Die Blaue Giraffe - Johannes Lengert - E-Book

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Johannes Lengert

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Beschreibung

Sieben Erzählungen unterschiedlicher Länge, die zu verschiedenen Zeiten spielen, die von Kindheitserlebnissen, der ersten großen Liebe, von Eifersucht und Rache handeln. Es gibt Reiserlebnisse aus Afrika und Südamerika, und auch dem internationalen Kunsthandel kommt eine gewisse Bedeutung zu.

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Johannes Lengert

Die Blaue Giraffe

Erzählungen

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Johannes Lengert

Die blaue Giraffe

Erzählungen

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

Inhalt:

Die blaue Giraffe

Longstreet

Emma K.

Die weiße Dame

Roswitha

Bluter

Letzte Tage im Land des Januarflusses

Die blaue Giraffe

Namibia war bisher nie für mich als Urlaubs- oder Reiseland in Frage gekommen. Nicht einmal aus beruflichen Gründen hatte ich es dorthin geschafft. Natürlich war mir die grundsätzliche politische und historische Situation bekannt. Deutsch-Südwest-Afrika als Kolonie des deutschen Kaiserreiches, die damit verbundene Herero-Problematik, der Befrei­ungskampf der SWAPO, die jahrzehntelange Ab­hängigkeit von der Südafrikanischen Republik. Und schließlich hatte ich vor Jahren Uwe Timms engagierten Roman „Morenga“ gelesen. Ferner war mir bekannt, dass es in diesem Land noch einige deutsche Farmer gab, von denen einige die alten Verhältnisse für besser als die gegenwärtigen hiel­ten. Selbst die von Freunden und Bekannten in den höchsten Tönen gelobten geografischen Schönhei­ten, die Flora und Fauna hatten mich unbeeindruckt gelassen.

Wie es dazu kam, dass ich doch nach Namibia rei­ste, hatte mit der „Blauen Giraffe“ zu tun.

Die Sonne ging unter, und man konnte am Düssel­dorfer Rheinufer, wochentags, wenn die Tagesaus­flügler die Rheinpromenade noch nicht über­schwemmt hatten, ihr bei einem Glas Altbier oder einem Glas Rosé gut dabei zusehen und seinen Ge­danken nachhängen. Zumal wenn man vorher in der Kunsthalle die aktuelle Ausstellung zum bildne­rischen Surrealismus gesehen hatte.

Max Ernst hatte mich beeindruckt. Ich hatte noch das Bild der das Jesuskind züchtigenden Jungfrau (vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler selbst) im Kopf. Vieles verflüchtigte sich nach einem Museumsbesuch, der letztendlich immer anstrengend war, weil man Neues aufnahm, es mit Bekanntem verknüpfte, nach Erklärungen, Verbindungslinien, nach Anregungen suchte. Die Erschöpfung hatte auch zu tun mit dem Farben­rausch, den ich suchte und dem ich mit hingeben wollte.

Vielleicht war gerade dieser letzte Punkt nicht das Ziel surrealistischer Malerei, doch hatte mich gerade ein Bild in seinen Bann gezogen, das eigentlich nur eine Variation einer einzigen Farbe war und das noch nicht einmal ein einzigartiges Sujet darstellte.

Es zeigte nur ein Tier. Ein mir bislang unbekannter Maler hatte im Format vierzig mal fünfzig Zentimeter, also eher kleinflächig, eine Giraffe in blauen Farben ins Bild gesetzt und auch Vorder- Mittel- und Hintergrund, mit der derselben Grund­farbe spielend, gestaltet.

Zuerst war mir an der Körperform nichts aufgefal­len. Das schlanke Tier sah mich unbeteiligt mit, ja, blauen Augen an, hatte die Ohren hochgestellt und schien in einer abstrakten Savannenlandschaft wie ein Solitär. Es gab keine Herde, keine anderen Tie­re, keine Feinde. Der Hintergrund wirkte ätherisch, wenig plastisch, sehr flächig, kaum perspektivisch. Das Außergewöhnliche erschloss sich mir bei nähe­rem Herantreten.

