Fritz und Emma - Barbara Leciejewski - E-Book
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Fritz und Emma E-Book

Barbara Leciejewski

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Beschreibung

Die Geschichte einer ungelebten Liebe - herzzerreißend und tröstlich zugleich 1947: Emma ist überglücklich, dass ihr geliebter Fritz doch noch aus dem Krieg in ihr Heimatdorf zurückgekehrt ist. Schon lange sind sie ein Paar, nun fiebert Emma der Heirat entgegen. Doch der Krieg hat einen Schatten auf Fritz' Seele gelegt, gegen den nicht einmal Emma mit all ihrer Liebe ankommt. Und dann, in der Nacht, die eigentlich die glücklichste ihres Lebens sein sollte, geschieht etwas Schreckliches, das alles verändert. 2018: Marie ist mit ihrem Mann neu nach Oberkirchbach gezogen und lernt nach und nach die Einwohner des Dörfchens kennen. Auch den 92-jährigen griesgrämigen Fritz Draudt und die ebenso alte Emma Jung, die am entgegengesetzten Ende des Dorfes lebt. Marie erfährt, dass die beiden seit fast siebzig Jahren nicht miteinander gesprochen haben. Dabei wollten sie einst heiraten. Marie nimmt sich vor, Fritz und Emma wieder miteinander zu versöhnen, bevor es zu spät ist …

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Fritz und Emma

Die Autorin

BARBARA LECIEJEWSKI wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, strebte jedoch zunächst einen „richtigen“ Beruf an und zog fürs Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft nach München. Nach verschiedenen Jobs am Theater und einer Magisterarbeit über Kriminalromane arbeitete Barbara Leciejewski als Synchroncutterin. Die Liebe zum Schreiben ließ sie allerdings nie los, inzwischen hat sie sieben Romane veröffentlicht und ist glücklich in ihrem Traumberuf.

Das Buch

Liebe Leserinnen und Leser, Oberkirchbach gibt es nicht. Aber es gibt Mühlbach, einen kleinen Ort in der Hinterpfalz. Da komme ich ursprünglich her. Als Fritz und Emma mit ihrer großen Liebesgeschichte in meinem Kopf lebendig wurden, wusste ich sofort, wie das Dorf, in dem sich diese Geschichte zuträgt, aussehen muss. So entstand Oberkirchbach mit seinem Pfarrhaus, mit dem uralten Mirabellenbaum, mit Filser und Liesel — und mit Marie. Oberkirchbach ist eine Hommage an alle kleinen Dörfer, die irgendwo unauffällig und unbeachtet zwischen Hügeln liegen, und es ist zugleich eine Liebeserklärung an den Ort meiner Kindheit. Ich wünsche Ihnen schöne Lesestunden mit Fritz und Emma, Marie und Jakob und allen Oberkirchbachern! Ihre Barbara Leciejewski

Barbara Leciejewski

Fritz und Emma

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2509-5

Originalausgabe im Ullstein Paperback © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagabbildung: Trevillion Images / Mary Wethey; © buerosuedAutorenfoto: GonzálesE-Book Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1947

Ende April 2019

1947

30. April 2019

1947

Anfang Mai 2019

1948

Anfang Mai 2019

1949

Mitte Mai 2019

1949

Ende Mai 2019

1949

Ende Mai 2019

1953

Ende Mai 2019

1957

Ende Mai 2019

1965

Ende Mai 2019

1972

Anfang Juni 2019

1982

Mitte Juni 2019

1988

Mitte Juni 2019

1998

Ende Juni 2019

2003

Ende Juni 2019

2009

Anfang Juli 2019

8. Januar 2019

Ende Juli 2019

April bis Juli 2019

August 2019

Anfang September 2019

1945–1947

7. September 2019

7. September 2019

8. September 2019

8. Januar 2020

Danksagung

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1947

Widmung

Für meine Familie, in Liebe

Ende April 2019

Es waren genau acht Leute in der Kirche. Zwei davon Presbyter in der ersten Reihe links, zwei Konfirmanden in der zweiten Reihe rechts. Drei alte Frauen, die auf verschiedene Reihen verteilt auf den alten Holzbänken saßen. Und Marie.

Marie saß ganz hinten. Jakob würde sie später fragen, ob man ihn auch bis in die hinterste Reihe verstanden hatte, obwohl das gar nicht nötig war. Die alten Frauen verstanden ihn auch so nicht, weil sie schlecht hörten, und ein Hörgerät betrachteten sie als unnützes Zeug. Die anderen saßen vorn. Jakob würde trotzdem fragen. Es war ihm wichtig. Laut und inbrünstig trug er seine Predigt vor. Marie kannte sie schon. Er hatte zu Hause geübt. »Ist das gut so?«, fragte er immer und wollte wissen, ob er auch alles richtig betonte. »Du machst das großartig«, sagte sie jedes Mal, und es war die Wahrheit. Er predigte für die acht Menschen in der Kirche, als wären es zweihundert, die ihm zuhörten, als wäre die Kirche proppenvoll und er müsste mit seiner Stimme und seinem Glauben bis in den letzten Winkel dringen.

Marie selbst war nicht gläubig, oder sie wusste es nicht so genau. Sie wäre es gern gewesen, für Jakob, aber sie war sich nicht sicher, ob sie an einen Gott glauben konnte, der so viel Schlimmes zuließ, so viel Böses.

»Das machen die Menschen, nicht Gott«, verteidigte Jakob ihn dann.

»Und warum tut er nichts dagegen?«, erwiderte Marie immer wieder. Inzwischen hatten sie diese Diskussionen schon lange aufgegeben. Sie ließ ihm seinen Glauben, er ließ ihr ihre Zweifel und war glücklich, wenn sie trotz allem in der letzten Reihe der Kirche saß und ihm im Anschluss sagte, dass man ihn gut gehört und dass er wundervoll gepredigt habe.

»Amen!«, sagte Jakob, lächelte und stieg von der Kanzel, während Frau Wehmeier die Orgel spielte. Lied 316. Jakob und die zwei Presbyter sangen, die beiden Konfirmanden vergruben ihre Nasen im Gesangbuch und taten so, als sängen sie mit, was blanker Unsinn war, denn bei so wenigen Leuten war jede einzelne Stimme zu hören. Von den drei Frauen blätterten zwei auf der Suche nach der richtigen Seite, die dritte sang auswendig und laut. Marie sang nicht. Sie hörte lieber zu und amüsierte sich still darüber, wie Frau Wehmeier über die Noten galoppierte und sämtliche Pausen gnadenlos überspielte. Spätestens ab der zweiten Strophe war sie dem singenden Teil der achtköpfigen Gemeinde uneinholbar davongeeilt, und wenn sie den letzten Ton anschlug, den sie besonders laut spielte und lange hielt, dann tröpfelte der Gesang nach und nach hinterher.

Jakob sang genauso schön, wie er predigte, mit einer warmen, klaren Baritonstimme. Marie wusste, dass ihm eine tiefe, männliche Reibeisenstimme wie die von Tom Waits lieber gewesen wäre, aber man konnte nicht alles haben.

Nach dem Lied schaltete Marie regelmäßig ab. Es kam nicht mehr viel. Ein paar Ankündigungen, eine Fürbitte, falls jemand gestorben war, und der Segen. Dann stellte sich Jakob an den Ausgang und verabschiedete die Gottesdienstbesucher. Einer der Presbyter stand mit stoischer Miene und einem kleinen Körbchen für die Kollekte daneben. Der zweite versah währenddessen die Aufgaben eines Kirchendieners und kümmerte sich um das Glockengeläut.

Marie ging als Letzte durch die Tür, warf ein paar Münzen in den Korb und gab ihrem Mann die Hand, als wäre sie eine Unbekannte. Manchmal drohte sie damit, ihn zu küssen. Das gehörte sich sicher nicht, aber eines Tages würde sie es trotzdem tun. Was konnte Gott schon dagegen haben, wenn eine Frau so in ihren Mann verliebt war, dass sie ihn küssen wollte, selbst wenn er dabei noch den Talar trug? Falls es diesen Gott gab. Und falls nicht, war es sowieso egal.

Nur den Presbytern war es vielleicht nicht egal oder den alten Damen, die achteten auf so was. Jedenfalls behauptete das Jakob. Ganz sicher war er da auch nicht. So lange waren sie noch nicht in der Gemeinde, erst drei Wochen, und wussten nicht, wie konservativ oder wie locker die Leute hier auf dem Land waren.

»Sehr schöne Predigt, Herr Pfarrer!«, sagte Marie und reichte Jakob die Hand. Sie liebte es, wenn er dann verlegen wurde, mit zusammengepressten Lippen ein breites Lächeln zurückhielt und ihre Hand heimlich ein wenig drückte. »Danke!«, sagte er.

Sie trat hinaus in die Sonne und stieg die fünf Stufen des Kirchenportals hinab in den gepflasterten Kirchhof.

