Für immer, dein August - Barbara Leciejewski - E-Book
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Barbara Leciejewski

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Beschreibung

Der zweite Band der mitreißenden Mühlbach-Saga von Bestsellerautorin Barbara Leciejewski Bremen, 1914: Sehnsüchtig wartet die 17-jährige Charlotte Schäfer auf einen Brief aus England. August Schönborn, ihr Kindheitsfreund aus Mühlbach, wurde bei Ausbruch des Krieges festgenommen und sitzt in einem Internierungslager auf der Isle of Man. Doch das rettet ihm das Leben – viele junge Männer werden nicht nach Mühlbach zurückkehren. Als Lotte und August sich nach Kriegsende wiedersehen, wollen sie nichts mehr als den Rest ihres Lebens zusammen zu verbringen. Lotte zieht für August nach Mühlbach, da er sich dort um seine Mutter kümmern muss. Die Eheleute sind glücklich miteinander, aber sie bleiben im Dorf die Außenseiter: Die Tochter der entehrten Frau und der Mann, der dem Krieg entkommen ist, in dem andere ihr Leben verloren haben. Als die Nazis an die Macht kommen, sind August und Lotte entsetzt, wie viele Einwohner sich für die menschenverachtende Ideologie begeistern …

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für immer, dein August

BARBARA LECIEJEWSKI wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen »richtigen« Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen ist sie Bestsellerautorin und glücklich in ihrem Traumberuf.

»Der Krieg ist aus!« 1919 darf der 21-jährige August Schönborn endlich das britische Internierungslager verlassen und nach Deutschland heimkehren. Als er seine Kindheitsfreundin Lotte wiedersieht, deren Briefe ihm durch die Kriegszeit geholfen haben, ist beiden klar: Aus Freundschaft ist längst Liebe geworden.Doch Lotte wohnt in Bremen, und August muss zurück nach Mühlbach, in das Pfälzer Dorf, in dem seine Eltern leben. Mühlbach, aus dem einst Lottes Mutter Lina mit ihrem unehelichen Kind auf dem Arm fliehen musste. Das Dorf, dessen Bewohner August nie verzeihen werden, dass er den Krieg überlebt hat, in dem so viele junge Mühlbacher versehrt wurden oder starben. Es scheint, als könnte ihre Liebe keine Zukunft haben – bis das Schicksal für sie entscheidet.

Barbara Leciejewski

Für immer, dein August

Roman

Ullstein

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© 2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotive: © clu / Getty Images, © CollaborationJS / Trevillion Images, © privat / www.buerosued.de (Brief)Autorinnenfoto: © Gerald von Foris E-Book Konvertierung powered by pepyrus

ISBN: 978-3-8437-3116-4

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Stammbaum

Prolog

1

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6

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9

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Epilog

Nachwort und Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Stammbaum

Widmung

Für meine Großeltern

Stammbaum

Prolog

Mühlbach in der Pfalz im März 1945

Der Krieg war vorbei.

Zurück blieb eine erschütterte Welt, erschütterte Menschen. Schutt und Asche. Trümmer. Tod.

Der Feind war eingetroffen. Die Amerikaner. In der Pfalz. In Theisbergstegen waren sie schon, hatte man gehört. Rutsweiler kam als Nächstes. Überall hatten sie ein paar Häuser besetzt, die Einwohner daraus vertrieben, aber besser vertrieben als erschossen, und die Nachbarn halfen und nahmen die Vertriebenen bei sich auf.

Jetzt kamen sie nach Mühlbach, die Amerikaner. Panzer zwängten sich durch die enge Straße entlang des Glans, ein endloser Tross von Fahrzeugen, unzählige Soldaten, schwer bewaffnet, die Gewehre im Anschlag. Man konnte schließlich nie wissen, ob nicht noch irgendwo hinter einer Mauer ein Nazi mit störrischem Siegeswillen und fanatischer Opferbereitschaft lauerte. Misstrauisch blickten sie sich um, strömten aus, wanderten umher in dem kleinen, scheinbar verwaisten Dorf, auf alles gefasst, zum Schuss bereit.

»Who is the mayor of this place?«, rief einer von ihnen lautstark zwischen die kleinen Häuser, die ebenso mitgenommen wirkten wie ihre Bewohner und sich wie diese vor den fremden Soldaten wegzuducken schienen. »Who ist the mayor?«, dröhnte es erneut in die Stille. Die Mühlbacher in ihren Verstecken verstanden die Worte des Mannes nicht. Er konnte rufen, so lange und so laut er wollte, alles, was sie hörten, war unverständliches Gebrüll in einer fremden Sprache. Dazu das erhobene Gewehr. Das war Bedrohung genug. Man verkroch sich, blieb stumm und still. Würde man zurückrufen: »Mer verstehn Sie net!«, oder: »Mer mache nix!«, dann würde er sie wahrscheinlich genauso wenig verstehen und schießen.

»Do you understand?«, rief der Mann. Ein anderer weiter vorn rief dasselbe.

»Can anybody understand what we say?« und »Does anybody speak English?« riefen sie durcheinander.

»I do«, antwortete mit einem Mal jemand. Ein Mann, seine Stimme kam aus einem Haus weiter oben am Hang. Die meisten Straßen und Häuser des Dorfes krochen den Potzberg hinauf, der Rest reihte sich unten an der Hauptstraße entlang, nur durch einen Streifen Wiese getrennt von dem kleinen Fluss, der dem Dorf seinen vollständigen Namen gab: Mühlbach am Glan.

Die Amerikaner richteten ihre Aufmerksamkeit auf das Haus, aus dem die Stimme gekommen war und dessen Eingangstür jetzt einen Spalt offen stand, augenscheinlich damit der Mann hinausrufen konnte.

»Alright. Come here!«, dröhnte es zu ihm hinauf. Ein gebrülltes Kommando. Alles andere als beruhigend oder vertrauenerweckend. Nichts rührte sich dort oben in dem Haus.

»Please, Sir!«, rief der erste Mann, der anscheinend ein Einsehen hatte. Er senkte sein Gewehr ein wenig.

Ein Huhn gackerte unerschrocken. Eins der letzten Hühner in Mühlbach. Viele waren es nicht mehr.

Die Tür des Hauses öffnete sich langsam, eine Hand erschien. Zunächst nur die eine, um die Tür weiter aufzustoßen, dann beide, hoch in die Luft gereckt, ohne Waffe. Ein großer, schlanker Mann in vorgerückten Jahren trat in den offenen Eingang des Hauses. Gut gekleidet, Hose, Hemd, Weste, alles mehrfach geflickt, wie man sehen konnte, wenn man die Kleidung aus der Nähe betrachtete, und doch zu elegant für den Krieg. Trotzig und voller Würde. Der Mann trat vor die Tür, Schritt für Schritt ging er langsam die Straße hinunter. Hinter ihm, im Eingang, erschien eine Frau, schutzlos. Sie hob nicht die Arme, doch das musste sie nicht, kein Mensch auf der Welt hätte ihr zugetraut, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Sie stand da, schmal, mutig, unbewaffnet und mit dem Herzen bei ihrem Mann, der mit erhobenen Armen auf die Amerikaner zuging. Auf den Feind.

»So, you speak English?«, vergewisserte sich der amerikanische Soldat noch einmal, als der Mann schließlich vor ihm stand.

»Yes!«

»You may lower your hands, Sir.«

Der Mann ließ die Arme sinken

»Are you the only one around who speaks English?«

»Yes, I think I am.«

»We wanna talk to the mayor.«

Der Mann nickte.

»So, I think you will have to translate. Can you do that?«

»Yes.«

»And can we trust you?«

»Yes. You can.«

Der Soldat betrachtete den Mann aufmerksam und lächelte. »Well, I guess we must«, sagte er, klopfte seinem Gegenüber versöhnlich auf die Schulter und meinte: »Don’t worry! The war is over. Be glad!«

»I am«, sagte der Mann. Er atmete tief ein und erleichtert wieder aus, und für den Bruchteil einer Sekunde erwiderte er sogar das Lächeln des Soldaten. »Finally«, flüsterte er. Dann warf er einen Blick hinauf zum Haus, wo seine Frau noch immer in der offenen Tür stand. Sie hob den Arm und winkte ihm zu.

»Your wife?«, fragte der Soldat.

»Yes, my wife.«

»What’s your name, Sir?«

»Schönborn. August Schönborn.«

1

Isle of Man im Winter 1914

Fritz Koch hustete. Es war der Beginn eines längeren Anfalls, wie so oft in den letzten Tagen. Wenn es erst einmal bei ihm losging mit dem Husten, hörte es so schnell nicht wieder auf.

Dann kniete sich August neben ihn und stopfte ihm alles, was er im Zelt fand, unter den Rücken, damit er aufrechter sitzen konnte, weil er sich so leichter tat, und manchmal klang der Husten dann auch ab.

