Am Meer ist es schön - Barbara Leciejewski - E-Book

Am Meer ist es schön E-Book

Barbara Leciejewski

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Beschreibung

Die bewegende Geschichte einer Kinderfreundschaft – gefühlvoll erzählt von Bestsellerautorin Barbara Leciejewski Frau Petri zerriss Susis Brief, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Kleine Fetzen flogen in den Mülleimer. »Nimm diese hübsche Ansichtskarte, schreib etwas Schönes. Darüber freuen sich deine Eltern ganz sicher, und das möchtest du doch, oder nicht?« Sechs Wochen Kuraufenthalt an der Nordsee – ein toller Urlaub, versprechen ihr die Eltern. Doch die achtjährige Susanne und die übrigen Kinder verbringen im »Haus Morgentau« die schlimmste Zeit ihres Lebens. Wer den Teller nicht leer isst, die Regeln bricht oder sich anderweitig aufsässig zeigt, wird von den Erzieherinnen hart bestraft. Kein Hilferuf dringt zu den Eltern durch, denn die Briefe der Kinder werden kontrolliert. Doch immer wieder schlagen Susanne und ihre Freunde den »Tanten« ein Schnippchen. Dann kommt es zu einem Vorfall, der Susanne noch Jahrzehnte später in ihren Alpträumen verfolgt – bis sie beschließt, sich endlich dem Trauma ihrer Kindheit zu stellen. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Am Meer ist es schön

Barbara Leciejewski wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen »richtigen« Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen ist sie Bestsellerautorin und glücklich in ihrem Traumberuf.

Die bewegende Geschichte einer Kinderfreundschaft – gefühlvoll erzählt von Bestsellerautorin Barbara Leciejewski

Frau Petri zerriss Susis Brief, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Kleine Fetzen flogen in den Mülleimer. »Nimm diese hübsche Ansichtskarte, schreib etwas Schönes. Darüber freuen sich deine Eltern ganz sicher, und das möchtest du doch, oder nicht?«

Sechs Wochen Kuraufenthalt an der Nordsee – ein toller Urlaub, versprechen ihr die Eltern. Doch die achtjährige Susanne und die übrigen Kinder verbringen im »Haus Morgentau« die schlimmste Zeit ihres Lebens. Wer den Teller nicht leer isst, die Regeln bricht oder sich anderweitig aufsässig zeigt, wird von den Erzieherinnen hart bestraft. Kein Hilferuf dringt zu den Eltern durch, denn die Briefe der Kinder werden kontrolliert. Doch immer wieder schlagen Susanne und ihre Freunde den »Tanten« ein Schnippchen. Dann kommt es zu einem Vorfall, der Susanne noch Jahrzehnte später in ihren Alpträumen verfolgt – bis sie beschließt, sich endlich dem Trauma ihrer Kindheit zu stellen. 

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-3533-9

 

 © 2025 by Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstr. 126, 10117 Berlin

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Umschlaggestaltung: buerosued, München

Umschlagmotiv: © Arcangel / Reilika Landen

Autorinnenbild: © Gerald von Foris

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Nachwort und Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Für Philipp

Prolog

21. Juli 1969 | Die Nacht der Mondlandung

Die Sichel des Mondes leuchtete über die Wipfel der Bäume, weit weg, klein und doch so hell, dass ihr Schein die Schwärze der Nacht durchdrang. Wunderschön. Sie war geformt wie ein altmodisches kleines Z, das bedeutete zunehmender Mond, ein kleines A bedeutete abnehmender Mond. Das Mädchen wusste das, denn ihr Vater hatte es ihr erklärt. Von ihm wusste sie auch, dass genau in dieser Nacht zum ersten Mal Menschen den Mond betreten würden. »Das schauen wir uns an, Myszka«, hatte er ihr versprochen. »Im Fernsehen. Bis dahin bist du wieder daheim.«

Aber das war sie nicht.

Sie stand auf einem Stuhl am Fenster und blickte hinaus. An der Sichel des Mondes hielt sie sich fest. Da oben waren jetzt Menschen. Nur daran versuchte sie zu denken. Doch immer wieder glitten ihre Gedanken ab und wurden verschluckt von ihrer Angst.

Einmal, als sie noch ein paar Jahre jünger war, etwa fünf oder sechs Jahre alt, da hatte sie mit ihrer Familie einen Ausflug in den Frankfurter Zoo unternommen. Mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer großen Schwester und ihrem großen Bruder. Die Tiere waren in Käfigen oder Gehegen, es konnte ihr also nichts geschehen, und doch jagten sie ihr Angst ein. Sie stellte sich vor, die Gitter wären plötzlich verschwunden und sie stünde einem Tiger oder einem Löwen schutzlos gegenüber. Sie würden sie ansehen mit ihren großen, ernsten Augen und einem einzigen Gedanken: Fressen. Ihr Herz hämmerte so fest gegen ihre Brust, als steckte es ebenfalls in einem Käfig, aus dem es fliehen wollte, genau wie die wilden Tiere. Ganz fest hatte sie sich damals an die Hand ihrer Mutter geklammert.

»Spätzchen, was ist denn los? Sieh mal, der Löwe!« Die Mutter hatte sich zu ihr herabgebeugt und gelächelt. Die Eltern hatten geglaubt, sie würden ihr eine Freude machen, und sicher gab es Kinder, denen ein solcher Tag im Zoo gefallen hätte. Aber bestimmt gab es auch andere Kinder, so wie sie, die sich vor den großen Raubtieren fürchteten und davor, gefressen zu werden. Es konnte doch nicht sein, dass es ihr allein so ging. Sie war froh gewesen, als sie wieder zu Hause war. In Sicherheit.

Jetzt, etwa drei Jahre später, auf diesem Stuhl, befiel das kleine Mädchen eine ganz ähnliche Angst wie damals, nur noch schlimmer, weil sie realer war.

Sie stand auf dem Strafstuhl. Der Stuhl stand dicht am Fenster hoch oben im Turm, damit man den anderen Kindern beim Spielen zuschauen konnte und sah, was man verpasste. Tagsüber. Allerdings lagen die anderen Kinder jetzt in ihren Betten und schliefen. Nur Susanne nicht. Seit Stunden stand sie auf dem Stuhl. Hinsetzen war nicht erlaubt. Doch ihre Knie begannen zu zittern, nicht einmal der Mond oder der Gedanke an die Menschen da oben konnten sie noch ablenken. Und irgendwann war die Erschöpfung größer als die Angst, sie musste sich hinsetzen, sie konnte nicht anders. Sie würde achtgeben und gleich wieder aufstehen, wenn eine der Tanten zum Kontrollieren kam. Wenn sie kam.

Aber sie war so leise wie eine Raubkatze, und auf einmal stand sie neben dem Kind. Wie ein Schatten.

1

Mittwoch, 23. Mai 2018

Ihr eigener Schrei weckte sie auf. Ihre Hand fuhr unter die Decke, unter ihr Gesäß, tastete hektisch das Laken ab. Sekundenlang hielt sie die Luft an, und erst als ihr bewusst wurde, wo sie war, atmete sie erleichtert auf, und ihr schreckensstarrer Körper entspannte sich.

