Da bist du ja, Adam - Johannes Lengert - E-Book

Da bist du ja, Adam E-Book

Johannes Lengert

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Beschreibung

Eine Familiengeschichte voller Umbrüche und gewaltiger Veränderungen. Adam, der Stammvater, muss seine große Familie durch ruhige und unruhige Zeiten bringen. Im Kaiserreich herrscht noch Frieden. Doch dann kommen der Krieg, die Revolution und die Republik. Die neue Friedenszeit währt nicht lange, und die Nazi-Diktatur verändert das Leben aller erneut. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges sitzt Adam am Totenbett seiner Frau. Drei Tage lang blickt er auf sein Leben zurück. Auf seine Kindheit und Jugend in der Eifel, seine Ausbildung als Volksschullehrer, die Freude an der Musik, seine erste Liebe - und seinen Verrat und seine Schuld. Auf die Abwanderung ins Ruhrgebiet und das neue Leben, das er für sich und seine Familie aufbauen musste. Auf seine elf Kinder, deren Zukunft er patriarchalisch bestimmte. Doch lernt er durch sie die Errungenschaften moderner Technik kennen: er schätzt das Radio und das Grammophon, die jetzt ins Haus kommen, die aber schon politische Propaganda verbreiten und damit den Weg in den neuen Krieg. Die Kraft zum geistigen Widerstand findet er im Glauben. Das Wort des Papstes zählt mehr als das des Diktators. Und so hofft er, dass er und seine Kinder die Nazi-Zeit überstehen werden.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Johannes Lengert

Da bist du ja,

Adam

Roman

Inhalt:

Erste Nacht

Zweite Nacht

Dritte Nacht

Erste Nacht

Gerade haben die beiden Angestellten des Beerdigungs­instituts Brüggelmann, die die Leiche aufgebahrt hatten, die Wohnung verlassen. Es ist gerade ein paar Stunden her, dass Doktor Michels den Totenschein aus­gestellt hat. Dass Katharinas Tod dann so plötzlich kam, hatte keiner erwartet. Sie war seit drei Monaten bettlägerig, und das Ende war ab­sehbar, das spür­ten alle, insbesonder­e die Kranke selbst, trotzdem ist ihr Weg­gang ein Schock. Wie soll er jetzt mit der Leere fertig werden, um ihn herum, auch wenn noch ein Teil der Kinder im Haus wohnt? Eine Leere nach über 45 Jahren Ehe!

Vom Wohnzimmer aus geht eine Tür ins ehe­liche Schlafzimmer. Er bleibt im Türrahmen stehen, stützt sich mit dem Rücken ab. Das Zimmer ist verdunkelt. Auf der rechten Hälfte des Ehebettes liegt jetzt die Tote, aufgebahrt im Sarg. Vor dem Bett stehen zwei Silber­leuchter, auf denen zwei Altarkerzen blakend ein schwa­ches Licht erzeugen, so dass er nur das einge­fallene Ge­sicht und die gefalteten, mit einem Rosenkranz umwun­denen Hände seiner Frau sehen kann. Der Kopf ist auf ein großes weiß besticktes Kis­sen gebettet, von dem sich die noch dunklen, hochgesteckten Haare deut­lich abheben. Ihre Haare sind kaum ergraut, aber die elf Ge­burten, die schwere Haus- und Gartenar­beit, die Sorgen um die Kinder, die in der Kriegs- und Nach­kriegszeit durchgebracht werden mussten, haben die Frau körper­lich früh altern lassen. Ne­ben ihm, der auch nicht gera­de groß ist, nahm sie sich mit ihrem gekrümmtem Rücken noch kleiner aus, viel kleiner, als er sie als junge Frau, dann als seine Verlobte in Er­innerung hat.

Bei ihrer Verlobung war sie bereits schon über das übli­che Heiratsal­ter hin­aus. Aber sie hatten warten wollen, bis er eine feste Stelle als Lehrer bekam, und sie hatte ihm das Verspre­chen gegeben zu warten, sie, die Tochter des Küsters, die auch den jungen Bäcker oder den ver­witweten Schmied hätte haben können, um versorgt zu sein.

Doch seit sie sich auf der Kirchweih drei Jahre zuvor besser ken­nengelernt hatten, er noch ohne feste Anstel­lung im preußischen Schuldienst war, nur als Hilfsleh­rer, der mal hier, mal da eingesetzt wurde, wenn im Re­gierungsbezirk Trier ein Volksschullehrer be­nötigt wur­de, stand trotzdem für sie beide schnell fest, dass sie zusammen­bleiben wollten, auch wenn noch auf Jahre hinaus das Warten an­stand, manchmal etliche Meilen zwischen ih­nen lagen und in Ka­tharinas Wohnort sich die Leute in ihrem Ei­feler Singsang die Mäuler zerrissen über dieses ältli­che Verlo­bungspaar, das schein­bar doch nicht zu­sammenkam, und er selbst dachte in einsamen Stunden an die Königskinder, die nicht zueinander fanden.

Zur Kirchweih in Münstermaifeld war er nur deshalb gegangen, weil er nicht noch einen Abend allein in sei­nem Zimmer hocken wollte, das der Küster Nikolaus Kirchem ihm billig vermietet hat­te und außerdem der Schule schräg gegenüber lag. Denn der Küs­ter selbst hatte noch vor der Schulreform, die ausschließlich Leute mit ordentlicher Ausbil­dung zum Lehr­erberuf zuließ, Unterricht in der Elementarschule gege­ben.

Vor einigen Wochen war er hier eingezogen, die Lehrer­stelle war befristet, warum sollte er sich hier eingewöh­nen? Er brauchte kei­ne Menschen um sich herum, da war er lieber allein und las auf Franzö­sisch Ro­mane von Léon Bloy, um sein Französisch aufzu­bessern und sich gleichzeitig reli­giös erbau­en zu lassen. Er moch­te auch nicht den Lärm des Wirtshauses, und wenn er einen Krug Bier wollte, ließ er sich ihn vom jüngsten Küsters­sohn Niklas aus dem Wirtshaus holen.

Doch heute war es anders, da wollte er sich die Beine vertreten, er brauchte Luft, ein unbestimm­tes Gefühl be­herrschte ihn, ein Rau­schen war in seinem Kopf, ein Rauschen, das ihn in letz­ter Zeit immer mal wieder heimsuchte, das nicht gerade angenehm war, aber auch nicht schmerzte, eher ihn zur Bewegung zwang. Also fand er sich jetzt auf dem Kirchplatz wie­der, die Musik brandete ihn an, die Fiedeln, schlecht gestimmt oder schon wieder ver­stimmt, quietschten in seinen Ohren, die große Trommel hatte den Rhythmus immer noch nicht ge­funden, so dass er sich zum Bier­stand flüchtete, durch ein Rudel wild tanzender Kleinstäd­ter und Dörf­ler aus der Umgebung, und nach ei­nem großen Krug Bier verlangte, der ihm ziemlich schnell gereicht wurde und den er, ohne abzusetzen, zur Hälfte leer trank.

Trotz dieser Geste blieb er ein Fremdkörper unter den Männern am Bierstand, die über ihren kra­genlosen wei­ßen Hemden allen­falls eine aufgeknüpfte Weste trugen und vielleicht auf dem Kopf einen in den Nacken ge­schobenen Hut und daher leicht etwas ver­wegen, ge­wollt ver­wegen, aussa­hen, während er wie immer im Dreiteiler nun dastand, Di­stanz und Autorität auszu­strahlen schien, wenn auch der Hemd­kragen und die Manschetten durch­gescheuert, die Ärmel der Ja­cke an den Ellbogen fa­denscheinig waren und an der Weste zwei Knöpfe fehlten. Noch am Morgen, vor dem Auf­bruch ins Schul­gebäude hatte Katharina, des Küsters äl­teste Tochter, sich erboten, ihm die Knöpfe, zwar in an­derer Form und Farbe, schnell anzunäh­en, doch er hatte sie abgewim­melt, warum auch immer, oder weil er sich nicht einges­tehen wollte, dass ihre Nähe ihm wohltat.

