Amalias Song - Verena Wilmes - E-Book

Amalias Song E-Book

Verena Wilmes

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Beschreibung

Verena Wilmes, selbst erfolgreiche Basketballspielerin, legt mit Amalias Song einen Spannungsroman vor, der hinter die Kulissen blickt und eine fesselnde Geschichte erzählt. Der Tod des erst achtzehnjährigen Basketballtalents Amalia Steen erschüttert ganz Urberach. Nur ihr Freund zweifelt daran, dass es ein Unfall war, bis ein Lied im Internet auftaucht. Amalias Song bringt eine gefährliche Lawine ins Rollen, denn er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Präsidentin des BBC Kronberg, Nele von Goltz, die mit ihrem Verein kurz vor ihrer ersten Saison in der 1. Damenbasketball-Bundesliga steht. Damit geht ein Traum für sie in Erfüllung. Doch wäre Nele für dieses Ziel auch über eine Leiche gegangen? Kurz nach Erscheinen von Amalias Song wird Nele von einem Unbekannten erpresst wird. Jemand scheint hinter ihre Machenschaften im Verein gekommen zu sein. Nele lässt sich in eine Falle locken und es kommt zu einer tödlichen Verwechslung.

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Verena Wilmes

Amalias Song

Roman

Die vorliegende Geschichte ist frei erfunden und jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen ist Zufall und nicht gewollt. Es gab keine realen Vorlagen für die Figur des Trainers und der Vereinspräsidentin. Der hier erwähnte BBC Kronberg hat nichts mit der Basketballabteilung des MTV Kronberg zu tun.

Ich danke Marie Brehme und Diana Schlag für die wertvolleHilfe beim Schreiben dieses Buches.

eISBN 978-3-947612-29-1

Copyright © 2018 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Mia Beck

Covergestaltung und Bildrechte: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:www.mainbook.de

Buch

Als Maxie Frömel, Basketballerin und aufstrebende junge Rapperin, Amalias Song schreibt, möchte sie nicht, dass ihn jemand zu hören bekommt. Amalia, ihre ehemalige Teamkollegin beim BBC Kronberg, ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, doch Maxie und Amalias Freund zweifeln daran, ob es tatsächlich ein Unfall war …

Als Amalias Song im Internet landet, gefällt das Nele von Goltz, Präsidentin des Vereins, überhaupt nicht. Nele versucht Sponsorengelder zu sammeln, um den Verein zu retten, und ihre Tochter auf die erste Saison in der 1. Damenbasketball-Bundesliga vorzubereiten, wird jedoch bald von einem Unbekannten erpresst, der von den Machenschaften beim Bundesligisten weiß. Für Nele kommen gleich mehrere Personen als Erpresser infrage, darunter ihre eigene Schwester, sowie Sascha Waasberger, den sie für ihre Zwecke benutzt hat und der nichts mehr zu verlieren hat.

Nele tut was nötig ist, um die Existenz ihres Vereins zu sichern und den Erpresser zur Strecke zu bringen. Doch sie übersieht ein Detail und damit, worum es in der Erpressung wirklich geht. Es kommt zu einer tödlichen Verwechslung.

Autorin

Verena Wilmes ist eine deutsche Schriftstellerin, geboren 1992 in Bad Soden am Taunus, wo sie auch lebt. Sie machte ihren Bachelor of Science in Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ihren Master in Physical Biology of Cells and Cell Interactions. Sie spielt Basketball in der Regionalliga und arbeitet in der Rechtsmedizin in Frankfurt.

Für meine Familie

Inhalt

Prolog (2 Jahre und 10 Monate früher)

Eins (Jetzt)

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Epilog

Prolog (2 Jahre und 10 Monate früher)

Amalia Steen kaute ängstlich auf ihrer Unterlippe. Ihr Vater würde Robert umbringen, wenn sie ihm erzählte, was passiert war. Aber ihn anzulügen würde nicht funktionieren. Sollte sie ihm vorspielen, ins Training zu gehen und sich stattdessen irgendwo die Zeit vertreiben?