»Herr Pfarrer!«, hörte sie, wie der Presbyter mit dem Kollektenkorb Jakob ansprach. »Haben Sie noch einen Moment?«

Marie seufzte, lehnte sich gegen die dicke Kirchenmauer und ließ ihr Gesicht von der Frühlingssonne wärmen. Einen Moment, das bedeutete ihrer Erfahrung nach oft eine halbe Stunde. Die Landbevölkerung hatte ein anderes Zeitgefühl als die Leute in der Stadt, das hatte sie schon früh festgestellt. Manchmal hatte das sein Gutes, manchmal eben auch nicht.

»Auf Wiedersehen, Frau Pfarrer!«, rief eine der Frauen, die, die alle Lieder auswendig singen konnte.

»Auf Wiedersehen«, antwortete Marie freundlich. Sie kannte den Namen der Frau noch nicht und schämte sich, denn sie sollte doch zumindest die Leute kennen, die so nett waren, für Jakobs Sonntagspredigt früh aufzustehen. Zudem hatten sie die Qual der Wahl zwischen dem weiten Weg zur Kirche am Wald entlang und dem näheren, aber beschwerlichen Weg den Berg hinauf über die Treppen mit ihren zahllosen unregelmäßigen Stufen. Gleichgültig wofür man sich entschied, der sonntägliche Kirchgang war unweigerlich mit einem strammen Fitnessprogramm verbunden.

»Haben Sie sich schon eingewöhnt bei uns?«, fragte die alte Frau. Auch das war typisch, wie Marie schon bemerkt hatte: Man sagte »Auf Wiedersehen« und schob dann noch eine Frage hinterher. Oder eine Anmerkung, einen Scherz, einen Seufzer.

»Ach, na ja … schon irgendwie«, wich Marie aus. Was sollte sie auch antworten? Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie sagen müssen: Ich fremdele an jedem neuen Morgen, an dem ich hier wach werde. Ich bereue es an jedem Abend, hierher gezogen zu sein, weil in diesem leblosen kleinen Dorf nichts, absolut nichts los ist und weil ich die Stille und die verlassenen Straßen kaum ertragen kann. Wenn mein Mann nicht wäre, wäre ich noch heute Mittag auf und davon. Sollte sie das etwa sagen? Nein, das tat man nicht als Frau des neuen Pfarrers, genauso wenig, wie ihn nach dem Gottesdienst zu küssen.

Die alte Frau schmunzelte wissend, als hätte sie jede einzelne dieser lediglich gedachten Antworten gehört. Dann wankte sie die Stufen der Kirchentreppe hinab. Ihre Hand suchte an dem halb verrosteten Geländer mit der abgeblätterten grünen Farbe Halt. Stellenweise war das Geländer sogar unterbrochen, sodass man ein paar Schritte freihändig zurücklegen musste. Dass noch keiner der alten Leute gestürzt war, grenzte an ein kleines Wunder, aber es war kein Geld da, um das Geländer zu erneuern oder wenigstens die Stufen der Treppe zu befestigen. Geld war für gar nichts da, das hatte man dem Pfarrer gleich am ersten Abend erklärt. Die Orgel war die letzte größere Anschaffung der Kirchengemeinde gewesen, und das war nun auch schon siebzehn Jahre her.

»Daran haben wir uns verhoben«, so hatte sich der Vorsitzende des Presbyteriums ausgedrückt. Verhoben. Dabei hatte er ganz gebeugt am großen Tisch im Pfarrhaus gesessen und den Eindruck gemacht, als wäre er selbst derjenige, der sich verhoben hatte.

Marie schaute der alten Frau hinterher, hielt die Luft an, als diese an die erste Stelle ohne Geländer kam, und atmete auf, als ihre Hand wieder sicheren Griff fand. Möglicherweise war ja die Schutzengelrate rund um die Kirche besonders hoch.

Marie hob den Blick und ließ ihn über das Tal gleiten. Das war der Vorteil an der Lage der Kirche: Von der Anhöhe hatte man die schönste Aussicht weit über das ganze Dorf hinweg, fast von einem Ende bis zum anderen. Malerisch lag es zwischen der niedrigen Hügelkette auf der einen Seite und dem sanft ansteigenden, reich bewaldeten Berghang auf der anderen. Mitten in einem Meer aus satt leuchtendem Grün. Die Häuser sahen aus, wie in dieses Meer hineingepurzelt, dahin und dorthin, die älteren mehr in die Mitte, die neueren weiter außen, Einfamilienhäuser unter roten Ziegeldächern. Der kleine Bach am Rande des Dorfes schuf die natürliche Grenze. Ihm verdankte der Ort seinen Namen: Oberkirchbach.

Es war wunderschön, und doch konnte Marie die Aussicht nicht genießen, sie konnte nicht denken: Wie schön! Sie dachte nur: Wie klein! Wie entsetzlich klein und trist.

Sonntag für Sonntag stand sie da oben und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie herrlich diese Gegend war mit ihren Hügeln, Feldern und Wäldern. Wie ursprünglich die Natur war, wie gesund die Luft, wie erholsam die Ruhe. Doch an jedem neuen Sonntag lag eine Woche hinter ihr, die ihr wie ein Loch vorkam, das ihre Lebenszeit verschluckt hatte.

Sie hatte sich das nicht richtig vorgestellt, wie es sein würde als Pfarrersfrau in einem kleinen Dorf, als »Frau Pfarrer«. Genau genommen hatte sie sich gar nichts vorgestellt. Sie war in einer Kleinstadt geboren und aufgewachsen, war zum Studium in eine größere Stadt gezogen und schließlich in die Großstadt. Vom Leben auf dem Land hatte sie nicht die leiseste Ahnung gehabt. Sie kannte die hübschen kleinen Dörfer in Bayern, in denen man gern auch mal als Tourist abstieg, um die schöne Landschaft und die Natur zu genießen, oder in die man sich ganz zurückzog, wenn man das Leben in der Großstadt satthatte. Raus aus der Hektik und der Anonymität, wo alte Leute einsam und unbemerkt in ihren Wohnungen starben und erst der unangenehme Geruch im Treppenhaus die Nachbarn auf den Plan rief. Auf dem Land war man noch füreinander da plus Natur plus gute Luft plus Ruhe. So viel zu den Klischees, denen auch Marie aufgesessen war.

Ob Jakob sich auch eine Gemeinde in einer eher strukturschwachen Gegend vorstellen könne, hatte man ihn gefragt, und er stamme ja ursprünglich aus dem Westrich, das würde sich doch anbieten. Jakob hatte zwar lediglich die ersten beiden Jahre seiner Kindheit dort verbracht und keinerlei Erinnerungen mehr daran, doch er hatte sich sofort dazu bereit erklärt. Seine erste eigene Gemeinde! Er wäre überallhin gegangen. Und Marie wäre ihm überallhin gefolgt. Jetzt saßen sie hier. Im Niemandsland.

Im Hintergrund hörte sie die Stimmen der beiden Presbyter und Jakobs gelegentliche zustimmende Laute. Marie achtete nicht darauf, worum es diesmal ging. Vielleicht darum, ob der Gesangverein wieder einmal im Gottesdienst singen sollte, dann kämen auch ein paar mehr Leute, die Angehörigen der Sänger nämlich und die Sänger selbst natürlich. Oder ob zusätzlich zum Seniorennachmittag zweimal im Monat auch ein Kindergottesdienst im Pfarrheim abgehalten werden könne.

Das Pfarrheim war nichts anderes als das Pfarrhaus, in dem Marie und Jakob lebten. Es lag im Ortskern an der Hauptstraße, ein altes Sandsteingebäude mit einem dieser schön gestalteten Giebel, wie man sie vereinzelt im Dorf entdecken konnte. Sie legten Zeugnis ab von einer längst vergangenen Zeit, als dieser Landstrich auf der ganzen Welt als das Musikantenland berühmt war. Musikanten hatten in diesen Häusern gelebt und waren von hier aus zu ihren Reisen aufgebrochen. Bis nach Amerika, bis nach Australien, überallhin. Das alles hatte man dem neuen Pfarrerehepaar stolz und ausführlich erklärt. Sie hatten beeindruckt genickt, doch letztlich war für Marie die Innenausstattung des Hauses wichtiger gewesen als seine Geschichte.

Im Erdgeschoss befand sich ein schönes großes Zimmer, das jedoch als eine Art Gemeindesaal gedacht und für Veranstaltungen der Kirche vorgesehen war, nicht etwa für das Privatvergnügen des Pfarrers. Entsprechend ungemütlich war die Einrichtung: ein großer ausziehbarer runder Tisch mit vielen Stühlen drum herum, eine dreiteilige Polstersitzgruppe von anno dazumal und eine monströse Eichenkommode, auf der ein Radio mit CD-Spieler stand. Was hätte man aus dem schönen großen Raum alles machen können, dachte Marie manchmal, aber ein Pfarrhaus war nun mal kein Privathaus, sondern eine Dienstwohnung und ein Ort, an dem der Pfarrer für die Gemeinde erreichbar sein sollte – und das, wie sich bereits gezeigt hatte, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Pfarrer, so hatte es der gebeugte Presbyteriumsvorsitzende formuliert, war man vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Pfarrer sein, das war kein Beruf, das war ein Leben.