Den halb geleerten Krug in der Hand, ließ er seine Au­gen schwei­fen, stellte sich auch auf die Zehenspitzen und ver­suchte, in Rich­tung Tanzbo­den zu schielen, konnte aber niemanden mit aufge­steckten braunen Haa­ren ausma­chen, in der Hoffnung, es sei Ka­tharina, die ja hier sein musste. Das wusste er, weil sie ihn am Tage vorher um seine Begleitung gebeten hatte, zum Tanz heute Abend vor der Kirche, eine Be­gleitung, die er aus Angst vor Pein­lichkeit ausge­schlagen hatte. Was sollten die Leu­te den­ken, sie beide unter einem Dach wohnend, und dann drehen sie sich wild brünstig auf der Tanzflä­che, sein Ruf als Lehrer wäre dahin gewe­sen.

Nach dem gänz­lich geleerten Krug bedauerte er sein Verhal­ten. Jetzt hatte er das Nachse­hen. Andere würden sie über den Tanzbo­den schleifen, sie im Arm hal­ten, ihr Worte ins Ohr flüs­tern. Das konnte er sowieso nicht. Da fehlten ihm die richtigen Worte. Und französische Lyrik hätte sie nicht ver­standen, und das wäre ihm noch pein­licher gewesen. Sollte er noch ein zweites Bier bestellen und dann nach einiger Zeit nach Hause zurückge­hen?

Eine Berührung am linken Ärmel weckt ihn aus den er­innernden Träumereien. Seine ältes­te Tochter, die Bar­bara, ist wohl heran­geschlichen, wie es ihre Art ist, um ihm irgendet­was mitzuteilen. Nie kann sie etwas gerade­heraus sagen, nur umständlich, nicht immer ganz zu ver­stehen, manchmal erschien sie ihm unzurech­nungsfähig, und es war gut, dass sie nach der Schule direkt weiter im Haushalt mit­half, beim Einkaufen, Einmachen, Ko­chen, Stop­fen und Nähen, was sie noch einigermaßen hinbekommt. Seine Ent­scheidung hat sich als richtig er­wiesen: sie ist zum Dienen ge­boren, nicht zum Denken.

Was sie denn jetzt wieder wolle, ent­fährt es ihm harsch.

Die Trau­er macht ihn nicht gütiger. Sie ist nun über vierzig, das schwar­ze Kleid und die dunkle Schürze las­sen sie noch älter erscheinen, und auch die zum Knoten aufge­steckten schon leicht grau wer­denden dünnen Haa­re ver­stärken diesen Eindruck. Er solle jetzt zum Essen in Küche kommen, wie­derholt Barbara, die anderen würden nur noch auf ihn warten. „Ich habe keinen Hun­ger, esst ohne mich, bring mir ein Wasser und lasst mich in Ruhe! Ich will mit meiner Frau allein sei.“ Und damit tritt er nun ganz ins Schlaf- oder Totenzimmer, zieht ei­nen Stuhl ans Bett heran und beginnt mit der Totenwac­he.

„Da bist du ja, Adam!,“ hörte er neben sich eine Stim­me. Das Bier hat­te ihn benommen ge­macht. Die Hitze, die laute Musik, das ungewohnt schnelle Herunterstür­zen des Starkbieres verlang­samten seine Reaktio­nen, und da die Stimme von hinten kam, musste er sich um­drehen, um Katharina zu erkennen, die in ihrer Festtags­kleidung, etwas atemlos, vom Tanzen wohl, dann vor ihm stand. „Dann gefällt dir die Kermes doch?“, hörte er die Stimme der Küstersstochter. „Du wolltest doch gar nicht herkommen!“ Bevor er eine plausibel klingen­de Erklärung stam­meln konnte - die Zunge war ihm vom überhasteten Biergenuss schwer gewor­den - , hatte sich Katharina bei ihm untergehakt und zog ihn nun in Richtung Dorf­teich, dahin, wo die Menschenmenge nicht mehr so dicht stand.

Die Sonne war nur noch als schmaler gelber Strei­fen über dem Dach des Pfarrhauses zu sehen, Einige dunkle schwe­re Wolken schoben von Westen heran und sorgten dafür, dass die Sicht unscharf wurde. Um so besser, dachte Adam, dann kann man meine klägliche Verfas­sung nicht erkennen, denn nichts erschien ihm schreck­licher, als sich in der Öffentlichkeit bloßge­stellt zu se­hen oder eine Schwäche zeigen zu müssen, die ihn als Staatsdiener blamieren könnte.

Katharina war von derlei Gedanken weit entfernt. Das Getu­schel anderer kümmerte sie we­nig, obwohl sie im strengen Regiment einer tiefgläubigen Küster­sfamilie aufwuchs und sicherlich jeder ihrer Schritte in der Öf­fentlichkeit genau beobachtet und kom­mentiert wur­de. Auch die Tat­sache, dass da ein lediger Volks­schullehrer in ihrem Vaterhaus, also gleichsam mit ihr unter ei­nem Dach wohnte, führte bei ihr nicht zu Gewissensbissen. Sie hatte sich ja nichts vorzuwerfen. War es eine Sünde, wenn sie die­sen Lehrer mochte, diesen über­korrekten, höflichen jungen Mann mit den blaugrauen Augen und dem streng ge­scheitelten blonden Haaren im abgewetz­ten Som­meranzug, der vor ei­niger Zeit aus Steinborn hergekommen war, um eine Ver­tretungsstelle anzuneh­men, der wochentags auch als Organist in der Frühmes­se ein­sprang und manchmal laut, in sei­nem Zimmer auf- und abgehend, fran­zösische Verse deklamierte, von de­nen sie annahm, dass sie ihr galten? War es denn Sünde, wenn sie davon träumte, aus ihrem engen Eltern­haus hinaus zu­kommen und die Frau eines Lehrers zu sein? War es sündhaft, sich im reifen Alter von gut 25 Jahren eine Ehe zu wünschen, wenn ihre Schul­freundinnen Anna Getultich und Margarethe Wel­men schon längst verheiratet waren und mehrere Kinder hatten?

Anna und Margarethe waren versorgt, hatten „gute“ Männer be­kommen - sagten sie jedenfalls. Aber was konnte sie selbst Gro­ßes erwarten, sie, die im­mer nur auf ihre kleineren Geschwister aufpassen und der Mut­ter beim Haushalt zur Hand gehen musste, sie, die lieber ihrem Vater bei dessen Arbeit in der Kirche, in der Sa­kristei, beim Vorbereiten der Messe ge­holfen hätte, was ihr je­doch als Mädchen oder Frau verboten war, sie, die die Schule noch nicht einmal ganz bis zur achten Klas­se abge­schlossen hatte, weil damals ihr jüngster Bruder zur Welt gekommen war und sie den Haushalt überneh­men musste, weil ihre Mutter nach der schweren Geburt monatelang das Bett hüten musste.

Vor drei, vier Jahren, da hätte sie den Martin, den Sohn des Bä­ckers, haben können. Doch sie wollte nicht, er war ihr zu un­scheinbar, zu schmächtig, nicht stattlich genug, und der alte Kir­chem hätte es damals sowieso nicht er­laubt. Wenn sie auch keine gute Partie war, fi­nanziell gesehen - was hat ein ein Küster schon an Mit­gift zu bieten? - so war sie doch eine Frau, nach der sich die Männer umdrehten, nach einer Frau mit heller Haut, die ihr volles braunes Haar hochgesteckt trug, so dass ihr schlanker Hals, wenn auch von einem weißen Kra­gen züchtig verschlossen, noch gut zu se­hen war, einer Frau, deren eng tailliertes Sonntagskleid nicht neu, aber mit immer verschiedenen, kaum merklichen, dunklen Schleifen versehen, ihre schlanke Figur beim Kirchgang zur Gel­tung brachte, so dass die anderen, meist älteren Frauen - das spür­te sie - die Köpfe zusam­mensteckten und tratschten. Auch das machte ihr gar nichts aus, und so nahm sie sogar Adam an die lin­ke Hand, um ihn un­ter die Baumgrup­pe am Teich zu füh­ren, wo der Stamm einer gefällten Platane eine Art Bank bildete.