Es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr an diesem zwanzigsten Oktober. Die S4 auf ihrem Weg von Kronberg nach Langen war so gut wie ausgestorben. Entsetzt stellte die Achtzehnjährige fest, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Mit einer Mischung aus Furcht und Erleichterung wischte Amalia sich hastig mit dem Ärmel ihrer Windjacke darüber. Sie roch ihren eigenen Schweiß. Auch die Basketballschuhe in ihrer Sporttasche vor ihr auf dem Boden müffelten. Doch bevor dieser Geruch üble Erinnerungen wecken konnte, hielt die Bahn mit einem quietschenden Ruckeln am Bahnhof der Flugsicherung in Langen. Der Pfeifton für die Türen erklang. Ein kalter herbstlicher Windstoß fegte herein und kroch ihr unter die Jogginghose.

Amalia blickte aus dem Fenster, an dessen Glas die stetig fallenden Regentropfen in Schlieren hinabliefen. Der nur von einer einzigen Laterne beleuchtete Bahnsteig lag so verlassen da, wie sie sich fühlte. Robert hatte ihr das eingebrockt. Dabei hatte sie geglaubt, er würde sie verstehen und ihr helfen, ihrem Vater klarzumachen, dass sie nicht mehr spielen wollte.

Es war ihr egal, dass sie beim MTV Urberach als das Supertalent gegolten hatte. Inzwischen verfluchte sie Charlotte dafür, dass sie sie vor drei Jahren nach Kronberg geschickt hatte. Amalia wusste noch, was Charlotte ihrem Vater erzählt hatte: Beim BBC Kronberg würde sie Individualtraining bekommen, bessere Mitspielerinnen haben, in Hessens höchster Liga in ihrer Altersklasse spielen und sie hätte die Chance, in wenigen Jahren zum Bundesligakader der Damenmannschaft zu gehören. Damals hatte sie nicht verstanden, was das bedeutete. Heute wusste sie es. Und sie wünschte sich, sie hätte niemals den Verein gewechselt, damit aus ihr etwas werden könnte. Sie hätte bei ihren Freundinnen in der Urberacher Mannschaft bleiben sollen, auch wenn das Training sie nicht sonderlich herausgefordert hatte. Aber das Leuchten in den Augen ihres Vaters hatte sie schließlich überzeugt. Sie könnte ja wieder zurückwechseln, hatten alle gemeint.

Allerdings hatte ihr niemand etwas von dem Druck gesagt, der ihren Magen in jedem Training zerquetschte; ganz zu schweigen von den Spielen. Sie hatten nichts von der dauernden Schreierei ihres Trainers gesagt, der Konkurrenz und der Tatsache, dass sich Dinge ändern konnten und sie den Spaß am Basketball verlieren könnte. Doch so war es. Nun, wo sie tatsächlich zum Kader der 2. Bundesligamannschaft des BBC Kronberg gehörte. Und plötzlich gab es kein Zurück mehr.

Ihr Vater war besessen von der Idee, dass seine Tochter mit Kronberg in die 1. Liga aufsteigen könnte. Er wollte nicht hören, dass sie keine Lust mehr auf Basketball hatte. Er wollte, dass sie mehr Spielzeit bekam, damit sie allen zeigen konnte, wie gut sie war. Dann würde sie vielleicht ein Angebot von einem anderen Verein bekommen, bei dem sie wieder mehr Spaß hätte. Aber sie musste tun, was für ihren großen Traum nötig war, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, jemals von alledem geträumt zu haben.

Das tat nur ihr Vater. Und deshalb schaute er ständig beim Training zu und stürzte sich auf den Trainer oder die Vereinspräsidentin, wenn er mal wieder glaubte, dass Amalia benachteiligt wurde. Dass er sie damit blamierte, kümmerte ihn nicht. Die Präsidentin hatte gedroht, ihm Hallenverbot zu erteilen und insgeheim wünschte Amalia es sich. Schließlich bekam sie es im Training zu spüren, wenn er sich mal wieder beschwert hatte.

