Die Wahrheiten des Klemens M. - Johannes Lengert - E-Book

Die Wahrheiten des Klemens M. E-Book

Johannes Lengert

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Beschreibung

Wie entsteht Literatur? Der Hochstapler Klemens Milde schlüpft in verschiedene Identitäten und erlebt eine Menge Abenteuer, über die er schreibt. Er ist Reporter in Südamerika. In Kalifornien wirkt er als Schamane und Arzt und wird wegen Tötungsdelikten angeklagt. Er landet schließlich im Gefängnis. Als sein Studienfreund von der Gefängnishaft erfährt, leistet der Detektivarbeit, um die Wahrheit über Clemens herauszufinden. Er erlebt schließlich eine gewaltige Überraschung. War alles nur ein Spiel mit Fantasie, Fake und Fiktion?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Umschlag: Johannes Lengert

Coverfoto: Johannes Lengert

Johannes Lengert

Nussbaumer Str. 3-5

51469 Bergisch Gladbach

Website: JL-Galerie.de

Johannes Lengert

Die Wahrheiten

des Klemens M.

Roman

Leben heißt ein ande­rer sein.

F. Pessoa

Inhalt:

Vorgeschichte

Teil I

Teil II

Teil III

Teil IV

Teil V

Nachgeschichte

Vorgeschichte

1. Kapitel

Er war fünf Jahre alt, als er das Gedicht aufsagen sollte. Ein Geburtstags­gedicht für den Pfarrer, das seine Tante, die Lehrerin, mit ihm eingeübt hatte. Die Pro­ben waren eine Qual, weil irgendeine Betonung nicht stimmte und weil er manchmal ein Wort oder eine ganze Zeile ver­gessen hatte.

Die Tante galt als strenge, aber gute Lehrerin, die ihren Schülern etwas bei­brachte. Da durfte er nicht versagen. Als er dann vor dem alten gro­ßen, schwe­ren Pfarrer in dem etwas fleckigen schwarzen Talar stand, da brach­te er kein Wort heraus, auch dann nicht, als ihm deutlich hörbar die An­fangszeile vorge­flüstert wurde. Ein einzi­ger Vorwurf, der sich in dem Blick wiederholte, mit dem er von der Tan­te bedacht wurde, als er den Raum der Feier verließ.

Trotz seines Versagens strich ihm der alte Pfarrer über den Kopf mit der Auf­forderung, sich ein Stück Ku­chen in der Kü­che geben zu lassen. Den Kopf hielt er ge­senkt, auf dem Heim­weg, beim Abendessen zu Hause. Er wollte ihn nie mehr hochheben.

Diese Szene vergaß er nicht. Sie verfolgte ihn sein gan­zes Leben. Er fühl­te sich auf der Flucht. Er wusste aber nicht, wohin er fliehen sollte. Da­mals noch nicht. Zu­nächst wurde er noch schweigsamer, als er ohnehin schon war. Wenn er auf­gefordert wurde, etwas zu erzäh­len, aus der Schu­le später oder von Freuden oder von Ausflügen, fiel ihm nichts ein. War er jedoch kurz dar­auf allein, so entstanden vor seinem inneren Auge Ge­schichten, die das Erlebte, von dem er nicht erzählen konnte, mit Situatio­nen verknüpften, in denen er nicht nur den Anforderungen gerecht wurde, sondern darüber hinauswuchs und zum Helden wurde, den alle bejubel­ten.

Im Grunde war er ein guter Schüler. Das letzte Jahr im Kindergarten hatte ihn gelang­weilt. Da spielte er lieber allein zu Hause. Einen Drang, end­lich zur Schule gehen zu können, verspürte er nicht, weil er sich unter dem Schulleben nichts vorstellen konnte. Obwohl ja die Tante Lehrerin war und der Großvater Lehrer gewesen war.

Lesen und Schreiben lernen fielt ihm nicht schwer. All­mählich bildeten sich auf der Schiefertafel mit den feinen roten Linien aus den Eiern und Spazierstöcken, die anfangs in die Zeilen zu malen waren, Wörter mit o und r, bis schließlich das gesamte Alphabet sich in ganzen Sätzen abbilde­te. Und umgekehrt gelang es ihm immer besser und schneller, aus dem Wust von Buchstaben, den die Äh­renfibel zunächst für ihn darstellte, das bäuerliche Le­ben von Hans und Grete mitzuerleben. Ebenso die vier Jah­reszeiten und alles, was es sonst noch gab. In dieses Leben träumte er sich hinein. Nicht dass er Hans oder Grete wäre, son­dern einer, der dabei stand, aber nicht ganz dazuge­hörte, einer, der in der Nähe war und beob­achtete und dann Hans oder Grete hätte sein können.

Die häusliche Strenge setzte sich in der Schule fort. Man saß zu zweit in Bänken, die mit dem Schreibpult verbunden waren. Die vordere Seite der Schreibfläche bildete die Rückenlehne für die vorderen Bank­nachbarn.

Jungen und Mädchen saßen gemischt. Er saß in der lin­ken Bankreihe ziemlich hinten, so dass er glaubte, sich verstecken zu kön­nen. Vor den Blicken der Leh­rerin, des Fräulein Dietrichs, denen nichts entging, kein Tu­scheln, kein Gähnen, keine nicht gemachte Hausaufga­be. Fürs Schwät­zen musste man nach vorn kommen, es gab mit dem Holzlineal Schläge in die Handfläche.

Man musste auch nach vorn kommen, wenn es galt, Ver­se aus der Bibel vorzutragen oder manchmal auch Ge­dichte. Das machte ihm nicht so viel aus. Er stand vor einer Gruppe be­kannter Gesichter, die es nicht besser als er konnte. Und meis­tens schnitt er beim Vortragen gut ab. Es war ein be­kanntes Publikum anwesend, es gab nicht die vielen Unbekannten wie da­mals beim Pfarrer, die ihn verun­sicherten und ihn verstummen ließen.

Häufig wurde er von der Lehrerin angesprochen, weil er dem Unter­richt nicht folgte, und aus seinen Tagträumen gerissen. Du Träumer, rief sie dann. Das war noch nicht einmal böse gemeint. Doch Disziplin musste sein. Alle hören gleich­zeitig zu, alle ste­hen gleichzeitig auf und entbieten dem Fräulein den Morgen­gruß, alle frühstü­cken zur selben Zeit im Klas­senraum, bevor es danach in ge­ordneten Reihen auf den Schulhof in die große Pause geht.

Das Träumen war für ihn die Möglichkeit, die Welt aus­zuhalten. Draußen lauer­ten mache Unannehmlichkeiten. Das waren nicht seine Mitschüler, die sich über ihn lus­tig machten. Er war kein Außenseiter. Er hatte Freun­de, mit denen er sich zum Spielen traf.