Adam atmet tief auf. Er sitzt kerzengerade auf dem Schlafzim­merstuhl und betrachtet das Antlitz seiner to­ten Frau. Die Monate im Küsterhaus hatten sein Glück bedeutet. Nachdem ihm Kathari­na ihre Zuneigung be­kannt hatte, hatte es nicht mehr lange bis zur Verlobung gedauert. Er konnte demnächst auf eine feste Anstel­lung hoffen, das hatte ihm das Trierer Regierungsdezernat in Aus­sicht gestellt, aber vor Erscheinen der Verlobungs­anzeige musste er aus Schicklichkeitsgründen die Küs­terei verlassen und sich für die Übergangszeit eine an­dere Unterkunft suchen. Katharina hätte sein Verblei­ben nicht gestört, aber er selbst und sein künftiger Schwie­gervater, der nur ungern seine Tochter abgab, waren sich unausgesprochen einig darüber, kein Gerede im Ort ent­stehen zu lassen.

Den Verlobungstermin hat er noch genau in Erinnerung: es war im Ok­tober 1892. Ein Jahr später sollte die Hochzeit stattfinden. Im Jahr der Verlobung war es, als der Preußische Ministerpräsi­dent - an den Namen kann er sich nicht mehr erinnern - wegen des neuen Volks­schulgesetzes zurücktrat. Die Kirche durfte sich vom Preußischen Staat nicht unter­kriegen lassen! Davon war er damals fest überzeugt.

Ohne die Katholi­sche Kirche, ohne den Pfarrer in Neun­kirchen wäre er nicht Lehrer ge­worden, ohne des­sen ständi­ge Hilfe und För­derung und Bittgänge zu sei­nem Vater, er solle den aufgeweck­ten und begabten Adam doch aufs Lehrer­seminar schi­cken, wäre er kein Staats­beamter geworden, son­dern Ta­bakspinner, der die kleine Werkstatt seines Vaters ein­mal über­nehmen sollte und jahrein, jahraus Blättertab­ak, besonders den schwar­zen Brasilientabak zu Stangen dreht, daraus Rollentabak her­stellt, den Tabak vorher mit verschiedenen Beizen behandelt, um verschie­dene Geschmacks­sorten, aber auch Schnupftabak herzustell­en.

Gut, das war ein angesehener und sogar Lehr­beruf, aber nichts für ihn, der schon früh Interesse am Lesen gefun­den hatte und den der Pfarrer für würdig hielt, selbst Pfarrer oder auch nur Lehrer zu werden. Da der kleine Adam als einziger unter den Messdienern keine Proble­me mit den la­teinischen Gebeten hatte und das Stufen­gebet und das „Suscipiat“ feh­lerfrei hersagen konnte, hat­te der Pfarrer ihm zu­nächst nur ein­mal wö­chentlich La­teinstunden gege­ben, und als sich der Junge als ge­eignet erwies, regel­rechten La­tein- und anschlie­ßend auch Französischunter­richt, um ihn auf die Prärpar­andie in Daun, die Vorstufe zum Volksschullehr­erseminar vor­zubereiten.

Es hatte viel Arbeit gekostet, den Vater zu überzeugen, aber erst der Mutter war es zu verdan­ken, dass die Pläne des Pfarrers auf- und die Wünsche des kleinen Adam in Erfüllung gin­gen: Er, Jo­hann solle nicht so stur sein, die Werkstatt kön­ne auch der jüngere Bruder Peter überneh­men und man könne doch nicht alle Kinder im Dorf be­halten, jetzt, da es mit der Wirtschaft all­gemein berg­auf gehe und sie jetzt das Deut­sche Reich hätten. Da sol­len die Kinder, oder we­nigstens eines, mal besser dastehen als sie sel­ber: „Wir müssen mit der Zeit ge­hen!“

An die­se Worte erinnert sich Adam noch, als wären sie eben ge­sprochen. Worte von einer Frau, die selbst kaum lesen und schrei­ben konnte, aber Weitsicht bewies. Aber als die Entschei­dung ein­mal gefallen war, tat sein Vater so, als hätte er von vorn­herein die Richtung und das Schicksal seines Sohnes be­stimmt. Obwohl die­se letzte Entscheidung seines Alten für ihn von Vorteil war, nahm er sich für die Zukunft vor, als Familienvorstand nie­mals die Zü­gel aus der Hand zu lassen.

Auch das Orgelspielen in der Kirche hatte ihm der Vater zunächst ver­boten. Als Messdiener war er einmal auf die Orgelbühne gek­lettert, noch in Rock und Rochett, direkt nach der Messe, um dem Organisten über die Schulter zu sehen, der nach dem sonntägli­chen Hoch­amt noch einmal das Instrument brausen lies, mit den den letzten Klängen von „Großer Gott, wir loben dich“. Und als ihm dann Heinrich Bast, der Organist, erlaubte, ein paar Töne zu klimpern, und ihm dann auch den gesam­ten Mechanismus erklär­te, mit Tastatur, Regis­tern, Peda­len, Holz-und Metallpfeifen und der Luftmaschine, dem Blasebalg, da stand für ihn fest, dass er dieses gewaltige Musikorgan selbst einmal beherrschen wollte.

Seine Bitte an den Vater, beim Organisten Bast Orgel­stunden zu nehmen, stießen wie immer zunächst auf Wi­derstand, und erst als sich die Mutter einschaltete und die wiederum den Pfarrer und der dann beim Tabakspin­ner vorstellig wurde und die Ehre und das Lob Gottes ins Spiel brachte, erhielt Adam die Möglichkeit, das Or­gelspiel zu erlernen, wenn der denn zum wirtschaftli­chen Aus­gleich dem Heinrich Bast im Sommer und Herbst bei Erntearbei­ten auf sei­nen Äckern half, ohne die dieser seine Familie nicht hätte ernähren können.

Einen Teil sei­ner Ernte konnte der Bast auf den umlie­genden Wo­chenmärkten umsetzten. Die Straßen wa­ren jetzt viel besser als früher, die Leute hatten auch mehr Geld, denn Handel und Hand­werk florierten, und selbst der Herr Pfar­rer, der von der französi­schen Politik oder gar den Revolutionen überhaupt nichts hielt, sagte im­mer, wenn auch schon lange die Preußen hier herrsch­ten, das hätten sie eigentlich alles dem Napo­leon zu ver­danken. Ir­gendwie hatte der Pfarrer eine Schwäche fürs Französische. Wie hätte er es sonst so gut sprechen kön­nen? Nach­fragen konnte man da nicht so direkt. Aber die Preußen hass­te er, auch sie empfand er als Besat­zungsmacht, und außerdem waren sie - und das war das Schlimmste - protestan­tisch.

Sein Kopf ist auf die Brust gesunken. Er ist kurz davor einzu­schlafen. Und als die Schlaf­zimmertür leise und langsam geöffnet wird, weiß er schon gar nicht mehr, woran er gerade noch gedacht oder wovon er ge­träumt hat. Seine zweitälteste Tochter Käthe steckt vorsichtig ihren Kopf durch den geöffneten Türspalt. Sie ist ge­kommen, um nach dem Vater zu sehen und bei Bedarf zu fra­gen, ob er noch etwas brauche. Barbara traut sich nicht mehr nach der Abfuhr, die sie bekommen hat, und die energische Käthe wird also vorgeschickt, um nach dem Rech­ten zu sehen.

Ihm war ziem­lich schnell klar, dass ihm in der zweitge­borenen Tochter, die den Namen seiner Frau bekam, ein aufgewecktes, in­telligentes Mäd­chen heran­wuchs, das einmal später den Lehrerbe­ruf ergreifen sollte. Schon als Kind zeigte sie herri­sche und bes­serwisserische Züge und ließ sich von ihrem drei Jahre älte­ren Bruder nicht die Butter vom Brot nehmen.