Es war derselbe Traum, der Susanne Lach immer wieder einholte, egal, wie viel Zeit verging, egal, wie alt sie wurde. In den ersten Jahren hatte er sie so oft gequält, dass sie sich irgendwann vor dem Einschlafen gefürchtet hatte. Ständig war sie übermüdet gewesen, weil sie versucht hatte, wach zu bleiben. Unzählige Bücher hatte sie in jenen Nächten gelesen, Bücher, für die sie damals eigentlich noch zu klein war. Sie wollte nicht mehr klein sein, sie wollte die Welt der Erwachsenen verstehen, wollte begreifen, wie manche von ihnen zu Monstern werden konnten, die in der Nacht als Albtraum kleine Kinder heimsuchten.

Sie hatte keine Antwort gefunden.

Als sie ein Teenager wurde, noch immer übermüdet, aber klug von den Büchern, aufmüpfig, entschlossen, anders zu werden, wehrhaft – da hatte sich der Traum nicht mehr so oft an sie herangewagt. Noch seltener war er erschienen, seitdem sie ausgezogen war, weg von ihrer Familie, die froh war, die schwierige jüngste Tochter los zu sein. Sie jobbte, machte dies und das, war rund um die Uhr beschäftigt, war fleißig ohne Ziel. Mal hatte sie einen Freund, mal keinen. Doch manchmal, wenn sie nachts allein war und an nichts Böses dachte, nicht gewappnet war gegen das böse Gesicht, das plötzlich neben ihr auftauchte, so nah, dass sie den faulen Atem roch, da war sie wieder ausgeliefert, so wie früher. Und sie war wieder klein und ängstlich und wollte etwas sagen und brachte keinen Ton hervor. Bis sie sich selbst schreien hörte und davon aufwachte. So wie jetzt.

»Mama?!« Julia kam herein, blieb an der halb offenen Tür stehen und sah ihre Mutter besorgt an.

»Schon okay, Juli«, sagte Susanne und zwang sich zu lächeln, denn nur wenn man lächelte, war es wirklich okay.

»Hast du wieder geträumt?«

»Ja.«

»Und du weißt wieder nicht, wovon?«

»Nein, wieder nicht.«

Sie log, denn sie wollte nicht darüber reden. Konnte es nicht.

»Das ist aber oft in letzter Zeit«, fand Julia. Sie hatte recht. Seit Susannes Mutter im Pflegeheim war und sie sie dort regelmäßig besuchte – besuchen musste –, träumte sie wieder öfter.

»Kann sein.«

Julia knabberte nachdenklich an ihrem Daumennagel. »Wollen wir frühstücken?«

»Wie spät ist es?«

»Sechs Uhr.«

»Oje! Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«

Julia zuckte mit den Schultern. »Macht mir nichts aus. Ich koche uns jetzt einen Kaffee, und dann setzen wir uns auf den Balkon und schauen in die Welt«, sagte sie leichthin. Und schon war sie weg.

Unter der Dusche wusch sich Susanne den Angstschweiß von der Haut. Als sie zehn Minuten später die Küche mit dem angrenzenden Minibalkon betrat, wartete auf dem kleinen Tisch eine Tasse Kaffee auf sie, und Julia schaute bereits in die Welt. Susanne setzte sich dazu und schaute und schwieg und verdrängte den Traum und genoss die Ruhe und ihren Kaffee.

Ihre Gedanken glitten über die Straße und über die Bäume auf der anderen Seite. Über die Isar, weiter durch die Stadt bis in die Wohnung, die sie am Abend zuvor so spät verlassen hatte. Eine schöne Wohnung. Aufgeräumt. Er hatte eine Putzfrau. Seit der Scheidung. Dass er geschieden war, hatte er ihr schon zehn Minuten nach dem Kennenlernen erzählt. Anwalt in einer Großkanzlei mit seinem Namen auf dem Schild. Das hatte er als Zweites angemerkt. Ganz nebenbei. Guter Anzug, kultiviert, Opernkenner, Weinkenner, Fleischesser. »Aber nur aus guter Haltung«, hatte er versichert. Er verkörperte alles, was für sie nicht infrage kam. Sie hatten einen schönen Abend verbracht. Den zweiten schönen Abend, den ersten in seiner Wohnung. Kein Sex.

Susannes träge Gedanken kreisten gerade um die Frage, ob es ein Fehler gewesen war zu gehen, da klingelte ihr Handy auf dem Küchentisch, es war noch nicht sieben. Um diese Uhrzeit konnte das nur ein Notfall sein und wahrscheinlich der naheliegende. Ahnungsvoll nahm sie den Anruf entgegen.

»Lach.«

»Kammerbauer, Seniorenresidenz Abendrot. Frau Lach, ich denke, Sie sollten kommen, Ihrer Mutter geht es seit gestern sehr schlecht. Wir gehen leider vom Schlimmsten aus.«

Alles an Luise Lach war weiß, Haut, Haare, Lippen, die Lider über ihren einst leuchtend türkisfarbenen Augen waren geschlossen.

Auch die Bettdecke war weiß, die Wände sowieso. Eine Grünpflanze stand auf dem Fensterbrett. Immerhin.

Susanne erinnerte sich an fruchtlose Versuche, das Zimmer ihrer Mutter im Pflegeheim ein wenig bunter und freundlicher zu gestalten. Zum sechsundachtzigsten Geburtstag vor über einem Jahr hatte sie ihr ein hübsches rotes Fotoalbum geschenkt. Stundenlang hatte sie alte Fotografien zusammengesucht, sorgfältig hineingeklebt und beschriftet. Ihre Mutter hatte sich bedankt, das Album kurz betrachtet und anschließend sorgfältig weggeräumt. Bilder zum Aufhängen wollte sie nicht. Und inzwischen war es auch egal. Es schien nicht so, als würde die alte Frau noch allzu viel wahrnehmen. Beim letzten Besuch ihrer ältesten Tochter Edith hatte sie diese für ihre eigene Mutter gehalten, wobei Susanne zum ersten Mal auffiel, dass tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihrer älteren Schwester und der längst verstorbenen Großmutter Ilse bestand.

Edith wohnte in der Nähe von Stuttgart und kam nur selten nach München, und auch Wolfgang, der gemeinsame Bruder, den es nach Bochum verschlagen hatte, fand den Weg nicht allzu oft.

»Haben Sie meinen Geschwistern auch Bescheid gegeben?«, hatte Susanne die Pflegdienstleiterin bei deren Anruf am frühen Morgen gefragt.

»Wir dachten, wir rufen zuerst einmal Sie an, weil Sie ja in der Nähe sind, und Sie geben es dann weiter.«

Natürlich. Susanne war in der Nähe.

»Ein Heim in der Nähe von einem von uns wäre das Beste«, hatte Edith vor zwei Jahren erklärt, als unwiderruflich feststand, dass ihre zunehmend demente Mutter nicht mehr allein in ihrem Haus in Rheinland-Pfalz zurechtkam. »Alles andere ergibt gar keinen Sinn. In der Pfalz hat sie doch keinen mehr.«

Es war absolut vernünftig, was Edith vorschlug, darin waren sich die Geschwister einig, doch Edith hatte schon viel weiter gedacht.

