In all den Jahren - Barbara Leciejewski - E-Book

In all den Jahren E-Book

Barbara Leciejewski

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Beschreibung

Elsa und Finn leben Tür an Tür in München. Sie sind Freunde. Beste Freunde. Und allen Zweifeln ihrer Umwelt, allen Versuchungen und allen Gefühlen zum Trotz, wollen sie das auch bleiben, denn schließlich enden die meisten Liebesbeziehungen doch in einer Trennung: Aus Nähe wird Besitzanspruch, aus Zuneigung Gleichgültigkeit und so weiter. Man kennt das. Nein, Elsa und Finn wollen die bleiben, die sie sind, egal was auch passiert. Und es passiert so einiges, das ihre innige Freundschaft ins Wanken bringt, mal zur einen und mal zur anderen Seite hin. Der Roman schildert auf humorvolle, spannende und bewegende Weise diese ungewöhnliche und tiefe Freundschaft über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg, ihre Höhen und Tiefen, komische, glückliche und dramatische Momente und stellt dabei immer wieder die Frage: Wie viel Liebe verträgt eine Freundschaft? Ein wunderbarer Liebesroman der Münchener Autorin. Eine klare Leseempfehlung für Fans von Cecelia Ahern ("Für immer vielleicht")!

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Barbara Leciejewski

In all den Jahren

Roman

Leciejewski, Barbara: In all den Jahren, Hamburg, acabus Verlag 2015

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-371-0

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-372-7

Print: ISBN 978-3-86282-370-3

Lektorat: Janina Klinck, acabus Verlag

Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag

Umschlagmotiv: skyline München: © JiSign - Fotolia.com;

Pustblumen-Wiese: Designed by freepic.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2015

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für Erich

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Widmung

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Die Autorin

1990

Als ich ihn das erste Mal sah, war er nackt. Er klingelte an meiner Tür und sagte, er habe sich aus seiner Wohnung ausgeschlossen. Dann folgte eine umständliche und ausführliche Erklärung, wieso und weshalb, und ich konnte die ganze Zeit nichts anderes denken als: Warum hält dieser Typ nicht die Hand davor? Also: davor.

Nachdem er seine Erklärungsversuche beendet hatte, stand er vor mir und wartete.

„Kann ich nun telefonieren?“, fragte er und die Art, wie er es sagte, machte mir klar, dass es schon das zweite Mal war. Mindestens.

Ich stammelte etwas, das wohl wie Einverständnis klang, und er schob sich an mir vorbei in meine Wohnung. In der Diele entdeckte er mein Telefon und wählte eine Nummer, während ich vorsichtshalber neben der halboffenen Tür stehen blieb und mich bemühte, nicht auf seinen nackten Hintern zu starren.

„Ich bin’s. Ich hab mich ausgesperrt, kannst du mir den Schlüssel vorbeibringen? – Jetzt gleich wäre gut. – Alles klar, bis dann!“

Er legte den Hörer auf und grinste mit geschlossenem Mund. Damals wusste ich noch nicht, wie typisch dieses Grinsen für ihn war: Die Lippen fest aufeinandergepresst und die Mundwinkel weit auseinandergezogen. Das tat er immer dann, wenn er etwas zufriedenstellend erledigt hatte. So, das hätten wir, sagte dieses Grinsen.

Seine Arme hingen noch immer entspannt neben seinem Körper und es schien ihm nicht im Traum einzufallen, dass es mir eventuell peinlich sein könnte, über die Größe seines Penis Bescheid zu wissen. Sicher, man wollte seine neuen Nachbarn – und offenbar war er ein solcher – gern kennenlernen, aber das gehörte nicht zu den Dingen, die man wissen wollte. Zumindest nicht als Allererstes.

Nun ja, es war das Erste, was ich über Finn erfuhr. Finn, das war sein Name, aber den fand ich erst später heraus.

Als ich nicht weiter reagierte – ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte – sagte er schlicht „Danke!“ und ging nach draußen ins Treppenhaus, wo er sich auf die oberste Stufe setzte. Die Beine lässig auseinander, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt.

Ich überlegte kurz, ob ich noch etwas sagen sollte, ihn nach drinnen bitten, einen Kaffee anbieten, irgendeine Art von Konversation betreiben, doch die Situation sprach dagegen. Die Situation, die durch den Mangel an Bekleidung seinerseits bestimmt wurde.

So schloss ich leise die Tür. Ich fand es angebracht, es leise zu tun. Ich hätte es noch angebrachter gefunden, mich in Luft aufzulösen, doch das war nicht möglich.

Drinnen blieb ich an der Tür stehen und lauschte, was ich selbst albern fand. Warum lauschte ich? Wollte ich herausfinden, ob die Nacktheit des Mannes irgendein akustisches Signal aussandte?

Es war nichts zu hören. Ich ging in die Küche und machte mir einen Tee, obwohl ich nie Tee trank. Was war das für ein Typ, der nackt bei seiner Nachbarin klingelte und sich nicht einmal die Hände vor sein gutes Stück hielt? Ein Exhibitionist? Aber dafür war er zu wenig … exhibitionistisch gewesen.

Ich musste mir schließlich eingestehen, dass die Unverkrampftheit, mit der der Mann sein Schicksal ertrug, und die Selbstverständlichkeit, mit der er sich Hilfe holte, mich mindestens genauso aus der Bahn geworfen hatten wie der Anblick seines nackten Körpers.

War womöglich ich es gewesen, die sich lächerlich gemacht hatte? Hätte ich nicht genauso unverkrampft sein können wie er?

Die Antwort lautete: Nein. Wie sich später noch in unzähligen Situationen herausstellen sollte, war unser Kennenlernen symptomatisch gewesen. Er, der Entspannte, Lockere, den kaum jemals etwas in Verlegenheit bringen konnte, ich, die Verklemmte, Nervöse, der alles peinlich war.

Ich hätte zu gern durch den Spion nach draußen gesehen, doch dabei hätte ich mich vor mir selber geschämt. Also musste meine Neugierde leiden.

Später erfuhr ich, dass sein Bruder, der einen Ersatzschlüssel besaß und nur eine Straße weiter wohnte, vorbeikam und ihn erlöste. Ich hörte an diesem Abend nur noch ein paar Schritte auf der Treppe, einen knappen Wortwechsel, von dem ich nichts verstand, und ein kurzes Lachen, dann fiel die Tür nebenan ins Schloss und mein kurioses Abenteuer war vorbei.

Es dauerte eine ganze Woche, bis ich Finn wiedertraf und dabei schließlich auch herausfand, dass er Finn hieß. Er stand neben mir am Briefkasten, gänzlich bekleidet, und sortierte Werbung aus. Mit Kleidung erkannte ich ihn nicht, sonst hätte ich mich wahrscheinlich an ihm vorbeigestohlen und erst später in meinen eigenen Briefkasten gesehen, doch so stellte ich mich direkt neben ihn, grüßte geistesabwesend und fischte meine Post heraus.

„Mein Bruder hat gemeint, ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte er unvermittelt. Eine weitere Eigenschaft, die ich noch als typisch für Finn kennenlernen sollte: Er brauchte keinen Einstieg für Gespräche, keine Einleitungsfloskeln, keine Ämmms und Ähhhs und Alsos. Er sagte einfach, was er sagen wollte.

Ich erkannte die Stimme sofort und erst da wurde mir bewusst, dass ich auch noch etwas anderes an ihm wahrgenommen hatte als das Augenfällige. Er hatte eine Stimme, die so unverwechselbar war, dass ich sie nach Jahren wiedererkannt hätte, so einzigartig, dass ich sie unter tausend ähnlichen Stimmen herausgehört hätte. Sie klang wie Samt, nein, viel besser, wie Kaschmir.

Wenn man nun bedenkt, dass ich an diesem Abend, als er nackt an meiner Tür klingelte, diesen unvergleichlichen akustischen Genuss nicht beachtet hatte … Aber wollen wir das nicht weiter vertiefen.

Seine Direktheit, seine Stimme und die Tatsache, dass ich meinem nun nicht mehr nackten Nachbarn so ganz ohne Vorwarnung gegenüberstand, brachten mich in die größte Verlegenheit. Mein Gesicht wurde heiß, und ich konnte nur noch hoffen, dass es sich schlimmer anfühlte, als es tatsächlich aussah. Ich würde wahrscheinlich noch als Achtzigjährige erröten.

„Also“, sagte er weniger betreten als verwirrt, „ich entschuldige mich dann für neulich. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.“

„Nein, nein“, stammelte ich eine Oktave zu hoch, „überhaupt nicht. Ist schon okay.“ Ich grinste unbeholfen und steckte meine Post, die ich gerade aus dem Kasten genommen hatte, wieder hinein.

Er schloss seinen Briefkasten ab, nickte mir zu und ging zur Treppe. Er betrachtete die Sache damit als erledigt. Und hätte sein Bruder ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, hätte er die Begebenheit sicher nie mehr angesprochen. Wer es nicht für nötig hielt, seinen Penis mit der Hand zu bedecken, wenn er in eine solche Situation geriet, hielt es auch nicht für nötig, ein weiteres Wort darüber zu verlieren. Allerdings wäre mir das lieber gewesen.