Ihr kindliches Aus­sehen, das rundli­che Gesicht täuschte über ihre eigentliche Art hinweg, und in ihren ersten Be­rufsjahren wurde sie anfangs häu­fig unter­schätzt, bis ihre Kollegen und Schüler merkten, dass mit ihr nicht gut Kir­schen essen war. Wenn er sie jetzt im halb ge­öffneten Türspalt wahrnimmt, haben sich ihre Züge ver­ändert und zeigen eine gewisse Strenge, die sie in ihrer Berufsausübung auch stets an den Tag legt. Das weiß er von ehemaligen Kolle­gen, die ihn ab und zu noch besuc­hen, und von der Schule er­zählen, von der­selben Schule, in der schon seit längeren Jah­ren die Käthe ar­beitet, und wenn man so will, seinen Platz eingenomm­en hat. Na­türlich nicht die Stelle des Konrek­tors, die er in den letz­ten Jahren seiner Dienstzeit be­kleidet hatte, denn dazu sollte man keine Frau berufen, sie wären da­mit überfordert, aber für den norma­len Un­terricht, der heutzutage schon eine gestande­ne Persön­lichkeit erford­erte, ist seine Tochter bestens geeignet.

Leider aber nicht fürs Orgel- oder Klavierspiel, wie er es sich ge­wünscht hätte. Sei­ne Musikalität geht ihr ab. Mit Mühe und Not hat sie das Gei­genspiel erlernt. Ein Instrument muss man ja als Lehrer beherr­schen. Gott sei Dank spielt sie nicht zu Hause auf der Geige her­um, das hätte seinen Ohren weh getan.

Zusam­mengenommen ist er froh, dass sie auch bei ihm im Haus wohn­t, als Lehrerin darf sie ja keine eigene Fa­milie haben. Den Ge­danken daran hat er ihr schon früh­zeitig ausgetrieben. Ihre Fa­milie ist hier bei ihm. Er braucht sie auch immer mehr für die all­tägliche Organis­ation, jetzt zum Beispiel für die Beerdigung, sie über­nimmt auch die Besorgun­gen, die mit dem Haus zu tun haben, Steuern, Reparatu­ren usw., Dinge, die ihm allmählich im­mer schwerer fal­len.

Er tut jetzt so, als ob er schliefe, um nicht mit seiner Tochter re­den zu müssen, dabei ist er wieder wach und versucht sich an seine letzten Gedanken zu erinnern. Ja, die Beerdigung! Da muss­ er doch persön­lich mit Pfarrer Sutholdt sprechen. Er wird ohne­hin bald herkom­men. Sutholdt ist auch nicht gut auf die Protes­tanten zu spre­chen. Die haben jetzt ihre ei­gene kleine Schule ne­ben die allerdings viel größere ka­tholische gesetzt, und es blieb nicht aus, dass er und seine katholi­schen Kolle­gen mit den pro­testantischen redeten. Notgedrun­gen. Er hasst sie aber nicht. Sie sind ihm lediglich fremd. Sut­holt aber macht aus seinem Ab­scheu keinen Hehl und bezeichnet sie im klei­nen Kreis als preu­ßische Spione.

So weit ging ja noch nicht einmal der Pfarrer da­mals in Neunkir­chen, aber die Preußen waren dem ein stän­diger Dorn im Auge. Ihnen lastete er auch an, dass ein guter Teil der Hunsrücker und Eifeler Bevölkerung auswan­dern musste, in einer Zeit, als er selbst noch nicht gebo­ren war, als Hunger und Armut herrschten, in den vierzi­ger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die preu­ßischen Landbesit­zer den verarmten Bauern, die Abga­ben ab­pressten, die Handwerker wegen der schlechten Lage keine Aufträge mehr bekamen und immer mehr Leute aus dem Huns­rück nach Brasilien gingen, um ein besse­res Leben zu beginnen, da wo der König Pe­dro herrsch­te.

Sein Vater selbst war vom Hunsrück, aus Morbach, in den Dauner Raum, nach Neun­kirchen gezogen, weil da unten, auf der anderen Mo­selseite, kein Aus­kommen mehr zu finden war, ein Auskom­men als Ackerer, wie sein Großvater, schon gar nicht mehr. Und wer sollte in Zeiten der Not Ta­bak kaufen, wenn er nicht genug Geld zum Leben hatte oder sogar auf die Überfahrt sparte? „Aber Deutschland und der Heimat sind wir treu geblieb­en!“, hatte sein Vater oft gesagt. „Ins Aus­land sind wir nicht ge­gangen! Wir ha­ben‘s auch so ge­schafft.“ Und das klang so, als wären die Aus­wanderer Verräter gewesen. Aber für ihn selbst hatte das alles auch sein Gutes. Wie hätte er sonst Lehrer werden und seine Ka­tharina kennenlernen können? Da ganz unten in Brasilien be­stimmt nicht! Ein Leben in Südbra­silien konnte er ich nicht vor­stellen. Und der Witz der Ge­schichte ist, dass sein Sohn Lud­wig genau da­hin ausge­wandert ist und eine Familie gründen will. Aber 100 Jahre später!

Er hat längere Zeit nichts mehr von ihm gehört. So gut soll‘s ihm da nicht gehen. Kä­the meinte, dass die Deut­schen in Brasilien jetzt Probleme bekä­men, aus politi­schen Gründen, wegen Hitler. Dabei war er doch des­sentwegen aus Deutschland weggegangen. Weiterer Witz der Weltgeschichte. Auf jeden Fall, zur Beerdigung der Mutter wird er nicht kommen kön­nen.

Wegen der Beerdigung wird er noch mit Käthe sprechen müssen. Die Todesanzeigen müs­sen raus, verschickt werden, es werden viele Leute kommen, schon allein seinetwegen, er ist bekannt und geachtet in der Kirchen­gemeinde. Die Totenmesse in der Lieb­frauenkirche, sie wird voll sein, und dann der Leichenzug von der Kirche zum Ostacker-Friedhof. Brüggel­mann hat ihm einen Motorwagen als Leichenwa­gen vorgeschlagen, das komme billi­ger. Er, der Konrektor i. R. Hat aber auf der von schwarzen Pferden gezogenen Kutsche betanden. Die Kosten spielen jetzt keine Rol­le.

Auch zum Beerdigungskaffee wird das Ge­meindehaus voll sein. Da muss Käthe die Einladung bei manchen To­desanzeigen mit­schicken. Hoffentlich wird das Wetter einigermaßen gut, und die Aprilstürme bleiben aus. Bei der Beerdigung sei­ner Mutter war es im Dezember 1894 schon ungewöhnlich kalt, und ein Schnee­sturm fegte über den Neunkirchener Friedhof hinweg, eine Kälte, die noch einige Trauergäste kurz dar­auf ins Grab geris­sen hat. Wie der Apotheker später erzählte.

Nur ein Jahr nach seiner Trau­ung mit Ka­tharina starb die Mutter. Kränkelnd war sie schon viele Jahre lang. Die Tabak­spinnerei warf nicht so viel Geld ab, wie an­fangs erhofft. Und so musste sich die Mutter beim Bür­germeister und Apotheker als Plätterin verdingen und in machen Ern­temonaten half sie noch den reichen Bau­ern auf dem Feld, für ein Stück Speck, einen Sack Kartof­feln und ein paar Scheffel Korn, das sie selbst malen lassen konnten. Die harte Feldarbeit, bei je­dem Wetter draußen, in der heißen Sonne, und wenn das Ge­witter kam, so lange im Regen, bis die Ernte einge­bracht war, hat ihr Rücken und Bronchien kaputt ge­macht.

Die Arbeit machte sie auch für ihn, damit er sein Studi­um zu Ende brächte: „Du musst hier raus, aus dem Dorf. Du siehst, wie schlecht es dem Vater ge­gangen ist, die ganze Sach mit dem Ta­bak hat doch nichts ge­bracht.“ Der Bruder Peter konnte mit sei­nen kräftigen Händen beim Huf­schmied unterkom­men. Hatte längst schon eine Familie, Kinder, die aber als Enkelkinder ihren Großvater nicht mehr ken­nenlernten. Der hatte sich bis zum letz­ten Atemzug am Ta­bak ab­gearbeitet, zwölf Stunden am Tag, dau­ernd den trockenen Staub in der Lunge, und trotzdem wurden die Einkünfte immer ge­ringer. 15 Jahre vor seiner Frau nahm ihn der Herr zu sich. „Gott war gnädig und hat ihn erlöst“, tröstete sich die Mutter. Da war er, Adam, schon auf dem Lehrerse­minar und hatte die drei Präparan­die-Jahre in Daun hin­ter sich.