»Ich habe mich schon mal umgesehen, in München gibt es ein ganz hervorragendes Heim«, hatte Edith geschwärmt. »Und stellt euch vor, die hätten sogar noch einen freien Platz, ein schönes Einzelzimmer, ab sofort.«

Wo es doch so schwierig sei, einen Platz in einem Pflegeheim zu bekommen, die Wartelisten seien schier endlos. Sie habe bereits dort angerufen und sicherheitshalber alles in die Wege geleitet. »Es ist zwar nicht billig, aber Harald und ich würden die Kosten übernehmen«, schloss sie mit einem nicht zu schlagenden Argument.

München! Susannes Wohnort. Ungeachtet der Tatsache, dass sie diejenige unter den Geschwistern war, die das mit Abstand schlechteste Verhältnis zur Mutter hatte. Aber das war für Ediths Überlegungen ohne Bedeutung.

Wolfgang, dem es immer recht war, wenn andere die Zügel in die Hand nahmen und er möglichst unbelastet blieb, murmelte »Ist doch wunderbar«.

Susanne schwieg.

»Susanne? Was meinst du?«, fragte Edith sie direkt.

Ich meine, dass das eine ganz, ganz blöde Idee ist, hätte Susanne am liebsten geantwortet.

»Wie sieht’s denn bei dir in Stuttgart aus?«, war ihr hoffnungsloser Versuch, die Pläne der Schwester zu durchkreuzen.

»Ganz schlecht. Mies«, erklärte Edith postwendend. »Ich habe mich natürlich umgehört, aber die Seniorenresidenz Abendrot in München hat alles bei Weitem übertroffen, was in Stuttgart frühestens in ein paar Monaten zu haben gewesen wäre. Und du willst Mama doch nicht irgendwo unterbringen, nicht wahr?!«

Das Wort »irgendwo« klatschte sie Susanne buchstäblich ins Gesicht. Sterben im Irgendwo war das Schlimmste.

Susannes Aufmerksamkeit jedoch hatte sich an einem ganz anderen Wort festgehakt: Abendrot.

Morgentau.

»Ich würde sie da nicht hinbringen«, hatte sie gesagt, ohne dass sie sich zurückhalten konnte.

Edith war irritiert. »Wohin nicht?«

»In dieses Heim. Abendrot.«

»Und warum nicht? Was spricht dagegen?«

Der Name, hätte sie sagen müssen. Solche schönen Namen gaukelten einem etwas vor. Plötzlich war Susanne ganz sicher, dass diese Seniorenresidenz Abendrot sich als Irgendwo herausstellen würde, und das wollte sie ihrer Mutter, auch wenn sie sich nicht gut verstanden, nicht antun.

»Also, sag schon: Warum nicht?«, forderte Edith eine Antwort.

Natürlich konnte Susanne es nicht erklären. »Schon gut«, gab sie sich geschlagen.

Seitdem besuchte sie ihre Mutter wöchentlich in diesem Heim, hörte sich ihr Jammern an, ihre Vorwürfe, die Kritik an ihrer Kleidung und daran, dass Susanne keinen Mann hatte, wohl aber ein Kind. Dass dieses Kind, ihre liebenswerte Enkelin Julia, inzwischen schon fünfundzwanzig Jahre alt war und ebenfalls häufig zu Besuch kam, spielte keine Rolle. Zeit war ein Wort, das für Luise Lach schon längst keinen Inhalt mehr besaß. Vor einem Jahr, vor fünfzig Jahren, gestern, morgens, abends, vorhin, später, alles geriet in ihrem Kopf durcheinander. Alter hatte keine Bedeutung. Es war Susanne, die sich mit diesem anstrengenden Wirrwarr auseinandersetzen musste, nicht ihre Geschwister.

Vorbei, dachte sie jetzt, als sie ihre Mutter so daliegen sah, so bereit für das Ende. Wie viele Atemzüge blieben ihr noch, wie viele Herzschläge?

»Mama liegt im Sterben.«

Damit hatte Susanne ihre Schwester bei ihrem frühmorgendlichen Anruf begrüßt. Als wollte sie ihr mit dieser brüsken Eröffnung die zwei Jahre, die sie bei ihrer Mutter verbracht hatte und Edith in Stuttgart, heimzahlen. Doch alles, was sie damit erreichte, war die eigene schlagartige Erkenntnis über die Endgültigkeit dieser Worte, den bevorstehenden Tod der Mutter. Unversehens war sie in Tränen ausgebrochen. Edith ebenfalls. Die Schwester versprach zu kommen, nur müssten sie und ihr Mann Harald sich am selben Tag noch mit jemandem treffen, einem potenziellen Käufer ihrer Firma, das sei unaufschiebbar. Am nächsten Tag, ganz sicher. Sie wolle sich doch auch verabschieden. Es war Edith peinlich, Susanne konnte es hören. Firmenverkauf gegen Muttertod. Doch inzwischen tat es ihr leid, dass sie Edith so überfallen hatte, und so versicherte sie ihr, dass es in Ordnung sei.

Als Nächstes, nach einem Moment, in dem sich Susanne erst fangen musste, der Bruder. Wolfgang.

»Lach«, tönte es dumpf und schwer aus dem Hörer. Schon immer hatte ihr Bruder diese dumpfe, schwere Bassstimme gehabt. Man dachte unwillkürlich an einen massiven Felsbrocken, der seit Jahrtausenden unverrückbar an derselben Stelle ruhte. Man sah ihm den Sportlehrer nicht an. Den Englischlehrer hätte man ihm eher abgenommen, wäre da nicht sein gruseliger Akzent gewesen. Wolfgang lachte selbst darüber. Er war ebenso gutmütig wie phlegmatisch, ohne den geringsten Ehrgeiz oder Ideale. Sein Leben mochte er bequem.

»Auch Lach«, sagte Susanne. »Hallo Wolfgang.«

»Ist was mit Mama?«, fragte er sofort.

»Das Heim hat angerufen, es geht zu Ende, sagen sie.«

»Oh mein Gott!« Es klang weniger entsetzt als vielmehr wie die resignierte Reaktion auf eine Nachricht, mit der man schon lange gerechnet hatte.

»Kannst du kommen?«, fragte Susanne.

»Natürlich. Morgen oder übermorgen, wenn ich … Herrje!«

»Was ist?«

»Die Abiturarbeiten! Ich bin ein bisschen hintendran, weil Carla kürzlich im Krankenhaus war.«

»Oje! Schlimm?«

»Fuß gebrochen. Komplizierter Bruch. Da habe ich die Korrekturen ein bisschen schleifen lassen, ich dachte, ich hätte noch genug Zeit, aber jetzt …«

Susanne hörte, wie er sich wand, er, der es gewohnt war, jeder Form von Druck aus dem Weg zu gehen.

»Du kannst auch hier korrigieren, wir sind ja nicht die ganze Zeit an Mamas Bett. Denke ich.«

»Ja«, sagte er grübelnd. »Ich komme. Morgen. Ich versuche, heute noch so viel wie möglich zu schaffen. Sind ja zum Glück Pfingstferien.«

»Mach, wie du denkst. Nicht, dass deinetwegen noch einer durchs Abi fällt.« Susanne lachte leise, nahm ein wenig Druck von ihm weg. Mehr konnte sie nicht für ihn tun.