Fritz Koch hatte sich um August gekümmert, als die Musikanten im Sommer in Gefangenschaft geraten waren. »Halt dich an mich, Junge«, hatte der Kapellmeister zu ihm gesagt. »Ich passe auf dich auf.« Und das hatte er getan. Man hatte sie über die Irische See zur Isle of Man gebracht. Auf dem Schiff hatte ein großes Durcheinander geherrscht, ein noch größeres bei der Ankunft auf der Insel. Die Mitglieder der Kapelle hatten sich im Gedränge zumeist aus den Augen verloren, nur Fritz Koch hatte August immer am Arm oder am Ärmel oder an irgendeinem anderen Teil seiner Kleidung festgehalten.

Nach Cunninghams Camp hatte man sie gebracht, ehemals ein Ferienlager für junge Männer, wie es hieß, nun umfunktioniert zu einem Gefangenenlanger für die Feinde Englands. Deutsche, Österreicher, Ungarn – lauter Zivilisten. Männer, die man in England festgenommen und interniert hatte, damit sie nicht als Soldaten für ihre Heimatländer in den Krieg ziehen konnten.

Die Gefangenen hausten in Zelten, die auf groteske Weise an die frühere Bestimmung des Camps erinnerten. Eng war es darin und feucht und kalt trotz der Decken, die man ihnen gegeben hatte. Dicht drängten sich die Zelte aneinander, so weit das Auge reichte. Ein Meer von Zelten, eine Unmenge Gefangener.

August Schönborn, der Musikant aus der Westpfalz, war einer von ihnen, der Jüngste von allen.

You better stay here, you are here in safety.

An diesen Worten hielt er sich fest, wenn er an seiner Verzweiflung zu ersticken drohte. Sie hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt, obwohl er die Sprache gar nicht beherrschte, die Worte eines englischen Offiziers, die ihn hatten trösten sollen, als seine beiden wenig jüngeren Kameraden bei Kriegsausbruch nach Hause durften und er nicht, weil er ein paar Tage zu alt war. Ein paar Tage nur entschieden über seine Freiheit. Doch wenn es stimmte, was man ab und zu über den Krieg drüben auf dem Kontinent hörte, dann hatten diese Tage über sein Leben entschieden. August war jetzt siebzehn Jahre alt, er wäre eingezogen worden. Vielleicht wäre er schon schwer verwundet, hätte einen Arm oder ein Bein oder das Augenlicht verloren. Vielleicht wäre er schon tot.

You better stay here …

Doch auch im Lager konnte man sterben. Auf andere Weise zwar, aber sterben war sterben. Unterkühlung, Hunger, Krankheit, Dreck, Trostlosigkeit, Langeweile. Heimweh …

Die Wachleute verhielten sich zum größten Teil anständig, besonders gegenüber August, wohl weil er so jung war, aber sie konnten das Essen nicht besser machen und auch die erbärmlichen Zustände im Lager nicht ändern. Den Gang zu den schauerlichen Latrinen vermied man so lange wie nur irgend möglich.

Ein Vierteljahr nachdem man sie in das Lager gebracht hatte, am 19. November, als es kälter und immer kälter wurde und das Essen zu wenig und zu schlecht war, als das untätige Dahinvegetieren und die Hoffnungslosigkeit die Männer schier zerriss, da ergriffen einige von ihnen bei der Essensausgabe ihr Besteck und gingen damit auf das Wachpersonal los. Immer mehr Gefangene schlossen sich an, wurden zu einer rasenden Meute. Die Wachleute schossen in ihrer Not wahllos in die anstürmende Menge. Sechs Männer starben an diesem Tag. Der Schock über die Revolte und ihren Ausgang saß tief bei den Gefangenen, aber auch bei den Wachleuten, man sah es ihnen an. Sie wurden vorsichtiger, kühler, hielten ihre Gewehre fester in Habtachtstellung, und die Gefangenen lernten: Auch so konnte man im Ernstfall im Lager sterben: erschossen werden.

Und doch schienen die Engländer einzusehen, dass der Angriff aus tiefer Verzweiflung heraus entstanden war, und letztlich hatte er etwas bewirkt.

»Sie bauen jetzt ein richtiges Lager«, hieß es kurz darauf. So sah die Hoffnung aus in jenen Tagen: ein richtiges Lager.

Sobald es ihnen erlaubt war, schrieb August seiner Familie einen Brief, in dem er ihnen versicherte, dass es ihm gut ging. Er war in Gefangenschaft, ja, aber er war in Sicherheit. Man behandelte sie gut. Normalerweise und im Rahmen der Möglichkeiten.

Macht euch keine Sorgen um mich. Ich denke immer an euch und hoffe, dass der Krieg bald aufhört, schrieb er und achtete darauf, dass seine Tränen nicht auf das Papier fielen.

Am Tag danach und nach einer weiteren Nacht, in der er heimlich unter seiner Decke geweint hatte, schrieb er einen zweiten Brief, diesmal an seine beste Freundin Charlotte Schäfer in Bremen. Auch sie sollte beruhigt sein und erfahren, dass es ihm gut ging, doch als er die Worte zu Papier bringen wollte, zum wiederholten Male »Es geht mir gut« schreiben, da krampfte sich alles in ihm zusammen. Es ging ihm nicht gut. Keinem in diesem Camp ging es gut. Nicht annähernd.

August starrte auf das Blatt Papier und erinnerte sich daran, wie er und Charlotte als Kinder, die Füße im Glan, Zuckerstangen lutschend, zum ersten Mal ein Geheimnis teilten. Und auch später hatten sie alles geteilt, einander alles erzählt, das Wichtige und das Unwichtige, Gutes und Schlechtes. Er senkte die Feder aufs Papier und schrieb: Es geht mir gut so weit, man ist anständig zu uns, aberich vermisse meine Familie so sehr, dass mir alles wehtut, Lotte. Sag es keinem, bitte.

Es musste aus ihm raus, weil er spürte, dass ihn das Heimweh sonst umbringen würde. Lotte würde ihn verstehen. Man weiß erst, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat, schrieb er. Früher wollte ich nur aus Mühlbach weg, jetzt will ich nichts anderes mehr als dorthin zurück.

August wusste nicht, ob seine Briefe ankamen. Vielleicht gingen sie verloren, vielleicht verließen sie England nie. Gar nichts wusste er. Würde er sie alle je wiedersehen? Seine Eltern, seine Geschwister. Seine Großmutter war schon so alt. Und war die Pfalz nicht viel zu nah an der Front? Überhaupt: die Front! Was war das eigentlich, die Front, von der alle immer sprachen? Dort wurde der Krieg ausgetragen, ja, das wusste er, aber was genau passierte dort? Was passierte in Mühlbach, in Bremen? Und wer musste alles dorthin, zur Front? Sein Vater sicher nicht. Oder doch?

Wenn Fritz Koch hustete, riss der Gedankenfaden in Augusts Kopf ab, und er hatte etwas zu tun. Sachen in Fritz Kochs Rücken stopfen. Hoffen, dass der Anfall bald vorüberging. Danach nahm der Kapellmeister August an der Hand, sagte ihm, dass er ein guter Junge sei, und bat ihn, ihm etwas auf der Geige vorzuspielen. Manchmal hörten die Wachleute zu und waren gerührt. Dann gab es, wenn sie Glück hatten, eine Extrascheibe Brot oder einen Becher lauwarmen Tee. Und dann zwinkerte Fritz Koch August zu, so als hätte das von Anfang an zu seinem Plan gehört.

Zwei andere Männer aus der Kapelle waren noch bei ihnen im Zelt. Hannes Weber und Wilfried Stumm. Ein Klarinettist und ein Trompeter. Die beiden saßen tagsüber häufig zusammen auf ihren Pritschen und tuschelten leise. August hatte mitbekommen, dass sie gemeinsam darüber nachdachten, wie sie fliehen konnten. Es war ihre Art, mit der Gefangenschaft umzugehen und nicht daran zu verzweifeln. Sie bezogen weder August noch Fritz Koch in ihre Pläne ein, wahrscheinlich, dachte August, hielten sie ihn für zu jung und Fritz für zu krank. Nur am Abend, wenn es dunkel wurde und die Verzweiflung und die Kälte sie zu zermürben drohten, da unterhielten sie sich alle miteinander, erzählten einander Geschichten, sangen Lieder, dachten an schöne Dinge, und manchmal lachten sie sogar. Das Lachen war ihre mächtigste Waffe, jedenfalls gegen die Verzweiflung. Gegen die Kälte war kein Kraut gewachsen, deswegen war Fritz Koch schließlich krank geworden.

Er hustete noch bis kurz vor Weihnachten, dann starb er, und ein anderer nahm seinen Platz im Zelt ein. An diesem Tag wäre August vermutlich endgültig zerbrochen, hätte man nicht kurz darauf seinen Namen bei der Postverteilung ausgerufen. Gleich zwei Briefe überreichte man ihm. Später machte August sich Gedanken über diesen seltsamen Zufall: ausgerechnet am Tag nach dem Tod des Kapellmeisters, ausgerechnet in dem Moment, in dem er es am dringendsten gebraucht hatte. Ein Brief aus Mühlbach und einer aus Bremen.