Wenn ihre Mutter, die wichtige Unternehmensberaterin, ihr abends bei ihrem Glas Rotwein doch nur einmal zuhören würde. Nur Robert hatte ihr zugehört. Sie hätte nie gedacht, dass er sie so hintergehen würde. Oder irrte sie sich? Bisher hatte sie es nicht über sich gebracht, ihn zu fragen. Erneut schossen Amalia Tränen in die Augen und sie blinzelte heftig. Sie hatte nicht bemerkt, dass die Bahn wieder angefahren war, aber nun weckte das Ruckeln sie aus ihren Gedanken.

Draußen schossen verschwommene Lichtflecken vorbei. Es goss nach wie vor wie aus Eimern. Gleichzeitig war die Luft neblig, was etwas seltsam Tröstendes hatte. Während Amalia hinausstarrte in die kalte Suppe, dachte sie zurück an diesen Samstag vor einer Woche, als Robert auf der Kronberger Kerb aufgetaucht war, zu der sie gezwungenermaßen mit ihrer Mannschaft hatte gehen müssen. Dort hatte das Unheil seinen Lauf genommen.

Sie hatten auf der Kerb in der Fußgängerzone einen Apfelwein getrunken, dessen Glas an ihren Fingern eisig gewesen war, und sich dann heimlich fortgestohlen. Sie hatten nicht darauf geachtet, wohin ihre Füße sie getragen hatten, während der Wind aufgefrischt und Nieselregen eingesetzt hatte. Die Zeit hatte stillgestanden, während Robert sie mühelos von jedem Gedanken an den Verein und das nächste Spiel abgelenkt hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass das je endete. Als der Regen plötzlich stärker geworden und diese Blase, die sie von der Realität abgeschottet hatte, zerrissen war, hatte sie das nicht zulassen können.

Robert hatte ihr vorgeschlagen, zum Bahnhof zu laufen und die nächste S-Bahn nach Frankfurt zu nehmen, wo sie in den Regionalzug nach Langen einsteigen konnten. Doch Amalia hatte nicht nach Hause zu ihrem Vater und ihrer desinteressierten Mutter gewollt, die wahrscheinlich bloß genervt seufzend die Tür zum Wohnzimmer schließen würde, wenn Amalia hereinkam und ihr Vater sie mit Fragen über das Teamevent löcherte.

So hatte sie Robert einfach an der Hand gepackt, die genauso klamm und kalt gewesen war wie ihre und war losgelaufen in Richtung Halle. Wind und Regen waren ihr ins Gesicht gepeitscht, während sie den verdutzten Robert hinter sich hergezogen hatte. Fast wären sie auf den bunten Laubblättern ausgerutscht, die auf den Pflastersteinen der breiten Feuerwehrzufahrt vom Wind aufgewirbelt wurden. Das schwache Licht der Laternen am Wegrand hatte die Dunkelheit kaum erhellt.

„Amalia, warte! Was machen wir denn in der Halle?“, hatte Robert gekeucht, als Amalia ihn an der ausgeleuchteten Steintreppe vorbeigezogen hatte, die hinauf zum Halleneingang führte. Wortlos hatte sie nach der Tür des Hintereingangs gesucht, die sich selbst bei Tageslicht nur schwer von dem weißen Mauerwerk abhob.

Aber sie hatte Glück gehabt. Es hatte mal wieder jemand nicht daran gedacht, den winzigen Stopper aus dem Türspalt zu schieben, der dort platziert wurde, um für ein wenig Luftzug in der stickigen Halle zu sorgen. Es passierte regelmäßig, dass der Letzte in der Halle vergaß, die Tür wieder zu verriegeln.

Amalia lehnte ihren Kopf gegen ihren Sitz und schloss ihre Augen. Kurz vor der Einfahrt in den Langener Bahnhof wurde die Bahn langsamer. Roberts Stimme hallte in ihren Erinnerungen wider.

„Ich dachte, die Halle wäre der letzte Ort, an dem du jetzt sein willst“, hatte er gesagt, als sie die Tür aufzog.

„Schon, aber da drin ist es warm und trocken. Und mit dir … macht es mir keine Angst“, hatte sie außer Atem erwidert und war ihm voraus über die Schwelle getreten. Augenblicklich hatte das unangenehme Beißen in ihren Fingern aufgehört.