»Nein, nein«, beeilte er sich und lachte ebenfalls bemüht. »Ich komme. Ich komme auf jeden Fall.«

»In Ordnung. Bis dann, Wolfgang.«

Sie legte auf und war sicher, dass ihr Bruder in ein oder zwei Minuten, wie immer mit etwas Verspätung, von seinen Emotionen überwältigt in Tränen ausbrechen würde. Aber nur, wenn ihn keiner sah.

»Edith und Wolfgang kommen auch«, sagte Susanne leise zu ihrer schlafenden Mutter. Vielleicht konnte sie es hören oder spüren. Vielleicht freute sie sich darüber.

Die Tür ging auf. Julia kam herein, sie trug zwei Kaffeetassen und hatte eine Zeitung unter den Arm geklemmt. Die braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, zwischen den Zähnen hatte sie einen Donut, der mittlerweile so von Spucke durchweicht war, dass er ihr aus dem Mund rutschte.

»Scheiße!«, fluchte sie.

»Julia!«, mahnte Susanne und schnalzte mit der Zunge.

»Die hatten da vorn kein Tablett.« Julia stellte die Tassen auf den Nachttisch neben dem Bett, hob den Donut auf und biss herzhaft hinein. »Magst du?«, nuschelte sie mit vollem Mund. Sie hielt ihrer Mutter das angebissene runde Teil vor die Nase, Susanne wandte angeekelt den Kopf ab und musste lachen. Julia ähnelte so sehr ihrem Vater. Das Mädchen hatte ihn nie gesehen und wusste praktisch nichts von ihm, aber hätten die beiden irgendwann zufällig in einem Café an einem Tisch gesessen, weil sonst keiner frei gewesen wäre, sie hätten einander unweigerlich erkannt. Die Art, wie sie lachten, redeten, gestikulierten. Als Julia etwa neun Jahre alt gewesen war, hatte sie sich beim konzentrierten Nachdenken über eine Schulaufgabe zum ersten Mal auf die Unterlippe gebissen und dabei die Mundwinkel so weit auseinandergezogen, dass man die obere Zahnreihe sehen konnte und ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden. Schön hatte das nicht ausgesehen. Aber nicht deswegen war Susanne damals die gute Porzellanschüssel aus den Händen gefallen, die ihr die Großmutter mit den strengen Worten »Pass gut darauf auf, die hat einen Goldrand« geschenkt hatte. Nein. Genauso hatte Julias Vater immer ausgesehen, wenn er intensiv über etwas nachgedacht hatte. Susanne stellte sich vor, die beiden würden einander in jenem imaginären Café gegenübersitzen, denken: Moment mal, irgendwas an der, irgendwas an dem kommt mir bekannt vor. Dann würden sie sich gleichzeitig auf die Unterlippe beißen, die Mundwinkel auseinanderziehen, die Zähne blecken und die Augen zusammenkneifen. Und dann wüssten sie es.

Manchmal wünschte sie sich, dass es diese zufällige Begegnung geben würde. Dass sie es ganz allein herausfinden würden und Susanne nur noch reumütig den Kopf einziehen und zu allem nicken müsste. Und manchmal sah sie sich selbst so daliegen wie ihre Mutter jetzt: alt, krank, unfähig, sich noch mitzuteilen, wissend, dass sie die Wahrheit mit ins Grab nehmen würde. Vielleicht sollte sie alles aufschreiben und die Wahrheit als Brief vererben. Dann könnte Julia sie hassen, ohne dass sie es noch spüren würde, und anschließend würde sie ihr vergeben, weil sie ja tot war. Toten konnte man vergeben. War das nicht so?

»Hey!« Julia stieß ihre Faust sachte gegen Susannes Oberarm. »Träumst du?«

»Was ist denn?«

»Ich habe gefragt, ob Oma inzwischen mal wach war.«

»Nein, war sie nicht.«

Sie griffen beide zu ihren Tassen und schlürfen den dampfend heißen Kaffee, statt zu warten, bis er etwas abgekühlt war. Eine alte Angewohnheit, die sich Julia früh bei Susanne abgeschaut hatte. Es klang sehr unschön, wenn sie beide den ersten Schluck Kaffee nahmen, aber Susanne mochte dieses Geräusch. Es erinnerte sie daran, dass ihr niemand sagen durfte, was sie zu tun oder zu lassen hatte.

In diesem Moment öffnete ihre Mutter die Augen und verzog das Gesicht. Dann ging es los.

»Suuusiii!« Wie eine Sirene schwoll ihre Stimme an. »Du sollst doch nicht schlüüürfeeen. Das gehört sich nicht.« Sie schmatzte gegen die Trockenheit in ihrem Mund an. Susanne reichte ihr die Schnabeltasse mit Wasser und wollte ihr helfen, sich aufzurichten, damit sie trinken konnte, doch die alte Frau stieß sie weg und schnarrte »Pfui, das mag ich nicht«. Nach baldigem Sterben klang das nicht.

»Oma, du musst viel trinken«, erinnerte Julia sie gutmütig.

»Bah!«, machte Luise Lach als Antwort auf die liebevolle Ermunterung ihrer Enkelin.

Susanne fragte sich, ob sie, falls sie selbst auch einmal dement wäre, ebenfalls Leute, die es gut meinten, anpflaumen und wegstoßen würde. Würden dann womöglich die Gene durchschlagen, gegen die sie ihr Leben lang angekämpft hatte?

»Das darf man nicht persönlich nehmen«, hörte sie immer wieder. Es war aber persönlich. Und wie! Dieses alte, meist garstige, durch und durch weiße Mütterchen hatte nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen, dass Susanne nach allem ein halbwegs normaler Mensch geworden war. Und doch war da diese Liebe, die trotz all der Kratzer und Risse auf ihrer Oberfläche unkaputtbar schien. Wenn das nicht persönlich war, was dann?

»Ooomaa …«, schnurrte Julia mit wattewarmer Stimme und streichelte ihrer Großmutter sanft über die Wange. Ihre Zärtlichkeit fand nicht die geringste Beachtung. Mürrisch und unverwandt ruhten die Augen der sterbenden Frau auf ihrer Tochter. Susanne wich ihrem Blick nicht aus, versuchte zu ergründen, wo der Geist ihrer Mutter gerade verweilte. Manchmal befand sich Luise an einem schönen Ort in ihrer Kindheit, dann redete sie mit ihrem Vater, der so viel empfindsamer gewesen war als ihre Mutter und es nicht hatte zeigen dürfen. Die Tränen, die Susannes Großvater als Mann seiner Generation nicht weinen durfte, hatte er hinuntergeschluckt. Sie mussten sein Herz vergiftet haben, denn das hatte irgendwann, viel zu früh, aufgehört zu schlagen. »Ich hatte einen guten Vater«, hatte Luise früher immer zu Susanne gesagt. Ihr nunmehr verwirrter Geist schickte sie manchmal auf die Suche nach ihm. »Wo ist denn mein Papa?«, flüsterte sie dann mit großen Augen. »Wo bleibt er denn? Ich will mit ihm Pferdchen spielen und auf seiner Schulter reiten. Wo isser denn?«

Jetzt jedoch war sie woanders, so wie sie dreinschaute. Vielleicht sah sie in Susanne gerade wieder den aufmüpfigen Teenager, die Sechzehnjährige, die sich viel herumgetrieben und wenig gelernt hatte, die selten die Schule besucht und dauernd schlechte Noten geschrieben hatte. Ein Wunder, dass sie beim Abitur nicht durchgefallen war. Vielleicht, dachte Susanne, setzt sie innerlich zu einer Strafpredigt an, um mir wieder einmal zu sagen, dass ich es im Leben nie zu etwas bringen werde, so wie ich mich benehme. Wie gern hätte sie ihrer Mutter damals erklärt, dass es für sie wichtig war, sich so zu benehmen, aufzubegehren gegen jede Form von Zwang, und dass sie auf diese Weise vor viel Schlimmerem bewahrt worden war, als es im Leben zu nichts zu bringen. Doch wie viel konnte man erklären, wenn alles, was man sagte, abgeschmettert wurde – als Ausrede, als Lüge, als Unsinn.