Allmählich kam ich wieder zu mir und leistete mir sogar etwas Empörung über diesen seltsamen Typen mit der Kaschmirstimme. Ich holte meine Post zum zweiten Mal aus dem Briefkasten und warf dabei einen Blick auf den meines Nachbarn: Finn McGregor. Ein Schotte? Er hatte aber gar keinen Akzent. Sein Deutsch war so gut wie meins, und das sagte einiges, schließlich sollte man als Schauspielerin, die ich war – nun ja, Sprecherin eigentlich eher – perfektes Hochdeutsch beherrschen. Alles, aber auch alles an diesem Mann war merkwürdig. Ich hoffte, ich würde ihm nicht allzu häufig begegnen. Seinen Vormieter hatte ich praktisch nie zu Gesicht bekommen, obwohl wir Tür an Tür gewohnt hatten. Das hätte ich gerne so beibehalten.

Meine Hoffnungen wurden jedoch schon bald zunichtegemacht. Gleich am nächsten Tag, als ich zu einem frühen Termin aus dem Haus musste, kam er mir auf der Treppe entgegen, eine große Mappe unter dem Arm, mit schnellen Schritten und geistesabwesend auf die Stufen starrend. Wäre ich nicht ausgewichen, wobei ich mich fast an die Wand drücken musste, wir wären zusammengeknallt. Ich murmelte ein leises, verschrecktes „Hallo!“, doch er reagierte nicht. Er schien mich nicht einmal zu bemerken. Als ich weitergehen wollte, verstummten seine Schritte plötzlich und hinter mir ertönte ein freundliches, in Kaschmir gehülltes „Guten Morgen!“ Ich drehte mich um und sah, dass er sich mir zugewandt hatte, erneut dieses breite Grinsen mit geschlossenem Mund in seinem Gesicht. Ich nickte und lächelte verklemmt zurück. Das Grinsen wurde womöglich noch ein paar Millimeter breiter, dann wirbelte er herum und lief weiter nach oben. Diesmal war ich in der Lage, ein paar weitere Details zu erfassen: seine langen, schlaksigen Beine zum Beispiel. Und die besondere Art, wie er sich bewegte: lässig, elegant und gleichzeitig voller Energie.

Er sah gut aus. Hübsch, wenn man das von einem Mann sagen konnte. Seine Gesichtszüge waren weich und harmonisch, doch deswegen nicht weniger männlich. Er musste in meinem Alter sein, Mitte bis Ende zwanzig also. Hätte ich ihn unter anderen Umständen kennengelernt, hätte ich versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich hätte ihn gefragt, was er so machte und wo er vorher gewohnt hatte. Wo sein Name herkam, lauter banale Smalltalk-Sachen eben, über die man als neue Nachbarn so redete, zumal wenn man etwa im gleichen Alter war und sich ganz sympathisch fand. Aber zwischen Finn und mir waren diese Gespräche vorerst ausgeschlossen. Dazu wusste ich schon zu viel von ihm.

Als plötzlich oben eine Wohnungstür geöffnet wurde, riss mich das aus meinen Gedanken und mir wurde bewusst, dass ich immer noch sinnlos auf der Treppe herumstand. In der Hoffnung, dass es nicht Finn mit seinen schnellen, langen Beinen war und er mich überholen würde, eilte ich schleunigst treppab.

Für den Rest des Tages versuchte ich mich auf andere Dinge zu konzentrieren als auf meinen neuen, sonderbaren Nachbarn. Die Arbeit im Studio war dabei an diesem Tag sehr hilfreich, obwohl es keine Herausforderung war. Ich hatte mich vom Aufnahmeleiter breitschlagen lassen, an einem Ensembletag teilzunehmen, dem Tag, an dem bei einer Produktion im Synchronstudio die kleinen Rollen und Mengen – das anonyme Hintergrundgebrabbel in einem Film – aufgenommen wurden. Normalerweise machten das vorwiegend Anfänger, wofür ich mich wirklich nicht mehr hielt, doch bei hochwertigen Filmen legten die Regisseure manchmal Wert darauf, auch kleinere Rollen mit erfahrenen Leuten zu besetzen. Nicht mit den Stars der Szene natürlich, aber solchen wie mir: Leuten, denen man nicht mehr viel erklären musste, die eine Szene schnell erfassten, den Text fehlerfrei, natürlich und lippensynchron rüberbringen konnten und damit dem ganzen Team nicht unnötig Zeit stahlen.

Zu meiner Überraschung traf ich an diesem Tag dennoch viele unbekannte und nervöse Gesichter im Aufenthaltsraum. Darunter mischten sich auch einige bekannte Kollegen, alte Hasen, die man immer an solchen Tagen traf. Schauspieler, die von Termin zu Termin hetzten, weil sie das Geld brauchten, und die nie richtig groß rausgekommen waren, weil es ihnen am gewissen Etwas fehlte oder schlicht an Begabung. Oder auch weil sie die falschen Leute kannten oder den falschen auf die Füße getreten waren. Sie schlugen sich an kleinen Theatern durch, mit winzigen Film- oder Fernsehrollen, mit Werbung, wenn sie Glück hatten, solchen Ensembletagen und kleinen Nebenrollen beim Synchron. Sie schienen mir oft als Spiegel meiner eigenen Zukunft. Auch ich verkehrte nicht mit den richtigen Leuten, war kein Mitglied des ‚Inner-Circle’ und im Vergleich zu anderen Vertretern meiner Zunft geradezu introvertiert. Nur meiner Stimme hatte ich es zu verdanken, dass ich trotzdem recht häufig gebucht wurde, manchmal sogar für etwas größere Rollen. Das lag an meiner leichten Naturheiserkeit, die ich immer schon gehabt hatte, so als hätte ich permanent eine Halsentzündung. Oder so als müsste ich mich immerzu räuspern. Das machte meine Stimme interessant. Außerdem ‚funktionierte‘ ich ganz gut, ich hatte Rhythmusgefühl und ließ mich nicht davon beirren, dass der Text, den ich sprechen musste, in den Mund einer anderen Person passen sollte.

Ich kam jedenfalls ganz gut über die Runden, ohne kellnern oder putzen zu müssen. Das war okay. Meine Ambitionen als Schauspielerin waren begrenzt, denn auch mein Selbstbewusstsein war es. Und ich war grundsätzlich ein Mensch, der sich leicht zufrieden gab und an sich selbst nicht die höchsten Ansprüche stellte, vor allem, weil er nicht erwartete, sie erfüllen zu können.

Allerdings fühlte ich mich an diesem Tag im Studio doch erheblich unterfordert. Ich hatte in ermüdenden Zeitabständen diverse Winzrollen mit Zweiwortsätzen zu sprechen, daneben inmitten einer Menge von Leuten unverständlich zu murmeln, zu schreien oder zu jammern. Immer wieder saß ich im Aufenthaltsraum herum, hörte mir die immer gleichen Anekdoten der älteren Kollegen an, die die jungen Frischlinge damit zu beeindrucken versuchten, beantwortete Fragen nach der Kantine oder dem Klo oder wie lange ich das schon machte, ob ich schon als Kind angefangen hätte und so weiter. Ich war einsilbig und genervt. Immer wieder ertönte die Stimme der Cutterin durch den Lautsprecher, verlangte einen bestimmten Sprecher oder eine ganze Gruppe oder – und das war das Schlimmste – alle ins Studio. Mein Kopf dröhnte.

Als ich laut Plan etwa eine halbe Stunde lang nicht dran war, ging ich in die Kantine und besorgte mir einen großen Milchkaffee.

„Schlimm heute, was?“, ertönte eine Bassstimme neben mir am Tresen. Manfred Kober, genannt Läubel, stand dicht, zu dicht, neben mir, Hände in den Taschen, den Bauch herausgestreckt. Wie immer trug er seine schwarze Lederjacke, einen schwarzen Rollkragenpullover und Jeans. Diese natürlich unter dem Bauch. Er war mindestens sechzig und erzählte immer gerne Geschichten aus der Zeit, in der er eine kleine Rolle als Polizist in einer sehr beliebten Krimiserie gespielt hatte. Läubel war sein Serienname gewesen und ein sich häufig wiederholender Dialog mit dem Hauptdarsteller von damals war:

„Läubel?“ – „Ja, Chef?“ – „Sagen Sie mal …“, oder: „Gehen Sie …“, oder: „Können Sie …“, oder: „Kümmern Sie sich …“, und so weiter, woraufhin Läubel jedes Mal antwortete: „Ja, Chef!“

Manfred Kober war also damals der Ja-Chef-Sager der Serie gewesen. Der Läubel eben. Aber er erzählte davon, als hätte er den Faust neben Gründgens als Mephisto gegeben.

Ich lächelte kurz zu ihm rüber und bestellte meinen Kaffee.

„Zwei bitte!“, rief der Läubel der Bedienung zu und hielt zwei Finger in die Höhe, als wäre sie taub. „Ich lad dich ein“, bemerkte er großzügig und ich ahnte schon, dass er sich damit das Recht erkaufte, mich vollquatschen zu dürfen. Außerdem wunderte es mich, dass wir per Du waren, so gut kannten wir uns auch wieder nicht. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, über einen Gruß hinaus jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Aber gut. Wir erhielten unsere Milchkaffees und er redete sicherheitshalber gleich weiter, damit ich nach meinem freundlichen „Danke!“ nicht annehmen durfte, dass ich mich nun zurückziehen könnte.