Marie hätte dem Mann am liebsten ein paar Takte lang den Marsch geblasen, aber das konnte sie natürlich nicht tun. Das ging nicht. Jakob war selig, diese Gemeinde zugeteilt bekommen zu haben, auf der Kanzel zu stehen und seine sorgfältig ausgearbeiteten Predigten halten zu dürfen. Er war selig, wenn sich Leute mit Fragen und Sorgen an ihn wandten, mit banalen, mit existenziellen, ganz egal. Jakob war selig, und wenn es Jakob gut ging, dann ging es auch Marie gut. Zumindest konnte sie sich das einreden, und eigentlich stimmte es auch: Wenn sie Jakob lachen und strahlen sah, dann lachte sie mit, und alles andere wurde unwichtig.

»Bis Dienstag dann«, sagte der Vorsitzende, der Eberhard Wiesner hieß und dessen Großonkel früher einmal Pfarrer in Oberkirchbach gewesen war, wie er Jakob gleich erzählt hatte.

»Ja, bis Dienstag«, erwiderte Jakob und rief Marie zu: »Ich ziehe mich rasch um.«

Er flitzte im Talar durch den Kirchenraum zu der winzigen Sakristei, die eigentlich nicht mehr war als ein muffig riechender begehbarer Schrank. Nach einer Minute kam er wieder zurück, sperrte die Kirche ab und gab Marie einen Kuss auf die Stirn. Und dann noch einen auf den Mund.

»Wie war’s?«, fragte er sie flüsternd, obwohl schon alle weg waren.

»Wunderbar!«, sagte sie.

»Hat man mich gut gehört?«

»Natürlich! Sehr gut! Es sollten dich nur mehr Leute hören.«

»An Ostern waren es ziemlich viele.«

An Ostern hatte die Übergabe der Pfarrei stattgefunden, Jakobs Vorgänger hatte den Gottesdienst am Karfreitag geleitet und Jakob den am Ostersonntag. Der frühere Pfarrer, ebenfalls noch ein junger Mann, hatte ebenso erschöpft wie erleichtert ausgesehen, das war Marie schon damals aufgefallen, doch Jakobs Glück bei seiner ersten Predigt hatte alles überstrahlt.

»Ja, an Ostern!«

»Vielleicht kommen mehr, wenn die Ferien vorbei sind«, überlegte Jakob.

Marie hatte da ihre Zweifel. Als ob alle Leute, die jetzt gerade im Urlaub waren, fleißige Kirchgänger wären. Die gingen allenfalls an Heiligabend zur Kirche, um in die richtige Weihnachtsstimmung zu kommen. Vielleicht noch an Ostern oder wenn Konfirmation war, aber nicht an einem gewöhnlichen Sonntag. Doch Jakob war optimistisch. Er erwartete immer das Beste von allen Menschen, während es bei Marie genau umgekehrt war, sie erwartete immer erst mal das Schlechteste. Allerdings musste sie zugeben, dass sie selbst auch keine Kirche betreten hätte, wenn Jakob nicht gewesen wäre.

»Ich liebe dich«, sagte sie. Die Worte wollten einfach aus ihr heraus. Sie musste sie aussprechen, jeden Tag, genauso wie sie ihn ständig berühren musste. Daran hatte sich nichts geändert, seit sie ihn das allererste Mal gesehen hatte. Sechs Jahre war das her, da hatten sie einander kennengelernt, und ein Jahr später hatten sie geheiratet. Die erste Verliebtheit lag also schon eine Weile hinter ihnen, aber es hörte nicht auf, so wie alle gesagt hatten.

»Erst ist man verliebt, und dann nach und nach wird daraus echte, tiefe Liebe, und wenn man Glück hat, dann bleibt die.« Das hatte Maries zehn Jahre ältere Schwester Anna früher immer erzählt. Sie hatte den beiden Jüngeren, Marie und Sarah, alles Wissenswerte über das Leben und die Liebe beigebracht, und Marie brannte darauf, das alles selbst erfahren zu dürfen.

Das erste Mal verliebte sich Marie mit fünfzehn, aber nach einem unerfreulichen ersten Kuss war es auch schon wieder vorbei. Mit siebzehn verbrachte sie ein ganzes Jahr mit Liebeskummer, der so schlimm war, dass sie glaubte, daran sterben zu müssen. Mit zwanzig verliebte sie sich endlich in einen, der sich auch in sie verliebte. Und der recht gut küssen konnte. Sie verbrachten einen Sommer miteinander, er war ihr erster Mann, und es war ganz okay, aber über dieses »ganz okay« kamen sie nie hinaus. Als der Sommer vorbei war, war auch die Verliebtheit vorbei, und statt der tiefen Liebe stellte sich gar nichts ein. Mit Nummer vier war es in etwa so, wie Anna immer gesagt hatte, zumindest redete sich Marie das ein. Die Liebe war immerhin so tief, dass sie mit ihrem Freund sogar in eine andere Stadt zog: nach München. Dort verliebte sie sich schon bald in Nummer fünf. Und sie verliebte sich in die Stadt, die ganz nach ihrem Geschmack war, schön und sauber und gemütlich und groß und mit vielen Menschen, die einen alle nicht kannten und die nichts von einem erwarteten. Nach Nummer fünf kamen Nummer sechs, sieben, acht und neun. Marie verliebte sich, fand eine Zeit lang die Liebe, eher bodennah als tief, und verlor sie dann wieder.

Dann kam Jakob. Mit ihm lernte sie die wahre Liebe kennen. Und sie erkannte, dass Anna Quatsch erzählt hatte, denn die Verliebtheit hörte niemals auf. Marie war noch immer verliebt in Jakob, genauso wie am allerersten Tag, und Jakob ging es ganz genauso.

»Ich liebe dich auch«, sagte Jakob.

Hand in Hand und angemessen vorsichtig stiegen sie die Stufen der Kirchentreppe hinab.

»Was ist denn am Dienstag?«, wollte Marie wissen.

»Das Treffen wegen der 750-Jahr-Feier.«

»750-Jahr-Feier?«

»Der Dorfgeburtstag sozusagen. Am Dienstag kommen die Leute vorbei, die das Ganze organisieren.«

»Und was hast du damit zu tun?«

»Ich bin der Pfarrer.«

»Und?«

Jakob lächelte. »Ich bin der Pfarrer«, wiederholte er. Es lag ein wenig Stolz in diesen Worten, ein wenig Glück, ein wenig Dankbarkeit. Und selbstverständlich war es Erklärung genug. Marie fragte nur nach, weil sie immer befürchtete, dass sich Jakob in seiner grenzenlosen Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft ausnutzen ließ. Aber natürlich, im Dorf war der Pfarrer eine Instanz, und so ein Großereignis – das einzige Ereignis überhaupt, so wie Marie das sah – wurde nicht ohne ihn geplant. Womöglich hatte man ihm auch eine spezielle Aufgabe zugedacht. Das würde er dann am Dienstag erfahren.

Als sie am Fuß der Treppe ankamen und sich auf der Hauptstraße nach links Richtung Pfarrhaus wandten, kam ihnen ein alter Mann entgegen. Er ging gebeugt und benutzte einen Gehstock, und doch waren seine Schritte kraftvoll und entschlossen. Er blickte stur etwa zwei Meter vor sich auf den Boden, seine Kiefer waren so fest aufeinandergepresst, dass allein der Anblick wehtat. Marie war überzeugt, dass dieser alte Mann nicht grüßen würde, und ebenso wusste sie, dass Jakob sich durch die feindselige Erscheinung des Mannes nicht von einem freundlichen Gruß würde abhalten lassen.

»Guten Morgen!«, rief Jakob so offen und liebenswert, dass Marie ihn allein schon dafür umarmen wollte. Wie erwartet sagte der Mann kein Wort, er tat so, als wären der Pfarrer und seine Frau Luft. Stinkstiefel!, dachte Marie, aber sie schämte sich sofort dafür. Vielleicht hatte er sie wirklich nicht bemerkt. Viele alte Menschen lebten in ihrer eigenen Welt und nahmen nicht mehr viel von dem wahr, was um sie herum vorging. Oder vielleicht war er viel allein und wusste nicht mehr, wie man sich benahm. Konnte ja alles sein.

»Hm!«, machte Jakob leise, als sie vorbei waren. Marie ahnte, was in ihm vorging. Sie wollte ihn festhalten, doch da ließ er ihre Hand auch schon los.