In der Präparandenanstalt war es streng zugegangen. Es waren wohl die schlimmsten Jahre seines Lebens. Schlimmer als auf dem Kasernen­hof, später, als er in Trier seinen Einjährig-Freiwil­ligen-Dienst ableis­tete. Nicht dass sie geprügelt wurden, aber ge­demütigt von zwei noch recht jungen, fertigen Volksschullehrern, die ihre Macht ausspielten. Er weiß sogar noch ihre Namen: Hein­rich Bach und Erwin Lucken. Stän­dig mussten sie auswendig ler­nen, und dann wurden sie abgefragt und bei scheinbar ungenauen Antworten mit Zusatzaufgaben „belohnt“, so dass sie an den frei­en Sonntagen keine Zeit mehr hatten, zu den Maa­ren hin­aus zu wandern. Ernst Fuhrmann hielt es dann nicht mehr aus, gab auf, ging zurück nach Mayen, wo sein Vater eine Metzgerei besaß, der er eigentlich entflohen war. Mit Ernst war er befreundet. Mit ihm machte er weite Wanderungen, über die Maare hinaus nach Sü­den, manchmal bis an die Mo­sel. „Adam, du musst mir helfen. Das Klavier­spielen fällt mir schwer. Bei mir zu Hause sind alle unmusika­lisch. Und du bist ja sogar ein wunderbarer Or­gelspieler. Das sagen sogar Bach und Lucken.“

So hatte ihre Freundschaft angefangen, und als sich zeigte, dass Ernst gut zeichnen konnte, eine Fähigkeit, die ihm, Adam, abging, halfen sie sich gegenseitig und waren so häufig zusam­men, dass sie schon die Zwillin­ge ge­nannt wurden, da sie sich auch äußer­lich ähnelten, in ihrer kräfti­gen gedrungenen Statur.

Ernsts Weg­gang war ein herber Verlust. Sie waren ja fast alle noch nicht mal 17, lebten in der Präparandenan­stalt, einem Ge­bäude, das in der Franzosen­zeit als Ver­waltungsgebäude gedient und dann notdürftig, nach lan­gem Leer­stand, für ihre Unterbrin­gung hergerichtet wor­den war. Bach/Lu­cken wohnten zur Unter­miete, privat, und wurden dort auch gut bekös­tigt, sie allerdings, die sechs Präparanden, wurden vom Pfarrhaus aus mitver­pflegt. Sicher­lich nicht mit dem Essen, das der Pfarrer bekam. Adam lernte, seinen Groll herunterzuschlu­cken. Die Eltern legten sich krumm, aber die Kirche zahlte doch das meiste für seine Ausbil­dung, da durfte er nicht undankbar sein.

Mit Ernst hatte er manchen Sonn- und Feiertag die Maa­re und ihre Umgebung erkundet. Von Daun aus bekam man zuerst das Schalken­mehrener Maar zu Gesicht und war auch schnell im gleichnamigen Ort, wo aus man­chen Häusern heraus die Web­stühle klapperten. Ernst hätte hier schon am liebsten Halt ge­macht, seinen Durst im „Ochsen“ gelöscht, aber ihn drängte es weiter, zum Weinfelder Maar, auch Toten­maar genannt. Hier saß er am liebs­ten, oben auf der Steilkante, und sah auf den steilen Trichterrand mit den Ginsterbüschen und Hasel­sträuchern, und di­rekt gegenüber, am anderen, ent­gegengesetzten Ufer, lag die klei­ne gedrungen wirken­de, weiß gekalkte Kirche mit dem niedri­gen Turm. „Das war früher die Pfarrkirche von Weinfeld.“

Ernst wuss­te da gut Bescheid in Heimatkunde. Neben dem Zeich­nen sein Lieb­lingsfach. Und im Zeichnen war er gut. Das mussten Bach und Lucken eingestehen. „Im 16. Jahrhundert hat die Pest die ganze Dorfbevölke­rung dahingerafft.“ Und schon hatte er sei­nen Skizzenblock ausgepackt und mit ihm, Adam, im Vorder­grund eine Zeichnung von Maar und Kapelle angefertigt. „Hier, schenk‘ ich dir“, überreichte ihm das fertige Blatt und legte sei­nen Arm um seine Schulter. Irgendwann musste er mal nach dem Blatt suchen. Er wusste, dass es sämtli­che Umzüge überdau­ert hatte.

Wieso hatte er gerade an Ernst gedacht? Katharina hatte er einiges aus seiner Ausbildungs­zeit erzählt. Für sie eine Welt, die ihr ver­schlossen geblieben wäre, und er war stolz darauf, ihr ein biss­chen davon abge­ben zu können, nicht zu viel, da musste schließ­lich der gebüh­rende Ab­stand gewahrt bleiben. Doch von Ernst hatte er nie jemandem erzählt.

Aber mit Ernst hatte er über manches gesprochen. Wenn sie das Stra­fen von Bach oder Lu­cken für ungerecht, nicht gerechtfertigt hielten, nachdem sie, wie sie glaub­ten, ihre Aufga­ben gut ge­macht hatten und los zum Wandern wollten. Aber dann, gerade hatten die Lehrer einen Vorwand gesucht, sie zurückzuhalten, um sie zu quälen, ihre Macht auszukosten.

„Na­türlich schulden wir unseren Lehrern Gehorsam. Die Strenge gehört dazu!“, hatte er noch deren Verhalten vor Ernst vertei­digt. „Aber nicht ohne Grund, ohne Sinn und nur einfach so, weil es ihnen gefällt“, hatte ihm Ernst geantwortet. „Das ist fast wie bei mei­nem Vater. Der hat oft grundlos geschrien, mich beschuldigt, wenn et­was schief gelaufen war und nicht sel­ten einfach auf mich losgeprü­gelt. Und das noch nicht einmal im Suff. Wenn sich mei­ne Mutter einmis­che, machte er sie auch fertig“. So etwas kannte Adam nicht. Es ging bei ihnen zu Hause nicht immer friedlich zu, vieles lag am fehlen­den Geld. Aber Streit wurde nicht kör­perlich ausgetra­gen.

Was Adam früh gelernt hatte, war gehorsam zu sein. Das vierte Gebot. Gehorsam in der Fami­lie, gegenüber den El­tern. Gehor­sam in der Schule, dem Lehrer gegen­über. Gehorsam for­derte auch der Kaiser, sonst wür­de das Reich zusammenbrechen. Und vor allem Gehorsam in der Kirche, dem Pfarrer gegenüber, dem Bi­schof und vor allen dem Stellvertreter Christi auf Erden gegen­über. Dies war das Wichtigs­te. Zumal die Worte des Papstes nicht angezwei­felt werden durf­ten. Das hatten sie später im Seminar gelernt, dass es früher oft Streit gegeben hatte, zwi­schen Papst und Bischöfen, zwi­schen Papst und Kaiser. Seit dem letzten Kon­zil galt das Dog­ma der Un­fehlbarkeit in der Glaubenslehre. Seit Pius IX. hatte die Streiterei ein Ende. Dem Papst war Gehor­sam zu schulden! Ach wenn jetzt die Lehrerausb­ildung in den Händen des Staates lag, so wurde es eben­falls im Seminar gesagt: wenn es darauf ankommt, hö­ren wir nur auf den Papst.