Er redete und redete. Über die heutige Schauspielausbildung („Das ist doch alles nur noch Pipifax, was die da machen.“), die Theatertournee, die er letztes Jahr an der Seite irgendwelcher ehemaliger Boulevardtheatergrößen gemacht hatte („Einen Monat lang jeden Abend in einer anderen Stadt, das schlaucht.“), die Werbung, die er neulich gedreht hatte („Lauter Idioten da in der Werbebranche, kann ich dir sagen.“), und natürlich über seine Rolle als Läubel („Wie in einer großen Familie war das.“).

Ich nickte, lachte oder staunte an den gewünschten Stellen. Ich war verständnisvoll und wissbegierig. Ich war bewundernd. Mehr kann man nicht tun.

Plötzlich ertönte die Stimme der Cutterin durch den Lautsprecher, der auch in der Kantine zu hören war: „Elsa Frank, bitte ins Studio, Elsa Frank, bitte ins Studio!“

Das war mein Name, obwohl ich eigentlich noch gar nicht dran war. Vielleicht hatten sie etwas vorgezogen. Was auch immer es war, es rettete mich.

Mit großem Bedauern verabschiedete ich mich und nahm meine Tasse mit. Als ich beim Studio ankam, war das Erste, was ich sah, ein in Tränen aufgelöstes junges Mädchen, eine der Neuen, die sich zum ersten Mal beim Synchron versucht hatten. Ein anderes saß neben ihr auf dem Sofa und bemühte sich halbherzig, sie zu trösten. Die Türen zur Regie und zum Studio waren geschlossen.

„Das kann doch jedem mal passieren“, flüsterte die Trösterin nicht sehr überzeugend. „Ist ja auch ein schwieriger Satz.“

Als ich eintrat und meine Tasche ablegte, warf sie mir einen vorwurfsvollen Blick zu, von dem ich nicht wusste, womit ich ihn verdient hatte.

Die Tür des Studios ging auf und Regina, die Cutterin, kam heraus.

„Ah, Elsa, da bist du ja, komm gleich rein.“ Sie streifte das verweinte Häufchen Elend auf dem Sofa mit einem peinlich berührten Blick und verschwand wieder im Studio, laut „Sie ist da“ rufend.

Ich ging hinter ihr her.

Als ich einen Blick durch die Scheibe zum Regieraum warf, sah ich dahinter Henning, den Regisseur, mit zerrauften Haaren und offensichtlich zu Tode erschöpft über dem Tisch hängen. Der Tonmeister neben ihm hatte den Blick gesenkt und drehte an ein paar Schaltern. Regina machte mir seltsame Zeichen, denen ich entnehmen konnte, dass die Luft so dick war, dass man sie schneiden konnte. Laut sagte sie: „Du musst bitte einen Extra-Take sprechen. Das hat gerade nicht so ganz geklappt.“ Sie räusperte sich.

„…ANZ GEKLAPPT?“, schrie Henning, aus seinem Koma erwachend, durchs Mikrofon. Er hatte wohl den Knopf zu spät gedrückt, sodass man nur den letzten Teil hören konnte, doch er wiederholte sich gerne und in gleicher Lautstärke noch einmal.

„NICHT SO GANZ GEKLAPPT?“

Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich hatte schon öfter von Hennings Wutausbrüchen gehört, aber sie noch nie live erlebt. Das hatte was. Kein Wunder, dass das Mädchen sich draußen die Augen ausheulte.

„Wie oft haben wir den Satz gemacht?“, wollte Henning wissen. „Wie oft?“

Er wiederholte die Frage mehrmals, mal fand er den Knopf fürs Mikrofon, mal fand er ihn nicht und man sah nur seine Mundbewegungen.

Er antwortete schließlich selbst: „Dreiundzwanzig Mal! DREIUNDZWANZIG MAL!“

Zu seinen Wutausbrüchen schien es zu gehören, dass er selbst jeden Satz auch mindestens zweimal wiederholte.

Ich fragte mich erstens, wieso sie es überhaupt so oft versucht und nicht gleich die Sprecherin ausgetauscht hatten, schließlich gab es an einem Ensembletag genügend Alternativen. Und zweitens fragte ich mich, was das für ein Satz war, denn den musste ich nun sprechen, und ich wagte mir nicht vorzustellen, was passieren würde, wenn er nicht beim ersten Mal saß. Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich hier an einem kritischen Punkt in meiner Synchronkarriere angelangt war: entweder ich versagte, und das war’s dann oder … tja, was?

„Wo sind wir denn?“, fragte ich so sachlich wie möglich Regina.

Ich war ‚Frau in getupftem Kleid’ und der Satz lautete: ‚Er ist dort hinter dem Kiosk verschwunden.’

„Aha!“, entfuhr es mir. Was war daran so schwer? Der Tonmeister zeigte mir nun auch den Take: Die Frau stand vor einem Laden und antwortete einem Polizisten, der einen flüchtigen Verbrecher verfolgte. Dabei sagte sie den Satz. Aufgeregt, aber nicht zu schnell. Wichtigtuerisch, aber nicht zu bedeutend. Auf vier, kein Anatmer, keine Pause, einfach durchsprechen.

„Okay“, sagte ich, atmete ruhig und konzentrierte mich auf den Start. Eins. Zwei. Drei. Bei vier fing ich an zu sprechen und nach fünf Sekunden war alles vorbei.

„Danke!“, sagte Regina und strahlte mich erleichtert an.

„Du bist ein Schatz!“, seufzte es glücklich durch das Mikrofon. Eine Kusshand flog mir zu. Der Tonmeister hatte den Blick wieder gehoben und wischte sich mit dem Handrücken grinsend die Stirn ab.

„Kleine Pause?“, fragte Regina nach hinten und Henning nickte. Er zückte bereits seine Zigarettenschachtel und verschwand.

Regina nutzte die Gelegenheit, das Fenster im Studio aufzumachen und frische Luft hereinzulassen.

„Bei dem vielen Angstschweiß kann man gar nicht mehr atmen“, meinte sie und verdrehte die Augen.

„Was war denn das Problem vorhin?“, fragte ich.

Sie verdrehte die Augen noch mehr. „Zu schnell, zu hektisch, zu undeutlich und vor allem das Wort ‚Kiosk’“, sagte sie. „Man hat einfach nicht erfahren, wohin der Typ verschwunden ist, du hast keine Ahnung, wie viele Varianten da möglich sind.“

„Dreiundzwanzig?“, riet ich. Sie nickte.

„Und Henning wollte es ihr unbedingt beibringen. Wenn er nicht so stur gewesen wäre, aber nein, immer wieder musste sie es versuchen, obwohl sie sich schon in ein Mauseloch verkriechen wollte. Der alte Sadist.“

„Das hab ich gehört“, ertönte Hennings Stimme über Mikrofon. Blauer Rauch quoll aus seinem Mund und er nahm gleich noch einen tiefen Zug aus der Zigarette.

„Geschieht dir recht“, gab Regina ungerührt zurück.

Henning drohte mit dem Finger, wirkte aber wieder ganz entspannt.

Ich ging in den Aufenthaltsraum zurück, in dem sich inzwischen auch der Läubel wieder eingefunden hatte. Das Mädchen hatte aufgehört zu heulen, saß aber zusammengekauert und mit roten Augen auf dem Sofa. Sie vermied es, mich anzusehen. Ich war die Feindin, die ihre Schmach noch vergrößert hatte. Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich aus Solidarität nicht wenigstens ein einziges Mal über den Kiosk hätte stolpern können, doch ich verwarf den Gedanken spätestens als Henning hereinkam, mich beiseite nahm und mir ein Buch in die Hand drückte. Das Synchronbuch für eine romantische Komödie, ein kommender Blockbuster aus Hollywood.

„Mach dich schon mal mit der Claire vertraut“, raunte er mir zu und zwinkerte kurz, dann wandte er sich an das Unglücksmädel, setzte sich mit Schwung neben sie auf das Sofa und nahm sie in den Arm.

„Mach dir nichts draus. So haben alle mal angefangen.“ Er drückte sie väterlich an sich und löste damit eine erneute Tränenflut aus.

Ich schlug das Buch auf und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Claire kam fast auf jeder Seite vor: die Hauptrolle. Mindestens dreihundert Takes. Ich überschlug schon mal im Kopf, was das bei hundert DM Komm-Gage und sechs Mark pro Take einbringen würde. Um diesen Monat musste ich mir jedenfalls keine Sorgen mehr machen. Großer Gott! Da war man in der Lage, im richtigen Moment einen Satz mit dem Wort ‚Kiosk’ fehlerfrei zu sprechen, und schon drehte sich die Welt auf den Kopf. Hätte es ein Casting für die Rolle gegeben, hätte man mich wahrscheinlich nicht einmal eingeladen.

Ich bemühte mich, den Rest des Tages so konzentriert zu bleiben, dass ich meinen Karrieresprung nicht doch noch gefährdete, aber zum Glück blieb die größte Herausforderung für mich, in der schlechten Luft im Studio neben rund fünfzehn verschwitzten Leuten nicht ohnmächtig zu werden. Mein letzter Satz an diesem Tag lautete: „Du verdammter Hurensohn!“ Das war’s.