Unange­nehm war für ihn die fast tägliche Begegnung mit dem großen Hund, ei­nem schwarz-weiß-gefleckten Mischling, der dem Klemp­ner ge­hörte und der ihm re­gelmäßig entge­genlief, wenn er auf dem Heimweg war. Er hatte einfach Angst. Obwohl ihn der Hund noch nie gebissen hat­te. Angst machte ihm auch, wenn er ge­scholten wurde, für et­was, das er falsch oder nicht or­dentlich ge­macht hatte. Gerügt oder korrigiert wer­den verunsichert­e ihn. Er fühlte sich dann nicht vollwertig. Andere hätten das weg­gesteckt und ver­gessen. Er trug sein Versagen lange mit sich her­um. Nur in gelegentli­chen Wutausbrü­chen konnte er sich Luft verschaf­fen. Das war ihm nachher pein­lich und machte ihn nicht stärker.

Seitdem er flüssig lesen konnte, las er. Bücher, die im Bücherschrank im Wohn­zimmerer standen, und Bücher, die er geschenkt bekommen hatte, dann Bücher aus der Pfarrbüche­rei, später Bücher aus der Stadtbibliothek, wohin er mit dem Fahrrad fuhr. In der Welt der Bücher konnte er es aus­halten. Diese Welt war größer als die von Hans und Grete in der Fibel.

Die katholischen Heilgenlegenden hatten es ihm ange­tan. Er hatte sie bei einer Großtante aufgestöbert, die in einem katholischen Teil des Landes lebte. Ihre Heilig­keit hatten die Heiligen er­langt, weil sie für ihren Glau­ben eingetreten waren und, da sie ihm nicht abschwo­ren, mit dem Tode bezahlte hatten. Diese Standhaftig­keit beeindruckte ihn. Diese Stärke hät­te er auch gern besessen. Die To­desarten, die in den Märtyrergeschicht­en auftraten, erfüllten ihn mit einer Art Wollust, wenn er sich vor­stellte, wie das jeweilige Opfer auf glühen­den Kohlen geröstet wurde, ein ande­res mit Pfeilen durch­bohrt oder wie mancher Apostel mit dem Schwert ent­hauptet wurde. Er stellte sich vor, dass er auf dem Bo­den läge und dass sein Kopf in Kürze vom Rumpf ge­trennt würde. Bald nach den wollüsti­gen Schau­ern der Foltertode und Hinrichtungen trat ein an­deres Erschau­ern an ihre Stelle.

Zu Anfang der Gymnasialzeit sorgten die Erzählungen von Karl May für die entsprechen­de Gemütsbewegung. Schafften es die Guten noch nach so viel Heimtücke, Hinter­list und Grausamkeit der Bösen den Sieg zu erring­en?

Es war die Spannung vor der Lö­sung des Konflikts, die bisweilen auch auf der Seite der Guten nicht gewaltfrei war, die den Schauer hervorrief. Er versetzte sich in die Lage der Helden, seien es Old Shatter­hand, Kara Ben Nemsi oder Winnetou. In den Weiten Nordamerikas oder des Vorde­ren Orients war er nun der Starke.

Die Lektüre dieser neuen Heldengeschichten verur­sachten einen Hunger auf weitere Geschichten. Der Hunger ließ sich mit weiteren Karl-May-Erzählung­en stillen, die in einer mehr als siebzig bändigen Ausga­be vorla­gen. Er las einen Band nach dem anderen und reiste so um die ganze Welt. Unter den Büchern waren auch Heimatromane wie Aus dunklem Tann, Der Peit­schenmüller, Der Silberbauer, Der Wur­zelsepp und Die Kinder des Herzogs. Die lieh er vornehm­lich für seine Großmutter aus, die nach dieser Art von Literatur eine kleine Sucht entwickelte. Denn ei­gentlich mochte sie Karl May nicht. Ihr Vater näm­lich habe diesen Schrift­steller immer schon als Lügen­hammel bezeich­net, weil alle die Reisegeschichten erlogen seien. Nie­mals sei der in fer­nen Ländern gewe­sen.

Der Enkel verteidigte den Reiseschriftsteller mit dem Argu­ment, das man so viel ja gar nicht erfinden könne, wie er auf seinen Reisen erlebt habe. Doch die Groß­mutter blieb bei ihrem Urteil, das sie nicht davon ab­hielt, sich weitere Heima­terzählungen besorgen zu las­sen.

Jahre später erfuhr er, dass die Großmutter in gewisser Hinsicht recht ge­habt hatte mit dem Vorwurf der Lügen­geschichten. Und noch später wur­de ihm klar, dass das sogenann­te Lügen ein Wesensmerkmal der Schriftstel­lerei war. Was er je­doch niemals herausfand, war, ob der Urgroßvater mit der Bezeichnung Lü­genhammel auch Mays kleinkriminelle Karrie­re als Hochstapler mitge­meint hat und ob das Eine ohne das Andere über­haupt möglich war.

Die Abenteuerromane führten zu einer gedanklichen Weite, die der häus­lichen Enge und Eingeschränktheit gegenüber stand. Wie auch in der Schule war kein Wi­derspruch er­laubt. Anordnungen wurden ausgeführt und nicht hinterfragt. Das störte ihn nicht, denn es gab ja die andere Welt, die der Phantasie, in die man sich jederzeit zurückziehen konn­te.

Seine strenge Tante trug sogar noch dazu bei, weil sie ihm, als er von ei­ner langwieri­gen Mittelohrentzündung ge­plagt, Wochen zu Hause ver­bringen muss­te, James F. Coopers Le­derstumpf mit­brachte. So lernte er Menschen kennen, die nach Freiheit strebten, die sie in den Weiten Nordamerikas verwirklichen konnten. Die als Einzel­gänger sich ihren Weg bahnten und sich keinem Gesetz unterwerfen mussten.

Es war ein voluminöses Buch, das die Tante ihm in die Hand gedrückt hatte. Ei­gentlich fünf Romane, die in den Zeiten der nordamerikanischen Kolonien spielten, als sie noch zur englischen Krone gehörten. Ein gewis­ser Nathaniel Bamppo spielt die Hautrolle, trägt aber in den Romanen nach indianischem Brauch verschiedene Bei­namen. Er heißt einmal Wildtöter, Pfadfinder und Lan­ge Büchse, Falkenauge oder Lederstrumpf. Ein Pio­nier, der sich der Enge der Zivilisation zu entziehen sucht. Die De­laware-Indiander des Nordostens werden von den Siedlern zurückge­drängt und wehren sich. Chingachg­oog ist der edle Wilde, der auch in Bedrängnis mora­lisch handelt und daher mit Nathaniel be­freundet ist. Die Siedler machen immer mehr Indianerland urbar, der edle Wilde findet bei der guten Tat den Tod.