Welche Folgen das haben sollte, hatte Adam erst sehr viel später ver­standen. Im Grunde war ja der Papst wie ein Vater. Schließlich heißt er ja auch Heiliger Va­ter. Und Strenge gehörte zum Vater­sein dazu. Zu viel Stren­ge, die hat ihm Kathari­na manch­mal vor­geworfen, wenn er mit Barbara kein Nachsehen hatte, wenn er die Kin­der zu sehr kontrol­lierte. „Ja ,Kat“, sagte er jetzt zu der Toten, „ohne dich wäre manches schlimm ausgegan­gen. Wenn du nicht vermittelt hättest…. Ich hätte dir von Ernst er­zählen sollen. Ein­mal von einem guten Freund und von ei­nem Menschen, der sehr gradlinig war und eine Ausbil­dung, die ihm falsch erschien, abge­brochen hat. Jetzt ist es zu spät dazu.“

Katharina war eine gute Frau. Ja, sie hatte ihren eigenen Kopf, aber sie war folgsam, wie es sich für eine Frau dem Ehemann ge­genüber gehör­te. Das Weib sei dem Manne untertan als dem Herrn. Denn der Mann ist des Weibes Haupt, gleichwie auch Christus das Haupt ist der Ge­meinde, und er ist seines Leibes Heiland. So der heilige Paulus. Nur manchmal, wenn sie etwas unbe­dingt wollte, von dem ihr Seelenheil abhing, dann ließ sie nicht nach. Dann bear­beitete sie ihn so lange, bis er nachgab. Das tat er denn auch. Nachgeben. Er spür­te dann seine Güte. Und irgendwie kam es ja auch ihm zugute. Zum Beispiel die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier.

„Da sie ihn aber gekreuzigt hatten, teilten sie seine Klei­der und warfen das Los darum, auf dass erfüllet würde, was gesagt ist durch den Pro­pheten: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt, und über mein Ge­wand haben sie das Los geworfen." Denn der Leibrock aber war ohne Naht, von oben an durchweg gewebt. „Da spra­chen sie zueinander: Lasst uns ihn nicht zerreißen, son­dern um ihn losen, wessen er sein soll.“

1891 sollte es wieder so weit sein. Der Heilige Rock, die Tunika Jesu, sollte wieder im Dom zu Trier ausge­stellte werden, auf dass die Gläu­bigen aus aller Welt kä­men, um ihn, den un­geteilten Leibrock, zu se­hen, als Zeichen der Einheit der Christenheit. Die letzte große Wall­fahrt lag Jahrzehnte zurück. Seit 1844 war die Reli­quie nicht mehr ge­zeigt worden. Jetzt nach dem langen Kul­turkampf zwischen Rom, dem Heiligen Stuhl, und Bismarcks Preußen war es an der Zeit, die Glorie der Kirche wieder einmal zu zeigen. Beim letzten Mal, 1844, soll über eine Million Pilger gekommen sein. Auf dass es diesmal noch viel mehr würden! Schließlich war es die Heilige Hele­na, die Mut­ter des Kaisers Konstan­tin, die höchstpersönlich den Rock Jesu nach Trier ge­bracht hat. Damals, als die Stadt die Haupt­stadt des Weströmi­schen Reiches war.

Zwar war Trier heute nur noch Be­zirkshauptstadt in der preußi­schen Rheinprovinz, aber es musste ein Zeichen gesetzt werden, den Libe­ralen, den Sozialdemokra­ten, ja auch dem Preußischen Ministerpräsidenten, ein Zei­chen, dass die Katholi­schen im Reich sich nicht unter­kriegen ließen. Hatte er nicht oft genug davon zu Hause so gesprochen, nicht nur im Religionsunterricht vor sei­nen Schülern, auch vor seiner zu­künftigen Frau, deren Glauben er nicht stärken musste, aber die er in die gro­ßen politischen Zusam­menhänge einweihen wollte?

War es da verwunderlich, wenn Katha­rina immer öfter darauf drang, mit ihm nach Trier zu reisen, zum Heili­gen Rock, natür­lich, aber auch um die Stadt einmal selbst kennenzulernen, wo er zwei Jahre im Seminar und ein Jahr als Soldat verbracht hat, aber auch die Stadt, die einmal so groß gewesen war und so viele Kir­chen hat­te?

Sie kannte ja nur Neunkirchen, Daun und Münstermai­feld, und jetzt wollte sie gleich in die große Welt hinaus. Er müsste sich da­für einen Tage beurlauben las­sen. Das tat er nicht ohne schlechtes Ge­wissen, und die Vorge­setzten sahen es auch nicht be­sonders gern. Und sie wa­ren auch noch nicht verheiratet, noch nicht ein­mal ver­lobt. Je­doch in dieser Sache ließ Katharina nicht locker. Für sie war es auch nicht unschicklich. Schließ­lich wür­den sie demnächst Mann und Frau sein. Gott würde sie als Pilger emp­fangen. Also fuhren sie hin.

Die Stadt war in ein Meer von Fahnen getaucht. Es überwogen die Far­ben gelb und weiß, senkrecht ge­hängt. Die Farben des Vati­kans, des Papstes. Eigentlich Gold und Silber. Man­che Fahnen wehten von klei­nen Stangen, die in Halterungen direkt an den Häuserwän­den steckten und damit zeigten, dass die Hausbewohner dazugehören wollen, zum großen Fest, das jetzt ein paar Wochen lang in der ehemaligen Kaiser­stadt gefeiert wurde. Aber auch gan­ze Straßenzüge waren gesäumt von Fahnen, deren Stangen in den Boden gerammt sind, teil­weise mit Bir­kenreisern geschmückt, wie zu Fron­leichnam. Auf dem Hauptmarkt waren Bu­den aufge­baut. Es gab Limonade - Wein und Bier aber erst nach Son­nenuntergang. Gebäck, Kuchen, Würstchen wurden den ganzen Tag über angeboten. Ein süßer Duft und Bratge­rüche lagerten wie eine leichte Wolke über dem Markt­gelände, auf dem die Pilger anein­ander vorbeizogen, manche in Richtung Bahnhof, also nach Hau­se, andere kamen gerade daher und drängten auf den Marktplatz, um sich von hier aus auf den Weg zum Dom zu machen. Es herrschte so etwas wie Kirmesstimmung, aber ohne die sonst dazu­gehörige laute Musik und ohne das Ge­schrei der Schauleute, die ihre Sensationen anpriesen, die Große Schiffs­chaukel, den Hau-den-Lukas, die Schießbude. Dafür wimmelte es von ambulanten Händ­lern, Männern oder Frauen, manch­mal auch Kindern, die in ihrem Bauchladen Heiligenbilder an­boten, die Heilige Helena mit dem Kreuz Christi, Helena mit dem Heiligen Rock, der Lei­dende Jesus neben dem Heiligen Leibrock, eine Kreuzigungssze­ne: im Vordergrund die rö­mischen Soldaten, die die Kleider des Herrn verlosen, und natürlich Marienbilder über Ma­rienbilder.

Denn seit dem Dogma der Unbefleckten Empfäng­nis und erst recht seit den Ma­rienerscheinungen von Lour­des er­fuhr der Mari­enkult erneut einen Aufschwung, und was passte nicht besser zu dieser Wallfahrt als die Gottesmutter in strahlen­der Keuschheit oder auch als Schmerzens­madonna, die ihren to­ten Sohn in den Ar­men hielt? Natürlich gab es auch Kreuze aller Art zu kaufen, aus Holz oder Bronze, mit und ohne Corpus, oder Nachbil­dung des Heiligen Rockes in Porzellan oder - bil­liger - in lasiertem Ton. Und Madonnenfigür­chen, ebenfalls dem jewei­ligen Geld­beutel angepasst, und vornehmlich Kerzen in allen mögli­chen Größen und Durchmessern, weiße Kerzen mit aufgeprägten roten In­schriften, und Kreuzen, von Jesus und seinem Erlöser­tod kün­dend.

Für Adam stand es schon fest: es wird für sie beide nur jeweils ein Bildchen geben. Kathari­na durfte sie aller­dings aussuchen. Alles andere wie Kerzen, Figürchen, Kreuze, brauchten sie nicht, und außerdem könnten sie zerbrechen auf der Rückreise. Denn es war voll gewe­sen im Zug von Daun nach Wittlich an der Mosel und erst recht im An­schlusszug, der, von Ko­blenz kommend, nach Trier fuhr und schon so gut wie voll war mit Pil­gern aus dem un­teren Moseltal. Da wollte er nichts ri­skieren.