„Dürfen wir überhaupt hier sein?“, hatte Robert gewispert, als er ihr endlich gefolgt und die Tür mit einem Knarren zugefallen war. In der Halle war es still gewesen, abgesehen vom Prasseln des Regens auf das Hallendach. Die einzige Lichtquelle war das fahle Mondlicht gewesen, das durch die Dachfenster hereingefallen war.

„Wen soll es stören? Hier ist niemand! Und wir wollen uns doch nur kurz aufwärmen“, hatte sie entgegnet und begonnen, sich aus ihrer triefend nassen Windjacke zu schälen, unter der ihr die Kälte bereits in die Knochen gekrochen war. Ihre Haare hatten ihr im Gesicht geklebt und getropft. Die feuchten Sohlen ihrer Sneakers hatten auf dem orangefarbenen Linoleumboden der Halle gequietscht. Fasziniert von der Stille hatte Amalia ihren Blick über die in der Finsternis nur vage erkennbaren Umrisse schweifen lassen, die ihr Gehirn von alleine zu einem Bild zusammengesetzt hatte. Es sah friedlicher aus, wenn die Körbe unter das flache Hallendach gezogen waren und die Tribüne verwaist war. Dann konnte sie nichts falsch machen und fühlte sich von ihrem Vater nicht bewertet. Hinter der Tribüne schloss sich das düster daliegende Foyer an.

Und dann hatte Robert leise zu ihr gesagt: „Wie hast du das gerade gemeint?“

Amalia hatte sich ihm zugewandt und versucht, ihn in der Dunkelheit auszumachen. „Was?“

„Du hast gesagt, es macht dir mit mir keine Angst, hier zu sein. Wovor hast du denn sonst Angst?“

Seine Stimme, wenige Zentimeter über ihrem Haaransatz, war so sanft gewesen. Alles an ihm hatte Vergessen versprochen, hatte versprochen, dass er ihre Welt zum Stillstand bringen würde. Und das hatte er auch.

Amalia erinnerte sich an alles. Wie sie einen Schritt auf ihn zugemacht hatte, wie ungewohnt seine Nähe und dieses Kribbeln in ihrem Bauch gewesen waren. Seine Jacke war feucht und kalt gewesen, seine Lippen dagegen warm und zögerlich. Es war ungewohnt, aber schön gewesen und es hatte nie aufhören sollen. Sie waren in den Geräteraum gestolpert und zum Trommeln des Regens auf eine kühle Matte gefallen.

Die Bahn hielt abrupt an. Aus ihren Erinnerungen gerissen, blickte Amalia auf und sah, dass die Lok schnaufend in Langen angekommen war. Endstation. Mit dem Gefühl, Blei in ihren Beinen zu haben, stand sie auf und schulterte ihre Tasche. So ähnlich war Robert am letzten Samstag aufgestanden und halbnackt zum offenen Tor des Geräteschuppens geschlichen, nachdem sie diese Geräusche gehört hatten, die ihren Augenblick der Ewigkeit jäh beendet hatten. Jemand war in die Halle gekommen, auf demselben Weg wie sie. Sie hatten quietschende Schritte vernommen, die über den Hallenboden in Richtung des Trainerbüros gegangen waren.

Die Zugtür öffnete sich piepend und ein ungemütlicher Wind schlug Amalia entgegen, als sie hinaus auf den nassen Bahnsteig trat. Der Bahnhof in Langen war um diese Uhrzeit und bei diesem Sauwetter beinahe menschenleer. Die wenigen Fahrgäste, die mit Amalia in der Bahn gesessen hatten, zogen die Mantelkragen hoch und eilten durch den strömenden Regen an ihr vorbei auf den kargen Vorplatz des Bahnhofs. Ein paar Bäume säumten den mit rötlichen Pflastersteinen ausgelegten Platz, der zu einem Park+Ride-Parkplatz führte und zur Unterführung, die unter den Gleisen hindurch in Richtung Stadt führte.