Ich verabschiedete mich von Henning mit einem Handschlag, von Regina mit zwei Wangenküsschen und sah zu, dass ich schneller aus dem Studio herauskam als der Läubel.

Was für ein erfolgreicher Tag! Eigentlich sollte man das feiern, dachte ich und ging im Kopf alle Leute durch, die ich dazu einladen konnte. Die Liste war kurz, denn ich hatte in München weder Eltern noch Geschwister. Meine beste Freundin war gerade in Australien und eine zweitbeste Freundin gab es nicht, jedenfalls nicht hier. Natürlich waren da ein paar Bekannte, mit denen ich ab und zu etwas unternahm, mal ins Kino oder zum Essen. Man traf sich, unterhielt sich über dies und das, angeregte Gespräche, aber niemals zu persönlich.

Keiner von denen hätte ausgelassen mit mir zusammen darüber gejubelt, dass ich meine erste Synchronhauptrolle ergattert hatte.

Da stand ich nun mit meinem Triumph vor einem Tengelmann, bereit, die teuerste Flasche Wein zu erstehen, die sie dort hatten, vielleicht sogar zwei, nur leider machte das so gar keinen Spaß mit der Aussicht, sie alleine trinken zu müssen. Das war so traurig, fand ich, alleine zu trinken. Das machte man nur, wenn man depressiv war oder ein Säufer. Und alleine mit sich selbst auf einen Erfolg anstoßen, war nicht besser. Es schmälerte den Erfolg sogar irgendwie, gab ihm einen schalen Geschmack.

Mir fiel ein, dass ich kein Brot mehr daheim hatte, also betrat ich den Laden trotzdem, kaufte Brot, Toilettenpapier und Nussschokolade. Keinen Wein. Es war idiotisch.

Ich machte, dass ich nach Hause kam.

So war es oft: Ein kurzes Hochgefühl verwandelte sich so schnell in Ernüchterung, wie man brauchte, um mit den Fingern zu schnippen. Zack! Da war ich wieder auf der Erde, wo ich hingehörte. Ich hatte eine Hauptrolle, eine nette Altbauwohnung im Glockenbachviertel, Nussschokolade und konnte das Wort Kiosk aussprechen, ohne Menschen dabei Nervenzusammenbrüche zuzufügen, was wollte ich denn noch?

Warum schleppte ich sogar an guten Tagen immer dieses Miesepeter-Gefühl mit mir herum? Warum war ich so eine blöde Kuh?

Warum konnte ich nicht einfach ganz locker meinem neuen Nachbarn ein Handtuch reichen, mit dem er sein entblößtes Genital bedecken konnte, oder besser noch einen Bademantel?

Warum konnte ich nicht einfach den mir aufgedrängten Kaffee nehmen und mich dann souverän verdrücken, anstatt mir ein Gespräch oder vielmehr einen Monolog aufzwingen zu lassen?

Warum konnte ich nicht einfach eine Flasche Wein kaufen, mir eine Pizza bestellen und den Abend genießen? Einfach so. Warum tat ich nie, was ich wirklich wollte?

Ich sollte meine Eltern anrufen und sie fragen, was sie bei mir falsch gemacht hatten. Ich meine, außer meinen älteren Bruder entscheiden zu lassen, welchen Namen ich bekommen sollte. Der war damals in der ersten Klasse und kannte aus seiner Fibel Hans, Heiner und Elsa. Elsa! So sollte ich heißen, meinte er und bestand darauf mit der Entschlossenheit eines Sechsjährigen, nachdem meine Eltern ihm nun einmal den Freibrief dazu erteilt hatten. Elsa! Kein schönes Schicksal!

„Griaß Gott, Frolein Frank!“

Die dicke, nervige Nachbarin aus dem vierten Stock, Frau Obermoser, grüßte mich, und ich stellte fest, dass ich mich bereits im Durchgang zu unserem Haus befand. Rasch versuchte ich, aus meinen trüben Gedanken wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren, grüßte ebenfalls und vergaß sogar, mich innerlich darüber aufzuregen, dass sie mich mal wieder ‚Fräulein’ genannt hatte.

„Sangs amol“, setzte Frau Obermoser an, und ich befürchtete ein längeres Gespräch, zu dem mir jegliche Lust fehlte.

„Kenna Sie den neie Nachborn scho?“ Sie legte den Kopf etwas schief, als erwartete sie von mir zu hören: ‚Ja, das ist doch dieser gefährliche Massenmörder, wissen Sie das nicht?’ Doch ich sagte nur: „Nicht wirklich, nur vom Sehen.“

„Aha!“, sagte sie und nickte, als hätte ich gerade gesagt: ‚Ja, das ist doch dieser gefährliche Massenmörder, wissen Sie das nicht?‘

Ich wollte schon weitergehen, da rief sie hinter mir her: „Der spuilt scho den gonzn Ownd Trumbet, wann er bis achte ned afherd, konner wos erlem.“

Ich sah auf die Uhr. Es war gerade mal halb sieben, wo war das Problem? Doch es wunderte mich, dass Finn Trompete spielen sollte. Ich besann mich darauf, was ich in meinem Beruf gelernt hatte und gab meinem Gesicht einen Ausdruck, der zwischen Verständnis und Bedauern jede Interpretation offen ließ. Ich hoffte, dass es damit getan war, und begab mich in den Vorraum unseres Treppenhauses, wo ich in meinen Briefkasten schaute.

„I moan, des is a ganz a Windiger“, tönte es hinter mir. Die Obermoserin verfolgte mich. Vielleicht erhoffte sie sich in mir eine Verbündete, denn ich wohnte genau neben Finn und sie genau unter ihm, aber damit konnte ich nicht dienen. Wenn ich mich auf der Welt mit jemandem nicht verbünden würde, dann war es diese bayrische Granatwachtel, die mich mit Fräulein anredete, täglich ein Stück Fleisch für ihren Franzl auf den Tisch bringen musste („des braucht’s scho“), in alles ihre Nase steckte, als wäre sie die Aufseherin des Hauses („Sie, so geht des fei ned“), und in ihrem Wohnzimmer ein Bild von Franz Josef Strauß hängen hatte („Des worn noch Zeitn.“)

Ich holte eine Theaterzeitung, die ich abonniert hatte, aus dem Briefkasten und sagte: „Wie gesagt, ich kenne ihn nicht. Schönen Abend noch, Frau Obermoser!“

Ich schenkte ihr ein kurzes, abschließendes Lächeln und rauschte betont geschäftig zur Treppe. Ich konnte sicher sein, dass sie mich dort nicht mehr einholen würde, denn ich hatte einige Zentner weniger die Stufen hinaufzuwuchten als sie.

Allerdings war ich trotz meines Fliegengewichts – in Relation zur Obermoserin – restlos außer Puste, als ich endlich im fünften Stock vor meiner Wohnung ankam. Ich sollte mehr Sport treiben, dachte ich, ohne es tatsächlich so zu meinen. Wie immer musste ich erst einmal in meiner viel zu großen und viel zu unordentlichen Handtasche nach meinem Schlüssel kramen. Aus der Nachbarwohnung drang Musik, aber es war keine Trompete, wie die Nachbarin behauptet hatte, für deren Ohren sicher jedes Blasinstrument gleich klang und die wahrscheinlich auch nichts anderes kannte. Nein, es waren eindeutig die weichen, schnurrenden Töne eines Saxophons, die den Weg zu mir nach draußen fanden. Ich hielt inne und lauschte, was er da spielte, falls er es war. Oder war es doch eine Platte? Ob ich es in meiner Wohnung wohl noch hören konnte? Die dicken Wände des Altbaus waren normalerweise ziemlich geräuschresistent. Zum ersten Mal bedauerte ich das. Die Musik brach ab. Dann nach ein paar Sekunden ging es weiter. Ein anderes Lied. The Rose. The Rose auf einem Saxophon. Ich wollte auf dem Flur übernachten, direkt vor der Tür, aus der die Musik kam, und die ganze Nacht zuhören.

Ich fand meine Schlüssel, sperrte auf und ging in meine Wohnung.

Innen hörte man kaum noch etwas, wie ich schon vermutet hatte. Wieso regte sich die alte Schreckschraube dann so auf? Sollte sie doch ihr billiges Fleisch in die Pfanne hauen, das Brutzeln und Spritzen würde schon alles übertönen.

Ab und zu drückte ich mein Ohr an die Wand, um zu hören, ob noch etwas zu hören war, und kam mir dämlich dabei vor. Aber es sah mich ja keiner. Und es wusste auch keiner, welches Bild in meiner Vorstellung erschien, wenn ich die Augen schloss: Finn, nackt auf einem Sofa und dabei The Rose auf dem Saxophon spielend. Hätte ich doch nur den verdammten Wein gekauft, dachte ich, ich könnte mich auf diese Weise ins Delirium träumen.

Ich schaffte es auch so. Der lange Tag und die schlechte Luft im Studio hatten mich so müde gemacht, dass ich vollkommen angekleidet auf meinem Bett einschlief, sobald ich mich darauf niederließ.

Zwei Stunden später wachte ich wieder auf. Im Zimmer war es inzwischen fast dunkel, die Kleider engten mich unbequem ein und ich war völlig kaputt. Als ich das Gekeife vor der Tür hörte, wurde mir klar, was mich geweckt hatte.