»Bin gleich wieder da!«, sagte er zu ihr und lief dem alten Mann hinterher.

»Entschuldigen Sie!«, rief er, als er ihn erreicht hatte. »Ich war eben sehr unhöflich, ich hätte mich vorstellen sollen, wir kennen uns ja noch gar nicht. Ich bin der neue Pfarrer der Gemeinde, Jakob Eichendorf.« Er hielt dem alten Mann die Hand hin. Dieser war zwar stehen geblieben und hatte sogar den Blick gehoben, machte jedoch keinerlei Anstalten, Jakobs Hand zu ergreifen. Verschmäht hing sie mitten in der Luft, aber Jakob zog sie nicht zurück. Er wartete. Maries Herz klopfte wütend, während sie zusah. Jakob würde nicht weichen, eher würde er die vollkommene Demütigung hinnehmen, wenn der alte Mann einfach weiterging. Sie traute es ihm zu. Wie er da stand und Jakob anstarrte, als wollte er ihm jeden Augenblick ins Gesicht springen oder seinen Stock gegen ihn erheben. Aber wenn sie Jakob nachher fragen würde: Warum machst du das bloß? Dann würde er wieder antworten: Ich bin der Pfarrer.

Auf einmal, nach einer gefühlten Ewigkeit, wechselte der Mann seinen Stock von der Rechten in die Linke und ergriff Jakobs Hand. Er schüttelte sie, ohne seine Miene zu verändern, und sagte: »Gut. Freut mich!«

»Mich freut es auch«, sagte Jakob herzlich. Obwohl der alte Mann sich nicht vorgestellt hatte und er nicht wissen konnte, wo der Mann wohnte, fügte er hinzu. »Bei Gelegenheit komme ich mal bei Ihnen vorbei, wenn es Ihnen recht ist.«

Der Mann nahm seinen Stock wieder in die andere Hand, nickte, brummte etwas und ging weiter.

»Auf Wiedersehen«, rief Jakob ihm hinterher.

»Du bist ein Held«, sagte Marie, als Jakob wieder bei ihr war. Sie legte ihren Arm um seine Taille und ihren Kopf an seine Schulter. Vielleicht war auch das schon zu viel für die Leute im Dorf, vielleicht sah man es nicht gern und schüttelte hinter den Gardinen die Köpfe. Na wennschon!

1947

Das Haus war weg, aber Emma war da. Oder: Emma war da, aber das Haus war weg. Die beiden Gedanken rangen in seinem Kopf. Emma! Das Haus!

Das Haus. Natürlich ging es nicht um das Gebäude, nicht um die Mauern und Steine, nicht um das Loch, das nun an der Stelle war. Es ging um sein Zuhause, die Menschen, die darin gelebt hatten. Und es ging um die Frage, wo diese Menschen waren.

»Ich bin wieder da«, wiederholte er monoton, bis sie sich endlich umdrehte, ihm tränenüberströmt entgegenstürmte und die Arme um seinen Hals warf. Emma.

»Fritz!«, schluchzte sie. Er spürte die Nässe ihrer Tränen an seinem Hals.

»Emma!«, flüsterte er ihren Namen, während er auf das Loch in der Gegend starrte.

»Ich hab gewusst, dass du noch lebst. Ich hab es gewusst, ich hab es gewusst«, murmelte Emma immer wieder.

Dass du noch lebst …

Lebte er noch?

Sein Blick fiel auf einen einsamen kleinen Baum am Rande des Grundstücks, den Mirabellenbaum, den sein Vater vor wenigen Jahren gepflanzt hatte, weil er später einmal Schnaps aus den Früchten machen wollte.

»Ach du liebe Zeit, das ist ja der Fritz!«, gellte eine helle Stimme von der anderen Straßenseite her. Hennemanns Ida, unverkennbar. Ihre Stimme schallte durchs ganze Dorf. »Ja, Fritz, bist du wieder daheim?«, schrie sie in schrillem Tonfall. »Helmut, guck mal, der Fritz. Das ist der Fritz!«

Fritz zuckte zusammen. Emma richtete sich auf. Mit erhobener Hand und ohne ein einziges Wort gab sie den beiden Passanten aus dem Dorf zu verstehen, dass sie sich gefälligst zurückhalten sollten.

»Ja, ja, schon recht«, hörte er Ida weniger laut rufen, dafür eifrig und sogar ein bisschen eingeschüchtert. Emma konnte das. Ein Blick, eine Geste genügte, und die Leute wussten, was zu tun war. Emma wurde respektiert. Schon als Mädchen in der Schule hatte man sie respektiert, kein Junge hatte gewagt, frech zu ihr zu werden. Nur Fritz durfte sich die eine oder andere Neckerei erlauben. Bei ihm hatte sie immer gewusst, wie es gemeint war, weil sie gewusst hatte, dass er sie liebte. Immer schon. Seit sie Kinder waren. Daran hatte es nie einen Zweifel gegeben. Sie waren am selben Tag auf die Welt gekommen, am 8. Januar 1927. Noch viele Jahre später erzählte die Hebamme händeringend, wie sie an jenem kalten Samstag unaufhörlich von einem Ende des Dorfes ans andere gehastet war, weil Hillese Irma und Draudte Elsa gleichzeitig in den Wehen lagen. Zwei Freundinnen, die zur selben Zeit geheiratet hatten, zur selben Zeit schwanger geworden waren und nun auch noch am selben Tag ihre Kinder zur Welt brachten. Zwischen den Wehen versicherten die beiden jungen Frauen ihren Müttern und der Hebamme immer wieder, dass es ganz bestimmt keine Absicht gewesen sei. Wer hätte das denn ahnen können? Die Männer standen entlang der Straße und sahen die Hebamme rennen, rauf ins Oberdorf und dann zurück ins Unterdorf. Bis Querfelders Rudi sein Fahrrad hervorholte, die Geburtshelferin hinten auf den Gepäckträger nahm und mit ihr rauf- und runterfuhr. Das letzte Mal, nachdem Fritz seinen ersten Schrei getan hatte und Elsa, seine Mutter, erschöpft eine Faust in die Luft gereckt und unter Tränen, aber gleichzeitig lachend gerufen hatte: »Gewonnen!«

Dabei konnte man das gar nicht sagen, denn als die Hebamme danach im Oberdorf eintraf, war die kleine Emma schon da und musste nur noch abgenabelt werden. »Sie wollte nicht warten«, strahlte Irma, ihre Mutter, stolz und glücklich. »Da hat sie es allein gemacht.«

»Na, um die müssen wir uns dann mal keine Sorgen machen«, meinte die Hebamme. »Die boxt sich durch.«

Es war ein glücklicher Tag. Querfelders Rudi wurde zum Helden erklärt, und weil die Familien Hilles und Draudt im Dorf bekannt waren und viele Verwandte und Freunde hatten, feierte der ganze Ort die Ankunft von Fritz und Emma. Und diese Geschichte kursierte noch immer.

Natürlich wuchsen die beiden zusammen auf, ihre Mütter waren ja eng befreundet. Als Kleinkinder spielten sie miteinander, später machten sie miteinander Hausaufgaben und stellten in der übrigen Zeit eine Menge Unfug an. Fast immer waren sie der Mittelpunkt einer großen Kinderschar, denn wo Emma und Fritz waren, war immer etwas los. Sie streiften zusammen durch den Wald, und es kam vor, dass sie sich dabei verirrten wie Hänsel und Gretel und ihre Eltern und einige hilfreiche Nachbarn aus dem Dorf sie suchen mussten. Als es wenige Wochen später noch mal passierte, bekam Fritz zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben von seinem Vater den Hosenboden versohlt, aber nur ein bisschen. »Hat nicht wehgetan«, flüsterte er hinterher Emma zu, die ihrerseits eine Woche Hausarrest erhielt, der schon zwei Tage später in Vergessenheit geriet.

Ein andermal fuhren Fritz und Emma mit einem selbst gebauten Boot den Kirchbach entlang. Natürlich kenterten sie nach wenigen Metern, weil das Boot nicht dicht war. Sie fielen ins Wasser, erklommen klatschnass das Ufer und verkrochen sich im Heuschober von Bauer Filser, um dort zu trocknen und es so vor den Eltern verheimlichen zu können. Doch Filser erwischte die beiden Kinder, und so erfuhren es die Eltern trotzdem. Selbst als Fritz aufs Gymnasium ging und Emma auf die Volksschule, trennten sich ihre Wege nicht. Nur kletterten sie irgendwann nicht mehr auf Bäume, sondern besuchten Tanzveranstaltungen oder die Lichtspiele in Umwegen, dem etwas größeren Nachbarort. Ein Tag ohne einander – undenkbar.

Bis zu diesem einen Tag, ihrem gemeinsamen achtzehnten Geburtstag. Längst waren sie ein Paar und wollten heiraten, sobald sie auf eigenen Füßen stehen konnten.