August kehrte zurück in sein Zelt, in dem Hannes und Wilfried wieder ihre Ausbruchspläne schmiedeten und der Neue auf Fritz’ ehemaliger Pritsche lag, den Kopf auf den untergeschlagenen Armen, in die Luft starrend. Neben diesen dreien und August schliefen noch zwei weitere Männer im Zelt, Josef Sichl und Herbert Prader, beide waren jung und kräftig und halfen tagsüber dabei, ein neues Lager aufzubauen. »Ein richtiges, mit Baracken statt Zelten«, erzählte der eine mit österreichischem Zungenschlag, das i gedehnt und akzentuiert und statt des e ein ö. Wären sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit zusammengekommen, hätte sich August darüber amüsiert, obwohl er mit seinem eigenen Dialekt nicht weniger Anlass dazu gab. »Wahrscheinlich werden wir dorthin umziehen, und da wird’s uns dann besser gehen«, meinte der andere Österreicher. »Viel besser.« Schlechter war auch kaum möglich.

August beneidete die beiden. Sie hatten eine Arbeit zu erledigen, sie sahen, wie es voranging, und wenn sie abends ins Zelt zurückkehrten, dann waren sie so müde, dass ihnen nicht einmal die Kälte den Schlaf raubte.

»Das wäre das Letzte, was ich tun würde, den Engländern auch noch helfen beim Lagerbauen«, spuckte Hannes Weber aus. Wilfried nickte halbherzig. Der Neue auf der Pritsche beachtete keinen von beiden. Meist lag er nur teilnahmslos herum. Er aß und wusch sich, und er ging zur Latrine, wenn es unbedingt sein musste, und dann lag er wieder da. Dass er Franz Hiltensperger hieß, war alles, was sie von ihm erfahren hatten.

August vermisste Fritz Koch. Die beiden Briefe in seiner Hand waren das Einzige, woran er sich nun festhalten konnte. Er legte sich auf seine Pritsche und betrachtete die Umschläge ehrfürchtig. Sie waren schon einmal geöffnet worden, das konnte man erkennen, aber man hatte nichts entfernt, nichts verändert oder durchgestrichen. Vielleicht auch deshalb, weil die Engländer kein Deutsch verstanden, überlegte August.

Lottes Schrift auf dem einen Brief erkannte er sofort. Ihm war, als spürte er ihre leichte Hand, als sähe er sie in ihrem Zimmer am Tisch mit Papier, Tinte und Feder, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, eine lose kupferblonde Haarsträhne hinterm Ohr. August hob Lottes Brief an seine Nase und schnupperte. Das Papier duftete nach Bremen, nach Freiheit, nach Lotte. Und wenn es zehnmal ein Engländer in seiner Hand gehalten, den Brief geöffnet, alles angefasst hatte, es änderte nichts daran: So duftete das Glück.

Eines Tages, das nahm er sich vor, wenn dieser Albtraum vorbei war, dann würde er Lotte besuchen, dann würde er mit ihr unterm Apfelbaum sitzen und das Leben genießen.

Die Schrift seiner Mutter auf dem anderen Brief wirkte auf den ersten Blick fremd. Dünn und zittrig waren die Linien und zeugten von ihrer inneren Erregung. August drehte sich auf den Bauch und begann zu lesen.

Mein lieber Junge, mein August …

Er schluckte, hielt einen Moment lang inne und versuchte vergebens, den Kloß in seinem Hals zurückzudrängen.

Mein lieber Junge, mein August, was waren wir glücklich, als wir deinen Brief erhielten! Was haben wir uns für Sorgen gemacht, als der Krieg ausbrach und du in England. Aber dann erhielten wir Besuch von deinem Mitmusikanten Hans Eisenbrenner. Er hat uns alles erzählt und vor allem, dass du am Leben bist. Wir waren so erleichtert! Und erst recht, als uns dein Brief erreicht hat. Das war Ende Oktober, ich weiß nicht, wie lange der Brief unterwegs war, und ich weiß auch nicht, wie lange dieser unterwegs sein wird. Ich hoffe, du wirst ihn bald erhalten. Ich hoffe auch, du bist weiterhin gesund und es geht dir gut. Was du über die Engländer geschrieben hast, macht uns Hoffnung. Uns geht es gut. Vom Krieg merken wir noch nicht viel, jedenfalls nichts von den Kämpfen, aber natürlich sind viele Männer aus Mühlbach an der Front. Und alles wird teurer, die Leute schaffen immer mehr Vorräte an und sparen, so gut sie können. Wir natürlich auch, man weiß ja nicht, was noch kommt. Ich hoffe, der Krieg ist bald vorbei, dieser Unsinn. Wir haben Post aus Bremen und wissen daher, dass es dort auch allen gut geht. Und auch Onkel Walter geht es gut. Mach dir keine Sorgen um uns, pass gut auf dich auf und schreib, sooft du kannst, auch wenn du etwas brauchst, wir versuchen, es dir zu schicken. Vielleicht ist das möglich. Bestimmt. Wir beten dafür, dass wir uns bald wiedersehen. Versprich mir nur eins, mein lieber Junge, verlier nie den Mut, niemals! Wir versprechen dir dasselbe. Wir sind in Gedanken immer bei dir.

In Liebe, deine Mama, dein Papa, Philipp und Elsa

Ein Teil der Schrift wurde von Augusts Tränen verwischt. Rasch legte er das Papier zur Seite, damit nicht noch mehr der kostbaren Worte unleserlich wurden. Es ging allen gut. Es ging ihnen gut! Und nein, er würde nicht den Mut verlieren, das versprach er innerlich. So glücklich war er in diesem Moment, und gleichzeitig war seine Sehnsucht nie größer. Erneut schloss er die Augen, drückte das Papier an sein Herz und sah sie alle vor sich: seine kleinen Geschwister, seinen ruhigen, gutmütigen Vater, seine freundliche, großherzige Mutter, seine liebevolle Großmutter.

Seine Großmutter! Wieso stand da kein Gruß von ihr am Schluss?

Seine Mutter hatte es sicher vergessen vor lauter Aufregung. Sicher kam bald ein Brief hinterher, in dem stand: Großer Gott, da habe ich doch beim letzten Mal die Oma gar nicht erwähnt! Viele Grüße von ihr.

Augusts Herz klopfte trotzdem.

Franz Hiltensperger stand ächzend von seiner Pritsche auf und verließ das Zelt.

August nahm den Brief von Lotte zur Hand. Was, wenn sich auch in ihm eine Hiobsbotschaft verbarg?

Lieber August,

wie gut, dass du in Sicherheit bist. Du bist nicht im Krieg. Ich bin so glücklich darüber.

Verzeih mir, wenn meine Worte gefühllos klingen, wo doch Gefangenschaft etwas ganz Schreckliches ist und du abgeschnitten bist von deiner Familie und deiner Heimat, aber wärst du hier, dann würde man dich auch in den Krieg schicken, ganz sicher. Meine Cousins Johannes und Ludwig sind alle beide an der Front. Onkel Heinrich und Tante Mathilde wissen nichts von ihnen, weder wo genau sie sind, noch wie es ihnen geht. Sie müssen umkommen vor Sorge.

Und hier in Bremen sind auch viele junge Männer, die wir kennen, im Krieg. Aaron und Wilhelm, von denen ich dir schon erzählt habe. Aaron ist bei der Marine und Wilhelm wohl irgendwo an der Ostfront. Ich weiß gar nicht, ob ich das alles schreiben darf, aber es sind ja keine Geheimpläne oder so etwas.

Hast du gehört, dass die Tante Christoffel gestorben ist? Wahrscheinlich nicht. Schon früh bei Kriegsausbruch war das. Einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Sie hat mich auf die Welt geholt und dich auch und meine Eltern und deinen Vater. Sie wird mir fehlen.

Oh, August, ich glaube, ich schreibe nur dummes Zeug, ich sollte dir lieber etwas Schönes schreiben.

Hast du noch alle deine Sachen, oder hat man dir etwas weggenommen? Deine Geige doch hoffentlich nicht. Und Onkel Walters Buch, das er dir geschenkt hat. Aber sicher gibt es Wichtigeres, das du gerade brauchst. Schreib bitte wieder und schreib, ob wir dir etwas schicken dürfen, irgendwas. Ich schreibe dir auch wieder, sooft es geht. Wäre nur der Krieg vorbei! Warum tun Menschen so etwas Dummes? Krieg bringt nur Leid überall, und keiner kann gewinnen. Es ist doch kein Gewinn, wenn Menschen sterben.

Ich denke an dich, August, ganz fest.

