch nicht verwunden. Und es war viel zu tun im Haus und Garten. Neulich bei der Pre­digt, Pflichten der Ehe­leute Gott gegenüber, als die Augen des Geistlichen die Frauenseite absuchten, wur­de Griet ganz rot, er aber ballte Fäus­te, dass seine Knöchel weiß wurden. Der Kapaun hatte gut reden! Oder der wusste sogar gut Bescheid, der Gockel! Die Evi von der Witwe Niewerth sah dem Pfarrer sehr ähn­lich, meinten sogar die ganz Frommen. Die Ältere der Niewerth-Töchter war ja nach Ams­terdam verhei­ratet. Das wird schon seine Gründe gehabt haben.

Der kleine Kahn glitt ruhig mit der Strömung des Ne­benflusses da­hin. Ab und zu ließ Schang seinen Sohn anhalten und mit den Rudern die Stellung halten. Man konnte im klaren Wasser die Fisch­schwärme deutlich ausmachen. Die meisten Namen der Fische wusste Jan-Pieter schon. Der Vater brachte ihm noch neue bei: Äsche, Nase, Gründling, Schneider, Döbel. Die woll­ten jetzt in den gro­ßen Fluss. Eine gute Stelle zum Fi­schen. Doch nicht heute. Keine Sorge, die Fi­sche wer­den nicht ausbleiben. Demnächst würde Jan seinem Vater beweisen, wie gut er schon mit Angel und Netz um­gehen konnte. Und wegen der Fische machte er sich keine Gedanken. Gedanken machte er sich höchstens wegen Evi.

Jan konnte sich auch vorstellen, Zimmermann zu wer­den. Mit Werk­zeug konnte er umgehen. Die Reparatu­ren im Haus übernahm er schon ganz oft. Zimmerleute brauchte man hier im Schifferdorf für das Flottmachen von Kähnen und Nachen und großen Seglern. Da gab’s genug Arbeit. Außer­dem besaß jeder Hof hier im Um­land einen Nachen. Die mussten immer mal wieder in Schuss ge­halten werden, so wie ihrer. Die Zimmerer wa­ren gesucht und genossen Ansehen. Eine eigene Werk­statt! Träum weiter, Jan-Pieter! Aber dann wäre er im­mer zu Hause. Wenn die Evi ihn denn nähme, wäre er im­mer bei ihr. Wenn die Schiffer auf Hollandfahrt wa­ren, dann waren sie lange Zeit fern von zu Hause. Da konn­te viel passieren. In Holland, aber auch hier. Da hatte er oft die Gesprä­chen gehört, wenn der Ohme Jupp zu Besuch war mit der Tante Luise. Und der Ohme Jupp konnte erzäh­len!

Seit er firmiert war, ging Jan nicht mehr zur Schu­le. Schule, na ja. Die Schule war die Wohnung des Or­ganisten. Und der Organist war ihr Lehrer, der sich mit dem Unterrichten noch ein paar Groschen dazu ver­diente, damit er seine große Familie über Wasser hal­ten konnte. Acht Blagen hatten über­lebt. Der Organist und seine Frau, die gehorchten dem Pfarrer aufs Wort. Deshalb kamen sie auch auf keinen grünen Zweig. Das hatte er seinen Eltern abgelauscht, wenn sie glaubten, dass er schon schläft. Sie wussten ja nicht, dass er heimlich die Tür zur Küche einen Spalt geöffnet hatte. Manch­mal stritten sich die Eltern. Seine Mutter hätte es lieber gesehen, wenn er dem Bauern Schultes ge­holfen hätte, so wie die meisten anderen Kinder in sei­nem Alter auf den Höfen halfen. Auch die ar­beiteten schon als kleine Helfer, brachten Kartoffeln, Ge­müse, Äpfel, Bir­nen nach Hause und zu Weihnachten ein Suppenhuhn oder in guten Zei­ten eine Gans. Geld gab es so gut wie nie. Der Vater jedoch hatte dar­auf ge­drängt, dass er lesen und schreiben und rechnen lernte. Ohne das kommt ein Schiffer heute nicht mehr aus. Er muss rechnen, schrei­ben und lesen können, damit er nicht später bei der Abrech­nung der Frachtkosten übers Ohr gehauen wird. Da hatte auch Jan sich gefügt, ob­wohl er lieber wie die anderen Jungen selbst etwas ver­dient hätte. Aber jetzt, wenn er an die Evi dachte, wenn er sich vor­stellte, vielleicht Kapitän auf einem Zwei­master zu sein oder so­gar Zim­mermann mit eigener Werkstatt, dann gab er zu, der Vater hatte wohl Recht gehabt.

Der Ohme Jupp, der so viel und gut erzählen konnte, der war auch schon weit in der Welt herumge­kommen. Der kannte sich aus. Der hatte ihm auch bei der Evi geholfen. Bald werden sie heiraten. Auch mit den Pa­pieren kennt er sich aus. Seitdem Napoleon geschlagen ist, gehören sie alle zu Preußen, auch die von der lin­ken Rheinseite, die „Franzosen“. Der Staat wird die Heirat beglaubi­gen. Die nötigen Pa­piere hat der Ohme Jupp besorgt, die von seiner und Evis Geburt. Die la­gen noch in der Hamborner Pfarrei. Der Bürger­meister in Hamborn übernahm die Trauung. In die Mes­se gingen sie später auch noch. Darauf hat die Mutter bestanden. Er hatte nichts dagegen und die Evi auch nicht. Der Vater hat gemeint, das wär nicht nötig, nur um dem Pfarrer eins auszuwischen, und über die „Franzo­sen“ drü­ben, auf der anderen Seite, hat er ge­lacht. Ob die noch weiter franzö­sisch palavern, wenn die Preußen das Sagen hätten? Jedenfalls der Ohme Jupp hat das Gerücht aus der Welt geschafft, dass die Evi das Kind vom Pfarrer ist. Er und Evis Vater, der Mattes Niewerth, waren Hollandfahrer, immer von Al­sum nach Arnheim oder von Al­sum nach Amsterdam. Jahrelang. Und eines Tages haben sie in Amster­dam als Hochseeschiffer angeheuert. Da waren sie auf langer Fahrt, von Amsterdam nach Holländisch Indien, jahre­lang. Und der Ohme Jupp und der Mattes wa­ren selten zu Hause, aber danach kam irgend­wie die Evi zur Welt und auch deren Schwester vorher. Nur irgend­wann kam der Mattes nicht mehr nach Alsum zurück. Er ist in Ams­terdam geblieben. Er mochte wohl die Hollän­derinnen. Der Ohme Jupp konnte das verstehen. Sein Vater wohl auch, denk doch nur an deine Mutter, Jan! Als der Mattes nicht mehr kam, sah man immer öfter den Pfarrer, um die junge Witwe zu trösten, wie er meinte, ob­wohl sie gar keine richtige Witwe war.

---ENDE DER LESEPROBE---