»Der Krieg ist bald vorbei«, hatte Fritz Emma zugeflüstert.

»Woher willst du das denn wissen?«, hatte Emma zurückgeflüstert.

»Ich weiß es. Jeder weiß es. Schau dir nur an, wie viel Zeit wir im Keller verbringen, wenn die Bomber kommen. Das wird immer mehr. Und bald ist der Hitler weg vom Fenster. Zum Glück!«

Schnell hatte sie ihm die Hand auf den Mund gelegt, obwohl sie ganz allein waren, so viel Angst hatte sie gehabt, einer könnte seine Worte hören und ihn denunzieren.

Aber bevor eintrat, was Fritz prophezeit hatte, musste er selbst noch in den Krieg. Am liebsten wäre er desertiert, aber dann hätte es womöglich seine Familie ausbaden müssen, und es würde ja nicht mehr lange dauern, hatte er sich gesagt. Er hatte recht behalten, doch was er in diesen letzten Kriegsmonaten und danach in der Gefangenschaft erlebt hatte, hatte gereicht, seine Welt zum Einsturz zu bringen. So wie das Haus, das jetzt nicht mehr da war.

»Was ist passiert?«, kam es tonlos aus seinem Mund.

Emma hob den Kopf. Er wusste, was sie sah: seine eingefallenen Wangen, seine verkniffenen Mundwinkel, die von all seinen unterdrückten Schreien herrührten, seine toten Augen, so tot wie das, was sie in den letzten Jahren gesehen hatten.

»Ein Volltreffer«, sagte Emma. Das Wort, umhüllt von ihrer weichen Stimme, klang weniger schrecklich als aus jedem anderen Mund. Trotzdem: ein Volltreffer.

»Der Bahnhof in Umwegen war offenbar das Ziel«, meinte sie.

Der Bahnhof, der höchstens ein paar Hundert Meter entfernt lag.

»Sind sie tot?«, fragte er. Tot, Tod – Worte, die für ihn inzwischen so normal waren wie Haferbrei oder Apfelkuchen. Tot waren so viele.

»Ja«, sagte Emma. »Alle.«

Alle. Bilder drängten sich in seinen Kopf. Bilder vom Abschied. Wie seine Mutter liebevoll ihre Hand an seine Wange legte, ihm in die Augen sah und ihm sagte, er solle gefälligst auf sich aufpassen. Wie sein Vater ihm stumm und mit zusammengepressten Lippen die Hand schüttelte, selbstbeherrscht und viel zu weich für diese Welt. Wie seine Großmutter aus dem Fenster winkte. Und sein kleiner Bruder … Alfred …

Fritz sank auf die Erde. Und wieder unterdrückte er einen Schrei. Mit aller Macht, denn wenn er ihm erlaubt hätte, aus ihm herauszubrechen, hätte es ihn in Stücke gerissen.

Emma kniete neben ihm und umfing ihn mit ihren Armen, ihrem Körper, ihrem ganzen Sein. Emma war noch da.

30. April 2019

Am Dienstagabend fanden sich sechs Einwohner aus Oberkirchbach im Pfarrhaus ein: der Ortsbürgermeister Lothar Filser, der Vorsitzende des Presbyteriums Eberhard Wiesner, der Vorstandsvorsitzende des Gesangvereins August Mewes, der Vorstandsvorsitzende des Sportvereins Dieter Spengler, die erste Vorsitzende der Landfrauen Liesel Hilles und der sogenannte Chronist Alois Lämmer. Man konnte den Eindruck gewinnen, der kleine Ort bestände aus lauter Vorsitzenden. Und dem Chronisten, einem scheu wirkenden Mann, der es sich seit etlichen Jahren zum Hobby gemacht hatte, alles aus der Geschichte des Dorfes zusammenzutragen. Aus diesem Material sollte anlässlich der 750-Jahr-Feier ein Buch entstehen, eine Dorfchronik.

Bis auf Alois Lämmer und den Sportvereinsvorsitzenden hatte Marie alle schon flüchtig kennengelernt.

Bürgermeister Filser, ein untersetzter und immer etwas nervöser Mann um die sechzig, hatte sie und Jakob an ihrem ersten Tag bei sich zu Hause willkommen geheißen, seine Frau hatte sie mit Kaffee und selbst gebackenem Kuchen bewirtet. August Mewes und seine Frau waren nur ein paar Tage danach im Pfarrhaus vorbeigekommen und hatten Marie eingeladen, im Gesangverein mitzusingen. Marie behauptete, sie könne nicht singen, keinen Ton. Gesangverein! Das klang nach Volksliedgut und gestärkten weißen Hemden. Darauf hatte sie nicht die geringste Lust. Dass sie nicht gut kochen konnte und überhaupt nicht nähen oder basteln und auch noch nie im Garten gearbeitet hatte, war hingegen keine Lüge. Somit fanden auch die Landfrauen, deren Vertreterinnen am nächsten Tag hereingeschneit waren, kein Gehör. Der Mann vom Sportverein sah bei ihr wohl von vornherein kein Mitgliederpotenzial, da hatte sie Glück.

Auch wenn sich Marie von all den Vereinsanfragen und Angeboten fernhalten konnte, hatte sie früh begriffen, dass sie eine gewisse Stellung in der Gemeinde einnahm und nicht einfach nur Marie sein konnte. Sie war nun mal die Frau Pfarrer, wie sie von den meisten Leuten der Einfachheit halber genannt wurde, und das wiederum war verknüpft mit bestimmten Erwartungen, auch wenn sich Marie nicht ganz im Klaren darüber war, mit welchen. Es ging schon mit der Versammlung am Dienstag los. Sie konnte sich wohl kaum einfach so in ihre Privaträume nach oben zurückziehen und ein gutes Buch lesen. Andererseits hatte sie ja keine offizielle Funktion.

»Wie ist denn das?«, fragte sie Jakob am Vortag dieser Honoratiorenversammlung. »Bin ich da eigentlich dabei? Bei dieser Versammlung, meine ich?«

»Ja klar, wir sind ja quasi die Gastgeber«, sagte er und grinste. Für ihn war das überhaupt kein Thema. Gastgeberin also. Na schön, damit konnte sie etwas anfangen, wobei sich sofort neue Fragen stellten.

»Muss ich da etwas zu essen machen?«

Jakob, der ihre spärlichen Kochkünste kannte, kratzte sich am Kopf. »Ein bisschen Fingerfood vielleicht«, schlug er vor. »Ein paar Häppchen.«

»Käseigel?«

»Dann solltest du aber auch Petticoat und Schürze tragen, wie die adrette Hausfrau aus den Fünfzigern.«

»Käseigel ist wieder in Mode«, informierte ihn Marie. »Hab ich neulich irgendwo gelesen.«

»Mach, was du denkst. Ein paar Kekse auf dem Tisch und Salzstangen reichen auch.«

»Salzstangen?«

»Und Bier«, meinte Jakob.

Also kauften sie im einzigen Supermarkt im Nachbarort Bier und Salzstangen und als Zugabe noch ein paar Kekse. Eine traurige Ausbeute, so traurig, dass Marie kurz vor der Kasse wieder umdrehte und eine Melone, Trauben sowie verschiedene Käsesorten erstand. Sie fand sogar bunte, glänzende Plastikspieße mit kleinen Herzchen am Ende.

»Ich würde sagen, damit hast du dich für die Landfrauen qualifiziert«, neckte Jakob sie. Aus Trotz legte sie noch ein paar Dips, ein Glas Oliven, etwas Schinken, zwei Baguettes und eine Packung Kräcker in den Wagen.

Der gedeckte Tisch im Gemeindesaal sah wirklich einladend aus, und als die Gäste vom Festkomitee am Abend eintrafen, da staunten sie nicht schlecht und rühmten die Gastgeberin. Marie nahm das Lob mit gemischten Gefühlen entgegen, doch Jakob war sichtlich erfreut.

»Bitte nehmen Sie doch Platz! Machen Sie es sich gemütlich, und greifen Sie zu. Wem darf ich ein Bier anbieten?«, fragte er. Die Leute blickten verwirrt zwischen ihm und Marie hin und her. Ungefähr als wäre Marie statt Jakob am Sonntag auf die Kanzel geklettert.

»Jakob, bitte setz dich doch«, sagte Marie rasch. »Für das leibliche Wohl bin heute Abend ich zuständig.«

Das leibliche Wohl! Wie drückte sie sich denn aus? Und wie hatte sie eigentlich dieses Wurmloch im Haus übersehen können, das einen mehrere Jahrzehnte in die Vergangenheit katapultierte? Daher wahrscheinlich auch ihre plötzliche Idee mit dem Käseigel. Marie zwang ein Lächeln in ihr Gesicht.