Da das Bild relativ klein war, musste ich mich über das Absperrungsseil zum Bild hin beugen. Ich ma­che das sehr ungern. Das Aufsichtspersonal will immer gleich Verdacht schöpfen und einen Kunst­räuber in einem ver­muten, das übrige Publikum sieht her und glotzt, anstatt sich mit den ausgestell­ten Objekten zu beschäftigen.

Und da sah ich es oder besser sah sie, die sieben Beine. Die Giraffe besaß vier Hinter- und drei Vor­derbeine.

Nun erklärte sich mir die Hängung bei den Surrealisten noch besser. Ein zweites Mal musste ich mich vorbeu­gen, um auf dem kleinen in drei Sprachen gedruckten Schildchen rechts neben dem Giraffenbild den Namen des Malers zu lesen. Er sagte mir nichts. Er gab sich mir nicht bekannt. Es gab auch keinen weiteren Hinweis auf weitere Bilder von ihm oder eine Malerschule. Also ließ ich mich weiter treiben, sah mir die restlichen Bilder an, war aber unkonzentriert, verließ schließlich die Ausstel­lung und begab mich ans Rheinufer.

Ich brauchte Zeit, um nachzudenken. Die Rheinter­rassen waren trotz der kalten Jahreszeit geöffnet. Heizpilze und Decken schützten gegen die Kälte. Ich bestellte ei­nen Rosé südfranzösischer Herkunft. Den leicht mous­sierenden Rosado Alquézar, den ich aus den spanischen Pyrenäen kannte, gab es hier leider nicht.

Die leichte Abendbrise reinigte ein wenig die sti­ckige Luft, die den ganzen Nachmittag auf der Stadt gelastet hatte. Die Sonne versank hinter dem linken Rheinufer, genauso kitschig, wie ein Post­kartenfotograf ihren Un­tergang gemalt hätte.

Der Museumsbesuch sollte mich ablenken. Nicht, dass mir das Ausstellungsthema egal gewesen wäre. Mitnichten. Ich war gerade wegen der Surrea­listen-Exponate in diese Stadt gekommen. Das Ausstellungsarrangement und der Katalog hat­ten gute Kritiken in der überregionalen Presse be­kommen.

Eine Zeitlang war ich abgelenkt, doch die Sache mit Lisa ließ sich nicht einfach wegwischen, so wie man eine Schultafel sauber wischt. Die Aussprache hatte nichts genutzt. Wahrscheinlich war es auch keine ehrli­che Aussprache gewesen, eher das Auf­wärmen bekann­ter gegenseitiger Vorwürfe. Etwa, warum ich nicht end­lich konsequent handle, die Beziehung richtig leben wolle, statt auszuweichen, scheinbar aus beruflichen Gründen, Arbeit vor­schiebend, um abreisen zu können, angeblich als Location Scout, wer weiß, was da denn dahinter stecke, oder sie dann doch tatsächlich beenden soll­te, die Beziehung, endgültig, für immer. So, in der doppelten Verneinung endete ihr Part.

Der meinige war nicht weniger eingeübt. Sie sei ja kaum noch zu Hause, immer nur auf der Karriereleiter unterwegs und abends sei sie zu müde, um ins Kino oder in Galerien zu gehen.

Ich übertriebe denn auch mit meinem Kunsttick, das ständige Aufsuchen von Muse­en, das ich mit meinen Beruf rechtfertigen wolle, was Filmsettings denn mit hängenden Bildern zu tun hätten.

Der gut gekühlte Rosé hatte eine erfrischende Wir­kung, und ich fühlte eine leichte Entspannung. Auf der Re­staurant-Terrasse saßen nur wenige Leute, trotz des schönen Wetters und der Aussicht auf den Rhein. Ein äl­teres Ehepaar hatte sich einen kleinen Imbiss bestellt, ein turtelndes junges Paar nahm sich ein Drei-Gänge-Menü vor. Offensichtlich hat­ten die beiden mit der Weinauswahl Probleme. Der Kellner hatte sie wohl nicht gut beraten.

Immerhin war ich mit meinem Rosé zufrieden, dachte schon daran, mir auch die Speisekarte kommen zu lassen, als ich wieder an das blaue Bild denken musste. Warum war nichts über den Maler herauszufinden gewesen? Selbst der Katalog zeigte eine Leerstelle, mehr noch, das Bild tauchte im Katalog gar nicht auf. Ein Versehen? Ein Fauxpas der Druckerei? Absicht der Herausgeber? Wenn ja, aus welchen Gründen? Ich nahm mir vor, am nächsten Tag im Internet zu recherchieren, wenn es denn im Hotel einen entsprechenden Zugang gab.