Die Reise war ja schon nicht ganz billig. Weil sie als Neunkirch­ner eine kleine Gruppe bildeten - der Pfarrer hatte alles orga­nisiert - war die Reise etwas günstiger, und sie wollten auch während der ganzen Zeit zusam­menbleiben, der Pfar­rer selbstverständlich, der Apothe­ker, der Bä­cker und der Hufschmied, der Krämer und der Gla­ser, der erst kürzlich seinen Laden aufgemacht hatte, alle mit Ehefrau, Verlobter oder Bei­naheverlobter wie er, außer dem Pfar­rer selbstverständl­ich. Der ließ sogar seine Haushälte­rin zu Hau­se. Dabei wussten doch alle Bescheid.

Jedenfalls hatten sie noch ein leeres Abteil ge­funden, bei der Ab­fahrt in Daun, ganz früh um sechs, nach dem Umstei­gen in Witt­lich mussten sie sich als Gruppe auf­teilen, und nun, am frü­hen Mittag machen sie sich end­lich auf den kurzen Weg vom Haupt­markt zur Kathedra­le. Die beiden Bildchen, die er von ei­nem klei­nen Mäd­chen erstanden hatte, bewahrte Adam in der Innen­tasche seines Som­meranzugs auf.

Eine frische Brise wehte über den Domplatz. Die Som­mersonne hatte den Platz schon mächtig aufgewärmt, und die Menschenmasse sorgte noch für mehr Hitze, auch innerer Hitze wohl, die aus der religiösen In­brunst herrühren mochte, die offensichtlich einige Non­nen er­griffen hatte, die nach vorn, zur rechten Eingangstür stürmten, um endlich vor dem Unterkleid ihres Herrn stehen zu können.

Bei all dem fühlte sich Adam nicht ganz wohl. Einmal schätzte er nicht die Menschenansammlung und zum Zweiten als eher nüch­terner Mensch nicht die überstei­gerten Glaubensäußerungen. Er ruhte in seinem Glau­ben, Zweifel gabs da nicht, aber der Rummel störte ihn doch immer mehr. Gut, er tat es hauptsächlich Katha­rina zu­liebe. Er sah sie von der Seite an und merkte, dass heute für sie ein besonderer Festtag war. Und wenn er sie dann noch mit all den anderen Frauen aus ihrer Heimatgruppe ver­glich, dann freute er sich auf die Hochzeit mit dieser schönen Frau.

Die Brise sorgte auch dafür, dass Orgelklänge und der Chorgesang, der stoßweise aus den ge­öffneten Dompor­talen drang, auf dem Vorplatz über ihren Köpfen verteilt wurden und eine Vorahnung vom Geschehen und Erle­ben im Innern der Kirche entstand. Aber gleichzeitig wusste er, er hatte es in der Trierer Kirchenzeitung gele­sen, dass das Gewand Jesu vor ei­nem Jahr erst restau­riert worden war, weil es im Laufe der Jahrhunderte stark beschädigt worden war und jetzt im Ost­chor des Domes auseinander­gefaltet und ausgebreitet in einem Schrein liegen würde.

Manche, auch kirchliche Stimmen, zweifelten die Echt­heit des Stoffes an. Und der Erz­bischof war vorsichtig, wenn er schon eini­ge Zeit vor der großen Wall­fahrt in einer Rede darauf hin­wies, dass die Echtheit der Tunika Domi­ni nicht zum Dogma gehöre, aber hier gehe es viel­mehr um eine der großen christlichen Tradi­tionen, und die Verehrung gelte nicht dem Klei­dungsstück, son­dern seinem Träger Jesus Christus.

Mit der Menge wurden sie zum rechten, dem Eingangs­portal ge­schoben. Jetzt ging es nur in kleinen Schritten voran, und er spürte an seiner rechten Seite Katharinas dunkelblaues Som­merkleid und sah, wie sie mit beiden Händen ihr Gebetbuch umklam­mernd, den Blick nach vorn gerichtet, wie zur Heiligen Kommu­nion der Reli­quie entgegen schritt. Hier im Innenraum der ge­waltigen Kirche mit den hohen spätroma­nischen Bögen war die Luft kaum kühler. Nicht nur die vielen Pilger er­wärmten den Kir­chenraum, sondern es waren auch die un­endlich vielen Kerzen, die für ein warmes Licht sorgten und gleichzeitig die Luft zu­sätzlich aufheizten.

Ein leichter Schweißfilm bildete sich unter seinem Hemdkragen. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Die Gläubigen schoben sich in einer schmalen Schlange zwischen den Kirchen­bänken zum Hochaltar, wo die Heilige Tunika gleichsam aufge­bahrt lag. Da­mals, im Jahre 44, da hatte man sie noch berühren können, aller­dings nur flüchtig, mit den Fingerspitzen. Das ging heute nicht mehr, der Rock war konserviert worden, und als sie dann endlich vor ihm standen, in staunender An­dacht, dann war es ein gelbbrau­nes Stück Stoff, das gar nichts mehr von dem Leib­gewand eines göttlichen We­sens an sich hatte. Adam merkte, dass Katharina er­schrocken innehilt beim An­blick des bräunlichen Dings und die heilige Aura zu vermissen schien, da sie wohl das Heilige aus­schließlich mit leuchtendem Weiß in Ver­bindung brin­gen konnte. Zusammen mit ihm brach­te sie noch eine tiefe Kniebeu­ge zustan­de. Zum Glück brauste in diesem Moment die Orgel wie­der auf, die eine Zeitlang während ihrer Prozession durch das Kir­chenschiff geschwiegen hatte, und mit deren beruhigen­den Klängen im Ohr und mittels seiner Hand, die er ihr, leicht unter­stützend, unter den linken Unterarm schob, gewann sie ihre Fas­sung zurück.

Als nach den mächtigen Orgeltönen der Kirchenchor auf der Or­gelempore, gleichsam wie aus himmlischen Sphä­ren herab, ein voll tönendes Hal­leluja anstimmte, nahm Adam zu sei­ner Freude wahr, dass Kathrine ihre Fas­sung zurückgewonnen hatte und nun mit strahlenden Augen ins Freie strebte, so schnell, wie die sich langsam bewegende Menschen­gruppe es zuließ. Sie hatten keine Zeit mehr, sich die Stadt genauer anzusehen, etwa die Matthias­kirche, die Römerbrücke, die Porta Nigra und zu guter Letzt, das Seminar, wo Adam zum Lehrer aus­gebildet worden war. Dem war das ganz recht, denn dann wäre wieder die ganze Ge­schichte mit Mathilde hochgekommen, von der Katharina auf keinen Fall et­was erfahren durfte. Adam wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie gut, dass die Trier-Fahrt sich auf die reine Wallfahrt be­schränken musste!

Draußen stand schon der Pfarrer, mit dem Birret win­kend, damit auch alle seine Schäfchen rechtzeitig am Bahnhof sind. Mit we­hender Sou­tane bahnte er sich den Weg, sie hatten‘s ei­lig, der Nachmittagszug würde nicht warten, die Rückfahrt brauchte ihre Zeit. In Daun warte­ten Pferde­fuhrwerke, die sie nach Hause brin­gen wür­den. Alles war bis zur Perfektion ar­rangiert.

Sie hielten zwei Abteile besetzt. Adam und Katharina saßen in Fahrt­richtung, gegenüber der Pfarrer, der das Birett auf die Ge­päckablage gelegt hatte und sich jetzt die Soutane oben et­was auf­knöpfte. Neben ihm der Apotheker mit seiner etwas fülligen Frau, die noch von der An­strengung des Marsches zum Hauptbahnhof ge­zeichnet war und laut schnaufend nach Luft rang Nach dem Pfeifsignal des Stationsvorste­hers, schnaufte jetzt die schwarze Dampflok auf und übertönte damit die Apothekerin, die Pleuelstang­en setzten die Räder in Be­wegung, ein Ruck ging durch das Abteil, Katharina rutschte auf der harten Holzbank nach hinten und klam­merte sich an Adam Anzugärmel fest. Zur Bestäti­gung, dass es wirklich losging, ertönte die kreischende Dampfpfei­fe. „Wie zu Hause beim Wasserkessel auf dem Herd“, dachte Ka­tharina, die sich auf die Rückfahrt genauso freute wie sie sich auf die Hinfahrt ge­freut hatte. Nur war es heute morgen die Vorfreude auf die Reliquie, jetzt nahm sie, die sonst nie weiter als bis zu den umlie­genden Kreisstätten gekommen war, in freudiger Erre­gung die Landschaft wahr, die an der Moselstrecke lag.