Deine Lotte

Die Christoffel tot! Und so viele junge Männer im Krieg. Vor Augusts geistigem Auge erschienen ehemalige Schulkameraden, Nachbarn, Freunde, Bekannte, Holger und Fritz Hennemann, die beiden Borger-Söhne, sie trugen Uniformen und Waffen. Hans Eisenbrenner, von dem seine Mutter geschrieben hatte, feierte in wenigen Wochen seinen siebzehnten Geburtstag, und Siegfried Koch, der zweite junge Musikant, der England bei Kriegsausbruch hatte verlassen dürfen, war inzwischen schon siebzehn.

Auf einmal bekam der Krieg ein Gesicht, viele Gesichter, die Gesichter von Menschen, die ihm vertraut waren. Und der Rest fürchtete um deren Leben. Ein ganzes Land in Angst. Und in den anderen Ländern war es sicher nicht anders. War es nicht das, was die Menschen überall verband? Die Angst, ihren Liebsten könnte etwas geschehen.

Hiltensperger kam mit angeekelter Miene zurück und legte sich wieder hin, wortlos, die Augen starr zur Zeltdecke gerichtet.

August ging nach draußen und bat den Wachposten um einen Bogen Papier für einen Brief. »Paper?«, fragte er. Und als er ihn erhielt: »Thank you.« Das hatte er schon gelernt.

Der Engländer antwortete etwas, was er nicht verstand, doch er machte ein freundliches Gesicht. August lächelte zurück und nickte. Am nächsten Tag würde er sich einen weiteren Bogen holen, weil er ja nach Mühlbach und nach Bremen schreiben musste. Auf dem Weg zurück blickte er sich um. Überall Zelte, weiße, mannshohe Zelte, und in jedem die gleiche Kälte und Trostlosigkeit. Er steckte seine Hände tief in die Ärmel seiner Jacke, das Papier presste er an seinen Körper, es machte nichts, wenn es ein wenig zerknitterte. Sein Atem wehte als eiskalter Nebel vor ihm her. Der matschige Boden fror allmählich fest, immerhin, das war ein Vorteil.

Als August ins Zelt zurückkam, lag Hiltensperger genauso da wie zuvor. August tastete in seinem Rucksack nach dem Füllhalter, fand ihn und dazu noch etwas anderes: Tom Sawyers Abenteuer und Streiche, das Buch, das ihm Onkel Walter geschenkt hatte. Er zog es hervor, strich mit klammen Fingern darüber und lachte leise auf. Wenn er den Brief geschrieben hatte, würde er anfangen, es zu lesen. Er würde zuerst an Charlotte schreiben, weil er bei ihr offener sein und erzählen konnte, was ihm auf der Seele lag. Der Tod von Fritz Koch etwa. Danach hatte er den Kopf frei für den Brief an seine Familie. Vielleicht konnten sie ihm einen warmen Pullover schicken, einen Schal, vielleicht sogar etwas zu essen, wenn es haltbar war, etwas von daheim.

»In ein paar Tagen ist Weihnachten«, murmelte Hiltensperger.

2

Champagne im November 1914

So hatte er sich das nicht vorgestellt. Man hatte ihnen versprochen, es sei alles ganz einfach: durch Belgien durch, dann Frankreich überrennen, Paris einkassieren und an Weihnachten wieder daheim. Jetzt saß er da in einem Graben im Schlamm, und gegenüber saßen die Franzosen in einem Graben im Schlamm. Nichts ging voran. Und alles, was er tat, war graben, graben, graben. Noch einen Tunnel und noch einen Unterstand und noch einen Graben.

Am Anfang hatten sie sich wenigstens noch bewegt, immer weiter vorwärts, und wer sich der deutschen Armee in den Weg gestellt hatte, ohne die weiße Fahne zu schwingen, der war beiseitegeschafft worden. Den Belgiern, denen hatte man das schnell beigebracht. Ha!

Holger Hennemann kauerte im Dreck, umarmte sein Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett und dachte an Dinant. So, genau so hatte er sich das vorgestellt, wie in Dinant. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, so war das im Krieg. Die Leute in Dinant hatten es zu spüren bekommen, hatten gemerkt, dass man besser nicht zu den Franzosen hielt und die Deutschen lieber nicht gegen sich aufbringen sollte. Die dritte Armee hatte durchgegriffen, auch wenn so manch ein Soldat sich in die Hosen gemacht und sich gescheut hatte abzudrücken, nur weil diese Belgier keine Uniformen trugen. Es kam nicht auf die Uniform an, sondern darauf, wie man sich verhielt: Wer ein Gewehr trug, der war ein feindlicher Soldat, wer den Franzosen half, ebenfalls, der musste bekämpft und bestraft werden. Man durfte sich nicht ins Hemd machen, wenn mal ein Schuss danebenging und es eine Frau oder ein Kind erwischte. Ja, das war nicht schön, aber so viele waren das auch wieder nicht, er selbst hatte es nur zwei- oder dreimal erlebt. Ohnehin hatten sie meistens die Männer sorgfältig aussortiert und ordentlich erschossen, die, die es verdient hatten. So war das nun mal im Krieg. Wer sich in den Weg stellte, musste weg. Vorwärts, immer vorwärts. In Dinant waren sie vorwärtsgekommen.

Holger Hennemann hielt die Augen fest geschlossen und lächelte versonnen, als er daran dachte, wie sie in jeder Stadt, in jedem Dorf ihren Abdruck hinterlassen hatten. Wenn er zurückblickte auf die Ruinen dieser Häuser, zerstört von deutscher Artillerie, dann erfassten ihn Stolz und Dankbarkeit, Teil dieser großen Sache zu sein, dem Vaterland zu dienen.

Die Feuchtigkeit des Schlamms kroch in seine Kleider, durch alle Schichten bis auf die Haut, eiskalt. Er zitterte. Nur wegen der Feuchtigkeit, nicht wegen der Granaten, die mit der Kälte auf einmal wieder laut und schrecklich in seinen tröstlichen Traum von leichten Eroberungen eindrangen. Auch nicht wegen der Leiche, die neben ihm lag und deren Gesicht man nicht mehr erkennen konnte.

»Scheißt du dir in die Hose, oder was?«, brüllte plötzlich jemand. Unteroffizier Selb stand breitbeinig über ihm und blickte ihn wütend an. Im nächsten Moment zertrümmerte eine Kugel seinen Schädel. Holger schrie auf, als der Mann auf ihn fiel, er schrie weiter, als er unter der Leiche hervorkroch, und noch mehr, als er sich an den Rand der Grube lehnte und blind in die Richtung schoss, aus der die Kugel gekommen war. Granaten schlugen ein. Neben ihm, hinter ihm, vor ihm. Die Erde bäumte sich auf.

3

Bremen im Frühjahr 1915

Stadttheater Bremen, Parkett, dritte Reihe Mitte. Beste Plätze. Man spielte Mozart.

»Samuels Lieblingskomponist«, hatte Frau Wolf Charlotte anvertraut. »Und die Zauberflöte ist seine Lieblingsoper.«

Samuel, das war ihr Mann, Samuel Wolf, ein angesehener Anwalt in Bremen, fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte die Anwaltsrobe gegen eine deutsche Uniform getauscht und kämpfte nun an der Ostfront.

»Begleiten Sie mich in die Oper, Charlotte?«, hatte Frau Wolf gefragt. »In die Zauberflöte. Bitte!«

Es hatte keiner Erklärung bedurft, Charlotte hatte begriffen, weshalb ihre Dienstherrin die Oper besuchen wollte. Jeder hatte seine eigene Art, mit dem Krieg und dem, was er einem nahm und antat, umzugehen. Jetzt saßen sie nebeneinander, und als Papageno und Papagena ihr Duett sangen, summte Frau Wolf leise und selbstvergessen mit. Als die Oper zu Ende war, brachte sie Charlotte in einem Taxi nach Hause. Es war das erste Mal, dass Charlotte in einem Taxi fuhr oder überhaupt in einem Automobil.