Luise senkte den Blick, ihr Brustkorb hob und senkte sich wie unter einer schweren Last. Mit einem Mal begann ihr Kinn zu beben, immer mehr, ein leiser kläglicher Ton entwich ihrer Kehle. Dann brach sie in Tränen aus.

»Meine Susi, meine kleine Susi«, wimmerte sie und streckte Susanne ihre dürren Arme entgegen. »Es tut mir so leid, mein Schatz, es tut mir so leid.« Die geschluchzten Worte waren nahezu unverständlich, und doch begriff Susanne sofort, was sie meinte. Wie im Schock saß sie da, konnte sich nicht bewegen, konnte die Arme der Mutter nicht ergreifen, konnte nicht denken. Fast fünfzig Jahre lang hatte sie darauf gewartet.

»Meine Suuusiiiiii!«, jammerte Luise so herzzerreißend, als würde sich das ganze Leid ihres Lebens darin entladen.

Da endlich beugte sich Susanne vor und schloss sie in die Arme. Tränen schossen aus ihren Augen. »Schon gut, Mama, schon gut«, tröstete sie die verzweifelte alte Frau. »Alles gut.«

Es war gelogen, es war nicht alles gut, es konnte gar nicht gut sein, aber ein bisschen wenigstens, und vielleicht war es ja das Letzte, das ihre Mutter noch hören würde.

Die Tür ging auf, eine Schwester kam mit einem Stapel Einmalwindeln herein, von draußen hörte man das schrille Kreischen einer alten Frau, eine zweite stimmte aus einem anderen Zimmer mit ein, doch an diesem Ort erschrak niemand mehr bei solchen Tönen, sie gehörten zum Alltag. Die Schwester drehte sich nicht einmal um.

»Alles in Ordnung, Frau Lach?«, fragte sie leidlich interessiert und kam näher. Auf ihrem Kittel prangte in Brusthöhe ihr Name: Bernadette. Sie gehörte sozusagen zum Inventar des Heims und hatte bereits unzählige Bewohner kommen und, nun ja, gehen sehen.

Mit dem Eintreffen der Schwester war Luises Fokus wieder verrutscht, weg von ihrer Reue.

Ihr Jammern verebbte, sie schniefte noch ein bisschen, dann wurde ihr Blick leer und huschte haltlos durchs Zimmer.

»Wo bin ich denn hier?«, flüsterte sie. »Wo ist denn … wo ist denn mein Papa, der wollte mich doch abholen. Ist der schon da?«

Die Augen fielen ihr zu, der Mund öffnete sich ein kleines Stück, und im nächsten Moment war Luise wieder eingeschlafen. Susanne wischte sich verstohlen das tränenfeuchte Gesicht ab und putzte sich die Nase.

»Gehen Sie doch ein Weilchen in die Cafeteria«, sagte Schwester Bernadette. »Das dauert sicher noch ein bisschen.«

Offenbar meinte sie damit die Sache mit dem Sterben.

Als Susanne sich nicht rührte und wie betäubt auf Luises schlafende Gestalt hinabblickte, ergriff Julia die Initiative. »Gute Idee«, sagte sie, fasste ihre Mutter am Arm und führte sie aus dem Zimmer. Susanne ließ es geschehen. Wortlos folgte sie Julia aus der Pflegestation und hinunter ins Erdgeschoss. In der schicken Cafeteria im Foyer suchten sie sich einen schönen Platz, schlürften Kaffee und aßen viel zu trockenen Marmorkuchen. Die Krümel verteilten sich überall im Mund, versteckten sich in sämtlichen Zahnzwischenräumen und schmeckten nach nichts. Julia besorgte zwei Gläser Wasser gegen die Marmorwüste in ihren Mündern. Sie tranken und spülten das trockene Zeug gründlich weg.

Schließlich brach Julia das schier endlose Schweigen. »So, Mama, jetzt sag mal: Was war das da oben?«

Susanne hob den Kopf und blickte in das fragende Gesicht ihrer Tochter.

Was das war? Ein Erdbeben. Aber wie sollte sie das erklären? Wie sollte sie erklären, was ihr dieser plötzliche Ausbruch ihrer Mutter bedeutete. Ihr »Es tut mir leid«.

Nie hatte Susanne ein Wort darüber verloren, was ihr in ihrer Kindheit zugestoßen war und was sie seither ganz tief in ihrem Inneren zu vergraben versuchte, so tief, dass sie es irgendwann endgültig würde vergessen können. Nur dass die Albträume immer wieder alles an die Oberfläche holten. Und dann musste sie es erneut vergraben. Julia wusste zwar von diesen Albträumen, nicht aber, woher sie kamen, und noch weniger, was Luise damit zu tun hatte.

Doch jetzt war alles aufgebrochen, und es war nur natürlich, dass Julia verstehen wollte, was sie da oben in dem Zimmer gerade miterlebt hatte, diese plötzliche und bestürzende Intimität zwischen Großmutter und Mutter, aus der sie selbst so vollkommen ausgeschlossen war.

»Mama?«, sagte sie.

Susanne räusperte sich. Einen Moment noch.

Sie schloss die Augen und sah den fallenden Körper, hörte den Schrei, der gleichermaßen nach Erstaunen und Empörung klang. Es war die Nacht der Mondlandung.

»Als Kind –«, begann sie zögernd und leise, »ich war acht Jahre alt, fast neun – da wurde ich zur Erholung in ein Kinderheim an der Nordsee geschickt.«

Als sie wieder verstummte, hob Julia fragend die Brauen: Und? Weiter?

Wegen mir ist damals jemand gestorben.

Nein. Susanne schob den Gedanken weg. Nicht das Ende zuerst. Der Reihe nach. Und dann begann sie zu erzählen.