Amalia spürte, wie sich ihre Kleidung mit Regen vollsog und sah ihren Atem in Nebelwolken über ihrem Kopf aufsteigen, aber sie lief nicht schneller auf ihr Fahrrad zu. Genau so ein Wetter war gewesen, als Robert und sie unbemerkt aus der Halle geflüchtet waren. Es war dennoch zu spät. Sie hatten etwas gesehen, was sie niemals hätten sehen sollen. Im schüttenden Regen hatte Robert ihr gegenübergestanden und behauptet, er wolle ihr nur helfen. Ganz offensichtlich hatte er das auch versucht, obwohl sie ihn angefleht hatte, es nicht zu tun. Sie hätte direkt nach ihrem Spiel vor zwei Tagen wissen müssen, was er getan hatte, doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen.

Sie war aus der Bundesligamannschaft geflogen. Diese Entscheidung stand mit Sicherheit schon seit zwei Tagen fest. Sie könnte froh darüber sein, dachte Amalia, als sie den überdachten Fahrradständer erreichte. Doch das war sie nicht. Sie wusste, wie ihr Vater reagieren würde. Er würde nicht akzeptieren, dass sein Traum von der Bundesliga für seine Tochter vorbei war. Aber die Wahrheit konnte sie ihm dennoch nicht sagen. Wenn er den wahren Grund für ihren Rauswurf in Kronberg erfuhr, dann …

Amalias Hände zitterten, während sie das widerspenstige Schloss an ihrem Fahrrad öffnete. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Auch Maxie würde ihr nicht helfen können. Sie wollte unbedingt Profispielerin werden. Es wäre nicht fair, sie in diese Sache mit hineinzuziehen und ihr alles zu versauen. Aus der Tasche ihrer Windjacke zog Amalia ihren Musikplayer und schob sich mit vor Kälte steifen Fingern die Kopfhörer in die Ohren. Sie wählte ein Lied aus, das ihre Gedanken wenigstens noch für ein paar Minuten auf eine Reise schicken würde. Sie hatte es nicht weit bis nach Hause. Frierend versteckte Amalia ihre Hände in den Ärmeln ihrer Regenjacke, wischte über den feuchten Sattel, ergriff den glitschigen Lenker und schwang sich aufs Rad. Sie begann die einsame Straße entlangzustrampeln, die von Regenbächen geflutet und von rutschigen Laubblättern übersät war. Zudem war der Straßenrand wie immer zugeparkt. Amalia schenkte ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit und bemerkte deshalb den Wagen nicht, der nur wenige Augenblicke, nachdem sie vorbeigefahren war, ohne Licht aus einer Parklücke scherte und sofort beschleunigte. Sie nahm auch die quietschenden Reifen und das Aufheulen des Motors hinter ihr nicht wahr, spürte bloß etwas näherkommen und warf einen Blick über die Schulter, in der Überzeugung, dass sie den Scheinwerferkegel eines Autos längst bemerkt hätte. Doch da war kein Scheinwerferlicht. Sie erschrak so sehr angesichts des heranrasenden Schattens, dass sie die Kontrolle über ihr Rad verlor und auf einem Laubhaufen wegrutschte.

Mit einem Aufschrei knallte sie hart auf den nassen Asphalt und schlug mit Ellenbogen und Knien zuerst auf. Die Kopfhörer fielen aus ihren Ohren, die Lenkradstange bohrte sich in ihren Bauch. Der Schmerz und der Schreck schossen ihr augenblicklich heiß in die Glieder. Amalia hob ihren Kopf und bemerkte die Regentropfen kaum, die ihr ins Gesicht donnerten, während das Dröhnen des Motors ohrenbetäubend wurde. Und dann ging alles ganz schnell. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte sie Panik und glaubte gleichzeitig, dass es nicht passieren würde.

Das Letzte, was sie sah, war ein nummernschildloses Auto, das direkt auf sie zubretterte. Sie wollte schreien, doch der Schrei erstickte auf halbem Weg in ihrer Kehle.

Eins (Jetzt)

Als Coach Christian Merkens am Freitagmorgen, dem fünfundzwanzigsten August, die Zeitung aufschlug, war er zufrieden mit sich. Er stand kurz davor, alles zu erreichen, was er je gewollt hatte.