Frau Obermoser schimpfte mit durchdringender Stimme und machte damit wahr, was sie unten vorm Haus angekündigt hatte: „Do konner was erlem.“ Finn erlebte also gerade ein Donnerwetter vom Feinsten.

Ich rappelte mich auf und versuchte zu verstehen, was Frau Obermoser alles im Köcher hatte, doch ihre Stimme überschlug sich und war so schrill und bairisch, dass das unmöglich war. Von Finn hörte man nichts.

Ich mochte normalerweise ein eher introvertierter, vielleicht sogar ein wenig verklemmter, mit Sicherheit aber harmoniebedürftiger Mensch sein, doch das alles war vergessen, wenn ich gewaltsam und ohne Not aus dem Schlaf geholt wurde.

Es war mir in diesem Moment egal, ob mein Make-up verschmiert war, meine Augen verquollen und meine kurzen Haare in alle Richtungen abstanden. Ich riss die Tür auf und sagte laut und empört: „Was ist denn hier los?“

Frau Obermoser schrak zusammen und sah mich mit großen Augen an, doch sie fasste sich rasch wieder. Sie stand einen halben Meter von Finn entfernt, der ernst aber unbeeindruckt – mit Jeans und T-Shirt bekleidet übrigens – am Türrahmen lehnte und den Sermon stoisch über sich ergehen ließ.

„Da“, sie zeigte auf Finn, als hätte sie ihn gerade bei einem Einbruch ertappt, „der junge Mann hot es nicht für nötik befunden, sich an die Hausordnunk zu holten.“ Sie versuchte, Hochdeutsch zu reden, vielleicht weil sie dachte, dass dadurch ihr Auftritt einen amtlichen Charakter bekam.

Weil mir das als Erklärung nicht genügte und ich sie weiterhin nur fragend und wütend anstarrte, fuhr sie fort.

„Hot af seiner Trumbeten gespuit. Es is scho glei Neine, und ma will doch seine Ruhe haben.“ Sie beendete den Satz trotzig erneut auf Hochdeutsch.

„Ich dachte nicht, dass man …“, setzte Finn zu einer Entschuldigung an, doch ich schnitt ihm das Wort ab, ohne ihn zu beachten.

„Ich habe in meiner Wohnung keinen Ton gehört“, sagte ich laut und deutlich, aber ohne zu schreien. „Alles, was ich gehört habe, war Ihr Geschrei, Frau Obermoser.“ Ich sah ihr fest und unverwandt in die Augen. „Ich habe mich mit Kopfschmerzen hingelegt und bin eingeschlafen und erst durch Ihren Lärm bin ich wieder wach geworden. Nicht durch eine Trompete. Durch Sie, Frau Obermoser.“

Frau Obermoser stand der Mund offen und sie fühlte sich sichtlich unwohl in der Defensive, in die sie sich plötzlich gedrängt sah.

„Aber I hab’s g’hert in meiner Wohnung herunten. Des muaß I ma doch need gfalla losn.“

Sie versuchte, die dicken Arme über ihrem mächtigen Busen zu kreuzen, was jedoch nicht möglich war, sodass sie sie einfach wieder sinken ließ.

„Dann beschweren Sie sich in Gottes Namen demnächst schriftlich oder rufen gleich die Polizei, aber veranstalten Sie bitte nicht einen solchen Lärm.“

Ich blitzte sie noch einmal wütend an, zog mich dann in meine Wohnung zurück und warf energisch die Tür ins Schloss. Peng!

Das hatte ja richtig gut getan, dachte ich amüsiert, unterdrückte ein Lachen und klemmte mich vorsichtig hinter den Spion, um den Effekt zu bewundern. Das konnte man einer Schauspielerin doch nicht verdenken, oder?

„Also, Frau Obermoser, es wird nicht wieder vorkommen“, hörte ich Finn sagen, ohne dass ich ihn sehen konnte, dafür reichte der Blickwinkel des Spions nicht aus.

Frau Obermoser stand noch unter Schock, nickte nur kurz und murmelte etwas wie: „Dös wui i a hoffen.“ Dann eilte sie, so schnell sie es vermochte, die Treppe hinab. Nebenan wurde die Tür geschlossen. Schade, jetzt würde er wohl nicht mehr spielen.

Eine Minute später hörte ich leise durch die Wand The Rose.

Bei der nächsten Begegnung mit Frau Obermoser war die Dame denkbar kühl und kurz angebunden, was mir gut gefiel. Mehr als ein schnippisches „Grüß Gott!“ – auf Hochdeutsch – schenkte sie mir nicht mehr. Kein süßliches Lächeln, kein „Scheena Doog no!“ Sehr gut!

Finn sah ich eine ganze Weile überhaupt nicht. Ab und zu hörte ich seine Haustür nebenan, aber das war alles. Unsere Nachbarschaft schien sich so zu gestalten wie die mit seinem Vormieter. Eigentlich fand ich es schade, denn spätestens seit ich ihn Saxophon spielen gehört hatte, hatte ich den Wunsch, ihn kennenzulernen. Richtig kennenzulernen. Nicht dass ich mir das eingestanden hätte, aber ich dachte immer wieder an ihn. Wenn ich aus dem Haus ging oder zurückkam, hoffte ich insgeheim, ihm zu begegnen. Wenn ich seine Haustür hörte, war ich versucht, zum Spion zu eilen, was ich mir natürlich nicht gestattete. Wie kindisch wäre das denn gewesen?

Dann kam endlich mein großer Tag. Zwei große Tage eigentlich. Die Synchronaufnahmen zu dem Kinofilm, bei dem ich die weibliche Hauptrolle sprechen sollte, gingen los. Ich hatte auf drei Tage gehofft, doch die geschickte und sparsame Aufnahmeleiterin hatte alle meine Takes in zwei Tage gequetscht. Das hieß von morgens bis abends hellwach sein und jede Minute einen der berühmten Henning-Ausbrüche fürchten, die zeitweise sogar die Leute ereilten, die er gut leiden konnte und mit denen er eigentlich ganz zufrieden war.

Ich hatte nicht wenig Panik. Er kannte mich doch eigentlich gar nicht so gut. Dieser eine Take in einem günstigen Moment war sicher schon längst wieder vergessen. Jetzt wurden von mir ganz andere Qualitäten verlangt und wenn ich das nicht bringen konnte, was dann? Würde diesmal ich weinend auf dem Sofa sitzen? Würde Henning hysterisch durch die Gänge laufen und nach einem vernünftigen Ersatz schreien?

Ich war froh, als mir im Studio Regina entgegenkam. Sie war Hennings Leib-und-Magen-Cutterin. Diejenige, die seinen Ausbrüchen standhalten oder sie manchmal sogar abfangen konnte und die sich nicht scheute, ihm auch mal die Meinung zu sagen. Und sie war eine echte Hilfe, besaß Adleraugen und die nötige Ruhe, die einem Sicherheit gab.

Das Herzklopfen, das sich bei Reginas Anblick ein wenig gelegt hatte, setzte jedoch umso stärker wieder ein, als ich meine Sachen in den Aufenthaltsraum brachte.

„Hallo, ich glaube, wir beide haben heute das Vergnügen miteinander, stimmt’s?“

David Aigner stand leibhaftig vor mir, nannte höflich seinen Namen, als wäre er irgendein unbekannter Nobody, und streckte mir lächelnd die Hand entgegen. David Aigner, der Synchrongott, die Stimme aller Stimmen, der Star aller Stars unter den Sprechern. Ich wollte sterben. Oder mich in Luft auflösen. Irgendwas, nur nicht neben diesem Mann am Pult stehen müssen und in seinem Beisein versagen und von Henning fertiggemacht werden. Doch als nichts passierte, das mich vor dieser Schmach retten konnte, ergriff ich notgedrungen seine Hand, schaffte ein verkrampftes Grinsen und sagte etwas kurzatmig: „Elsa Frank!“

„Hi Elsa“, sagte er nett. „Sagen wir Du?“

Ich nickte nur, weil ich damit beschäftigt war, den Kloß in meinem Hals loszuwerden.

Er lachte. „Bist du nervös?“, fragte er direkt, aber ohne dabei taktlos oder gar gönnerhaft zu wirken.

„Ehrlich gesagt, ja“, sagte ich, meine Stimme rauer als ohnehin schon.

„Ich auch“, erwiderte er zu meiner Überraschung und als ich ihn ein wenig skeptisch ansah, fügte er hinzu: „Im Ernst. Jedes Mal wieder. Und die Leute glauben es mir nie.“

Er setzte sich auf das Sofa, auf dem einige Wochen zuvor die aufgelöste Kleine gesessen hatte. Es kam mir so absurd vor.

David Aigner war sehr groß, sicher fast zwei Meter lang, und so breitschultrig, dass ich mich fragte, ob wir nebeneinander hinter das Pult passten. Er war attraktiv, aber ganz und gar kein Schönling, hatte leicht pockennarbige Haut und eine lange, sehr markante Nase, doch seine Augen strahlten Wärme und Herzlichkeit aus und waren umgeben von vielen kleinen Lachfältchen. Sein Alter war nur schwer zu schätzen, er konnte ebenso gut dreißig wie auch vierzig sein, denn er wirkte jugendlich und sehr erfahren zugleich.