»Wer möchte Bier? Wir haben aber auch Wein. Und natürlich Saft oder Wasser.«

Die Männer wollten alle Bier. Liesel Hilles von den Landfrauen und Jakob bevorzugten Weißwein.

Marie verschwand in der Küche gleich nebenan, um die Getränke zu holen. Aus dem großen Zimmer drangen die Stimmen herüber, die noch immer ungewohnte Dialektfärbung, irgendwo zwischen weich und grob, in die man sich einhören musste. Auch an die Lautstärke musste man sich gewöhnen, alle sprachen immer sehr laut, Jakob mit seinem sanften Bariton drang kaum durch. Und dieses Lachen! Ebenfalls laut, oft eingeleitet von einer Art Initialschrei. »Die Leute hier sind rau, aber herzlich«, hatte der Bürgermeister sie bei ihrer Ankunft vorgewarnt. »Wenn man einmal ihr Herz erobert hat, dann hat man es für immer.« Und dann hatte er verschwörerisch grinsend und hinter vorgehaltener Hand hinzugefügt: »Aber wenn man’s mit ihnen verschissen hat, dann rückwirkend bis in die Steinzeit.«

In dieser Gefahr befand sich Jakob nicht im Geringsten, aber bei Marie lagen die Dinge ein wenig anders. Sie war eigenwillig, dickköpfig, launisch zuweilen, sie konnte sich nicht gut verstellen und äußerte ihre Meinung freiheraus. In ihrer Ehe war das kein Problem, Jakob liebte sie genau so, wie sie war, und nahm ihre weniger guten Seiten mit Humor, aber bei anderen Leuten war das etwas anderes. Marie war widerborstig und viel zu unabhängig. Sie war es gewohnt zu tun, was sie wollte, und hatte bisher nicht allzu viele Kompromisse eingehen müssen. In Oberkirchbach kam es ihr vor, als bestünde das ganze Leben aus Kompromissen. Jeden Schritt, den sie tat, jedes Wort musste sie abwägen, denn sie wollte nicht anecken. Schon Jakob zuliebe nicht. Natürlich brauchte es Zeit, bis man sich eingewöhnte, aber Marie hatte bereits wenige Tage nach ihrem Umzug angefangen, daran zu zweifeln, dass ihr das hier in diesem kleinen Dorf je gelingen würde.

»Kann ich was helfen?«, fragte Liesel Hilles. Sie stand im Türrahmen und sah Marie beim Einschenken der Getränke zu.

»Oh, nein danke, das geht schon«, sagte Marie.

»Kommen Sie nur. Dann müssen Sie kein Tablett schleppen. Wir machen das umeinander«, sagte Frau Hilles. Sie war eine patente, zupackende Frau mit einem herben, aber freundlichen Gesicht und einer kurzen Dauerwellenfrisur, wie man sie in Oberkirchbach bei Frauen jenseits der sechzig öfter sah.

»Umeinander?«, fragte Marie. Sie konnte mit dem Begriff in diesem Zusammenhang nichts anfangen.

Frau Hilles lachte: »Nacheinander, nicht alles auf einmal«, erklärte sie.

»Ach so!«

»Sie hören sich mit der Zeit schon ein.«

»Ja, ich denke auch«, sagte Marie, obwohl sie nicht überzeugt war.

»Wir können doch eigentlich Du zueinander sagen, oder? Ich bin die Liesel.«

»Ja. Natürlich. Gern. Marie«, sagte Marie. Liesel brachte die ersten Biere hinüber ins Zimmer. Marie folgte mit den nächsten beiden.

»Ein Glas fehlt noch«, stellte Liesel fest.

»Einmal Bier für Herrn Filser und zweimal Wein für dich und meinen Mann«, zählte Marie durch.

»Und was ist mit dir?«

»Oh, ich wusste nicht, ob ich mich dazusetzen soll«, gestand Marie.

»Ach, geh fort«, rief Liesel mit der rauen Herzlichkeit, von der der Bürgermeister gesprochen hatte. »Nimm dir was zu trinken und komm.«

Also schenkte sich Marie ebenfalls ein Glas Weißwein ein und gesellte sich zu der Runde um den großen Tisch. Mit ihren jeweils vierunddreißig Jahren waren Jakob und sie mit Abstand die Jüngsten. Alle anderen waren zwischen Mitte fünfzig und Mitte sechzig. Auch was die Kleidung betraf, hoben sie sich ab. Jeans und T-Shirt, das war für sie beide normal, Jakob trug Anzüge nur in absoluten Ausnahmefällen. Wer ihn nicht kannte, wäre nie auf die Idee gekommen, dass er regelmäßig unter einem Talar verschwand. Er hatte eher etwas von einem Künstler. Auf seinem Kopf herrschte Chaos. Die kurzen braunen Locken wuchsen störrisch in die Richtung, die ihnen die vielen Wirbel vorgaben, was ihm ein für einen Pfarrer reichlich unorthodoxes Äußeres verlieh. Das jungenhafte Gesicht, auf dem kein richtiger Bart wachsen wollte, tat ein Übriges. Jakob wirkte wie ein Teenager unter lauter Erwachsenen, ganz besonders, weil er direkt neben Dieter Spengler vom Sportverein saß, einem Mann mit Oberarmen wie ein Gewichtheber und einem Kreuz wie ein Bulle. Man hatte für Marie einen Platz neben Jakob frei gelassen, es war also für alle eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie an dem Treffen teilnahm. Flüchtig berührte sie Jakobs Bein, gerade so lange, dass er es spürte und es sonst keiner bemerkte. Er antwortete mit einem ebenso flüchtigen, liebevollen Blick.

»Greifen Sie bitte zu«, sagte er dann und nahm sich einen Käsespieß, woraufhin sich auch die Gäste am Käseigel bedienten und erst mal in nostalgische Schwärmerei gerieten.

»Das ist genau wie bei unseren Partys zu meiner Schulzeit«, erinnerte sich Liesel.

»Genau«, stimmte Bürgermeister Filser zu, lobte, wie schön Maries Käsekunstwerk aussah, und stellte fest, dass sie nicht nur verschiedene Trauben, sondern auch verschiedene Käsesorten verwendet hatte. Man verglich und diskutierte, ob nun Wein oder Bier besser dazu passte. Marie freute sich. Spontan sprang sie auf und holte noch ein paar Kräcker aus der Küche. »Die passen auch gut dazu.«

»Und wir zwei reden noch mal über die Landfrauen, gell?«, drohte Liesel und lachte schallend, als sie Maries betretenes Gesicht sah. »War nur Spaß!«, meinte sie. »Aber wenn du willst: Unsere Tür steht sperrangelweit offen.«

»Jetzt reden wir aber erst mal über die 750-Jahr-Feier«, entschied Filser. Presbyter Wiesner klopfte zustimmend mit den Fingerknöcheln auf den Tisch, die anderen nickten.

»Also …«, fing er dynamisch an, doch bereits nach diesem ersten Wort hielt er inne. Filser wirkte wie ein Rennläufer im Startblock, der vergessen hatte, wie man loslief.

»750 Jahre«, gab Jakob das Stichwort. »Alle Achtung! Da ist doch sicher eine größere Feier geplant, oder?«

»Ja!«, bestätigte Filser entschieden. Sein Blick zuckte zwischen seinen Mitorganisatoren hin und her, die jedoch starrten mehrheitlich entweder auf den Käseigel oder auf ihren Teller. »Es ist natürlich so«, relativierte der Bürgermeister seine Entschlossenheit ein wenig, »dass unsere Mittel begrenzt sind.«

»Und wie hatten Sie sich die Feierlichkeiten vorgestellt? Wie weit sind Sie mit der Planung?«, fragte Jakob weiter.

»Also«, fing Filser erneut an. »Na ja, da gibt es, um ehrlich zu sein, noch nicht allzu viel Konkretes.«

An einen Festgottesdienst am Vormittag habe man gedacht. Das wollte man sicher Jakob überlassen. Und damit hatte sich das Konkrete auch schon so ziemlich erschöpft. Eine Veranstaltung sollte es geben, eine Art bunten Abend, doch das Programm war bisher nicht näher definiert. Der Gesangverein sollte irgendwas singen, der Sportverein irgendwas zum Besten geben, ebenso die Landfrauen. »Irgendwas« war der rote Faden. In Umwegen gebe es ein Streicherensemble, meinte der Bürgermeister, das könne man doch anfragen. Vermutlich um ebenfalls »irgendwas« zu spielen, dachte Marie. Dann natürlich sei die Präsentation der Dorfchronik ein wichtiger Programmpunkt, verbunden mit einem kleinen Abriss der Dorfgeschichte. Filser würde selbstverständlich eine Rede halten, in der er unter anderem verdienten Mitbürgern gedenken würde. Höhepunkt der Veranstaltung schließlich sei die Ehrung der ältesten noch lebenden Bürgerin des Ortes. Marie fragte sich, wieso das der Höhepunkt sein sollte und was die älteste Bürgerin mit dem Jubiläum des Ortes zu tun hatte. Das alles klang nach einer drögen, uninspirierten und chaotischen Angelegenheit. Wen wollte man damit hinterm Ofen hervorlocken? Andererseits, was wusste sie schon von Dorffeierlichkeiten? Es handelte sich schließlich nicht um das Oktoberfest.