Christian genoss gerade sein Frühstück und schenkte sich die dritte Tasse Kaffee auf der Terrasse ein. Die Sonne stand bereits hoch am wolkenlosen Himmel. Die Kondensstreifen einiger Flugzeuge, die über das Taunusstädtchen Kronberg in gebührender Höhe hinwegflogen, hinterließen Kratzer im hellen, weiten Blau. In den Bäumen zwitscherten Vögel und das Summen der Insekten füllte die warme Luft. Sonst war es still um den Fünfzigjährigen herum. Während er den Zeitungsartikel auf der ersten Seite des Regionalsports verschlang, spürte er, wie sich vor Stolz sein Brustkorb ausdehnte. Dass der BBC Kronberg in die 1. Damenbasketballbundesliga aufgestiegen war, war diesem Schreibfritzen sogar zwei Seiten wert gewesen. Und im Gegensatz zu den sonst so schlampig geschriebenen Berichten hatte er sich dieses Mal Mühe gegeben, dem Verein die Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdiente. Der Artikel begann mit dem Playoff-Finale im Mai, das Kronberg nach einer taktischen Meisterleistung ihres Coaches, Christian Merkens, für sich entschieden und damit den Aufstieg fix gemacht hatte. Dann ging der Schreiberling darauf ein, was das für die jüngste Spielerin der Mannschaft, die neunzehnjährige Luisa von Goltz, bedeutete. Er berichtete, dass sie seit ihrer Kindheit Individualtraining bei Christian bekam, sich kontinuierlich bis zu einer U20-Nationalspielerin weiterentwickelt hatte und ihr Stern in der nächsten Saison endgültig aufgehen könnte.

Er zitierte Christian, als er schrieb, dass Lulu ihren Weg in die A-Nationalmannschaft fortsetzen wolle. Die Kaderplanung der Mannschaft für den Klassenerhalt in der Anfang Oktober beginnenden Saison sei so gut wie abgeschlossen. Das musste sie auch sein, da für die Damen des BBC Kronberg bereits nächste Woche die Saisonvorbereitung begann. Doch eigentlich hatte Christian da ein wenig geflunkert. Es musste getan werden, was nötig war. Und es war nötig, den Verein nach außen hin absolut professionell darzustellen. Nur so konnten sie weitere Sponsoren gewinnen. Der Journalist musste nicht wissen, dass ihnen noch zwei starke ausländische Spielerinnen fehlten, um in der Liga mithalten zu können, geschweige denn, weshalb sie noch fehlten. Wichtig war bloß, dass die harte Arbeit gewürdigt wurde, die Lulu, der BBC Kronberg und er selbst investiert hatten. Es war sein Job, aber bei den paar Kröten konnte man das kaum so nennen. So ein Zeitungsartikel war eher ein angemessener Lohn. Christian legte die Zeitung beschwingt zur Seite und setzte sich an die Erstellung des Trainingsplans für Lulu, während die strahlende Sonne ganz Kronberg auf südländische Temperaturen einstimmte. Ihr Individualtraining bei ihm und das Mannschaftstraining mussten koordiniert werden und die Inhalte des Individualtrainings wollten sorgfältig gewählt sein. Beim Lehrgang der U20-Nationalmannschaft letzte Woche hatte Lulu in den Testspielen einige Schwächen offenbart. Vor allem ihr Zug zum Korb und ihr Abschluss mussten besser, variabler werden, wenn sie nächste Saison auf sich aufmerksam machen wollte. Wenn sie doch nur nicht so verdammt klein und zierlich wäre. Wenn ihm da nicht bald etwas einfiel, dann würde sie den Sprung in den festen Kader der A-Nationalmannschaft nicht schaffen. Nur war das keine Option. Das war sein Traum. Es war ihr Traum. Und jetzt, wo sie in der 1. Liga angelangt waren, was die Grundvoraussetzung für die A-Nationalmannschaft war, würde er dafür sorgen, dass sie die entsprechende Leistung zeigte. Dafür musste er allerdings ein Team zusammenstellen, das auch die Liga halten würde.