»Dieses Duett«, sagte Frau Wolf unvermittelt, nachdem sie eine ganze Weile geschwiegen hatte, »das haben mein Mann und ich früher immer gemeinsam gesungen.« Sie lachte und sang: »Pa---Pa-Pa … Es hat sich schrecklich angehört, aber wir hatten so viel Spaß dabei.« Eine Träne lief über ihre Wange, doch sogleich wischte sie mit der Hand über ihr Gesicht und fasste sich. »Entschuldigen Sie bitte, Charlotte. Ich danke Ihnen, dass Sie mich heute Abend begleitet haben, das war sehr nett von Ihnen.«

»Aber natürlich. Das habe ich sehr gern gemacht. Ich liebe die Oper, das wissen Sie doch.«

»Ja, ich weiß«, sagte Frau Wolf und lächelte. »Und das gehört zu den vielen Dingen, die ich an Ihnen schätze. Trotzdem ist es nicht selbstverständlich in diesen Zeiten. Keine meiner Freundinnen wäre mitgekommen. Sie sitzen zu Hause und warten auf Nachricht von ihren Männern, wenn sie im Krieg sind, oder sie denken, es sei pietätlos, sich im Theater zu vergnügen, während unsere Soldaten in Schützengräben liegen.«

»Aber Sie haben sich nicht vergnügt«, erwiderte Charlotte spontan. Hätte sie länger darüber nachgedacht, hätte sie es wahrscheinlich für vermessen gehalten, doch Frau Wolf sah sie überrascht und fragend an, und so fuhr das Mädchen fort. »Sie waren bei Ihrem Mann. Und vielleicht hat er das ja gespürt. Wer weiß.«

Frau Wolf drückte ihr dankbar die Hand und schluckte. »Ich hoffe es.«

Das Taxi hielt vor der Orleansstraße 96. Als Charlotte ausstieg, lehnte sich Frau Wolf in ihrem Sitz ein wenig vor, die Hand auf der heruntergelassenen Scheibe. »Nehmen Sie sich morgen einen Tag frei, Charlotte«, sagte sie durch das geöffnete Fenster. »Zeit für Ihre Familie. Oder wofür auch immer. Das haben Sie sich verdient.« Sie hob die Hand und winkte zum Abschied. Charlotte winkte zurück und blickte dem abfahrenden Taxi hinterher. Als es um die Ecke bog und das Motorgeräusch verhallte, war es totenstill in der Straße. Natürlich war es stiller als tagsüber, aber es war auch stiller als früher. Vor dem Krieg.

Die Front war weit weg, und hätte man nicht die Einschränkungen und Reglementierungen erfahren, die die Regierung seit Neuestem erließ – manchmal täglich eine neue Vorschrift, die das Leben kompliziert und schwierig machte –, man hätte meinen können, nichts hätte sich verändert. Sie selbst ging weiter zur Arbeit und sogar ins Theater, ihre Geschwister besuchten weiter die Schule, und seit das Frühjahr mit seinen ersten warmen Sonnenstrahlen angebrochen war, saßen sie auch wieder im Garten, genau wie früher. Sie lachten nur weniger. Und sie waren stiller.

Früher, wenn Charlotte nach Hause gekommen war, hatte sie oftmals die lebhaften Diskussionen zwischen Helene und Helmuth Lindemann mit anhören können. Ihre Stimmen waren aus der Erdgeschosswohnung nach außen gedrungen. Hauptsächlich die der lebhaften Helene, die politisch engagiert und regelmäßig erbost darüber war, dass ihr Mann sie darin so wenig unterstützte. Helmuths Waffen waren seine Gelassenheit und sein trockener Humor. Damit konnte er seine Frau zur Weißglut bringen. Wenn sie schließlich türknallend das Zimmer verließ, war es ihre ältere Schwester Hedwig Brandt, die beruhigend auf sie einwirken musste. Tante Brandt, wie Charlotte sie seit ihrer Kindheit nannte, die beste Freundin ihrer verstorbenen Großmutter Sophia. Dieser Tage war hinter den Fenstern im Erdgeschoss alles ruhig und dunkel.

»Wir gehen jetzt immer früh zu Bett, man muss den Krieg einfach verschlafen, bis er vorbei ist«, hatte Helene unlängst beim gemeinsamen Tee im Garten erklärt und statt zu ihrer Teetasse zu einem Glas mit Weinbrand gegriffen, das gleich danebenstand.

Im Dachgeschoss des dreistöckigen Hauses mit der Nummer 96 war noch Licht. Dort oben wohnte Victor Schweizer mit seiner Frau Henriette, die immer zu verbergen suchte, dass sie aus einem äußerst begüterten Hause stammte. Ihre Eltern waren mit ihrer Heirat nicht ganz einverstanden gewesen, hatte sie Lina gegenüber durchblicken lassen. Victor war Journalist und in letzter Zeit hauptsächlich Kriegsberichterstatter. Seine Arbeit führte ihn oft an die Front. Zurzeit jedoch war er wieder in Bremen. Bei der Teegesellschaft im Garten hatte er den Weinbrand spendiert und mit Helene geteilt. Charlottes Vater hatte mit gerunzelter Stirn zugeschaut, wie auf das erste Glas ein zweites folgte und dann ein drittes und wie Victor Schweizer, früher ein so sympathischer und von Idealismus beseelter junger Mann, immer verbitterter wurde. Wozu er überhaupt Journalist geworden sei, wisse er gar nicht mehr, hatte er irgendwann mit schwerer Zunge gemurmelt. Er dürfe die Wahrheit ja doch nicht schreiben, sondern nur das, was gewünscht sei: von Siegen und Helden, nicht vom Sterben und Leiden und vom Elend im Schützengraben. Das war tabu.

Und als Helmuth Lindemann nachfragte: »Ist es denn nicht wahr, dass wir an der Ostfront bald siegen werden?«, da hatte der sonst so liebenswerte Journalist geblökt: »Siegen! Es ist doch scheißegal, wer siegt.«

Alle waren zusammengezuckt. »Victor!«, hatte seine Frau erschrocken gerufen und war errötet.

»Tut mir leid«, hatte er gemurmelt. »Entschuldigt bitte!«

Alle hatten geschwiegen. Und wieder war sie eingekehrt, diese Stille.

Vermutlich saß er gerade oben an seiner Schreibmaschine und tippte einen Artikel, in dem er das schrieb, was gewünscht war, und nicht das, was er dort an der Front gesehen und erlebt hatte und was er darüber dachte.

Im mittleren Stockwerk, wo Charlotte mit ihrer Familie wohnte, brannte noch Licht in der guten Stube. Ihre Mutter und ihr Vater saßen sicher noch zusammen, lasen Zeitung oder ein Buch. Selcherts, gute Freunde der Eltern, hatten ihnen im letzten Jahr zum sechzehnten Hochzeitstag ihr altes Grammofon und eine Menge Schallplatten geschenkt, und so kam es ab und zu vor, dass die beiden am Abend miteinander tanzten. Vielleicht tanzten sie jetzt gerade, oder sie unterhielten sich trotz allem, weil man die Augen nicht verschließen durfte, wie sich ihr Vater ausdrückte.

Ihr Vater. Ihr Papa! Karl Schäfer. Der beste Mensch, den sie kannte, und der, den sie mehr als alles auf der Welt liebte. Ihre Mutter liebte sie natürlich genauso, aber ihr Papa war für Charlotte etwas Besonderes. Dass er nicht einmal ihr richtiger Vater war, wie man so sagte, hatte nie eine Rolle gespielt, kein Vater hätte richtiger sein können und kein Verhältnis zwischen Tochter und Vater inniger.

So war es zumindest bis vor ein paar Jahren gewesen. Bis zu dem Zeitpunkt, als Karl entdeckt hatte, dass Charlotte ihren leiblichen Vater Albert Lehnert in der Pfalz kennengelernt und heimlich Kontakt zu ihm gehalten hatte.

Karl war außer sich gewesen, verletzt, enttäuscht. Für ihn war Albert ein rotes Tuch und auf ewig der Mann, den seine Frau Lina zuerst und für lange Zeit geliebt hatte und der sie, als sie schwanger war, feige verlassen hatte. Für das Bedürfnis seiner Tochter, ihren leiblichen Vater kennenzulernen und die Lücken in ihrer Identität zu füllen, konnte er kein Verständnis aufbringen. Ein monatelanges Zerwürfnis zwischen beiden war die Folge gewesen, denn das Versprechen, Albert nie wiederzusehen, konnte und wollte Charlotte ihrem Vater nicht geben. Erst das Eingreifen ihrer Mutter und ein leidenschaftlicher Brief von Charlotte hatten Karl zur Einsicht gebracht. Ihr Verhältnis war wieder gut, allerdings nicht zuletzt deshalb, weil das heikle Thema nicht mehr zur Sprache kam.

Doch seit Kriegsbeginn sorgte sich Charlotte nicht nur um ihre Verwandten in Mühlbach, ihre Cousins und Freunde an der Front, um August in England und um den netten Herrn Wolf, sie sorgte sich auch um Albert Lehnert. Und wieder verheimlichte sie ihre Gefühle, denn sie fürchtete eine erneute Auseinandersetzung mit ihrem Vater, wenn sie zugab, welche Ängste sie Nacht für Nacht verdrängte. Soweit sie wusste, war Albert ebenso alt wie ihre Mutter, also neununddreißig. Wurde man in diesem Alter noch in den Krieg geschickt? Johann Selchert, der Vater ihrer Freundin Martha, war zweiundvierzig und hatte die Aufforderung zur Musterung erhalten, doch er war als untauglich eingestuft worden – zum Glück. Was, wenn Albert Lehnert weniger Glück gehabt hatte? Sie konnte niemanden fragen. Weder ihre Mutter, um sie nicht wieder zur Mitwisserin zu machen und einen Keil zwischen ihre Eltern zu treiben, noch Onkel Walter, denn dann würden es ihre Eltern erfahren. Sie konnte nichts tun, als auf das Beste zu hoffen: dass der Krieg bald vorbei war.