»Um offen zu sein, hört sich das für mich noch nicht sehr ausgereift an und, ganz ehrlich gesagt, auch ein bisschen langweilig«, meldete sich Jakob und sprach damit aus, was Marie nur dachte. Durfte er das? Als frisch Zugezogener die Pläne der Alteingesessenen kritisieren? Oder vielmehr die eigentlich nicht vorhandenen Pläne.

Filser sackte auf seinem Stuhl zusammen und seufzte. »Ja, das ist wohl richtig. Aber was will man machen, unsere Möglichkeiten sind halt begrenzt, wie schon gesagt. Oberkirchbach ist heillos verschuldet, genau wie alle Gemeinden im Kreis.« Er winkte ab, die anderen schüttelten resigniert die Köpfe. Es war mit einem Mal eine traurige Runde. Keiner lachte mehr, schon gar nicht laut. Man knabberte Kräcker und Käsespieße und schaute ratlos aus der Wäsche.

»Es liegt also ausschließlich am fehlenden Geld?«, hakte Jakob nach.

»Aber nein, es ist nicht nur das Geld«, rief Liesel ungeduldig. »Es ist einfach keiner da, der was auf die Beine stellt, seien wir doch mal ehrlich. Seit Jahren schon nicht. Ach was, seit Jahrzehnten. Die Vereine gehen vor die Hunde und kriegen keine Mitglieder mehr. Die Jungen haben keine Lust, die Alten können nicht mehr, und alle dazwischen …« Sie ließ ihren letzten Satz in der Luft hängen und stopfte sich stattdessen einen Kräcker in den Mund.

»Und unsere Festhalle verkommt«, meldete sich Dieter Spengler. »Da hat schon ewig nichts mehr stattgefunden, dabei war die einmal so schön, die müssen Sie sich einmal anschauen.« Er geriet ins Schwärmen. »Früher ging da die Post ab. Was da los war in meiner Jugend! Alles vorbei.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die Steigerung des beliebten Abwinkens.

Die Festhalle war ein großes altes Gebäude am ehemaligen Marktplatz. Marie kannte sie, weil sie auf dem Weg zur Kirche immer daran vorbeikamen, aber sie hatte der Halle bisher wenig Beachtung geschenkt, zumal sie dort noch nie jemanden gesehen hatte.

»Aber sollten die Feierlichkeiten denn nicht in dieser Festhalle stattfinden?«, fragte sie erstaunt.

»Die müsste man erst wiederherrichten«, erklärte Filser. »Und das ist zu teuer und lohnt sich nicht. Abreißen ist übrigens auch zu teuer. Im Sportheim könnte man es eventuell machen.« Dieter Spengler war der Einzige, der nickte, wenn auch nicht sehr überzeugt.

»Im Sportheim?«, wiederholte Marie entsetzt. Liesel, die ihr gegenübersaß, verdrehte die Augen und erklärte, das Sportheim sei kaum größer als der Gemeindesaal, in dem sie sich gerade befanden. Etwas größer schon, entgegnete Spengler kleinlaut.

Marie dachte mit einem Mal an ihre Mutter, die keinen einzigen Geburtstag mehr gefeiert hatte, seit sie fünfundfünfzig geworden war. Wenn man ihr trotzdem gratulierte, was Marie jedes Mal tat, dann winkte sie ab, so wie Filser und Spengler. Im vergangenen Jahr war sie siebzig geworden, und nichts, rein gar nichts hatte stattgefunden, was einen auch nur hätte ahnen lassen, dass es ein besonderer Tag war. Anna hatte ein gemeinsames Essen angeregt, Sarah wenigstens Kaffee und Kuchen. Nein, das wollte sie alles nicht. Ansonsten war Maries Mutter weitgehend normal. Sie war gesellig, lustig, war gern mit ihren Lieben zusammen, sie aß gern, trank gern mal ein Gläschen oder zwei oder drei – nur durfte nichts davon an ihrem Geburtstag stattfinden.

»Vielleicht sollte man das Ganze dann einfach bleiben lassen«, meinte Marie. Nach allem, was sie gehört hatte, erschien es ihr als einzige logische Konsequenz. Nach einem Blick in die entsetzten Gesichter der versammelten Vorsitzenden fügte sie jedoch eilig hinzu: »Oder man sollte die Leute wenigstens fragen, ob überhaupt Interesse an einer solchen Feierlichkeit besteht. Wenn nicht, dann kann man sich auch die ganzen Umstände sparen. Und falls die Leute dafür sind, dann sollten sie auch etwas dafür tun.«

»Dann gäbe es eventuell gar keine Feier?«, fragte Alois Lämmer bestürzt. »Dann wäre meine ganze Mühe also umsonst? Ich habe jahrelang an der Chronik gearbeitet. Für den Druck gibt es sogar ein Sonderbudget, weil durch den Verkauf ja alles wieder reinkommt. Wahrscheinlich. Das war dann alles umsonst?«

»Nein, natürlich wäre Ihre Mühe nicht umsonst, die Chronik steht ja für sich, und man könnte sie auf jeden Fall im Rahmen einer Feierstunde in der Kirche vorstellen, nicht wahr, Jakob?«, beeilte sich Marie, den armen Mann zu beruhigen. Doch auch für alle anderen Oberkirchbacher war Maries Vorschlag Anlass zur hitzigen Diskussion. Die Bandbreite ging dabei von »Die Feier ausfallen lassen? Unmöglich!« bis »Die einzig vernünftige Idee!«. Es gehe doch auch um das Gemeinschaftsgefühl. Welches Gemeinschaftsgefühl denn? Eine Gemeinschaft gebe es doch schon lange nicht mehr. Dann eben um das Selbstwertgefühl! Wessen Selbstwertgefühl eigentlich? Dann eben um die Freude an einer großen Festlichkeit. Große Festlichkeit? Freude? Danach klinge das Ganze bisher aber gar nicht. Überhaupt: Wer sollte denn zur Feier kommen? Die Zugezogenen im Neubaugebiet hätten sicher kein Interesse, die Jungen auch nicht. Und die Alten, wie kämen die denn zum Sportheim? Überhaupt das Sportheim! Ein Witz! Aber was hätte man denn dann noch auf dem Dorf?

Jakob und Marie verstanden mit der Zeit immer weniger, weil alle durcheinandersprachen und immer mehr ins Pfälzische verfielen. Verwirrt schauten sie von einem zum anderen, aber wenigstens war es wieder laut und munter und nicht mehr so traurig und ratlos. Marie stand auf, holte frische Getränke sowie Schinken und den restlichen Käse aus dem Kühlschrank und mehr Brot.

»Wir sollten die Leute fragen«, schloss Jakob die Diskussion. »Ich habe zwar eben nicht alles verstanden«, meinte er und erntete damit amüsiertes Gelächter, »aber ich glaube, der Tenor ist, dass man überhaupt nicht weiß, wie eine solche größere Feierlichkeit von den Einwohnern angenommen werden würde. Deshalb wäre eine Umfrage sicher vernünftig.«

Mit allgemeinem Nicken stimmte man ihm zu, trank auf den gefassten Beschluss und ging zum gemütlichen Teil des Abends über, bei dem noch mehr getrunken wurde und an dessen Ende alle ein bisschen angeschickert und mit den Pfarrersleuten per Du waren. Marie bot schließlich sogar an, Liesel bei der Umfrage zu unterstützen.

Nachdem die Männer gegangen waren, half Liesel beim Abräumen und scheuchte Jakob aus der Küche.

»Das war wirklich schön heute Abend«, sagte sie zu Marie. »Auch wenn sonst nicht viel dabei rumgekommen ist, hat sich wenigstens gezeigt, dass wir diesmal Glück mit unserem neuen Pfarrer haben. Und mit seiner Frau«, fügte sie schmunzelnd hinzu. Marie wurde ganz verlegen bei diesem Lob, aber sie wunderte sich auch darüber.

»Wieso denn? Mir schien Jakobs Vorgänger eigentlich ganz nett zu sein.«

»Ja, der war ganz nett. Mehr nicht«, sagte Liesel und verzog dabei das Gesicht. »Vor allem war er nur ein Jahr da. Genau wie sein Vorgänger und wie der davor. Und alle ledig. Klar wollten die hier nicht versauern. Es ist schon lange her, dass mal ein Pfarrer länger hier war, und der …« Sie winkte ab und drehte die Augen zum Himmel. Damit war alles gesagt. Das Abwinken, so viel hatte Marie schon verstanden, gehörte hier zur Sprache, und je nachdem, wie man es gestaltete und welches Gesicht man dazu machte, hatte es vollkommen unterschiedliche Bedeutungen. Es konnte sowohl freundlich gemeint sein als auch abfällig.