Es gab auch den Schurken, ohne den keine Heldentaten möglich sind. So sug­gerierte es die Lektüre. Gegen sie hilft Gewalt und List. Er bevor­zugte in seinen helden­haften Phan­tasiegeschichten, die sich nach dem Le­sen in seinem Kopf aufbauten, die List. Nicht weil er die Ge­walt verab­scheute. Prügeleien ging er nicht grundsätz­lich aus dem Wege. Son­dern weil er die seiner Meinung nach in­telligentere Lösung vorzog. Dazu brauchte man Wissen. Das wollte er sich an­eignen.

Aus der Stadtbücherei lieh er sich auch Friedrich Ger­stäckers Die Fluss­piraten des Mis­sissippi aus. In der Ju­gendbuchfassung. Der Piratenchef Kapitän Kelly verübt von einer Flussinsel aus Über­fälle auf Warentrans­porte auf dem Missis­sippi. Die Flussanwoh­ner und Schiffer fürchten ihn wegen seiner Brutalität, die Piraten vereh­ren ihn. Georgine, sei­ne dortige Frau liebt ihn, obwohl er nur selten bei ihr ist. Doch Kelly führt ein Doppelleb­en. Meistens lebt er in der Gemeinde Helena mit seiner rechtmäßi­gen Gattin Hed­wig. Hier ist er der Friedens­richter, Anwalt und Arzt Day­ton, bei der Bevölkerung beliebt und geachtet, und kann unter diesem Deckman­tel seine kriminellen Geschäfte planen und kontrollie­ren. Natür­lich nimmt die Geschichte kein gutes Ende.

Was ihn an der Gerstäcker-Geschichte faszinierte, war weniger das Exoti­sche, das Wilde, das Piratenleben, sondern die Lebens­weise der Hauptfi­gur. Dayton-Kelly oder umgekehrt kann in zwei unterschiedliche Perso­nen schlüpfen. Nicht nur in der Phantasie, sondern im realen Leben. Bei ihm gibt es nicht Wirklich­keit und Traum, sondern zwei Wirklichkeiten oder zwei Leben gleichzei­tig.

Damals wusste er noch nicht, dass der Lügenerzähler May von den Land­schaftsbeschreibungen und Figuren Gerstäckers und Coopers profitiert hatte und dass Ger­stäckers litera­risches Vorbild Cooper gewesen war. Es hätte ihn auch nicht interessiert.

Bald fand er auch kein Interesse mehr an den nordame­rikanischen Helden und Bösewichtern. Ihm fiel Daniel Defoes Robinson Crusoe in die Hän­de. Das Buch faszi­nierte ihn solange, bis ein Tipp der Bibliothekarin ihn zu Alexandre Dumas Der Graf von Montechristo greifen ließ. Er gerät in den Bann ei­nes Rachefeld­zugs, den der unbescholtene Edmond Dantès durch­führt, nach­dem er infolge einer Intrige jahrelang in Kerkerhaft ge­sessen und durch glückli­che Umstände freigekom­men war. Es waren auch sich ändernde politi­sche Verhältnis­se im Frankreich der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, die bei der Intrige eine erheb­liche Rol­le spielen. Er ver­stand sie beim damaligen Lesen kaum, doch sah er, wel­che Aus­maße die Vernichtung persönli­chen Glücks an­nehmen konnte und dass das Pri­vate sich nicht al­lein im familiä­ren Raum ab­spielte.

2. Kapitel

Er war wieder aus dem Rhythmus gekommen. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes kein Taktgefühl. Seine Tanzpartnerin nahm es mit einem ge­quälten Lä­cheln hin, wenn er ihr wieder und wieder auf die die Füße trat. Sein Hemd war längst durchgeschwitzt seine Hände wa­ren feucht, und seine eigenen Füße schienen in den gro­ßen spitz zulaufenden Schuhen keinen Halt mehr zu fin­den. Warum hatte er sich die Tanzschule antun müssen? Nur weil er mit den anderen aus der Klasse mithalten wollte? Denn wenn er jetzt nicht mitgemacht hätte, hätte er nie mehr einen Tanz­kurs belegt. Tanzen musste man können. Ein gesell­schaftliches Muss.

Frauen schätzten Männer, die tanzen konnten. Das wusste er schon jetzt mit fünfzehn. Also musste er diese Höllenqualen erdulden. Auch die Pein­lichkeit, wenn eine der beiden Töchter der Tanzlehrerin, die ihre Mut­ter bei deren Arbeit un­terstützten, sich seiner erbarmten und ihm Nachhilfe gaben. Mit einer Leich­tigkeit kamen sie herbeigeflogen, boten sich ihm als Partnerin dar und halfen ihm, die richtigen Schritte zu tun. Er ließ sich von ihnen führen, ob­wohl das sei­ne Aufgabe gewesen wäre.

Und in diesen kurzen Momenten tanzte er scheinbar leichtfüßig. Schweb­te durch den Raum, durch den gera­de noch eher niedrigen Tanzsaal mit ein paar Spiegeln an der Querseite ge­genüber der Eingangstür. Immer im Raum herum, der sich bei jeder Drehung erweiterte und vergrößerte. Er hatte eine strahlende Partnerin im Arm, mit der er sicher vom Walzer in den Foxtrott wechselte, die er beim Tangoschritt knapp über das Par­kett gleiten ließ und die die Rumba mit wehendem Röckchen und glühenden Blicken tanzte. Er wurde um seine Kunst und seine Partnerin beneidet. Das konnte er sehen, aus den Augenwinkeln. Die Mädchen, die ihn bei der Damen­wahl übersehen hatten, bedauerten ihre Ent­scheidung. In den Augen seiner Tanzpartnerin, mit der auch zum Ab­schlussball gehen wür­de, stiegen Verlangen und Eifer­sucht auf. Das nachsichtige Lächeln wur­de zur lächeln­den Bitte. Bleib bei mir bis zum Schlussball! Er hatte es ih­nen allen gezeigt.

Abrupt hörte die Musik auf, der langsame Walzer war zu Ende, die Toch­ter der Tanzleh­rerin war verschwun­den, er stand allein. Wieder in der Wirklichkeit. Noch eine Viertel­stunde, dann konnte er an die frische Luft. Dann wäre die Un­terrichtstunde zu Ende, die mühseli­ger zu ertragen war als manche Mathematik- oder Che­miestunde.

Dann ginge er die zwei Kilometer zu Fuß nach Hause, anstatt die Straßen­bahn zu nehmen. Das gäbe ihm ein gewisses Gefühl von Befrei­ung. Er könnte dann wieder seinen Gedanken nachhän­gen, sich in starke Per­sonen hinein träumen. Auch wenn es nur gute Tänzer wären, die auf dem gut ausge­leuchteten Parkett eine gute Figur machten und den ersten Preis für ih­rer Dar­bietungen be­kamen.