2

1969

Es war Frühling, aber schon im Mai war es so warm, dass alle sagten: »Was für ein herrlicher Sommer!«

Es hätte ein schönes Jahr werden können, das Jahr 1969. Das Jahr der Mondlandung. Familie Lach hatte einen Schwarz-Weiß-Fernseher bekommen. Glücklich saßen sie vor dem neuen Gerät. Mit seinen Bildern in sämtlichen Grauschattierungen zwischen Schwarz und Weiß holte es sie in eine bunte Welt, bunter als ihre eigene. Nach dem Bad am Samstagabend durfte die achtjährige Susanne aufbleiben und mit der ganzen Familie Peter Alexander schauen. Mit Oma Ilse, Papa Roman, Mama Luise, der fünfzehnjährigen Schwester Edith und dem zwölfjährigen Bruder Wolfgang. In ihrem weichen Frotteeschlafanzug mit den bunten Fischen saß sie zwischen Mama und Oma auf der Couch.

Edith trug eine groß gemusterte Bluse in verschiedenen Rottönen, dazu ein Haarband in einem fröhlich-sonnigen Orange. Sie war sehr hübsch, aber manchmal fragte sich Susanne ernsthaft, ob ihre große Schwester vielleicht farbenblind war.

Wolfgang knibbelte wie so oft, wenn er in Gedanken ganz woanders war, an seiner Nagelhaut herum. Er träumte davon, dass eines Tages jemand vom 1. FCK bei einem Spiel seiner C-Jugend-Mannschaft auf der Seite stehen und ihn entdecken würde. Über dem Fußball vergaß er oft seine Schularbeiten, aber die Eltern waren stolz auf ihn. Ein begabter Fußballer in der Familie, einer, den man im Ort kannte und auch im Nachbarort und sogar darüber hinaus, weil er es war, der bei den Spielen die Tore schoss. Und die Noten waren ja noch in Ordnung.

Susanne, das Nesthäkchen, die kleine Nachzüglerin, meist Susi genannt, fühlte sich selbst sehr viel weniger hübsch oder begabt. Sie hatte ein liebes Gesicht mit leuchtend blauen Augen darin, umrahmt von hellblondem, halblangem Haar, doch sie lispelte gehörig, und das machte sie so schüchtern, dass sie unter fremden Leuten kaum ein Wort herausbrachte.

Manchmal äfften ihre Geschwister sie nach und fanden das lustig. Sie meinten es nicht böse, kniffen ihr hinterher liebevoll in die Wange oder legten ihr den Arm um die Schulter, aber natürlich trug es nicht gerade dazu bei, dass die kleine Schwester selbstbewusster wurde.

Kurz vor der Einschulung waren die Kinder von einem Amtsarzt untersucht worden. Susi hatte sich fürchterlich geniert, weil sie sich bis auf die Unterhose ausziehen und mit sämtlichen künftigen Abc-Schützen und deren Müttern in einem Raum warten musste, bis sie einzeln nach nebenan gerufen wurden. Dort wurde sie vermessen und gewogen und kritisch beäugt. Sie sei zu dünn, fand der Arzt, der selbst ein bisschen zu dick war, und viel zu schüchtern. Ob sie denn schon die Schulreife besäße, zweifelte er. Ja, doch, meinte ihre Mutter und verwies stolz auf einen Test, bei dem ihre Susi ein beeindruckendes Ergebnis erzielt hatte, überdurchschnittlich, besser als alle anderen Schulanfänger. Stolz streichelte sie ihrem kleinen Mädchen über das Haar, und Susi freute sich, doch der Arzt schien unzufrieden und äußerte nur ein grimmiges »Hm!«. Allem Anschein nach maß er diesem Test nicht sehr viel Bedeutung bei.

»Isst sie genug?«, fragte er skeptisch.

»O ja, sie isst gern und eigentlich alles«, sagte die Mutter. »Sie ist nicht mäkelig.«

»Hm!«

Susi stand da, in ihrer Unterhose. Sie hätte gern ihren Pulli wieder übergestreift und ihre Socken, der Fußboden war kalt.

»Ich will sie mir in ein, zwei Jahren noch einmal ansehen.« Mit dieser Anordnung schloss der Arzt die Untersuchung ab.

Zwei Jahre waren nun vergangen. Viel hatte sich nicht geändert. Susi war noch immer dünn, noch immer schüchtern und die Beste in ihrer Schulklasse. Bei der neuerlichen Untersuchung auf dem Gesundheitsamt fiel jener Satz, der ihr ganzes weiteres Leben bestimmen würde.

»Wir sollten das Kind zur Kur schicken.«

Die Mutter richtete es dem Vater aus. Der machte ein besorgtes Gesicht und fragte, was das denn kosten würde, eine Kur konnten sie sich niemals leisten. Doch die Mutter, die mit der gleichen besorgten Miene dem Arzt dieselbe Frage gestellt hatte, konnte ihn beruhigen. Es kostete sie gar nichts, wurde alles von der Krankenkasse übernommen. »Na ja, dann«, meinte der Vater erleichtert, und die Mutter blickte strahlend auf das Kind herab. »Freust du dich?« Susi nickte pflichtschuldig, obwohl sie nicht wusste, ob und worüber sie sich freuen sollte. Was war das: eine Kur? Und warum sollte sie da hin? Und so weit weg von zu Hause. Und ganz allein. Aber anscheinend war es etwas Gutes. Vielleicht würde sie dort auch endlich aufhören zu lispeln. Da musste es doch einen Trick geben. Sie hatte zwar längst alle Zähne, aber das S kam noch immer butterweich über ihre Lippen und weigerte sich zu zischen, wie es sich gehörte.

Anfang Juni war es so weit. An einem Montag würde Susi zur Kur reisen. Und am Samstagabend davor schaute sie mit ihrer Familie die Peter-Alexander-Show.

Als das Fernsehballett tanzte, kam Rhythmus in den Körper von Luise Lach, kaum erkennbar, aber Susi saß so dicht bei ihr, dass sie spürte, wie ihr Rumpf plötzlich ganz weich und biegsam wurde, nicht mehr steif wie sonst immer. Als ob sich die Mutter von irgendetwas löste, das sie sonst fest und gerade hielt. Es war schön. Oma Ilse auf der anderen Seite kreuzte die Arme vor der Brust, beugte sich ein wenig vor und warf Luise einen strengen Blick zu. Die Großmutter wirkte immer ein wenig mürrisch, deshalb war kaum zu erkennen, ob sie tatsächlich verstimmt war, doch die gekreuzten Arme deuteten darauf hin, dass sie es nicht guthieß, auf der Couch zu tanzen, wenn auch nur auf diese kaum wahrnehmbare Weise. Die sanften Bewegungen in Luises Körper erstarben, wie ertappt strebte er zurück in seine aufrechte Haltung.

Viele Jahre später wunderte sich Susanne darüber, wie genau sie sich an all das noch erinnern konnte, schließlich war sie damals erst acht Jahre alt, und im Rückblick schien es ihr manchmal, als hätte es überhaupt keine Kindheit gegeben. Nur die Zeit zwischen Anfang Juni und Ende Juli 1969 war eine Ausnahme. Davor und danach existierte so gut wie nichts, alles verschwand im Schatten dieser acht Wochen.