»Pfarrer Binder!«, spuckte Liesel aus, und es klang wie ein besonders übles Schimpfwort. »Das war einer!« Sie hob wieder die Hand, ließ sie aber diesmal oben. Mit Abwinken war es hier nicht getan, so viel war deutlich. Marie brachte schnell die gespülten Gläser in Sicherheit. »Der hat die Leute genötigt, in die Kirche zu gehen, und gedroht, die Kinder sonst nicht zu taufen oder nicht zu konfirmieren. Solche Sachen. Bis er einmal an der Tür von Draudte Fritz geklingelt hat, weil der nie in die Kirche gegangen ist. Er wollte ihn ›einladen‹, so hat er das genannt. Da hättest du aber den Fritz sehen sollen. Der ist ihm ordentlich aufs Dach gestiegen. Ich war nicht dabei, aber Reinemanns Elvira war damals gerade vorm Haus und hat’s gesehen und gemeint, der Fritz wäre handgreiflich geworden, hätte den Pfarrer am Kragen gepackt und geschüttelt. Wahrscheinlich hat sie ein bisschen übertrieben, aber zuzutrauen wär’s ihm schon.« Liesel lachte. »Ja, bei uns war immer was los. Früher.«

»Und hat der Pfarrer ihn dann nicht angezeigt?«, fragte Marie erstaunt.

Liesel winkte fröhlich ab. »Ach geh fort, der hat sich doch nicht getraut, den Fritz anzuzeigen. Und gedroht hat der so schnell auch keinem mehr.« Sie seufzte. »Tja, damals war Draudte Fritz noch gut beieinander. Ist ja auch schon fast zwanzig Jahre her.

»Wie alt ist er denn jetzt«, fragte Marie. »Oder lebt er nicht mehr?«

»Doch, doch, der ist dieses Jahr zweiundneunzig geworden.«

»Und nicht der älteste Bürger?«

»Nein, die älteste Bürgerin ist Wiegands Margret, die ist sechsundneunzig, danach kommt lange nix und dann Draudte Fritz und Hillese Emma, die sind auf den Tag genau gleich alt. Ein Glück, dass wir die Margret noch haben, sonst wären die zwei die ältesten und müssten geehrt werden, und dann … ach du liebe Zeit!«

Diesmal schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, ihr Blick ging zur Zimmerdecke.

»Wieso? Was wäre denn dann?«, fragte Marie neugierig.

»Ach Gott!«, rief Liesel noch mal aus und musste sich setzen. Marie räumte das Geschirr beiseite und setzte sich dazu.

»Der Fritz und die Emma, die reden nicht miteinander. Seit Menschengedenken gehen die sich aus dem Weg. Und dabei waren sie als Kinder ganz eng befreundet, und als sie älter wurden, waren sie sogar ein Paar. Aber später dann, nach dem Krieg – ich weiß das natürlich auch nur aus Erzählungen –, als er heimgekommen ist … Erst waren sie noch zusammen, und auf einmal war alles anders. Seitdem ist einer böse auf den anderen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, das kommt vor. Sogar in Familien. Manchmal sind die Leute halt stur. Zum Glück wohnen die zwei weit genug auseinander, die Emma am Ortseingang und der Fritz am Ortsausgang. Das ganze Dorf dazwischen.«

»Na, dann geht’s ja«, meinte Marie lachend.

»Die Emma ist sogar mit mir verwandt«, sagte Liesel. »Mein Großvater und ihr Vater waren Cousins. Hillese gibt es hier ganz viele, fast jeder Zweite heißt Hilles.« Jetzt lachte sie wieder und erhob sich. »Dann machen wir uns übermorgen mal auf die Runde durch Oberkirchbach, was? Da lernst du dann auch die Emma kennen. Mit der fangen wir gleich an, würde ich sagen. Ist ja sowieso das erste Haus.«

»Schön«, sagte Marie. Auf diese Weise kam sie endlich ein bisschen herum und lernte auch ein paar Leute kennen, am Ende sogar welche, mit denen sie sich anfreunden konnte. Vielleicht würde sie sich dann ja irgendwann doch noch heimisch fühlen. Sie hoffte es.

»Dann bis morgen!«

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1947

Zwei Jahre nach Kriegsende schleppte Emma noch immer Steine. Zwei Jahre nachdem die letzte Bombe gefallen war, nachdem die fremden Soldaten durchs Dorf gezogen waren mit Gewehren im Anschlag, ab und zu etwas gerufen hatten, in einer fremden Sprache, Amerikanisch, wie Frieda gesagt hatte. »Das sind Amerikaner«, hatte sie geflüstert, als ob man sie auch dort unten im Keller hören könnte. Da hatten sie gesessen, geduckt und verängstigt, hatten darauf gewartet, dass die fremden Soldaten eindringen und sie alle erschießen würden, so wie sie es verdient hatten. Fritz hatte das früher immer gesagt: »Eines Tages wird uns die Welt bestrafen für das, was wir ihr antun.«

»Um Himmels willen, Fritz, sei still. Sag das nicht laut«, hatte Emma geantwortet. Voller Angst um ihn. Sie würden auch vor einem Jungen nicht haltmachen, der laut sagte, was er dachte. Und Fritz dachte so einiges über die Nazis, über Hitler, über den Wahnsinn, den man Krieg nannte. Nur ihr flüsterte er es zu, wenn er glaubte, sein Herz würde vor ohnmächtiger Wut explodieren, ihr konnte er vertrauen. Und dann, kurz vor Schluss, holte auch ihn der Krieg. Er war achtzehn geworden. Er musste gehen. Fürs Vaterland kämpfen, obwohl er nicht wollte, obwohl es da nichts mehr zu kämpfen gab, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr nach Hause kommen würde. Sie hatten einander nur kurz umarmt, nur flüchtig geküsst, aus Angst, alles, was darüber hinausging, würde es ihnen unmöglich machen, sich zu trennen. Aber sie hatten einander versprochen, zu überleben, sich wiederzusehen und gemeinsam alt zu werden. Dann war er gegangen und hatte sich nicht mehr umgedreht. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Ein paar Wochen später war das Haus seiner Eltern getroffen worden, und beide waren ums Leben gekommen, ebenso sein jüngerer Bruder und seine Großeltern.

Es waren die Steine dieser Ruine, die Emma schleppte. Und sie dachte dabei an Fritz. Jeder Stein, den sie forttrug, so dachte sie, brachte ihn ein Stück näher zu ihr.

Er war vermisst, nicht gefallen, zumindest war es nicht bekannt, aber alle im Dorf glaubten es. Am Anfang hatten sie ihr noch geholfen. Als klar war, dass die Amerikaner sie nicht alle erschießen würden, als sie sich wieder in ihre Häuser zurücktrauten und anfingen aufzuräumen, da hatten sich einige auch um das Haus der Familie Draudt gekümmert. Aber jeder hatte ja seine eigenen Sorgen, und dann kamen die Franzosen als Besatzer und mit ihnen noch mehr Sorgen, und die Toten waren ja tot. Am Schluss war es nur noch Emma, die jeden Abend nach der Arbeit kam und ein paar Steine wegräumte. Zwei Jahre lang.

Sie hatte schon viel geschafft. Es sah nicht mehr aus wie ein zerbombtes Haus, es sah aus wie ein Loch in der Welt, ein großes Nichts mit ein paar Trümmern. Manchmal stand sie einfach nur eine Weile davor, dachte an Fritz und daran, wie sehr sie sich wünschte, ihn noch einmal zu sehen, ihn noch einmal zu hören, doch noch mit ihm alt zu werden. Schließlich packte sie ein paar Steine in den Korb, um sie wegzubringen, meist zur Böschung am Bach. Das half sogar, wenn er bei Hochwasser wieder einmal über die Ufer trat. Oder oben zum Waldrand, in der Nähe ihres eigenen Elternhauses.

An einem Abend im April 1947 stand sie wieder mit ihrem Korb vor diesem Trümmerfeld, auf dem einmal ein Haus gestanden hatte, in dem einmal Leben geherrscht hatte und Freude. Sie schloss die Augen und dachte an Fritz.

»Emma!«, hörte sie eine Stimme hinter ihrem Rücken, die entfernt wie seine klang. »Ich bin wieder da.«

Sie schlug die Augen auf, drehte sich aber nicht um. Es war doch nur ihre lebhafte Fantasie, die zu ihr sprach, ihr tiefster Wunsch, ihre Sehnsucht, was auch immer.

»Ich bin wieder da, Emma«, wiederholte die Stimme und kam näher. »Ich bin da.«