Meine Buchung bezog sich auf drei Tage. Ich wollte noch in das Museum der Kunstakademie und in die Ausstellungsräume des Landesmuseums.

Jetzt brauchte ich doch etwas zu essen. Ich rief den Kellner, orderte die Speisekarte und bat um die restliche Flasche des Weines aus Südfrankreich.

Die Internet-Recherche nach dem Abendessen auf den Rheinterrassen hatte noch kein zufrieden stellendes Er­gebnis gebracht. Der Name des Malers auf dem Schild­chen lautete Otto Frivol. Sollte man beim Nachnamen die erste oder zweite Silbe betonen? Die direkte Suche nach Vor- und Zuname erbrachte nichts. Ersetzte man allerdings das I in frivol durch ein O, ergab sich Frovol und dann weiter entwickelt Frohwohl, eine Spielerei, die mich auf eine Spur brachte. Aber das Internet schwieg zu Otto Frohwohl und zeigte mir seine Gren­zen.

Ich kenne nicht viele Kunstexperten oder Galeris­ten persönlich, immerhin war ich flüchtig mit dem Kurator des Landesmuseums bekannt. Wir waren uns auf einer Vernissage in Hamburg, in einer klei­nen Galerie, begeg­net, als Lisa noch daran Interes­se zeigte und nicht mehr wie heute nur ihre Schule im Kopf hatte. Dieser Kurator hatte zwar für ein persönliches Gespräch keine Zeit, versprach aber, eine E-Mail mit Informationen zu schi­cken, spätes­tens am Abend.

Im Grunde ist die Farbe blau heutzutage nichts Be­sonderes mehr. Früher, in der Antike und im Mittel­alter, als man die Farbe aus Indigo oder Lapislazuli, also aus einer Pflanze oder einem Halbedelstein herstellen musste, war sie kostbar und wenig ver­wendet. Infolge chemischer Herstellungs- verfah­ren seit dem 19. Jahr­hundert gibt es nun alle mögli­chen Varianten des Blau, zum Beispiel bei Stoffen von den früheren Uniformen bis zu Jeans heute. Und für die Maler gibt es ein Sorti­ment blauer Acrylfarben. Aber Franz Marc malte doch schon Große Blaue Pferde jenseits von banalem Realis­mus! Dann dachte ich an Henri Roussau, an sein Bild mit dem Tiger im Dschungel, scheinbar natür­lich ge­malt, aber auf seinem Rücken sitzt der Maler selbst, die Ukulele spielend. Von Dalí gibt’s die Elefanten mit lan­gen Spinnenbeinen vor wüstenar­tigem Hintergrund.

Wo lag nur der Schlüssel zur „Blauen Giraffe“? Die eher klassischen Surrealisten mussten nicht die Lösung sein. Und Yves Klein hatte sicherlich nichts damit zu tun. Ich versuchte es mit den Romanti­kern, mit Novalis' Blauer Blume und dem Blues, den ich bald wohl selbst bekam. Es stellte sich kein Sinn her.

Du musst zielstrebiger sein. Du lässt dich manch­mal so hängen. Lisas Worte gingen mir durch den Kopf, als sie ihre Bewerbung auf eine Schulleiter­stelle rechtfertigte. Meine Arbeitsweise reichte mir doch zum Leben. Ich brauchte ihre nicht zu kopie­ren. Ich konnte reisen, bei Bedarf organisieren, mir die Welt ansehen, unter der Bedingung, geeignete Drehorte für Filmproduktionen zu finden.

Ich war größtenteils für Lateinamerika zuständig. Da jedoch wurde nicht so viel gedreht, und schon wieder schwebte Lisas Vorwurf über mir. Aber ich hatte auch Zeit für meine Interessen, oder war es schon ein Tick, dass ich dauernd in Museen war, wie jetzt, in Düsseldorf?

Tatsächlich war vom Kurator eine Nachricht ge­kommen.