Um das zu tun, brach er am frühen Nachmittag in die Halle auf, nur wenige hundert Meter Luftlinie von seinem Haus entfernt. Das einstöckige Einfamilienhaus lag idyllisch am Sackgassenende einer kleinen Straße mit Temposchwellen. An die Sackgasse grenzte ein Feld, in dem jetzt Ende August das Gras hoch stand. Manchmal, wenn sich die Autofahrer jenseits des Feldes nicht an das Tempolimit hielten, drang gedämpfter Verkehrslärm herüber. Doch als er das Haus nun in der größten Mittagshitze verließ, hörte er nur das Rascheln der Bäume, als der schwüle Wind, der keinerlei Abkühlung brachte, in die dichten Blätterdächer hineinfuhr.

Die Rettung bestand heute entweder aus einer Abkühlung im Wasser oder einer funktionierenden Klimaanlage. In der Halle gab es nichts von beidem. Dort herrschte eine stickige, brütende Hitze. Die Jungenmannschaft, die gerade Training hatte, japste mit hochroten Köpfen und schweißdurchtränkten T-Shirts. Dazu sonderten sie einen Körpergeruch ab, der der Luft in der Halle nicht zuträglich war. Christian war froh, als er die Tür zum Trainerbüro schließen konnte und das stetige Dotzen der Bälle leiser wurde.

Nele und die zwei Vorstandsheinis, die für die Finanzen zuständig waren, warteten bereits auf ihn und fächerten sich mit Papieren Luft zu. Nach einer kurzen Begrüßung pferchten sie sich im engen Trainerbüro vor seinem Laptop zusammen, um die Videos der Amerikanerin und der Tschechin anzusehen, die Christian für die Saison verpflichten wollte. Er war sich sicher, mit dieser Verstärkung das Beste aus der Mannschaft herausholen zu können. Aber die beiden Schlappschwänze aus dem Vorstand hatten ein Wörtchen mitzureden. Immerhin musste den ausländischen Spielerinnen eine Wohnung besorgt und ein Gehalt gezahlt werden. Die beiden waren nicht der Meinung, dass sich der Verein das beim derzeitigen Stand der Sponsorengelder leisten konnte. Sie wollten, dass er billigere Spielerinnen wählte, die aber schlechter waren. Und sie begriffen nicht, was sie damit anrichteten.

Wenn Nele nicht wäre, hätte er beinahe etwas gesagt, das er später bereut hätte. Am liebsten hätte er die beiden ehrenamtlichen Idioten sofort gegen die bruchsichere Scheibe gedonnert, die das Trainerbüro vom Spielfeld der Halle trennte. Aber Nele öffnete den Mund, noch bevor er reagieren konnte und verkündete, dass die dem Vorstand vorliegenden Sponsorengelder nicht der tatsächlichen finanziellen Situation des Vereins entsprachen. Es würde noch eine Finanzspritze geben, mit der sich der BBC die von Christian ausgesuchten Spielerinnen ohne Probleme leisten könne. Im ersten Augenblick sah Christian die Vereinspräsidentin genauso erstaunt an wie die anderen beiden. Doch er war nicht lange irritiert. Natürlich hatte Nele es mal wieder geschafft. Sie wusste, um was es bei diesem Projekt 1. Liga ging. Das hier war genauso sehr ihr Leben wie seines.

Mit der Zusicherung, die beiden Mädels verpflichten zu können, betrat er um kurz nach achtzehn Uhr das Haus. Er schloss die Tür hinter sich und kickte seine ausgelatschten Turnschuhe in das übliche Chaos im schmalen Hausflur. Seine Umhängetasche hatte ein Schweißmuster auf seinem schwarzen T-Shirt hinterlassen, obwohl er seinen Laptop im Trainerbüro hatte liegen lassen. Es war noch immer heiß draußen. Als er seine Tasche auf die Kommode im Flur legte, konnte er nur noch an sein letztes Bier im Kühlschrank denken.