Ich wollte mich schon zu ihm setzen, als Regina hereinkam und meinte: „Dann legen wir mal los, oder?“

„Auf in den Kampf“, sagte David und lächelte mir zu. Ich atmete tief durch und sammelte allen Mut, alle Konzentration und alles, was ich je gelernt hatte.

Der Film war eine romantische Komödie, in der es um die schwierige Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann ging, die von Anfang an füreinander bestimmt schienen, doch sich immer wieder aus den Augen verloren, weil sie zu unterschiedlich und zu dickschädelig waren. Ihre Liebe erkannten sie erst – wie in solchen Filmen üblich – ganz am Schluss.

Meine Figur hieß Claire und war das Gegenteil von mir: eine unangepasste, aufmüpfige junge Frau, die gern gegen den Strom schwamm und immer ein wenig zu schnell mit dem Mundwerk war. Meine raue Stimme passte hervorragend zu der Figur, wie ich erstaunt feststellte, besser noch als zu mir selbst.

Den ersten Take hatte David und er brauchte drei Versuche. Einmal war er zu kurz und beim zweiten Mal wollte er es selbst noch besser machen, obwohl Henning schon zufrieden war. Das war es also, was ihn von anderen unterschied: Er wollte das, was er tat, nicht einfach nur gut machen, er wollte es so gut wie nur möglich machen. Er war toll. Ich war ihm vom ersten Take an verfallen, in professioneller Hinsicht natürlich.

Dann kam ich. Mein Take war erschreckend lang und Regina, die wohl die Angst in meinen Augen gesehen hatte, fragte, ob wir ihn vielleicht teilen wollten, aber Henning zischte von hinten durch das Mikrofon: „Quatsch, die kann das.“

‚Was heißt hier betrogen? Wie kann man jemanden betrügen, den man nicht liebt? Ich hab die Schnauze voll von dir, verstehst du? Ich liebe dich nicht. Ich liebe dich nun mal nicht, und jetzt lass mich in Ruhe.’

Das war mein Text. Claire machte gerade mit ihrem Freund Schluss, auf ihre Weise. Rücksichtslos, hart, verletzend. Sie wäre mir unsympathisch gewesen, wenn ich nicht schon das ganze Buch gelesen und gewusst hätte, dass das alles nur eine Maske war. Sie verletzte, bevor andere sie verletzen konnten, weil sie so viel Angst davor hatte. Eine junge Frau, die sich selbst im Weg stand.

Gregor, der Tonmeister, spielte mir den Take vor: Er war lang, schnell, emotional, mit vielen winzigen Pausen. Ich versuchte zu erkennen, wo mein Text hingehörte, und wie ich ihn verteilten musste, aber irgendwie schien das Original rhythmisch gar nicht zu der deutschen Fassung zu passen.

„Lass dich nicht beirren“, ließ sich Henning vernehmen. „Der deutsche Text liegt etwas anders, aber das passt schon.“ Ach wirklich?

„Einfach ablesen“, flüsterte mir David zu. Was? Ablesen? Nicht aufs Bild schauen? Ich sah ihn fragend an, doch er nickte nur.

Der Take war schon da, ich hatte ihn verpasst. Also nochmal. Einfach ablesen. So, wie ich es sagen würde. Wütend, trotzig, aufgebracht. Einfach auf den Autor vertrauen und ablesen, sobald die vier kam.

Eins. Zwei. Drei.

„Was heißt hier betrogen? Wie kann man jemanden betrügen, den man nicht liebt? Ich hab die Schnauze voll von dir, verstehst du? Ich liebe dich nicht. Ich liebe dich nun mal nicht und jetzt lass mich in Ruhe.“

Noch während ich las, war ich von mir selbst überrascht. Meine Stimme vibrierte förmlich, der heisere Ton ließ erahnen, dass hinter all der Wut eine verletzte Seele steckte, die sich verzweifelt zu verbergen versuchte.

„Großartig!“, kam es aus der Regie.

„Das war ja der Hammer“, sagte Regina verblüfft. „Den Schluss kann ich ziehen, das passt.“

David grinste mich an und applaudierte geräuschlos. Besser ging’s nicht.

Es war nicht so, als ob von da an alles reibungslos lief. Natürlich gab es Takes, die ich drei-, vier-, fünfmal machen musste, aber die gab es bei David auch. Wir ergänzten uns fantastisch und es machte am meisten Spaß, wenn wir Takes gemeinsam hatten.

Am späten Vormittag kamen noch zwei weitere Kollegen dazu, am Nachmittag noch verschiedene andere. Auch das lief wunderbar.

Den nächsten Tag begann ich alleine. David kam am Nachmittag wieder. Als wir am Abend unseren allerletzten Take gemeinsam sprachen, Regina danach strahlend in die Hände klatschte und Henning nach vorn kam und mich stürmisch umarmte, war ich so glücklich wie nie. Es war wie ein Rausch, bei dem ich nichts anderes denken konnte als: Das will ich wieder und wieder und wieder.

Aber erst einmal war es vorbei. Man ging zwar noch gemeinsam auf ein Glas Wein in die Kantine, doch sowohl Regina als auch Henning verabschiedeten sich rasch. Für sie war es Routine. Am nächsten Tag wartete auf sie ein weiterer Ensembletag und danach kam ein anderer Film oder eine Serie. Mal besser, mal schlechter. Mal angenehmer, mal unangenehmer. Nur ich fühlte mich besonders und wollte dieses Gefühl nicht so schnell wieder loslassen. Ich bemerkte, dass David auf die Uhr schaute. Na klar, er hatte am nächsten Tag wahrscheinlich wieder irgendeine Hauptrolle zu sprechen, in einem anderen Studio einem anderen Weltstar seine Stimme zu leihen. Die altbekannte Ernüchterung klopfte schon wieder bei mir an, das Adrenalin versickerte.

„Ich würde ja am liebsten noch was mit dir trinken“, sagte David dann prompt und ich machte mich schon bereit, ihm zu versichern, dass es nicht schlimm sei, dass er jetzt schon gehen müsse, ich müsse ja auch nach Hause und so weiter, aber dann sagte er: „Ich hab nur blöderweise einem Freund zugesagt, bei seiner Vernissage aufzutauchen. Hättest du vielleicht Lust, noch mitzukommen?“

Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. „Ähm, äh, ja“, stammelte ich und besann mich dann. Mit diesem Mann hatte ich gerade eine innige Liebesbeziehung mit allen Höhen und Tiefen durchlebt, wenn auch nur vor einem Mikrofon, da gab es keinen Anlass mehr zu stammeln.

„Ja, gern“, sagte ich mit fester Stimme und musste lachen.

„Toll!“, strahlte er und meinte: „Wenn du dich in mein Auto traust, sind wir in fünf Minuten dort.“

„Natürlich trau ich mich“, sagte ich. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er einer war, der den Wagen in eine dunkle Gasse lenken und dort über mich herfallen würde, doch das war es nicht, was er gemeint hatte.

Als wir nach draußen kamen, stand da ein hellblauer Trabbi, der nicht so aussah, als wäre er groß genug, um Davids langen Beinen und breiten Schultern Platz zu bieten.

„Der musste sein“, sagte er und öffnete mir die Tür. „Wer weiß, wie lange es die noch gibt.“

Ich stieg ein und David quälte sich auf den Fahrersitz, während er erklärte, er habe das Auto einem Cousin aus der DDR abgekauft, der sich jetzt, nach dem Fall der Mauer, so bald wie möglich etwas anderes zulegen wollte.

Ich bekam allein schon vom Anblick seiner unbequemen Sitzhaltung Rückenschmerzen.

„Ja, ich weiß, ich spinne“, erriet David meine Gedanken. „Keine Angst, demnächst fahre ich auch wieder Kombi. Hat mir mein Arzt verschrieben.“

„Privatpatient, was?“, sagte ich. David lachte.

„Da sind wir“, sagte er nach kurzer Zeit und bog in den Hof einer großen, alten Villa in Bogenhausen ein.

„Wow!“, entfuhr es mir.

„Da wohnt keiner mehr, die steht leer“, erklärte David. „Entsprechend heruntergekommen sieht es drinnen auch teilweise aus. Die Dame, der die Villa gehört, ist eine große Kunstliebhaberin und stellt das Haus jungen Künstlern als Ort für ihre Ausstellungen zur Verfügung.“

„Umsonst?“, fragte ich.

„Allerdings!“, antwortete David. „Sie selbst wohnt übrigens gleich dahinten.“ Er deutete auf eine andere Villa, die eindeutig in besserem Zustand und ebenfalls von einem riesigen, wunderschönen Garten umgeben war, den man jedoch wegen der hohen Hecken nur zum Teil einsehen konnte.

„Wow!“, sagte ich noch einmal und David lachte.