Seit einiger Zeit hatten sich seine Traumwelten verla­gert. Er war der ga­lante Dandy, der die jungen Frauen mit seinen Tanzküsten und seiner Elo­quenz ver­führte. Der von seinen vielen Schulfreunden, in Wirklichkeit hatte er gerade einmal zwei, vergöttert und um Rat ge­fragt wurde, der je­den Tanzwettbewerb gewann und so­gar in den Illustrierten auf das Titel­blatt rückte, mit sei­ner neues­ten Partnerin im Arm. Er war überdies der ge­niale Schüler, der in Naturwissen­schaften glänzte, ein eigenes Labor besaß, Arzneimittel, Dün­gemittel und al­les Mögliche entwickelte, das die Welt vor Krankheit, Hunger und Ar­mut rettete. Diese Träume halfen ihm, die Zeit bis zur Reifeprüfung zu überstehen.

Die Er­gebnisse des Abiturs waren zufriedenstellend. Mehr hatte er gar nicht ge­wollt. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, wirklich Medizin zu studieren, denn dazu hätte man einen sehr gu­ten Abschluss vorweisen müssen. Immerhin standen ihm mit seinem Zeugnis die Universitä­ten of­fen. Und er konnte einen Studienort wählen, der soweit wie möglich von seinem Heimatort, seiner Fami­lie, seinem Bekanntenkreis entfernt lag.

Teil I

3. Kapitel

Als ich Klemens an der Universität kennenlernte, hatte ich gerade mit dem zweiten Se­mester begonnen, wäh­rend er schon im Haupt­studium war. Dass Kle­mens Mil­de ein an­genommener Name war, erfuhr ich erst viel später. Er war Tutor im Geographischen Insti­tut und half den Studen­ten der unteren Semester beim Erlernen wis­senschaftlichen Arbei­tens.

Ich hatte da anfangs Probleme, denn ich hatte das Fach Geogra­phie nur deshalb als zweites Studienfach neben Anglistik und Germa­nistik ge­wählt, weil es mir in der Schule gefallen und mir eine gute Note be­schert hatte. Tiefe Kenntnisse hatte ich keine. Die Lücken inhaltli­cher und me­thodischer Art erschienen mir auf einmal so groß, dass ich ich nicht wuss­te, wie ich sie füllen sollte. Und ich dachte daran, das Geographiestudium aufzuge­ben, wie vorher schon das Studi­um der Philosophie, weil das mir abver­langte Ar­beitspensum nicht mehr dem entsprach, das ich in der Schule aufge­bracht hatte. Kurz: ich musste erst ein­mal das Arbei­ten ler­nen. Dabei half mir Klemens.

Klemens hatte ein leises, zurückhaltendes Auftreten, war zielstre­big und zäh. Die Geo­graphie war für ihn so eine Art Offenba­rungswissenschaft, die nahezu das ge­samte Welt­wissen in sich vereinte, und er verehrte mit religiöser Inbrunst ihren berühmtes­ten Vertre­ter Alexan­der von Hum­boldt. Er verfügte über große Überzeu­gungskraft und pädagogi­sches Ta­lent. Ich glaube, dass alle Studenten, die er unter seine Fittiche genom­men hat, aus dem Tal der Tränen hinausgekom­men sind.

Seine Zurückhaltung bedeutete nicht, dass er die Öffentlichkeit oder den großen Auftritt scheute. Diese andere Seite bemerkte ich erst auf eine der vielen politi­schen Veranstal­tungen, die im Audi­torium Maximum der Marburger Universität stattfanden.

Laut Hel­mut Kohl und anderen Vertre­tern der Konserva­tiven wa­ren drei Universitäten Kader­schmieden des lin­ken Umsturzes, de­ren Namen in al­phabetischer Reihen­folge zu nennen sie nicht müde wurden, nämlich Berlin-B­remen-Marburg. Wie eine Be­schwörungsformel, mit der man den Gottseibeiuns bannen möch­te.

Immerhin, die Veranstaltungen waren ein politisches Spektakel, wenn auf der Bühne berühmte akademische Honoratio­ren ihre An­sichten zu irgendwelchen innenpo­litischen Geschehnissen oder au­ßenpolitischen Ereignis­sen, ins­besondere in der Dritten Welt, bekunde­ten und dann die geballte geistige Elite der politischen Studen­tenverbände vom SHB und MSBSpartakus und KPMDLM etc. zum Meinungsaus­tausch überging.

Ich ent­deckte Klemens auf der Bühne. Damals schlank, mittel­groß, mit hellblonden langen Locken und Nickel­brille, als es auf ei­ner der oben ge­nannten Veranstal-tung­en um den Militärputsch in Chile vom 11. Septem­ber 1973 ging.

Klemens stand am Rednerpult und eröffnete die Infor­mations- und Soli­daritätsveranstaltung. Er schilderte mit ruhiger Stimme präzise und aus­führlich die po­litischen und wirtschaftlichen Ent­wicklungen in Chile, die Regie­rungszeit Al­lendes, den scheinbar unerwarteten Putsch, die Rolle der USA, die Verhaftungen und Foltermetho­den und kam dann auf die Flüchtlinge zu sprechen, ver­streut in alle Win­de. Doch eini­ge von ihnen seien jetzt hier un­ter uns, in Sicherheit, im Asyl. Die Stimmen im Saal brausten auf. Rhythmisches Klatschen. Un pueblo unido jamás será ven­cido. Dann stellte Klemens die Redner vor, unter ihnen auch eini­ge Exil­chilenen. Wenn sie auf‘s Podium stiegen, schwollen die Begeisterungs- rufe an.

Das konnte ich verstehen. Weil ich ziemlich vorn in der Menge saß, war auch ich von ihrer optischen Erschei­nung nicht ganz un­berührt. Denn mit ihren, merkwürdi­gerweise, schwarzgelockten Haaren bildeten sie einen exoti­schen Kontrast zum mitteleuropä­isch blondem Pu­blikum. Besonders zu den hellblon­den schlanken Kom­militoninnen oder besser Genossinnen, die die dem Ge­metzel entkommenen Freiheitskämpfer liebevoll in die Arme schlossen.

Die haben schon ihre Groupies, dachte ich mir und war ziemlich neidisch. Un­ter den Klängen von Trommeln und Andenflöten pflegten diese Veran­staltungen zu Ende zu gehen. Ich weiß nicht mehr, ob damals Quila­payún selbst auftrat oder nur eine der In­diogruppen, die sie imitierten. Die Stim­mung war gut. Man hatte das Gefühl, seine politische Solidarität zum Ausdruck ge­bracht zu haben. Ein paar Jahre später wurde man dieser Art von Musik überdrüssig. In je­der Fuß­gängerzone einer mittelgroßen Stadt kam man nicht umhin, das Pfeifen und dumpfe Trommeln anzuhören. In­zwischen waren unzählige die­ser Bands ent­standen, die sich grell farbige Ponchos übergewor­fen hatten und selbst ge­presste CDs feilbo­ten.