Ich hätte Otto Frivols Giraffe fotografieren sollen! Auch wenn dies offiziell nicht gestattet war ( mit dem Smartphone in einem unbeobachteten Augen­blick). Jetzt verfügte ich lediglich über Erinnerun­gen, die mit dem zeitlichen Abstand immer vager wurden. Wie war das denn mit der Vegetation, gab es die überhaupt nicht oder doch? Und die Farbnu­ancen. Kam auch türkis vor oder nur hellblau? Ob­wohl in meinem Gedächtnis viele Bilder recht gut abgespeichert sind, stieß ich auf Erinnerungslü­cken, gerade jetzt. Ich war unkonzentriert. Sie woll­te Schulleiterin werden. Kein Beruf ist derartig Kräfte zehrend, anstrengend, mit wenig Prestige ausgestattet und dann zu schlecht bezahlt. Das Un­terrichten von Erdkunde und Biologie war ihr wohl nicht genug. Da musste erst noch die Oberstufenlei­tung dazu. Dann die stellvertretende Schulleitung.

Mir hatte es nach der Referendarzeit gereicht. Ich bin danach ausgestiegen. Für mich war damit mei­ne Schulzeit endgültig beendet. Alexander von Humboldts Südamerikanische Reise, die Lektüre dieses Buches hatte den Ausschlag für meine Fä­cherwahl an der Universität gegeben. Dann wollte ich nur noch nach Südamerika.

Es gibt, so hieß es in der Kurator-Mail, einen Maler Frohwohl. Möglicherweise mit dem Vornamen Otto. Dabei kann es sich um ein Pseudonym han­deln. Im Archiv gibt es ein paar alte Ausstel­lungskataloge. Da wir dauernd Wechselausstellun­gen machen, ist die Fluktuation hoch. Es fehlt ein bisschen die Übersicht. Der Katalog ist aus den siebziger Jahren. Ich hinterlasse für Sie eine Kopie des letzten Exemplars an der Pforte.

P.s. Bitte halten Sie mich über Afrika auf dem Lau­fenden. Ihr Forschergeist hat auch mein Interesse geweckt.

 

Offensichtlich hatte ich die Blaue Blume gefunden, oder sie war in erreichbarer Nähe. Aber das hieß, ich musste auf Wanderschaft gehen, wieder hinaus in die Welt. Das kam mir nicht ungelegen, obwohl ich, bekanntermaßen zu wenig ehrgeizig, eine Zeit­lang in heimischen Gefil­den verbringen wollte.

Die Kopie des alten Katalogs zeigte eine Präsenta­tion verschiedener Künstler aus den siebziger Jah­ren des vorigen Jahrhunderts, die hier als Repräsen­tanten der Postmoderne galten. Beim Durchblättern fanden sich zwar einige dem Surrealismus anver­wandte Bilder, aber nicht die Blaue Giraffe, son­dern stattdessen andere Werke von Frivol und im Anhang eine Kurzbiographie.

Frivols Bilder hatten kein wiederkehrendes Sujet, sondern offenbarten Phasen eines Künstlers, der auf der Suche war, aber niemals sich auf eine Mode würde festlegen können, der eigentlich für Galeri­en, die ja Moden und Stilumbrüche brauch­ten, uninteressant war. Die Bilder im Katalog wa­ren kleinformatig, auf der Kopie farblich noch gut erkennbar, mit Angaben über die wirklichen Grö­ßenverhältnisse.

Auffallend war eine Serie von Bildern, die den aktuellen Gemälden von Gerhard Richter ähnelten, verschlierte Farben, offenbar mit einem Rakel aufgetragen und dann von oben nach unten verteilt, so dass sich die ursprünglichen Grundfarben leicht vermischten.