Bis Wittlich ging es leicht bergab. Sie folgten ja schließ­lich der Mosel, die in den Rhein flie­ßen wollte. Kathari­na saß am Fenster, das halb ge­öffnet war, weil die Som­merhitze im Abteil lastete. Ab und zu drang der rußige Rauch der Dampflok in Schwaden zu ih­nen ins Abteil. Aber das störte sie nicht, wenn auch der Rußnebel manchmal die Sicht behinderte, auf die still liegenden Fischerbote oder die flussabwärts gleitenden Lastenseg­ler. Zwischendurch fuhren sie so dich am Ufer vorbei, dass sie glaubte, sie müssten demnächst ins Wasser stür­zen, aber dann fing sie eine eiserne Brücke auf. Die Brückenstreben versperrten die Sicht und schie­nen an ihr vorbeizufliegen, bis der Zug wieder festen Boden unter den Rädern hatte und das metallene Geräusch wie­der vom rhyth­mischen Klackern der Schienen auf fes­tem Boden ab­gelöst wurde. Auf der anderen Flussseite lagen Dörfer und Städtchen, die sich mit ihren spit­zen Kirchtürmen unter den Weinbergen wegduckten, grüne Wein­berge, die den Fluss auf sei­nem Mündungsweg be­gleiteten und nur ab und zu von gelben Ackerflächen unterbrochen wurden, wenn die Hän­ge nicht allzu steil waren.

Auf den Eifelhö­hen, bei ihnen zu Hause, wuchs der Wein nicht mehr. Deshalb gab es ihn nur zu Festtagen oder für den Pfarrer in der Messe, täglich. Von ihrem Vater wusste sie, dass die Pfarrer ei­nen verschie­den Weinge­schmack hatten und der ihrige, der ihr ge­genüber ge­rade eingeschlafen war, den Riesling be­vorzugte. Man­che mochten lieber süßen als herben, das wusste sie, weil der Vater die Bestellun­gen aufgeben musste, einmal im Jahr beim Weinhänd­ler Kurzum in Daun. Da durfte sie früher dabei sein, aber nicht in der Sa­kristei, wenn der Messwein von der Flasche in das Känn­chen gegossen wurde, damit nachher bei der Messfeier die Minis­tranten dem Priester Wasser und Wein in den Kelch gossen und der Priester mit dem Dau­men an­zeigte, wie viel Wein und wie viel Wasser es sein soll­ten. Und weil ihr Pfarrer länger den Daumen beim Ein­füllen des Wei­nes hoch­hielt als beim Wasser, mussten sie in den letz­ten Jahren öfter zur Wein­handlung nach Daun.

Auch Katharina fielen vom monotonen Fahrtrhythmus schon die Au­gen zu. Sie hatte versucht, bei jeder Station aufzupassen, ob sie nicht schon in Wittlich waren, bei ihrem Umsteigebahn­hof. Doch dann ging es plötzlich recht schnell, der Pfarrer war wieder hell­wach, mahnte zur Vor­bereitung des Ausstiegs, und nur eine Viertel­stunde später saßen sie alle wieder im nächsten Zug, der sich ge­räuschvoll und langsam vom Moseltal unten nach oben auf die Hö­hen der Vulkaneifel hinaufschob.

Adam nahm Katharinas Hand, wie zur Beruhigung, dass es nicht mehr lange dauern würde und die Strapazen bald zu Ende wären. Sie je­doch genoss auch die­sen Streckenabschnitt, weil sie sich leben­dig fühlte unter­wegs und wusste, dass der Alltagstrott sie bald wieder einge­holt haben würde.

Die Tageswallfahrt nach Trier war für Katharina ein bleibendes Erleb­nis geblieben. Später waren sie ver­schiedene Male nach Ke­velaer ge­pilgert, nicht zu Fuß, wie es manche aus der Gemeinde taten, sondern mit dem Bus, aber auch von der Pfarrgemeinde or­ganisiert. Das war nach dem Weltkrieg, da wären sie körperlich nicht mehr dazu in der Lage gewesen, die vielen Kilo­meter zu Fuß zu gehen, schon gar nicht seine Frau, die nach dem Tod des ältesten Sohnes seelisch und körper­lich angeschlagen war. Aber die Kinder, besonders die Käthe und der Jüngste, der Alois, die waren eine Zeit­lang fast regelmäßig gepilgert, eher gewandert. Die wanderten auch in der Eifel, so wie er früher, meistens mit dem Ernst, gewandert war.

Jetzt verspürt er doch etwas Hunger. Selbst das Erinnern ver­braucht Kräfte. Nachdem er sich aufs Bett gelegt hat, der Stuhl war auf die Dauer unbequem und hart, muss er wohl für eine kurze Zeit einge­schlafen sein. Als er sich jetzt aufrichtet, be­merkte er auf dem Nacht­tisch ein Tablett mit einem Wurstbrot und einem Glas Milch. Die Kä­the, fährt es ihm zunächst durch den Sinn. Aber die ist sich fürs Essen­machen zu fein. Es muss Barbara ge­wesen sein, die heimlich ins Zim­mer gekommen ist. Die ande­ren Töchter werden wohl bald alle im Hause sein.

Ob Magdalena zur Beerdigung ihrer Mutter kommen kann? Kä­the hat den Stey­ler Missionsorden über das Ableben seiner Frau informiert und dringend gebeten, Schwester Theofredis, wie Mag­da nun heißt , freizustel­len, um an den Begräbnisfeierlichkei­ten teilnehmen zu können. Aber seitdem Magda alle Rechte, ihr zukünfti­ges Vermö­gen oder Erbe dem Orden überlassen hat, kann sie nichts mehr selbst entscheiden, selbst in ihrem El­ternhaus darf sie nicht mehr übernachten, allen­falls beim Pfarrer.

Als sie sich das letzte Mal sahen, in Lohberg, wo sie als Kinder­gärtnerin arbeitete, ließ sie anklingen, dass sie wohl demnächst nach China geschickt würde. „Endlich kann ich als Missionarin arbeiten!“, hatte sie ausgerufen und kindlich in die Hände ge­klatscht.

Magdalena ist immer schon anders gewesen. Sie ist körperlich das kleinste seiner Kin­der. Mit den fast kohl­schwarzen Augen und dem dunklen Haar wirkt sie fast ausländisch, wenn auch manche ihrer Geschwister dunkles Haar und dunkle Augen besitzen. Aber Magda zog sich häufig zurück, hatte kaum Freunde und war statt­dessen oft in der Kirche zu finden. Seitdem die Do­minikaner eine Exerzitien-Woc­he abgehalten hatten, war die Überzeugung in ihr gereift, Nonne und Missio­narin zu werden. Da war sie schon Ende 20, und arbei­tete als Schneiderin in der Herrenkon­fektion Hut­müller in Ham­born. „Die Magda hat wohl einen Freund“, hat­te Barbara, die ihrer Schwester nachspio­nierte, ihn irgend­wann später wissen lassen.

Als er dar­aufhin seine Tochter zur Rede stellte, kam her­aus, dass sie mit Erich, einem Verkäufer im Herrenkon­fektionsgeschäft mehrmals aus­gegangen war, und was ihn dann richtig wütend machte, war, dass die­ser Erich evange­lisch war. Eine Mischehe wäre überhaupt nicht in Fra­ge gekom­men. Als besorgter Vater löste er das Ar­beitsverhältnis bei Hut­müller auf, Magda blieb unter seiner Beobachtung in seinem Haus. Selbst Katharinas Fürsprache konnte ihn nicht erwei­chen. Dann ka­men, Gott sei Dank, die Dominikaner und erweckten bei Mag­dalena den Mis­sionsgedanken und machten sie auch mit den Ge­danken Ar­nold Janssens, des Gründers des Steyler Ordens, be­kannt.

Denn so heißt es in Neuen Testament: „Darum geht zu al­len Völ­kern und macht alle Menschen zu meinen Jün­gern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befol­gen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.

---ENDE DER LESEPROBE---