Charlotte schloss die Haustür auf. Stille empfing sie.

Leise stieg sie die Treppe zum ersten Stock hoch, zwei Stufen knarzten dennoch. Kurz darauf wurde oben die Tür geöffnet.

»Lotte, da bist du ja.« Lina wirkte erleichtert. »War es schön?«

»Ja, sehr schön. Frau Wolf hat mich mit einem Taxi nach Hause gebracht.«

»Was? Mit einem Taxi?!«

»Ja, stell dir vor.«

Ihre Mutter nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn sorgsam über einen Bügel in der Garderobe.

»Wie geht es ihrem Mann?«, erkundigte sie sich.

»Ich weiß nicht«, sagte Charlotte. »Sie hat in letzter Zeit nichts von ihm gehört.«

»Nichts zu hören ist in diesen Zeiten zumindest kein schlechtes Zeichen.« Karl war in der Tür zur guten Stube aufgetaucht. »Und die Feldpost braucht auch eine ganze Weile.«

Charlotte nickte und ging zu ihrem Vater, um ihn zu begrüßen.

»Hattest du einen schönen Abend, mein Schatz?«, fragte er, nahm sie kurz in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Ja, den hatte ich.«

»Gut«, sagte Karl. »Du weißt ja, was Onkel Walter geschrieben hat: Das Schöne muss man in diesen Tagen ganz besonders genießen und ganz ohne schlechtes Gewissen.«

Charlotte lächelte. »Ich weiß. Außerdem hat es Frau Wolf auch gutgetan.« Sie zögerte. »Das hoffe ich zumindest. Sie hat mir morgen freigegeben.«

»Oh, wie schön!«, freute sich Lina.

»Ja«, sagte Charlotte. »Vielleicht kann ich mit Martha einen kleinen Stadtbummel machen.«

»Aber natürlich, ich bin sicher, Johann gibt ihr ebenfalls frei, und ihr könnt das schöne Wetter ein bisschen genießen«, stimmte Lina zu, und Karl meinte: »Gut, wenn der eigene Vater der Arbeitgeber ist.«

»Martha ist aber auch sehr fleißig«, nahm Charlotte die Freundin in Schutz.

»Das wissen wir doch, Lottchen.« Lina kniff sie zärtlich ins Kinn und lachte.

Charlotte freute sich über die Heiterkeit der Eltern so sehr, dass sie es unterließ, sich den kindlichen Kosenamen zu verbitten, wie sie es früher getan hatte.

»Und was habt ihr beide heute Abend gemacht?«, fragte sie und setzte sich an den Tisch. Die Teetassen ihrer Eltern standen noch da, eine Zeitung war aufgeschlagen, das Strickzeug ihrer Mutter lag daneben.

»Nichts Besonderes«, sagte Karl. »Geschimpft haben wir wieder einmal über alles Mögliche.« Er schmunzelte auf seine typische Art, als wäre es nur ein Scherz und nicht bitterer Ernst.

»Und von Herrmann Sperling hast du mir erzählt«, erinnerte ihn Lina.

»Richtig«, sagte Karl und seufzte.

»Was ist denn mit dem?«, wollte Charlotte wissen.

Herrmann Sperling war Tabakunternehmer und der Arbeitgeber ihres Vaters. Die beiden waren früher einmal befreundet gewesen, doch das war so lange her, dass sich Charlotte kaum noch daran erinnern konnte.

»Mit ihm selbst ist eigentlich nichts.« Spöttisch hob Karl die Brauen, wie er es oft tat, wenn er über Herrmann Sperling sprach. »Er ist wütend, weil man ihn verpflichtet hat, für Heer und Flotte zu produzieren. Der Genuss einer Zigarette ab und zu hält die Soldaten bei Laune und schafft Entlastung, deshalb gehören Rauchwaren, wie es so schön in der Verordnung heißt, jetzt zur täglichen Lebensmittelration der Soldaten. Herrmann muss produzieren und macht praktisch keinen Gewinn, was ihn natürlich ärgert. So patriotisch ist er dann auch wieder nicht.« Karl lachte bitter auf. »Er überlegt jetzt schon, wie er an anderer Stelle wieder etwas gutmachen kann. Mit billigerem Tabak für die Zigarren zum Beispiel, die werden dann eben parfümiert. Kohlhaas schlägt ihm das schon vor, seit er an der Firma beteiligt ist.«

Sperlings neuer Compagnon war Karl ein Dorn im Auge.

»Halt dich aus solchen Entscheidungen einfach raus, Karl«, sagte Lina und griff wieder zu ihrem Strickzeug. »Mach deine Arbeit, sei für die Arbeiter da wie immer und kümmere dich nicht um Herrmann oder um diesen Kohlhaas.«

»Genau das tu ich ja«, behauptete Karl, doch jeder in seiner Familie wusste, dass es ihm schwerfiel, untätig zu bleiben, wenn er von etwas erfuhr, das in seinen Augen nicht richtig war.

»Gut«, sagte Lina, blickte von ihrer Strickerei auf und schenkte ihrem Mann ein verständnisvolles Lächeln.

Der kleine Walter tauchte in der Tür auf, im Schlafanzug, und rieb sich die Augen.

»Was ist denn mit dir los, Walterchen?«, fragte Lina erstaunt. »Wieso schläfst du nicht?«

»Hab ich ja schon, aber ich habe vergessen, heute in mein Kriegstagebuch zu schreiben. Der Lehrer hat gesagt, wir sollen das jeden Tag machen, weil ja auch die Soldaten jeden Tag kämpfen. Und jetzt habe ich das vergessen.« Ratlos drückte er sich an den Türrahmen und bohrte in der Nase.

»Zum Kuckuck mit deinem Lehrer!«, brauste Karl auf. »Fordert Grundschüler auf, Kriegstagebuch zu schreiben, der ist doch nicht ganz bei Trost.«

»Karl!« Lina verdrehte die Augen.

»Ist doch wahr!« Karl stand mitten im Raum, breitbeinig mit in die Seite gestemmten Fäusten. Man konnte sich lebhaft vorstellen, wie gern er jenem Lehrer in diesem Moment den Marsch geblasen hätte. »Komm, Walter, geh ins Bett und mach dir keine Sorgen: Wenn dein Lehrer morgen deinen Eintrag ins Kriegstagebuch vermisst und schimpft, dann schick ihn zu mir, ich sage ihm dann schon, was ihm fehlt.« Er nahm seinen Sohn an der Hand, um ihn wieder zu Bett zu bringen, drehte sich aber in der Tür noch einmal zu Lina und Charlotte um: »Kriegstagebuch! Pff!« Walter gluckste. »Und hör auf, in der Nase zu bohren«, hörten sie Karl den Kleinen draußen zurechtweisen, »sonst kriegst du später einmal keine Frau.«

»Will ja gar keine.«

»Hör trotzdem auf!«

Lina und Charlotte lachten. Charlotte stand auf. »Ich gehe dann auch mal in mein Zimmer. Ich möchte noch einen Brief schreiben, bevor ich mich ins Bett lege.«

Lina nickte. »Nacht, Lotte, schlaf gut!«

Charlotte drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und ging. Im Zimmer ihrer jüngeren Geschwister hörte sie ihren Vater und ihren Bruder leise miteinander scherzen, Ella hatte einen so tiefen Schlaf, die weckte nicht mal ein Gewitter auf.

»Gute Nacht«, flüsterte Charlotte durch den Türspalt.

In ihrem winzigen Zimmerchen setzte sie sich an den kleinen Schreibtisch, holte ein Blatt Papier und ihren Füllfederhalter und schrieb:

Lieber …

Sie stockte. Eigentlich hatte sie gleich zwei Briefe zu schreiben. Einen davon an Aaron Roth, der auf einem Kriegsschiff in der Ostsee stationiert war. Für Aaron hatte sie früher geschwärmt, und kurz vor Kriegsausbruch hatte sich tatsächlich eine Liebelei angebahnt, jedenfalls wäre es vielleicht eine geworden, doch dann kam der Krieg, und Aaron erfüllte seine Vaterlandspflicht, wie er sich ausdrückte. Genau wie sein Cousin Wilhelm. »Jetzt können alle sehen, dass wir dazugehören«, hatte der einmal gesagt. »Wir kämpfen genauso für Deutschland wie alle anderen.« Wir, die deutschen Juden, meinte er.

Charlottes Hand balancierte den Füllfederhalter über dem Papier.

Der zweite Brief war für ihren Freund August in England. Sie schrieben einander, sooft es ging. Manchmal dauerte es eine Weile, bis ein Brief ankam, manchmal ging es auch ganz rasch. Charlotte setzte August über so manches in Kenntnis, das ihm seine Mutter nicht schrieb, weil sie ihm entweder die schlechten Nachrichten verheimlichen wollte oder einfach, weil sie es vergaß. Doch Charlotte erfuhr vieles von ihrem Onkel Walter, und wenn sie der Meinung war, August würde es wissen wollen, dann teilte sie es ihm mit. So auch, dass Holger Hennemann im vergangenen November gefallen war.