Überhaupt, das fand ich schnell heraus, ging es Fri­vol offensichtlich immer wieder um die Grundfar­ben rot, blau, gelb, dann gemischt als orange oder violett und manchmal grün. Es gab auch Selbst- oder Familienporträts, die expressionistisch wirkten und mit der Pla­katkunst verwandt waren. Und schließlich, am Schluss, drei Bilder unterschiedli­chen Formats, die so etwas wie eine blaue Periode bildeten: ein großformatiges Gemäl­de in Blautö­nen, streng geometrisch aufgebaut, dessen Flächen wie Glas- oder Spiegelwände wirkten, mit dem be­zeichnenden Namen „Liebe zur Geometrie“, ein klei­neres Format, dunkel- blau, senkrecht schmut­zig-weiß aufgehellt, aus dem Augen und Mund ei­ner Frau her­ausblickten, alles mit blauen Waage­rechten, wie mit Git­terstäben gequert, das die Be­zeichnung „Frau in Blau“ trug. Und es gab ein ein drittes Bild, in der Größe des zweiten, ein Frauen­porträt, das mich melancholisch an­blickte, mit dem leichten Lächeln der La Gioconda, al­lerdings mit nach links geneigtem Kopf. Durch die ausschließlic­he Verwendung von Blau- bis Weißtö­nen entsteht der Eindruck einer Skulptur, einer Marmorbüste im Mondlicht. Dieses Bild hatte Fri­vol „Mona als Lisa“ genannt. Hierher musste auch die Blaue Giraffe gehö­ren!

Das Frauenporträt gab mir die Idee ein, nach Italien zu ziehen, so wie Eichendorffs Taugenichts. Ich verwarf den Gedanken schnell wieder, da dort wohl keine Giraffen-Maler zu finden wären. Aber wo steckte Frivol oder hielt er sich versteckt? Und war­um wollte ich ihn überhaupt finden. Die Vorstel­lung, die Person ausfindig zu machen, ergriff all­mählich von mir Besitz. Die Kurzbiografie konnte erst einmal etwas helfen.

Kurz erwog ich, nach Hamburg zu reisen, um Lisa von meinen Entdeckungen zu berichten, zumal mich das blaue Porträt sofort an sie erinnerte. Es hatte aber nicht die harten Züge, die sich schon in Lisas Gesicht einzuschleichen begannen.

Schön waren unsere gemeinsamen Abende gewe­sen, wenn wir uns in der kleinen Dach-Wohnung gegenseitig vorlasen, was wir in Zeitungen und Bü­chern, mit denen wir beschäftigt waren, gefunden hatten. Noch gab es ei­nen gemeinsamen Nenner, der vom Studium herstamm­te, denn wir hatten uns beim Geografiestudi­um kennengelernt. Sie hatte immer schon Afrika allen anderen Themen vorge­zogen. Mein Hauptinteresse galt ja Lateinamerika, deshalb auch das zweite Studienfach Spanisch. Lisa war nur einmal in Afrika, damals auf ei­ner Großen Exkursion mit ihrem verehrten Professor Horst Mensching. Ich glaube, es war in den Ländern des Maghrebs. Sie schlug eine Dissertation zum Thema Tro­ckenheit in Marokko aus, lieber ging sie in die Schule, um hier ihre Meriten zu verdienen.

Nach Hamburg fuhr ich dann doch nicht.

Ich war nur ein einziges Mal in Afrika, nicht lange, in Togo und Ghana. Eine Produktionsfirma hatte mich hingeschickt, um Eindrücke zu sammeln. Ein Film wurde nicht gedreht.

Afrika! Die blaue Giraffe hatte damit zu tun und möglicherweise ihr Schöpfer!

Düsseldorf zeigte sich auch an diesem Abend von seiner schönen Seite. Ich machte einen Spaziergang am Rhein­ufer entlang. Die Luft war kühl, und es dunkelte, ruhig floss der Rhein, ich suchte einen Platz im Abendsonnen­schein.

Auf einer Bank, abseits von bereits einsetzenden Trubel, wollte ich die Kurzbiografie über Frivol lesen.

Das Rheinwasser schlug plätschernd gegen die Uferstei­ne. Langsam breitete sich Stille aus. Mö­wen überflogen die Uferpromenade, flogen mir fast ins Haar und stoben  davon. Eine leichte Brise kam auf, und ich begann zu frösteln. Was mir vorhin noch leicht möglich erschien, einfach nach Ham­burg zu reisen, war mit einem Mal un­möglich. Zu groß waren inzwischen die Differenzen zwischen Lisa und mir. Gerade deshalb saß ich ja hier. Wir waren Fremde geworden. Ich hatte eine lange Zeit geglaubt, dass sich die Gegensätze überbrücken lie­ßen, wenn nur ein tiefes Begehren da war. Aber die Ausein­andersetzungen in letzter Zeit ließen davon kaum etwas übrig. Es ergriff mich plötzlich mit wildem Weh. Egal, ich musste jedenfalls fort.