Der Eingang der alten Villa stand offen und man konnte einfach eintreten. Obwohl es von außen nicht danach aussah, war eine ganze Menge los. Leute, die sich schick gemacht hatten, schlenderten oder standen herum, hielten Sektgläser in der Hand, unterhielten sich oder betrachteten die ausgestellten Bilder, die überall an den Wänden hingen. Ich war vorher noch nie auf einer Vernissage gewesen, doch es war genau wie ich es mir immer vorgestellt hatte: mondän und etwas schräg. Ich kam mir denkbar fehl am Platz vor. David schien sich auszukennen und schob mich behutsam, seine Hand an meinem Ellbogen, von Zimmer zu Zimmer. Einmal beugte er sich zu mir herunter und flüsterte mir zu: „Da drüben ist die Besitzerin der Villa.“ Sein Kopf zuckte unauffällig in die Richtung, in der auf einem großen, alten Sessel eine kleine, alte Dame mit weißem Haar und unzähligen Klunkern um den Hals und an den Armen saß. Sie hielt ein Sektglas in der reich beringten Hand und unterhielt sich mit ein paar jungen Leuten, die um sie herum standen. Das heißt, sie redete und die jungen Leute hörten zu. Ich hatte den Eindruck, dass sie gerne geflohen wären, aber das war nicht möglich, ohne schlechte Manieren zu offenbaren. Und vielleicht war ja unter ihnen auch jemand, der sich in Zukunft von der Dame unterstützen lassen wollte.

David nahm zwei Sektgläser von einem der Tabletts, die von jungen Aushilfskellnern mit langen, weißen Schürzen durch die Gegend getragen wurden, und drückte mir eines davon in die Hand.

Die Farbe des ‚Sekts’ war verdächtig dunkel.

„Das ist doch wohl kein …“

„Champagner. Genau“, sagte David. „Zum Wohl!“

Ich sparte mir ein drittes ‚Wow’, denn sonst hielt er mich womöglich für ein totales Landei, das noch nie rausgekommen war. Womit er recht gehabt hätte.

„Die Gute lässt sich nicht lumpen“, bemerkte David.

„Bist du öfter auf solchen Veranstaltungen?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Mein Bruder ist Kunstprofessor und hat für seine Studenten, oder auch Ex-Studenten, Möglichkeiten gesucht, sich und ihre Arbeiten zu präsentieren. Dabei hat er eines Tages diese Villa entdeckt und das ganze Projekt ins Rollen gebracht. Dass die Besitzerin so eine spendable Rolle spielt, war zwar nicht geplant, aber wenn sie Freude daran hat, umso besser. Ich komme nur her, wenn ich den Künstler auch persönlich kenne oder wenn mein Bruder nicht hier sein kann. Und heute trifft beides zu.“

Ich war irgendwie beruhigt, dass David einen persönlichen Bezug zu der Geschichte hatte und nicht hier war, weil er auf solche Schicki-Micki-Veranstaltungen stand.

Eine rothaarige Frau im kleinen Schwarzen warf mir im Vorbeigehen einen abschätzigen Blick zu. Ich war mit meiner Jeans, den flachen, bequemen Schuhen und der zwar hübschen, aber doch alltäglichen Bluse mit dem kleinen Blümchenmuster nicht wirklich passend angezogen. Auch mein Make-Up war nicht für den Abend oder derartige Gelegenheiten gedacht und an das Aussehen meiner Haare wollte ich gar nicht erst denken. Ich nahm einen großen Schluck Champagner und versuchte, mein Selbstbewusstsein durch den Gedanken an meine Leistung der letzten beiden Tage aufzupolieren. Und natürlich durch den Mann an meiner Seite. Na ja, nicht gerade an meiner Seite, aber immerhin war David nicht irgendwer und seine imposante, durchaus charismatische Erscheinung machte Eindruck. Trotzdem, der Blick dieser Frau hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Ich wollte mich am liebsten verkriechen. Oder nach Hause gehen.

Plötzlich hob David die Hand und winkte.

„Hey! Finn!“, rief er mit seiner markanten, durchdringenden Stimme.

Ich zuckte zusammen. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt. Den Namen. Finn. Mir fuhr ein Schreck durch die Glieder und ich versuchte hektisch herauszufinden, wem er da winkte und wer um alles in der Welt ebenfalls den Namen Finn trug.

Nicht ebenfalls. Es war Finn. Mein Nachbar Finn McGregor. Der Finn.

Er kam durch die ganzen Leute direkt und lässig auf uns zu. Weißes, ungebügeltes Hemd, Jeans, Turnschuhe und sein typisches breites Grinsen im Gesicht. Warum musste ich diesem Menschen immer dann begegnen, wenn es peinlich war, wenn er nackt oder ich unpassend gekleidet war. Unwillkürlich wich ich ein wenig zurück und war dankbar, dass David Finn entgegenging und ihm so den Blick auf mich versperrte.

Die beiden gaben sich halb die Hand, halb umarmten sie sich. Irgend so eine männliche Begrüßungsgeste. Ich hatte Finn immer für ziemlich groß gehalten, aber neben David verschwand er fast und wenn er sonst schlaksig aussah, wirkte er neben diesem breitschultrigen Goliath so schmächtig, dass es fast schon rührend war.

„Darf ich vorstellen“, sagte David weltmännisch und richtete einen seiner langen Arme auf mich: „Elsa Frank, eine ganz wunderbare Kollegin. Elsa, das ist Finn McGregor, der Künstler, der alle diese genialen Bilder gemalt hat.“

Es war einer dieser Augenblicke, in denen man nur eins denken kann: Scheiße, was sag ich jetzt?

Sogar Finn entglitten für einen kurzen Moment die Gesichtszüge, als er mich erkannte. Es war dieses verspätete Erkennen, dieses Das-Gesicht-hab-ich-doch-schon-mal-gesehen-aber-wo?-Ach-ja-genau!-Erkennen, das einem definitiv klar machte, dass man bisher keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Jedenfalls interpretierte ich seine Reaktion so.

Und dann grinste er und sagte schlicht: „Hallo!“

„Hallo!“, erwiderte ich, verklemmt wie immer, und fühlte mich verpflichtet, David aufzuklären. „Wir sind Nachbarn.“ Es klang vollkommen dämlich.

„Im Ernst?“, fragte David verblüfft und schaute zwischen Finn und mir hin und her.

„Ja“, sagte Finn, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

„Du bist also Synchronsprecherin?“, fragte er mich dann. Meine Berufsehre gebot mir, ihn zu korrigieren: „Schauspielerin, ja.“ Und ich fragte meinerseits: „Und du bist also Maler?“

„Illustrator eigentlich“, berichtigte er, „aber ja, das auch: Maler.“

Er sah mich plötzlich nachdenklich an.

„Ist es okay, dass wir uns duzen?“, fragte er.

„Ja, klar. Ist okay“, erwiderte ich. Ich spürte Davids Blick von der Seite und auch, dass er sich fragte, was da zwischen seinem Freund und mir vorging.

„Wie gefällt euch die Ausstellung?“, fragte Finn.

„Toll!“, sagte David prompt, während mir bewusst wurde, dass ich die Bilder bisher gar nicht beachtet hatte, und so wusste ich nicht, was ich sagen sollte, als Finn mich erwartungsvoll ansah.

Natürlich wurde ich wieder rot, was bei der guten Beleuchtung kaum zu verbergen war, doch bevor ich irgendetwas Blödes stammeln konnte, sprang David ein: „Wir sind gerade erst angekommen.“

„Und woher weißt du dann, dass die Ausstellung toll ist?“, fragte Finn.

„Weil deine Bilder immer toll sind“, sagte David grinsend, aber man konnte trotzdem erkennen, dass er es ehrlich meinte.

„Idiot“, sagte Finn lachend. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass er unter dem Lob seines Freundes ein wenig verlegen geworden war.

„Wenn du willst, kann ich dir eine Privatführung geben“, wandte er sich an mich.

„Gern“, sagte ich, erleichtert, dass sich die peinliche Situation so einfach aufgelöst hatte.

„Du kannst dir ja inzwischen ein wenig Gesellschaft suchen“, meinte Finn zu David, „dürfte nicht so schwer sein.“ Die Blicke, die sie tauschten, enthielten irgendeinen Subtext, den ich nicht verstand, aber ich war nicht in der Lage, mir darüber Gedanken zu machen. Ich war viel zu verwirrt von dem ganzen Abend, der Villa, dem Champagner und vor allem der Tatsache, dass Finn hier aufgetaucht war.

Er nahm mich mit zur Eingangshalle, wo das erste Bild hing.

„Damit sollten wir anfangen“, meinte Finn, „weil es das Thema vorgibt: Verliebtes Paar am Meer bei Sonnenuntergang.“

Wir standen vor einer Zeichnung, einer Art Skizze, nicht einmal eine sehr ausführliche, reduziert auf das Wesentliche: Ein Sonnenuntergang über dem Meer, davor, am Strand sitzend mit Blick zum Horizont, die Liebenden. Die Frau hatte ihren Kopf an die Schulter des Mannes gelegt, der Mann seinen Arm zärtlich um sie geschlungen. Es war eine simple Zeichnung, doch in den wenigen Strichen lag die ganze Innigkeit und Vertrautheit des Paares und ihre Gefühle füreinander waren fast greifbar. Das Bild war von so großer Intensität, in seinem Ausdruck so tief und beseelt, dass es mir die Sprache verschlug. Kein großartiges, detailreiches Ölgemälde, keine Fotografie hätte lebendiger oder berührender sein können.

Ich hatte keine Ahnung von Kunst oder Malerei, aber das hier war das Werk eines wirklich großen Künstlers und es war überwältigend.