Die Mutter strich ihrer Jüngsten sanft über den Kopf und flüsterte lächelnd in ihr Ohr: »Freust du dich auf Montag?« Susi nickte brav. Sie war ein braves Kind, und doch wagte sie die eine Frage zu stellen, die sie umtrieb: »Aber was ist, wenn es mir dort nicht gefällt?«

»Oh, aber es wird dir sicher gefallen, mein Schatz. Stell dir vor, das Kinderkurheim liegt ganz nah am Meer. Und dann sind da ganz viele andere Kinder in deinem Alter. Ihr könnt den lieben langen Tag spielen. Du wirst so viel Spaß haben, glaub mir.«

»Ja, aber wenn es mir trotzdem nicht gefällt? Oder wenn ich ganz großes Heimweh habe. Was mache ich denn dann?«

Luise ging vor ihrem kleinen Mädchen in die Hocke. »Hast du davor Angst, Susannchen?«

Susi nickte heftiger als zuvor.

Ihre Mutter schloss sie in die Arme. »Aber das musst du doch nicht. Wenn es dir gar nicht gefällt und dein Heimweh so groß ist, dass dir dein Herz viel zu weh tut, dann schreibst du uns, und dann holen wir dich.«

»Versprochen?«

»Versprochen!«

»Ich schreibe euch ganz oft.«

»Ja, das machst du, mein kleines Susannchen.«

Das Kind schmiegte sich an seine Mutter und war ein wenig getröstet, und fast, ja fast freute sich Susi auf die Zeit am Meer. Sie würde so viel zu erzählen haben, wenn sie nach Hause kam, und vielleicht war sie dann auch nicht mehr so ein halbes Hemd, wie der Amtsarzt sie genannt hatte. Halbes Hemd! Sie hätte über diesen komischen Ausdruck sicher lachen müssen, hätte der Doktor sie dabei nicht so grimmig angeschaut. Möglich, dass sie ein wenig dünner war als andere Kinder, aber sie war stark, sie schlug Edith im Armdrücken und half im Garten schon beim Umgraben. Da brauchte man Kraft, wenn man den Spaten in den Boden rammen und dann mitsamt der Erde herausziehen und umdrehen wollte. Wolfgang hatte sogar ihre Muskeln am Oberarm geprüft und anerkennend den Mund verzogen. Susi war stark, sie hatte Kraft und Muskeln, und wäre sie weniger schüchtern gewesen, hätte sie das dem Amtsarzt gesagt, aber das Wort Muskeln hatte ein ganz blödes S in der Mitte. Susi stellte sich seine hervorquellenden Augen vor, wenn er das gehört hätte. Er hätte ihr wahrscheinlich mit seinen wulstigen Fingern in den Mund gefasst und gefragt: »Wieso lispelt dieses Kind denn, wenn es schon alle Zähne hat?« Und ihre Eltern hätten es ihm nicht erklären können. Da galt sie lieber als halbes Hemd.

Am Montag, ganz früh, ging es nach Kaiserslautern zum Zug.

Kaiserslautern, das war für Susi die große Welt. Eine richtige Stadt mit riesigen Kaufhäusern. Dort hatten sie auch das schöne Kleid für Tante Hettys Hochzeit gekauft. Sonst musste Susi immer die alten Kleider ihrer Schwester auftragen, aber dieses eine Mal hatte sie ein eigenes, neues bekommen. Und hinterher hatte sie im Restaurant im obersten Stockwerk mit den Eltern zu Mittag gegessen. Sogar einen Eisbecher gab es als Nachtisch.

An diesen schönen Tag dachte Susi, während sie in ihrem alten Käfer über die Autobahn fuhren, die Eltern vorn, Susi mit ihrer Stoffpuppe Pippi hinten. Ihr Herz klopfte ganz fest und konnte sich nicht entscheiden, ob vor Freude oder vor Angst. Ihr Bauch fühlte sich an, als krabbelten lauter kleine Käfer darin herum. Ab und zu drehte sich Luise nach hinten und schenkte Susi ein aufmunterndes Lächeln. Auf dem Schoß der Mutter lag ihre braune Handtasche, in der sich neben vielen anderen schönen Dingen auch ihr Lippenstift befand. Luise besaß nur diesen einen, er war schon einige Jahre alt, und Susi hatte nie gesehen, dass sie ihn je benutzt hatte, aber er war da, und allein die Möglichkeit, dass sie sich eines Tages in ihrem silbernen Taschenspiegel betrachten, den Lippenstift hervorholen und sich die blassrosa Lippen mit roter Farbe nachziehen würde, machte aus der braunen Handtasche einen Ort der Wunder – alles konnte geschehen. Unter der Handtasche verborgen ruhte ein graues, rechteckiges Pappschild. Susi hatte zugesehen, wie die Mutter es zu Hause beschriftet hatte. SUSANNE LACH stand in großen Buchstaben darauf. Unter dem Namen des Kindes der Zielort: St. Peter-Or­ding. Und schließlich der Name des Kurheims, dem das Mädchen zugewiesen worden war: Haus Morgentau.

»Ist das nicht ein schöner Name?«, hatte Luise gefragt und zum wiederholten Male erzählt, dass das Heim ganz nah am Meer liege. Direkt am Deich. Susi wusste nicht, was ein Deich war, aber das Meer stellte sie sich schön vor.

»Und die gute Luft dort oben«, schwärmte Luise. »Du wirst eine wundervolle Zeit haben, Susannchen, ganz wundervoll.«

Doch dieses Schild gefiel ihr nicht. Man sollte es den Kindern auf der Reise um den Hals hängen, damit man sofort wusste, wer wer war und wo das Kind hingehörte.

»Als könnte man das nicht anders regeln«, hatte die Mutter zum Vater gesagt. Susi hatte es zufällig gehört, als sie spätabends noch einmal auf die Toilette musste und an der Wohnküche vorbeikam, in der die Eltern saßen, ihre Mutter beschäftigt mit den Vorbereitungen für den anstehenden Kuraufenthalt, der Vater mit seinem abendlichen Bier.

»Es ist ein Sonderzug, Luise, da werden viele Kinder mitfahren«, hatte der Vater erwidert. »Auf diese Weise ist es eben leichter zu organisieren, und die Kinder kommen sicher an. Wir wollen ja auch nicht, dass unsere Susi verloren geht.«

»Mag sein, aber schön ist das nicht, so ein Pappschild um den Hals.« Darauf folgten ein resignierter Seufzer und ein leise hingeworfenes »Ach, was soll’s!«.

»So, da sind wir«, sagte der Vater, als er vor dem Bahnhof in Kaiserslautern den Motor abstellte. Die Eltern drehten sich zu der kleinen Susi auf dem Rücksitz um und setzten gleichzeitig ihr Na-freust-du-dich-Lächeln auf.

»Dann wollen wir mal«, sagte die Mutter, und wie immer nickte Susi ganz brav, doch unwillkürlich drückte sie Pippi fester an ihre Brust. Bald würden die Eltern weg sein und sie ganz allein mit vielen fremden Kindern, ihrer Puppe und diesem Schild um den Hals. Das Schild machte ihr am wenigsten aus. Das Alleinsein schreckte sie mit einem Mal mehr, als sie sich vorgestellt hatte. Ich möchte bitte hierbleiben, hätte sie am liebsten gesagt, aber seit die Kur beschlossen war, nannte Mama sie immer »mein tapferes kleines Mädchen«, und das wollte Susi auch bleiben. Also stieg sie aus dem Käfer und ließ sich das Schild umhängen: Susanne Lach, St. Peter-Ording, Haus Morgentau.