Die Lektüre der Biografie ergab, dass ein gewisser Hans Günther Frohwohl ursprünglich Restaurator war, in verschiedenen Kirchen gearbeitet hatte und sich dann der Leinwand zuwandte, um nur noch nach eigenem Gusto zu malen. Man könnte sagen, dass er einige „Lehrjahre“ in Italien verbrachte, um die alten Meister zu studieren. Immerhin bildete sich eine Gruppe Gleichgesinnter, die zwar tech­nisch versiert, aber inhaltlich und farblich neue Wege beschreiten wollte.

Seine ersten eigenständigen Bilder waren Akte, die zwar schockieren sollten, es auch taten, was wohl dazu führ­te, dass er sich nun das Pseudonym „Fri­vol“ gab. Da­nach verbrachte er wiederum längere Zeit im Ausland. Der Katalog spricht von der südli­chen Hemisphäre. Die Angaben bleiben ungenau. Es wird eine Quelle zitiert, nach der sich Otto (wie er sich jetzt nannte) Frivol eine Farm in Südwest­afrika gekauft hat. Aha. Er hatte eine Farm in Afri­ka. Die gezeigten Bilder sollen aus seinem Nach­lass sein. Damit enden die Informationen.

 

Noch bin ich jenseits von Afrika. Ich gehe in ein Reisebüro, um mir Broschüren über das südliche Afrika zu besorgen. Obwohl ich das Internet regel­mäßig nutzte, möchte ich manchmal Seiten durch­blättern, nicht nur digital, sondern haptisch, mit meinen Händen. Deshalb lese ich täglich die Zei­tung als Printmedium, auch wenn ich mir dabei die Finger schmutzig mache.

Beim Durchblättern der Reisejournale stoße ich auf die Big Five. Zunächst weiß ich nicht, was gemeint ist, aber dann erkenne ich es an den Bildern. Es ist das Großwild, das man auf Safaris sehen, aber nicht jagen darf: der Elefant, das Nashorn, der Büffel, der Löwe und der Leopard. Die Giraffe gehört nicht dazu.

Die fünf sind abgebildet vor leuchtenden Land­schaften. Rötlich-braun, hell- bis dunkelgrüne Bü­sche und Bäu­me, hohes Gras. Klar. Savanne. Feuchtsavanne. Tro­ckensavanne. Dornstrauchsa­vanne. Hier wohl Feuchtsa­vanne kurz nach der Re­genzeit. Der Fotograf hat kein Klischee vermieden. Lisa ist ja Savannenspezialistin. Damit hat sie die Schüler im Unterricht gequält. Aber eine geführte Safari will ich mir nicht antun. Und die ist außer­dem extrem teuer. Es muss anders, billiger gehen.

Mir fällt Afrika-Kurt ein. Nicht verwunderlich, da mir Afrika nicht mehr aus dem Kopf geht. Afrika-Kurt lernte ich während meiner Lehrerausbildung kennen. Der Spitzname rührt daher, dass er alle sei­ne Ferien in Afrika verbrachte, Unmengen von Fo­tos schoss und diese einem auserwähltem Publikum an Dia-Abenden zeigte. Er gilt als Afrika-Experte und liebt die Afrikanerinnen.

Kurt hielt es länger im Schuldienst aus als ich, hat aber inzwischen den Dienst quittiert, war eine Zeit­lang Entwicklungshelfer, ist Händler afrikanischen Kunsthandwerks und organisiert Gruppenreisen in Afrika. Er half mir auch damals in Westafrika. War­um nicht auch jetzt? Ein Anruf bei ihm ergab, dass er nicht zu Hause war, einer seiner Söhne setzte mich davon in Kenntnis, dass es da ein paar Leute gebe, die nach Namibia reisen wollen, er selbst könne aber nicht teilnehmen. Da gibt es einen gewissen Josef. Ich gebe dir seine Telefon­nummer. Kannst einfach anrufen. Tschüss. Ja, Danke.

Wie sind Otto Frivols Bilder nach Deutschland ge­kommen?

---ENDE DER LESEPROBE---