Ich habe kurz nach der Chile-Veranstaltung Klemens auf seine politischen Akti­vitäten hin angesprochen. Er war schon eine längere Zeit beim SHB. Sein Schwer­punkt in der politi­schen Arbeit waren die Dritte Welt und die Befrei­ungsbewegungen. Das lasse sich hervorr­agend mit seinem Studien­fach verein­baren, und in nicht allzu ferner Zeit werde er all diese Länder bereisen.

Ob ich nicht auch mitmachen wolle. Ich drückte mich um eine konkrete Ant­wort und wollte stattdessen wis­sen, wie es denn mit den geflüchteten Genos­sen weiter­gehe. Wie ich gesehen hätte, sei­en diese ja in den besten Händen. Der be­herrschte Klemens ver­zog keine Miene, doch glaubte ich in seinen Zügen Bit­terkeit wahrzuneh­men. Natürlich wurde ich mit ein paar Flos­keln abge­speist, erfuhr erst später, dass er noch die Feier danach organisiert hatte, dann jedoch ziemlich al­leine dastand, als die schönen dunk­len Jünglinge mit ihren blonden Mädchen verschwanden.

Ich kann sei­ne Emotionen nachvollziehen. Hatte er doch schon seit gerau­mer Zeit Spanisch gelernt. An diesem Abend war er noch nicht dran. Nein, er war nicht schwul. Er hatte nur ein menschliches und politi­sches Inter­esse. Und ich wuss­te jetzt, dass diese Art von Aktivität nichts für mich war.

4. Kapitel

Klemens Milde hat aus diesen Erfahrungen gelernt. Die politische Arbeit, das Vertrauen in seine erworbenen Kenntnisse hatten ihm eine gewisse Kraft und Stärke verliehen. Öf­fentliches Auftreten war zwar noch lange mit Lampenfie­beranfällen begleitet, die kindli­che und jugendliche Schüchternheit war zwar nicht zur Gänze überwunden, doch er hatte sie im Griff. Sie war ihm nicht mehr anzusehen.

An seinem ersten Studienort, in Bo­chum, haben ihn ei­nige dieser Typen, die lautstark in den Seminaren, in den Foyers, im Audimax oder auch draußen auf der frei­en Bühne auftraten, beeindruckt. So wollte er auch sein. Männer, mit kräftigem Schnauzbart, langem Haar. So wie ein gewis­ser Carlos Bouillon oder die Assel-Brüder, flachsblonde Zwillinge, quirlig, nervös, trotz­dem mit ei­ner gewissen Ausstrahlung. Alle waren wohl dem SHB oder der lin­ken SPD zu­zuordnen, zogen eine große Show ab und ärgerten den damaligen Rektor der Uni­versität.

Nach meinen Nachforschungen besaßen sie nach ihrer aufregenden Studi­enzeit eine Rechtsanwaltskanzlei samt Notariat in Bochum. Da hatten sie früher genug Spiel­raum, um schon mal große Auftritte zu üben. Über Bouillon, der bei Clemens so tiefe Spuren hinterlassen hat, war nichts zu erfahren.

Klemens war kein Kind des Ruhrgebiets, wie es so heißt. Auch wenn sei­ne ers­te Univer­sität die Ruhr-Universität Bochum war, die endlich den Kindern von Bergleu­ten und Stahlarbei­tern universitäre Bildung brin­gen sollte. Klemens kam aus dem süddeutschen Raum. Un­ter gro­ßer Anstrengung, so vermute ich, muss er sich seinen süddeutschen Tonfall und Akzent ab­gewöhnt ha­ben.

Ich besitze ein gutes Gehör für Sprachen und Dialekte, und meine linguis­tischen Studien haben mich den nie­derdeutschen und ober­deutschen Sprachraum unter­scheiden ge­lehrt. Die Klippe, die er immer abzustürzen drohte, war der S-Laut. Die Zahl sechs sprach er aus wie Sex und umge­kehrt. Ich brauche Ihnen nicht zu schil­dern, welche Sätze so konstruierbar sind. Daraufhin an­gesprochen, wollte er es nicht wahrha­ben.

Ich hätte ihn später, wenn ich dies alles Revue passieren ließ, gern damit gerös­tet, dass es viele seiner Landsleu­te im weitesten Sinne gab, die die­sen Makel auch nicht los wurden.

Aber das ist ja überflüssige Spinnerei. Viel­leicht übte er im Stil­len, mit mäßigem Erfolg, denn nach einiger Zeit meldete sich sei­ne Hei­mat akus­tisch wieder zu­rück. Als mir das mit den S-Lauten auffiel und ich mei­ne Bemer­kungen machte, wusste ich noch nicht, welchen Weg Kle­mens - ich nenne ihn jetzt weiterhin so - schon ge­gangen war und welchen Weg zu gehen er sich noch vor­genommen hat­te. Das Sprachtraining war nur ein kleiner Teil davon.

5. Kapitel

Viel später, als ich einmal in San Francisco meine Oster­ferien ver­brachte, sah ich Klemens zufällig wieder. Er war zu einem Meeting zum Thema Welternährungs­problemen im Rahmen der WHO angereist, aller­dings unter dem Namen Carl Cle­ment.

Er erzählte es mir, ohne dass er sich verpflichtet sah, seinen der­zeitigen Namen zu rechtfertigen, ferner dass er sein Studium in Marburg abgebro­chen beziehungs- w­eise ruhen ge­lassen habe, um in Südamerika - wie er ironisch lä­cheln formu­lierte - auf den Spu­ren Alexander von Hum­boldts zu wandeln, je­doch als Cle­mens Tem­plado. Chile habe er zunächst ausge­spart, der Gefähr­lichkeit we­gen, doch mithilfe entsprechender Camoufla­ge und Beziehun­gen, über die er sich nicht näher aus­ließ, habe er dann dort einige produktive Jahre ver­bracht. Er lä­chelte leicht, wie frü­her, wenn er jemanden für sich ein­nehmen wollte. Die alte Nickel­brille hatte er durch eine dunkle Hornbrille er­setzt, die gelockten Haa­re waren auf der Stirn zurückgewichen, an den Seiten kurz gehalten und leicht er­graut, so dass er den Ein­druck eines seriösen Wissen­schaftlers oder Arztes mach­te.

Etwas später ließ er mir die Nachricht zukommen, dass er sich eine neue Legende zugelegt hatte. Um For­schungen zu betreiben. So wie es bei Geheimdienstleu­ten üblich war, mutmaßte ich.

Klemens Templado war das Kind des Peruaners Gusta­vo Pablo Templa­do. Des­sen Vater, also sein Großvater, war aus der Schweiz eingewandert, hatte im Bewässe­rungsgebiet der Küstenebene Avocado-Plantagen aufge­baut und in die Oberschicht hineingeheiratet. Sein Vater Gustavo war nach einem Europa-Be­such in Deutschland geblieben, hatte eine Deut­sche kennengelernt, ge­schwängert und geheiratet. Klemens Templado Lange wuchs in Stuttgart auf, wo sein Vater bei Mercedes eine passable Anstellung gefunden hatte. Diese „Mischehe“ seiner Eltern diente als Er­klärung für seine nicht ganz perfekte Be­herrschung des Spanischen und seine etwas harte Aussprache.