Ihren kleinen Rucksack mit Verpflegung auf dem Rücken, ihre Stoff-Pippi im Arm und die Hand in der ihrer Mutter, setzte sie mit gesenktem Blick einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt vergrößerte ihre Angst. Bald würde die Hand der Mutter verschwunden sein, und ihre Eltern würden ohne sie nach Hause fahren.

Der Zug stand schon bereit. Ein Ungetüm mit einer großen roten Lok und drei langen dunkelgrünen Personenwagen dahinter. Der Vater schleppte Susis Koffer und ging damit zielstrebig zu einer Sammelstelle am Ende des Zuges, wo das Gepäck verladen wurde. Einsteigen durfte man noch nicht. Eltern standen mit ihren Kindern auf dem Bahnsteig. Einige der Kinder schienen etwas älter zu sein, die meisten jedoch in Susis Alter oder sogar noch deutlich jünger. »Am besten sollte man die Kur noch vor der Einschulung antreten«, hatte der Amtsarzt damals erklärt. Daran erinnerte sich Susi jetzt wieder. Viele dieser kleinen Kinder weinten herzzerreißend. In den übrigen Gesichtern erkannte sie ihre eigene mühsam aufrechterhaltene Tapferkeit.

»Schau, die vielen Kinder«, sagte ihre Mutter, ihre Stimme schwankte. Susi blickte zu ihr hoch. Die Mutter lächelte, aber etwas war nicht richtig an dem Lächeln, es war viel zu breit, und Luises Augen glänzten.

Der Vater kam zurück. »So, das hätten wir«, sagte er gut gelaunt. Mit einer unbeholfenen Geste tätschelte er den Rücken seiner Frau.

»Und so schönes Wetter ist heute«, bemerkte Luise daraufhin, als hätte der Vater mit seiner Berührung unabsichtlich den Knopf für zusammenhanglose Kommentare gedrückt.

»Ja«, strahlte dieser. »Da habt ihr Glück, ihr Kinder.«

Susi schluckte, nickte kaum merklich, und zu lächeln versuchte sie erst gar nicht. Zwei Meter weiter brüllte ein kleiner Junge mit rot verweintem Gesicht. Seine Eltern standen hilflos daneben und hatten jeden Beruhigungsversuch aufgegeben. Eine Frau im adretten dunkelblauen Kostüm trat zu der Familie und beugte sich zu dem Jungen hinab.

»Na, kleiner Mann, freust du dich denn gar nicht? Du wirst sehen, wie schön das wird. Wie heißt du denn?«

Der Junge hatte vor lauter Schreck, von einer fremden Dame angesprochen zu werden, sein Brüllen eingestellt und starrte die Frau wortlos an.

»Holger«, antwortete die Mutter an seiner Stelle und zeigte auf das Schild, das ihrem kleinen Sohn um den Hals hing.

»Und wie alt bist du? Weißt du das schon?«, fragte die Frau weiter. Der kleine Holger wandte sich ab und drückte sein Gesicht in den Rock seiner Mutter.

»Er ist fünf«, sagte diese zu der Frau, während sie versuchte, Holger wieder umzudrehen. »Also, noch nicht ganz, aber bald. In drei Wochen.«

»Na, dann feierst du ja Geburtstag am Meer mit ganz vielen Kindern zusammen. Was meinst du, wie schön das wird!« Es war ein Wunder, dass nicht augenblicklich bunte Luftballons hinter der Frau im Kostüm in die Luft stiegen, so fröhlich klang ihre Stimme.

Susi dachte an ihren eigenen Geburtstag im August. Nicht um alles in der Welt hätte sie den woanders feiern wollen als zu Hause mit ihren Eltern und Geschwistern und ihren Freundinnen. Mit den Nachbarn, die sie schon von klein auf kannten und jedes Jahr wieder aus den Fenstern herausriefen »Wie alt bist du denn jetzt?«, obwohl sie es ganz genau wussten, aber jedes Mal antwortete Susi ganz stolz und fühlte sich jedes Jahr ein Stück größer. »Was? Schon so alt?«, riefen die Nachbarn. Jedes Jahr das Gleiche, und um keinen Preis wollte Susi es anders haben.

Die Frau streckte ihre Hand nach dem vierjährigen, bald fünfjährigen Holger aus. »Komm mit mir, ich bin die Tante Annegret. Wir steigen jetzt alle in den Zug ein, und dann haben wir eine ganz schöne Fahrt.«

Offensichtlich glaubte Holger dieser Tante Annegret kein Wort, denn erneut klammerte er sich laut brüllend an den Beinen seiner Mutter fest.

»Ich mache das schon, gehen Sie einfach«, sagte die Frau zu Holgers unglücklich dreinschauenden Eltern. Sie packte den kleinen Jungen an den Handgelenken, und plötzlich ließ er los.

»Gehen Sie, gehen Sie«, zischte sie den Eltern zu, während sie das verzweifelt schreiende Kind festhielt.

Luise sank in die Knie und drückte ihre Tochter an sich. »Du bist tapfer, nicht wahr, mein Mädchen?«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Ja«, flüsterte Susi zurück.

»Alle Kinder bitte jetzt einsteigen, der Zug fährt in fünf Minuten los«, rief die Frau namens Tante Annegret laut über den Bahnsteig hinweg und gab sich redlich Mühe, das markerschütternde Gebrüll des kleinen Jungen, der sich in ihrem unerbittlichen Griff wand wie ein Lamm vor der Schlachtbank, zu übertönen.

Ein Schaffner ging am Zug entlang und wiederholte die Anweisung, die wegen des Lärms nicht alle hatten hören können.

»Bis in sechs Wochen«, sagte der Vater und gab Susi einen Kuss auf die Backe. Sie hielt sich an ihm fest und fragte mit einer Dringlichkeit, die sie selbst kaum verstand: »Bin ich bis zur Mondlandung wieder daheim?« Der Vater hatte ihr versprochen, sie dürfe zuschauen. Deswegen hatten sie doch auch den Fernseher. Sechs Wochen waren lang, aber die Mondlandung war greifbar.

»Aber natürlich«, lachte der Vater. »Sonst müssten sie die Landung ja verschieben, und das geht doch nicht, was Myszka?«

»Nein«, sagte Susi erleichtert. »Das geht nicht.«

»Hab eine schöne Zeit, Susannchen, und schreib uns alles, ja?« Die Mutter umarmte das Kind ganz fest und putzte sich beim Aufstehen die Nase. Ihre Hände zitterten.

Es war so weit. Susi machte einen tapferen Schritt auf die Tür des ersten Wagens zu, dann noch einen. Da war die Treppe, zwei hohe Stufen bis nach oben, bis ins Innere des Wagens. Noch einmal umdrehen. Die Eltern winkten. Susi winkte zurück. Dann war sie oben. Nicht weggehen, wollte sie ihren Eltern zurufen.

»Wir winken, Susi«, versicherte ihr die Mutter. »Wir bleiben hier und winken.«

Mit weichen Knien trat das Kind ins Abteil, setzte sich auf den nächstbesten Platz am Fenster und winkte nach draußen, und die Eltern winkten zurück.

Die ganze Zeit.

Bis der Zug losfuhr.

Bis er weg war.