Im Bewusstsein, dass eben dieser Künstler nun neben mir stand und weil ich fürchtete, er bekäme einen falschen Eindruck und würde, ob meiner Sprachlosigkeit, womöglich denken, ich fände das Bild nicht gut oder wäre nicht in der Lage, das Besondere daran zu erkennen, sagte ich: „Wunderschön!“, und hätte mich ohrfeigen können. Wie platt! Wie unpassend! Das Bild war viel mehr als ‚wunderschön‘. Es war unfassbar.

Doch Finn hatte sein breites Grinsen im Gesicht, während er mich von der Seite ansah, und das gab mir die Hoffnung, dass er verstand, was ich eigentlich sagen wollte.

„Da geht’s weiter“, sagte er und wir gingen in ein kleines Zimmer zur Rechten. Hier befanden sich zwei Bilder. Das gleiche Thema wie zuvor, Verliebte am Meer bei Sonnenuntergang, nur diesmal völlig anders. Das erste war eine schrille Popart-Version mit so knalligen Farben, dass man den Blick geblendet abwenden wollte, das zweite eine aufwendige Karikatur, die die ganze Szene grob ins Lächerliche zog. Der Mann hielt diesmal eine Zigarette in jener Hand, die auf der Schulter der Frau lag  –   hier eine Geste der Dominanz – , eine Bierflasche in der anderen. Weitere Flaschen lagen am Strand herum. Die Haltung des Kopfes der Frau suggerierte, dass auch sie betrunken war. Auf ihrem entblößten Rücken über der Hose offenbarte sich ein geschmackloses Tattoo.

Ich war so verblüfft, dass mir unwillkürlich „Das gibt’s ja nicht“, entfuhr.

Neben dem Popart-Gemälde war ein kleiner, brauner Zettel an die Wand geheftet: sold.

„Verkauft?“, fragte ich.

„Ja, hat mich auch überrascht, dass jemand den Mist haben will“, sagte Finn.

„So war das nicht gemeint“, versicherte ich schnell.

„Stimmt aber“, sagte Finn schmunzelnd. „Von allen Bildern finde ich das am wenigsten gelungen. Nur Technik. Das kann praktisch jeder.“

Das bezweifelte ich stark, aber Finn schien fest dieser Ansicht zu sein.

„Wie viel …?“ Ich wusste nicht, ob es unhöflich war zu fragen, aber es hätte mich schon interessiert, was so ein Bild brachte.

„Nicht so wild: nur achthundert“, sagte Finn leichthin. „Mehr ist es auch nicht wert.“

Er lotste mich weiter von Raum zu Raum, auch ins obere Stockwerk. Ich sah jedes Mal das gleiche Bild, immer in einer anderen Variante, einem anderen Stil. Naturalistisch, expressionistisch, surrealistisch, manchmal den typischen Stil eines bestimmten Malers nachahmend. Es war einfach unglaublich. Dieser Mann hatte ein Talent, das nicht von dieser Welt war, jedenfalls erschien es mir so. Auch ohne eine Kunstkennerin zu sein, begriff ich: Das hier war etwas Besonderes. Sogar ein Blinder hätte das gesehen. Jedes einzelne Bild zeichnete eine andere Welt, weckte eine andere Emotion.

Bei vielen der Bilder hingen die kleinen, braunen Zettel. Ich versuchte, nicht auszurechnen, was Finn an diesem Abend verdiente.

Als wir unseren Rundgang beendet hatten, sah ich, dass David sich angeregt mit einer langmähnigen Dame auf High-Heels unterhielt, wenn man das so nennen konnte, was er tat. Das also hatte der Blick bedeutet, den die beiden Männer sich zugeworfen hatten.

„David findet immer Anschluss“, sagte Finn. Ich hörte den Unterton in seiner Stimme.

„Ist doch okay“, sagte ich, um zu zeigen, dass ich wahrlich nicht die Absicht gehabt hatte, mich von David abschleppen zu lassen.

„Klar“, sagte Finn, „er kann machen, was er will. Es ist nur so … unoriginell.“

„Wahrscheinlich liegt ihm nichts an Originalität“, erwiderte ich schulterzuckend.

Finn sah mich nur an.

„Noch einen Champagner?“, fragte er.

„Ich muss bald gehen“, sagte ich.

„Wir haben denselben Weg, oder?“, meinte er. „Wenn du es noch etwa eine Stunde aushältst, kannst du mit mir nach Hause fahren.“

„Also gut“, stimmte ich zu. Finn brachte mir ein Glas Champagner und entschuldigte sich dann fürs Erste. Er habe noch ein paar Verpflichtungen. Ich nahm an, dass er sich um seine Käufer kümmern musste, die tatsächlichen und die potentiellen.

Ich lief noch ein wenig durch die Zimmerfluchten, entdeckte voller Dankbarkeit die Toilette und kehrte schließlich in das große Zimmer zurück, in dem ich ganz zu Anfang gewesen war. Die alte Dame saß noch immer in ihrem Sessel, doch nun war sie ganz alleine. Sie beobachtete das Treiben um sich herum, ein kleines Lächeln im Gesicht, und schien ganz zufrieden zu sein. Ich jedoch fand es traurig, wie sie da so saß mit ihren ganzen Klunkern, wie eine Königin, die Hof hielt, aber die keiner beachtete.

Nach zwei Gläsern Champagner – und einem Glas Wein in der Kantine zuvor – war ich wesentlich geselliger als sonst und darum ging ich zu ihr.

„Guten Abend“, sagte ich, „ich bin Elsa Frank. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie schön ich die Ausstellung finde. Ich habe gehört, dass Sie diejenige sind, die das möglich gemacht hat, und das finde ich ganz großartig.“

Sie sah mich zunächst erstaunt an, dann wurde ihr Lächeln weit und ihre Augen begannen zu strahlen.

„Das ist aber nett von Ihnen, danke!“, sagte sie mit leuchtendem Gesicht. „Nehmen Sie sich doch einen Stuhl und setzen Sie sich zu mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie war also sensibel genug zu spüren, dass viele der Leute, die sich mit ihr unterhielten, keinen großen Gefallen daran hatten.

„Danke, gern“, sagte ich und meinte es so. Ich nahm mir einen der wenigen Stühle, die sich in dem Raum befanden und von keinem genutzt wurden, weil es schicker war, in der Gegend herumzustehen, und zog ihn neben den Sessel der alten Dame.

Sie hielt mir ihre schmale, faltige Hand hin und sagte: „Edda Goldstein!“

„Freut mich sehr“, sagte ich.

„Kennen Sie den jungen Mann persönlich? Den Künstler, meine ich?“, fragte sie.

„Ja, das heißt, nein“, sagte ich. „Also, nicht so gut jedenfalls. Wir sind zufällig Nachbarn.“

Sie lächelte, als hätte sie nicht das geringste Problem, mein wirres Gestammel zu verstehen.

„Ich liebe Kunst“, sagte sie dann. „Ich habe mein Leben lang mit Künstlern zu tun gehabt und ich finde, dass man den jungen Leuten heutzutage wenig Chancen gibt, sich bekannt zu machen.“

Ich lächelte zustimmend, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es um die Chancen der jungen Künstler bestellt war.

„Mein Mann war auch Künstler, wissen Sie?“

Ich hob nur erstaunt die Brauen, was jedoch Aufforderung genug für sie war, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

„Nun ja, kein bildender Künstler, er war Pianist. Jude!“, fügte sie hinzu. Ihr Lächeln gefror und ich reimte mir in Sekundenbruchteilen zusammen, was mit ihm passiert war.

„Er starb in Auschwitz“, bestätigte sie meine Gedanken. „Ihm hat dieses Haus gehört. Man hat mich damals zu einer Scheidung zwingen wollen, aber ich habe mich geweigert. Ich kam nach Dachau. Das Haus wurde uns weggenommen. Ich habe die Nazis überlebt, er nicht.“

Ich war so schockiert, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Um uns herum standen schicke Menschen mit schicken Champagnergläsern, scherzten oder diskutierten kultiviert über Banalitäten und die alte Dame, die ihnen das Ganze ermöglichte, saß hier und redete ohne Umschweife über ihren Mann, der im KZ ermordet worden war. Es war grotesk. Schlagartig fühlte ich mich wieder nüchtern, meine Unsicherheit kehrte zurück. Ich war auf einen kleinen, angeregten Smalltalk gefasst gewesen, aber nicht auf so etwas.

Edda Goldstein ergriff meine Hand und lächelte wieder.

„Das ist alles so lange her“, sagte sie. „Ich konnte zwar nie mehr in dem Haus leben, aber ich wollte doch, dass es einen gewissen Zweck erfüllt. Das wäre auch im Sinne meiner Eltern gewesen. Sie haben die Villa immer geliebt.“

Ich verstand nicht. Ihre Eltern? Was hatten die jetzt mit dem Haus zu tun?

„Mein Vater hat den Garten immer selbst gepflegt. Er hatte ein großes Rosenbeet hinter dem Haus. Ach, was sag ich? Beet? Es war viel größer als ein Beet. Als ich ein Kind war, hat er mir eingeschärft, niemals dort in der Nähe zu spielen, weil er Angst um seine Rosen hatte.“