Nachdem Klemens etwa ein Jahr lang durch Südameri­ka gereist war, von Ko­lumbien die Anden entlang bis nach Feuerland, um so einen Eindruck fast aller spa­nischsprachigen Länder zu bekommen - Brasilien inter­essierte ihn angeblich nicht -, ließ er sich in Ecuador, einem klei­nen Land, in dem er sich binnen kurzem bes­tens aus­kannte, nieder.

Der Grund dafür war, so verbreitete er, sei die Bedeu­tung, die das Land für Humboldts Forschung besaß und demzufolge auch für ihn. In Wahrheit hatte er hier ohne Probleme auf seinen Namen Templado Papie­re bekom­men, die ihn als Botaniker auswiesen, der an diversen Universität­en der umliegenden Länder wie Bolivien Ar­gentinien und Kolumbien ge­forscht und gelehrt hatte. In Quito war er Lehrstuhlinhaber für das Fach Ökologie an der Päpstlichen Katholischen Universität.

Er hatte sich einen Namen gemacht bei der Erforschung von Biotopen im Tief­land von Ecuador, wo die Bohrung nach Erdöl ein staatliches Anlie­gen war. Durch einen polemischen Artikel im Interes­se der dort ansässi­gen in­digenen Bevöl­kerung und zur Erhaltung der Biodiversi­tät und ge­gen die kurzfristige Profitmaxi­mierung wurde man auch im Erzbistum München und Freising, das in­tensive Kontakte zur Univer­sität hielt, auf ihn aufmerk­sam.

Für Klemens, den leidenschaftlichen Geographen, war es ein Leichtes ge­wesen, sich als Biologen auszugeben. Die Aneignung des entsprechenden Fachwissens war nur eine Fra­ge von einigen Monaten. Bis auf explizit biologische Sachver­halte, z.B. Botanik, Zoolo­gie, Gene­tik, Mikrobiolo­gie, Biochemie und Biotech­nologie war ihm das Denken in ökologischen Zusammenhängen ge­läufig.

Auf seinen Reisen hatte er Pflanzen und Tiere fotogra­fisch doku­mentiert, so dass er auf diesen Fundus immer zurückgreifen konn­te. Als der Mün­chener Kardinal auf ihn aufmerksam wurde, stand er kurz davor, einen Rei­sebericht zu vollenden, der die Lebens­weise der Bevöl­kerung und die Machenschaften der Ölindustrie im ecua­dorianischen Regenwaldgebiet beschrieb und der auf in­tensiven Ge­sprächen mit der betroffenen Bewoh­nern, Arbeitern vor Ort und auch anonymisiert mit Ver­tretern der Ölkon­zerne be­ruhte. Schon vor der endgülti­gen Drucklegung versprach der Kar­dinal, ein Begleit­wort zu schreiben.

Dieser Reisebericht, den er Viaje a través del infierno (Reise durch die Hölle) nennen sollte, basierte nach Angaben des Verfas­sers auf mehrwö­chigen Aufent­halten im Oriente, dem tropischen Teil Ecuadors, die immer nur kurz von den kurzen Rückzugpha­sen in Quito unter­brochen wurden, wo er eine gewisse Prä­sens zeigen und sich gleichzeitig von den Strapa­zen des Lebens im Dschungel erholen musste.

In der Hauptstadt lebte er mit Ana María zusammen, ei­ner Stu­dentin aus der weißen Oberschicht, die trotz ihrer Herkunft für die Interes­sen der in­digenen Bevölkerung eintrat und die schon während des Entstehungspro­zesses des Bu­ches die Werbetrommel für den Reisebe­richt rühr­te und die auch den Titel vor­geschlagen hatte. Sie entsprach dem Schönheits­ideal der Mit­tel- und Ober­schicht, war schlank und blond, und offensichtlich war niemals ein Tropfen in­dianischen Blutes durch die Adern ihrer Fami­lie, die stolz auf ihre reine Ab­kunft aus dem spanischen Norden war, ge­flossen. Kle­mens erin­nerte sie stark an die blonden Stu­dentinnen, die sich den exilierten Chilenen an den Hals gewor­fen hatten. Ihm war bewusst, dass er für Ana María ebenfalls einen ge­wissen exo­tischen Reiz besaß, al­lerdings im umgekehr­ten Verhältnis, denn er war jetzt ein Nordländer im Sü­den, dessen, sagen wir einmal, Schwerfälligkeit beim Sal­sa-Tanzen bei den Einheimischen für Amüse­ment sorgte.

Wenn er, von seinen Reisen in den Oriente zurück in Quito war und sei­ner Freundin in wohl dosierten Portio­nen, so wie man ei­nem hungrigen Tier Futter hinstreut, von seinen Expeditionen erzählte, hatte er zunächst alle Mühe, ihr auszureden, ihn beim nächsten Mal zu beglei­ten. Dann schilderte er ihr in kras­sen Szenen die im wahrsten Sin­ne des Wortes lau­sigen Unterkünfte, das misera­ble Essen, die schreckliche Hitze und furchtbaren Regenfälle mit Überschwem­mungen, die alles mögliche Ge­tier ans Ufer der Flüsse spülten, die Unberechenbark­eit der dort lebenden Menschen, die fehlende Kultur und alles Mögliche, was das Leben da un­ten von ihrem Le­ben hier oben in der klaren Luft der An­den unterschied. Dieser Gefahr wollte sich Ana María nicht ausset­zen, schon ihren Eltern zuliebe, die ohnehin schon skeptisch den Deutschen, wie sie ihn zu Kle­mens Ärger nannten, beäugten.

Die glückliche Rückkehr aus der Wildnis pflegten sie auf Wunsch Ana Marías im Re­staurant auf dem Panecil­lo, der höchsten Erhe­bung Quitos, zu feiern. Dort trafen sie dann regel­mäßig Freunde, die sich gern von dem Abenteurer und Wis­senschaftler unter­halten ließen. Und Klemens hat­te das Gefühl, dass er seine Kindheit und Jugend und die ersten Lehrjahre auf der Universität weit hinter sich zurückgelassen hat­te.

Mir ist nicht bekannt, nach allem, was ich herausbekom­men habe, ob Ana María jemals den Bericht über die vermeintliche Höllenreise gelesen hat. Wahr­scheinlich glaubte sie ihn schon aus den Erzählhäppchen, die ihr vorgesetzt wurden, zu kennen und hielt daher eine Lek­türe für überflüs­sig.