Im Nachhinein tut es mir leid, dass ich über Holger immer so schlecht gedacht habe, hatte sie geschrieben, unvorstellbar, dass er tot ist.

Auch August war erschüttert, doch mehr noch über das, was seine Mutter ihm nicht verheimlichen konnte. Meine Großmutter ist gestorben, schrieb er anCharlotte. Die hatte das schon gehört und kannte auch die Umstände. Die alte Frau war zum Schluss hin völlig verwirrt gewesen und krank vor Sorge um ihren Enkel, denn dass der junge Musikant Hans Eisenbrenner die Schönborns besucht und berichtet hatte, dass August mit den anderen Musikanten in England festgehalten worden war, das hatte sie immer wieder vergessen. Sie hatte August an der Front geglaubt, und die Angst um ihn hatte sie umgebracht.

Solche Dinge sowie ihre Gedanken und Gefühle, die darum kreisten, teilten sie miteinander in ihren Briefen.

Darüber hinaus hatte ihm Charlotte auch ein paar Sachen geschickt. Papier, damit er sich nicht immer etwas von den Wachen erbetteln musste. Handschuhe, warme Socken. Davon habe er jetzt genug, weil ihm seine Mutter genau das Gleiche geschickt hatte. Aber wenn ich sie trage, denke ich an euch, hatte er geschrieben. Und kürzlich: Das Buch von Onkel Walter habe ich schon zweimal ganz durchgelesen. Es ist wirklich schön. Und: Hoffentlich wird das neue Lager bald fertig, damit wir aus diesen Zelten rauskommen. Und in jedem einzelnen Brief schrieb er: Hoffentlich ist der Krieg bald vorbei, und ich kann wieder nach Hause.

Wäre August in Mühlbach gewesen und nicht in England, dann hätte Charlotte ihn fragen können, ob Albert Lehnert an der Front war oder nicht. Aber wäre August nicht in England gewesen, dann wäre er selbst an der Front.

Sie seufzte tief auf, senkte die Feder auf das Papier und schrieb:

Lieber August …

4

Isle of Man im Sommer 1915

August lag bäuchlings auf seiner Pritsche und las. Die Plane am Zelteingang war weit zurückgeschlagen, damit genügend Licht hereinkam. Es war der angenehmste Platz zum Lesen, schattig und hell zugleich. Draußen war es warm und trocken, die Sonne schien, doch sie brannte nicht so heiß, wie man es in der Pfalz im Sommer kannte, und der Wind, der die Insel umwehte, sorgte für ein angenehmes Klima. Täglich drehte August seine Runde durchs Lager, seit er zu Beginn des Frühjahrs bei den Latrinen Anton Frede, einen Mann aus Norddeutschland, kennengelernt hatte. »Augen zu und durch!«, hatte der ihn aufgemuntert, als er Augusts angeekeltes Gesicht bemerkt hatte. Und gelacht hatte er dabei. Strohblonde Haare, rote Wangen, strahlend hellblaue Augen und so fröhlich, als wäre das Camp nach wie vor nichts weiter als ein Ferienlager. Anton Frede war etwa Ende zwanzig, sie hatten sich einander vorgestellt und sich während der Sitzung unterhalten. »Man muss aus allem das Beste machen«, war Antons Devise. Vor seiner Gefangenschaft war er mit einer kleinen Zirkustruppe durch England gereist. »Italiener, Spanier, Franzosen – ich und mein Bruder, wir waren die einzigen Deutschen. Und natürlich sind wir als Einzige festgenommen worden.«

»Was haben Sie im Zirkus gemacht?«, erkundigte sich August interessiert.

»Clown«, erwiderte Anton prompt und lachte. »Und dann hatte ich noch eine Akrobatiknummer mit meinem Bruder zusammen. Und du? Wie bist du hergekommen?«

August erzählte seine Geschichte, und Anton war beeindruckt.

»Spielst du ab und zu auf deiner Geige?«

»Nein«, gab August zu. »Früher habe ich manchmal für meinen Kapellmeister gespielt, der war mit mir hier, ist aber kurz vor Weihnachten gestorben.«

»Spiel doch«, sagte Anton. »Tu das, was du liebst. Wird dir schon keiner verbieten.«

August zuckte die Achseln.

»Siehst du, mein Bruder und ich, wir trainieren auch weiter. Wir haben nicht viel Platz hier, aber wir machen es, so gut es geht. Und wir halten uns in Form. Wir laufen jeden Tag durchs ganze Lager. Man muss in Bewegung bleiben, August, in jeder Hinsicht, man muss laufen, man muss denken, man muss das tun, was man gern tut.«

Vor der Latrine hatten sie sich verabschiedet. Das Lager war riesig, Anton musste in die eine Richtung, August in die andere, gut möglich, dass sie einander nie wiedersehen würden.

»Kopf hoch, August!«, hatte ihm Anton Frede noch einmal zugerufen und sich winkend im Laufschritt entfernt.

Tatsächlich war August ihm nie mehr begegnet, und doch hatte der junge Mann einen Eindruck hinterlassen. Seither verließ er das Zelt nicht mehr nur zu den Mahlzeiten, zum Waschen und zum unvermeidlichen Latrinengang, sondern er marschierte täglich durchs Lager. Beim ersten Mal hatte er sich prompt verlaufen und nicht mehr zurückgefunden. Ein zunächst misstrauischer, dann jedoch, als er die echte Not des Jungen erkannte, freundlicher Wachmann hatte ihm schließlich geholfen. August hatte kein Wort verstanden und mit Händen und Füßen sein Problem erklärt und versucht zu beschreiben, wo ungefähr seiner Meinung nach das Zelt sein müsse, doch so genau wusste er das selbst nicht. War er nun der Sonne entgegengelaufen oder von ihr weg? War das große Gebäude am Rande des Camps auf der linken oder auf der rechten Seite gewesen? Dorthin nahm ihn der Wachmann mit und zog in einem Büro verschiedene Unterlagen zurate, eine Gefangenenliste und einen Plan des Lagers, soweit man das ausmachen konnte. Währenddessen tauschte er sich mit zwei Kollegen aus, die sich köstlich über Augusts Missgeschick zu amüsieren schienen. August ärgerte sich erstens über sich selbst, zweitens über die drei Wachleute und drittens darüber, dass er kein Englisch verstand. Oder die kein Deutsch. Aber, dachte er einsichtig, warum sollten die auch Deutsch können, sie waren ja hier in England.

Der Wachmann brachte ihn heil zurück zum Zelt, und beim nächsten Mal merkte sich August den Weg ganz genau. Mittlerweile jedoch kannte er das Lager wie seine Westentasche, sodass ihn Hannes Weber und Wilfried Stumm schon befragt hatten, an welchen Stellen die Stacheldrahtumzäunung weniger scharf bewacht sei und man am ehesten fliehen könne.

»Nirgends«, hatte August geantwortet. »Das ist überall gleich.« Zu gern hätte er noch hinzugefügt: Und außerdem sind wir hier auf einer Insel, wollt ihr vielleicht schwimmen? Doch der Respekt vor seinen älteren und erfahreneren Musikantenkollegen verbot ihm diese Bemerkung.

Wenn August nicht durchs Lager streifte, lag er meist auf seiner Pritsche und las. Er hatte Tom Sawyer schon ganze drei Mal durchgelesen, und gerade hatte er wieder von vorn angefangen. Er liebte das Buch. Es entführte ihn in eine andere Welt, und er musste auch beim vierten Mal noch lachen, wenn sich Huck und Tom darüber austauschten, auf welche Weise man am besten Warzen zu Leibe rücken konnte. Oder wenn Tom Becky mit seiner Malerei beeindruckte. Oder die Kirchenszene. Ein bisschen wie zu Hause kam ihm das vor. Aber endgültig gefesselt war er jedes Mal ab der Stelle mit dem Mord auf dem Friedhof. Als er das Buch im Winter zum ersten Mal gelesen hatte, hatte er die kurzen Tage verflucht. Er wollte doch wissen, ob Tom und Huck den wahren Mörder schlussendlich doch noch verrieten, obwohl sie damit ihren mit Blut unterschriebenen Vertrag brechen würden. Und würde sich der Mörder dann an ihnen rächen? Oder es versuchen? Dann die Sache mit Becky, wie würde das ausgehen? Fragen über Fragen, und die Zeit zum Lesen war zu kurz. Und auf einmal hatte auch noch Franz Hiltensperger angefangen zu reden. Vorher hatte er wochenlang stumm auf seiner Pritsche gelegen und an die Zeltdecke gestiert, dann plötzlich hatte sich seine Zunge gelockert.