6. Kapitel

Meine Reise in den Oriente, so beginnt der Bericht, ist keineswegs das, was man einem Touristen als Leitfaden für eine Durchquerung des ecua­dorianischen Tieflandes zur Ver­fügung stellen würde. Es geht nicht um schöne Landschaften, indianische Folklore, exoti­sche Mahlzei­ten. Es geht um Tatsachen, es geht um die Dokumentati­on brutaler Lebensum­stände. Es geht um die gro­ße Öl­katastrophe am südamerikanischen Äquator, in eben dem Lan­de, das nach dem nullten Brei­tengrad benannt ist, nämlich Ecua­dor. In dessem nördlichen Tiefland ei­nige Quellflüsse des großen Amazonasflusses liegen. Hier herrscht das gan­ze Jahr über dieselbe Tempe­ratur. Eine feuchte Hitze durchdringt die Land­schaft. Tägliche Re­gengüsse lassen mancherorts die jährliche Nieder­schlagsmenge auf 6000 mm steigen.

Wir waren am Vormittag von Quito aus losgeflogen, mit einer zweimoto­rigen Propeller­maschine, die schon seit Jahrzehnten ihren Dienst versehen musste. Außer mir waren elf weitere Passa­giere an Bord. Geschäftsleute, ihrer Kleidung nach zu schließen, Arbeiter der Ölfelder indianischer Ab­stammung, drei Frauen, ebenfalls Indias, die, was ihre Klei­dung und ge­samte Aufmachung betraf, sich an den gerade herrschenden Modeideal der Haupt­stadt ausgerichtet hatten und gerade deshalb, da sie sich so auf­geputzt in den Re­genwald begaben, klar als se­xuelle Dienstleisterinnen zu erkennen waren.

Die kleine Maschine flog durch die untere Wolken­schicht. Die Sicht hatte sich ver­schlechtert, da die mit­täglichen sintflutartigen Regenfälle einsetz­ten. Ich sah, dass die Scheibenwischer überlas­tet waren und Sturzbä­che von Regenwasser an den kleinen Schei­ben herablie­fen. Ich weiß nicht, wie der Pilot es schaffte, die Lande­bahn von Puerto Francisco de Orella­na, dem frü­heren Coca, zu finden. Aber nachdem wir mehrere Male ruck­artig an Höhe verlo­ren hatten, fanden die Räder Berüh­rung mit der Lan­debahn, ei­gentlich mehr mit den Was­serlachen, die sich darauf gebildet hat­ten, denn die Ma­schine glitt wie auf Kufen auf die Eingangshalle des Flughafengebäudes zu, bis sie abrupt zum Stillstand kam.

Die Stadt ist klein, sie verfügt über nicht mehr als rund 40.000 Einwoh­ner, be­sitzt jedoch einige leidlich be­wohnbare Hotels. Ich hatte mir ein Zimmer im Hotel de Lago re­servieren lassen, das unmittelbar an der Stelle liegt, wo der von Norden kommende Coca-Flusss in den aus dem Anden­raum stammenden und nach Osten strö­menden Río Napo ergießt und eine seeartige Vergröße­rung schafft und so dem Hotel seinen Namen gegeben hat.

Vom Flughafenge­bäude war es nur einen halben Kilo­meter zum See-Hotel, den ich zu Fuß gehen konn­te, da der Mittagsregen aufgehört hatte und auch mit keinem weiteren Regen­guss mehr zu rechnen war. Keiner der anderen Passagiere schien in meinem Ho­tel zu logieren. Mit dem Auf­hören des Regens verzogen sich die die di­cken Wolkenbänke, der Him­mel klarte in Teilen auf, so dass ich von meinem Zim­merfenster aus auf den See blicken konnte und mir vorstellte, wie der Río Napo, jetzt vereint mit dem Río Coca und verstärkt um etliche Wassermassen dem Amazonas entgegen­strebte, um öst­lich vom pe­ruanischen Iquitos in den größten Strom des Halbkontinents zu münden.

Ich war müde, denn solche Inlandsflüge sind anstren­gend, und be­schloss daher, ein we­nig auszuruhen, damit ich vor dem Einbruch der Dunkelheit noch ein Restaur­ant finden konnte.

Zwei Stunden später betrat ich ein kleines Restaurant, mehr eine Bar, am Fluss­ufer. Im Innern war es schumm­rig, die Abenddäm­merung war noch nicht hereingebro­chen, der Wirt sparte offens­ichtlich am elektrischen Strom, so dass man sich mit dem langsam abnehmenden Ta­geslicht be­gnügen musste. Ich be­stellte das Tagesger­icht und ging davon aus, dass ich von dem gebratenen Meer­schweinchen ver­schont bliebe, das in jeder Ecke der Haupt­stadt so wie im gan­zen An­denraum angeboten wurde und dessen ich längst überdrüssig geworden war. Das Gericht kam schnell. Ich war der einzige Gast, und auf dem Teller, den mir der zu­nächst schweigsame Wirt mit nicht ganz sauberen Händen hinge­stellt hat­te, be­fand sich ein Stück Fisch, aus dem Fluss, wie ich an­nahm, zusammen mit zerkoch­ten Kar­toffeln und einem Stück Kochbanane. Unaufgefordert wurde mir eine Fla­sche Bier ser­viert.

Ich mache mir nicht viel aus Essen. Essen ist für mich nur Nahrungsauf­nahme. Das Getue um Edelrestaurants, Menüfolgen, tra­ditionelle und ge­rade angesagte Kü­che empfand ich immer schon als aufgesetzt und über-flüssig. Wenn ich esse, möchte ich nicht übers Essen reden. Ich möchte beim Essen mit jemandem re­den oder wie jetzt gera­de darüber nachden­ken, mit wem ich demnächst über das große Thema Ölkatastrophe re­den könnte.

Ich beschloss, gleich mit dem Wirt anzufangen. Der hat­te nichts zu tun, tauschte mit dem Koch irgendwelchen banalen Tratsch über irgendwelche Nachbarn aus und schien nicht unzufrieden, als ich ein paar Fragen an ihn richtete. Ich wollte wissen, wie der Ölboom sich auf das Leben der Stadt ausgewirkt hat, auf das kleinen Nest, das Coca noch vor gar nicht langer Zeit gewesen war.

Ach wissen Sie, Señor, ich komme gut über die Runden. In einer Stunde wird es hier voll. Da kommen die klei­neren Leute, die eine Arbeit gefun­den haben, die irgend­wie mit dem Öl zusammenhängt, essen etwas und trin­ken ihr Feieraben­dbier. Ich will nicht kla­gen, habe mein Auskommen, kann meine Familie ernäh­ren, meine Kin­der gehen zur Schule, können später was Größeres im Öl wer­den, Ingenieur vielleicht. Die werden ja ge­braucht. Ich bin nicht neidisch. Man­che sind hier richtig reich gewor­den. Das ist ja auch wieder gefährlich. Die le­ben in abgeschotteten Häu­sern, mit Personenschutz. Wenn da mal einer drauf­geht, die Polizei unter­nimmt nichts.

Er kam ganz dicht an mich heran: Hier geht nichts ohne El Capitán.