»Was liest du denn da?«, hatte er August gefragt, obwohl er den Titel des Buches längst gesehen haben musste.

»Tom Sawyers Abenteuer und Streiche«, gab August trotzdem Auskunft.

»Steht bei uns zu Hause auch im Regal«, brummte Hiltensperger, wiederholte knurrend »zu Hause!« und lachte verbittert auf.

August hielt es für klüger, nicht weiterzufragen, und wandte sich wieder seiner Lektüre zu, doch mit der Zeit fand er heraus, was zu Franz Hiltenspergers Verbitterung geführt hatte.

Dieser hatte im Gegensatz zu seinen Zeltgenossen vor seiner Festnahme schon lange in England gelebt. Er war sogar verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Seit Jahren arbeitete er in einem Restaurant als Kellner, war beliebt und sprach fließend Englisch. »Das war meine Heimat, verstehst du?«, wiederholte er immer wieder, wenn er von früher erzählte. »Meine Heimat!« Manchmal klopfte er sich dabei mit der Faust gegen die Brust. Dann war der Krieg ausgebrochen, und alle sogenannten Feindausländer waren nacheinander festgenommen worden. »Es war denen egal, dass ich eine Familie habe, Freunde und einen Arbeitsplatz und dass ich seit Jahren keinen deutschen Boden mehr betreten hatte. Ganz egal war das.«

August war erschüttert, als er die Geschichte hörte. Er hatte angenommen, nur Leute wie er und die Musikanten oder wie Anton Frede und sein Bruder, die sich dummerweise zufällig gerade in England aufgehalten hatten, wären festgesetzt worden, aber das war ein Irrtum, wie er nun durch Franz Hiltensperger erfuhr. Von da an unterhielt er sich öfter mit dem Mann, hörte ihm zu und versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Ab und zu spielte er auch wieder auf seiner Geige, einmal auch das Lied, das ihm damals seinen ersten Geigenunterricht verschafft hatte: Londonderry Eier, wie Arnolds Jakob den Titel des Liedes ausgesprochen hatte.

»Das war einmal mein Lieblingslied«, sagte Franz gleich bei den ersten Takten. In seine Augen trat ein feuchter Glanz.

»Wirklich?«, fragte August. »Soll ich dann lieber etwas anderes spielen? Oder gar nicht?«

»Nein, spiel es ruhig«, sagte Franz, lehnte sich auf seiner Pritsche zurück und starrte an die Decke.

August fing von vorne an, und auf einmal sang Franz leise mit

Oh, Danny boy, the pipes, the pipes are calling

From glen to glen, and down the mountain side …

August war überrascht, spielte jedoch unbeirrt weiter.

Auf einmal gesellte sich von draußen eine weitere Stimme hinzu, die Stimme eines Wachmanns, der gerade am Zelt vorbeigegangen und stehen geblieben war.

The summer’s gone, and all the roses falling …

Und noch mehr Stimmen schlossen sich an:

It’s you, it’s you must go and I must bide.

Der Gesang glich einem Lauffeuer aus Musik und Tönen und Stimmen.

But come ye back when summer’s in the meadow,

Or when the valley’s hushed and white with snow,

It’s I’ll be there in sunshine or in shadow,

Oh, Danny boy, oh Danny boy, I love you so!

August spielte und spielte, obwohl seine Hand zitterte und Tränen über sein Gesicht liefen, für die er sich schämte – was sollten die Männer von ihm denken? –, doch er konnte nicht anders. Er verstand kein Wort und verstand trotzdem alles.

Als das Lied zu Ende war, ging der Wachmann weiter, und an die Stelle des Gesangs traten wieder die üblichen Lagergeräusche.

»Ich wusste nicht, dass es einen Text zu dem Lied gibt«, sagte August in die Stille hinein.

»Gibt es.«

»Ich wusste nur, dass es Londonderry … ich weiß nicht, wie man das zweite Wort ausspricht.«

»Londonderry Air«, sagte Franz. »Wie das Wort Bär, nur ohne B vorne dran.«

»Kannst du mir Englisch beibringen?«, hatte August daraufhin aus einem plötzlichen Impuls heraus gefragt.

»Nein«, hatte Franz Hiltensperger brüsk erwidert. »Ich spreche kein Englisch mehr. Ich bin fertig mit England.« Damit hatte er sich auf die Seite gerollt und wieder für den Rest des Tages geschwiegen.

Genauso lag er jetzt auch da, mit finsterem Gesicht und einer Haltung, die das Gegenteil der Haltung von Anton Frede war. Zwischen diesen beiden Polen bewegten sich die Menschen im Lager, auch August, wenn auch eher auf der Seite von Anton Frede. Tom Sawyer und die tägliche Bewegung halfen ihm dabei, genauso wie die Post von zu Hause und aus Bremen.

Zu erfahren, dass seine Großmutter gestorben war, war schlimm gewesen, doch er tröstete sich damit, dass sie jetzt vielleicht bei seinem Großvater war. Wenn es so etwas wie einen Himmel gab, dann hatten sie hoffentlich gemeinsam zugehört, wie er Londonderry Air gespielt hatte. Diese kindliche Vorstellung gefiel August und machte ihm Mut.

Charlottes Briefe heiterten ihn auf. Sie schrieb so, wie sie immer geschrieben hatte, erzählte von Alltäglichkeiten und kommentierte sie auf ihre heitere Art, sodass er oft lachen musste. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob sie ihm nicht oberflächlich vorkäme, wenn sie über so unwichtiges Zeug schrieb.

Ich mag, wie du schreibst, hatte er ihr geantwortet, schreib kein bisschen anders, schreib genau darüber, über diese ganz normalen Dinge, erzähl mir, was du tust und was dich beschäftigt. Schreib, wonach dir ist.

August hatte gelernt, Franz Hiltenspergers düstere Stimmung zu ignorieren. Lieber konzentrierte er sich auf sein Buch. Er war gerade wieder an der Stelle mit den Warzen und grinste breit über Hucks und Toms hanebüchenen Aberglauben, da kamen die beiden Österreicher hereingeschneit und verkündeten, der Umzug in ein richtiges Lager stehe kurz bevor, schon in den kommenden Tagen sei es so weit. Zwar gehe es nicht in das Lager, an dessen Bau sie mitgearbeitet hatten, was schade sei, aber in ein anderes richtiges Lager, ein ganz großes näher an der Westküste. Sie sprachen davon, als handelte es sich um den Umzug in ein Schloss. Eine grotesk anmutende Freude strahlte aus ihren Gesichtern.

»Ihr werdet sehen, dort wird alles anders.« – »In einem richtigen Lager ist alles viel größer und sauberer, und es gibt viel mehr Platz«, schwärmten sie abwechselnd. Sie kannten sich aus. Franz Hiltensperger rollte sich murrend auf die andere Seite, August setzte sich auf und freute sich ein bisschen mit, denn ein Umzug bedeutete wieder Bewegung, und Bewegung war gut.

Es dauerte ganze zwei Wochen, bis nach und nach alle Gefangenen Cunninghams Camp verlassen hatten und in das einen halben Tagesmarsch entfernte neue Camp umgezogen waren. Hannes und Wilfried drehten sich während des gesamten Marsches immer wieder in alle Richtungen um und behielten die Wachen im Auge. August, der an der Seite des stumm und phlegmatisch Fuß vor Fuß setzenden Hiltensperger hinter den beiden herlief, vertrieb sich die Zeit damit, mit sich selbst zu wetten, ob und wann die beiden ihren Ausbruchsversuch wagen würden. Es war vielleicht ihre letzte Gelegenheit.

Wie zu erwarten, passierte gar nichts, und nach vielen Stunden erreichte ihre Gruppe aus mehreren Hundert Gefangenen erschöpft und vollzählig ihr Ziel.

»Was habe ich gesagt?«, rief Josef Sichl strahlend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Seht ihr das da unten? Seht ihr?«

Und ob sie es sahen: Knockaloe.

Es lag zu Füßen des kleinen Hügels, auf dem sie standen. Hatten sie geglaubt, Cunninghams Camp sei groß und unübersichtlich gewesen, so wurden sie nun eines Besseren belehrt. Gegen Knockaloe war Cunninghams nichts weiter als ein kleiner Flecken. Dieses Lager hier war so riesig wie eine ganze Stadt. Ganze Blöcke aus unzähligen langen Holzbaracken, ordentlich nebeneinander, dazwischen weiträumige Flächen und weitere Gebäude erstreckten sich über eine schier endlose Ebene. Es war ein Anblick, der jedem Einzelnen unter ihnen die Sprache verschlug.

»Come on!«, trieb sie ein Wachmann an.

Die Männer stapften den Hügel hinab, und je mehr sie sich dem Lager näherten, je gewaltiger es wurde, umso mehr drückte sie ihr Gepäck, das sie über Stunden geschleppt hatten und das ihr gesamtes gegenwärtiges Leben enthielt.