Auf meinen fragenden Blick hin wurde ich darüber auf­geklärt, dass das der Chef, der Beherr­scher der Region, sei und die Geschäfte steuere und ohne den keiner Ar­beit finde.

Ich dachte gleich an einen Mafia-Paten oder so etwas Ähnliches, sagte es na­türlich nicht, um Genaueres zu er­fahren.

Der Capitán wohnt flussaufwärts, und dabei zeigte er mit der Hand nach drau­ßen auf den Río Coca, dessen Fluten jetzt schon nicht mehr zu sehen waren.

Wenn er nicht gerade in Quito oder Guayaquil ist, zieht er sich auf seine Haci­enda zu­rück, ein paar Kilometer von hier in Richtung Nueva Loja.

Ich wusste, das war im Norden, dahin wollte ich sowie­so, in die Erdölfel­der. Und ich wusste nun auch, über wen ich Informationen brauchte.

Noch einmal rückte der Wirt näher und flüsterte: Es gibt noch die Capita­na. Die ist noch bedrohlicher. Die wohnt immer auf dem Landgut.

Kurz darauf verließ ich das Lokal, nachdem ich noch ein zweites Bier ge­trunken und zur Rechnung ein gutes Trinkgeld gegeben hatte, und spa­zierte am Flussufer entlang bis zur Hafenstelle, wo die Lastschiffe und die Einbäume vertäut waren, von denen mich einer bald stromaufwärts über den Coca-Fluss tragen würde.

7. Kapitel

Mit ihren Außenbordmotoren erreichen die Einbäume eine hohe Ge­schwindigkeit. Der Fahrtwind sorgt für Kühle, trotz der immens feucht­heißen Luft im Amazo­nasbecken. Als ich das erste Mahl, vor einigen Jah­ren, mit einem sol­chen Einbaum fuhr, also mich fah­ren ließ, hatte ich mir eine schwere Erkältung zugezogen, da ich diese Fahrt nur in T-Shirt und leichter Hose unternom­men hatte. Daraufhin versah ich mich immer für derarti­ge Expeditionen mit wärme­rer Kleidung und vor allem mit Re­genschutz. So auch dieses Mal. Und außer­dem mit einem Basis-Vorrat an Lebensmitteln und Aguardi­ente, diesmal einem peruanischen Schnaps, den man für Verhandlungs- und ausführliche Auskunfts­gespräche braucht. José, mein Wassertaxi-Fahrer, war mir vom Kneipenwirt empfohlen wor­den. Er sei vertrauenswür­dig, verschwiegen und vor allen Din­gen, er ken­ne sich her­vorragend im nördlichen Oriente aus, in erster Linie was die Wasserstraßen angehe, aber auch in Bezug auf die Leute, die an den Fluss­ufern lebten. Ich hoffte, mit seiner Hilfe ei­niges über die Capitana zu erfahren.

Die Landschaft ist wenig abwechslungsreich. Sitzt man im Boot, so sieht man nichts als einen Fluss, der sich ab und zu verbreitert oder schmaler wird, ein paar schwim­mende Inseln aus in sich verhakten Baumstämmen und Ästen. An den Ufern Bäume unterschied­licher Höhe, für den Igno­ranten einfach Biomas­se, für den Botaniker je­doch eine Vielfalt schier un­endlicher, auch noch unent­deckter Pflanzenarten, deren Untersuchung ich dies­mal hintanstellen musste.

Wer Luftaufnahmen von tropischen Regen­wäldern kennt, sieht rötlich-braune Wasser, die durch wuchern­des Dun­kelgrün mäandrieren. Die Fließgeschwindig­keit ist nicht hoch, der Fluss sucht sich sein Bett da, wo er es am einfachsten findet, und so entstehen am Ufer kleine Sandablage­rungen, Strände sozusagen, die von oben aus der Luft nicht zu sehen sind.

An einer der­artigen Stelle mach­ten wir nach meh­reren Stunden Fahrt erst­malig Quartier. Bis zum Einbruch der Dunkelheit fehlte lediglich eine Stunde, und die brauch­ten wir, um unser Lager aufzuschlagen.

Allerdings sind die Flussufer nicht unbe­wohnt. Immer dort, wo die Vege­tation etwas zurückweicht, wo Lande­plätze für Boote existieren, sind Hütten errichtet, auf kleinen Stämmen, die die Behau­sung vor Hochwas­ser und uner­wünschter Fauna schützen. Kinder und Hunde spielen am Ufer und unter den Stelzen. Hier le­ben Men­schen in Famili­enverbänden, die sich von der Fi­scherei ernähren und kleinen Pflanzungen in der Nähe ihrer Hüt­ten, manchmal be­trächtlich tief in den Regen­wald hinein, die niemand von au­ßen erkennen kann und von denen nicht jedermann wis­sen soll, was da so wächst. Und wenig überraschend, der Handel floriert, von der Stadt hier­her und umgekehrt.

Ich wollte ungestört sein, diesmal keinen Kontakt mit der Flussbevölke­rung aufnehmen. Denn ein neugieriger Besucher spricht sich herum. Für meine Auf­gabe brauchte ich ver­schwiegene Informanten.

Nachdem wir den Einbaum an Land gezogen hatten, bauten wir das Zelt mit Mücken­schutz auf, ich richtete die Feuerstelle her, suchte trockenes Treib­holz und Baumäste zusam­men und schichtete alles so auf, dass wir oben an einer Art Spieß die Fische braten konn­ten, die José im Begrif­fe war zu fangen. Er hatte mir in die­ser Beziehung als Einheimischer einiges voraus, und schon nach kurzer Zeit kam er mit einem halb­en Dutzend heringsgroßer Fi­sche zurück, deren Art, ge­schweige denn deren Namen mir unbekannt waren.

José war von mittlerer Statur, muskulös und wendig. Selbstver­ständlich trug er keinen Lendenschurz und auch keine Frisur, die man von Fotos kennt, auf de­nen „Urwald- India­ner“ abgebildet sind: Das glatte tinten­schwarzblaue Haar im Nacken kurz, über die Ohren gleichmäßig rund ge­schnitten, die Stirn von einem Pony bedeckt. Frau trug diese Frisur in den zwanziger Jahren des letzten Jahr­hunderts, und Anna Wintour trägt sie noch heute. José hingegen band sein schul­terlanges Haar zum Pferde­schwanz, zeigte auf seinem gedrungen­en Ober­körper ein ver­waschenes T-Shirt mit irgendei­ner Rekla­me, darunter eine Cargo-Ho­se von ebenfalls undefinier­barer Farbgebung, die dann gefälschte Mar­kensneekers se­hen ließ, ein Allerwelts-Outfit. Der Glo­balisierung sei Dank!

Längst ist es dunkel. Nur die Restglut des Feuers lässt unsere gegenseiti­gen Umrisse er­kennen.

---ENDE DER LESEPROBE---