In gut zwei Stunden musste er bei Nele zuhause sein, auf der Grillfeier für die Sponsoren. Aber jetzt wollte er bloß das kalte Bier seine ausgedörrte Kehle hinabfließen lassen und eine eiskalte Dusche nehmen. Auf schweißfeuchten Socken trabte er über den Parkettboden an der hölzernen Wendeltreppe vorbei in die offene Küche. Ein rechteckiger Esstisch, auf dem eine Obstschale vor sich hin rottete, stand in der Mitte des hellen Raumes wie eine Insel.

Christian öffnete die Kühlschranktür, hielt sein Gesicht in die kalten Dampfschwaden und suchte den Inhalt der Türfächer ab. Milch, Butter, Essig; die Fächer waren gut gefüllt. Doch zwischen der Milch und dem Essig, dort, wo sein Bier hätte stehen sollen, war eine verwaiste Stelle. Christian stutzte. Seine Augen wanderten den Rest des Kühlschranks ab, in der Hoffnung, falsch in Erinnerung zu haben, wo er das Bier hingestellt hatte. Doch er fand es nirgends. Verdattert stand Christian vor dem Kühlschrank, bis ihm klar wurde, dass es nur eine Erklärung geben konnte. Christian spürte, wie seine gute Laune schwand. Die Bosheit seiner Frau machte ihn sauer.

„Claudia?“, rief er und donnerte die Kühlschranktür zu, sodass der Inhalt der Türfächer klapperte. Er hatte seine Frau heute noch nicht gesehen, da sie bereits zum Dienst gegangen war, als er noch geschlafen hatte. Doch er wusste, dass sie mittlerweile zuhause war, denn ihr Wagen parkte in der Einfahrt. „Claudia!“

„Ich bin hier“, drang die Stimme seiner Frau von der Terrasse. Sie klang matt. Christian traute seinen Ohren kaum. Er ging ins Wohnzimmer und versuchte, nach draußen auf die Terrasse zu spähen, doch die Topfpflanze neben der Terrassentür versperrte ihm die Sicht. Für einen Moment zögerte er. Es gab gute Gründe dafür, dass in der Regel keiner von ihnen auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zeigte.

Durch die offene Terrassentür sah er seine Frau auf demselben Stuhl sitzen, auf dem er heute Morgen gefrühstückt hatte. Doch sie hatte den Stuhl gedreht, sodass er sie nur im Profil sah, als er im Türrahmen stehen blieb und seine Arme vor der Brust verschränkte. Sie hatte ein Bein angezogen, ihr nackter Fuß ruhte auf dem Stoffbezug des Stuhls. Auf ihrem angewinkelten Knie balancierte sie sein letztes und bereits halbleeres Bier. Abwesend starrte sie auf das kurzgemähte Gras in ihrem kleinen Garten, der sich einmal um das Haus herumzog. Vor ihr auf dem Gartentisch lag etwas, das nach MRT-Bildern aussah.

„Seit wann trinkst du mir mein letztes Bier weg?“, fragte Christian etwas aus dem Konzept geraten wegen der Bilder auf dem Tisch. Normalerweise trank sie keinen Alkohol, und wenn doch, dann niemals Bier.

„Ups.“

„Harter Tag im Krankenhaus?“, fragte er weiter und gab sich keine Mühe, seinen gelangweilten Unterton zu verstecken. Dr. Claudia Merkens, Unfallchirurgin im Krankenhaus in Bad Soden, würde es ohnehin nicht zugeben, falls es so gewesen war.

„Es ging.“

„Und was ist das da?“, fragte er und machte mit seinem Kinn eine Bewegung in Richtung der Bilder.

„Das“, begann Claudia, wobei sie das Wort auf eine seltsame Weise betonte und den Kopf zu ihm drehte, „das sind die MRT-Bilder vom Knie deiner wichtigsten Spielerin.“

Christian gab sich allergrößte Mühe, seine Verblüffung zu verbergen. „Wieso siehst du dir … Du hast doch gestern nach der Untersuchung gesagt, mit Lulus Knie ist alles in Ordnung. Du hast gesagt, es ist kein Meniskusschaden, und dass die Knieschmerzen wahrscheinlich davon kommen, dass sie das Bein falsch belastet hat. Durch die Sehnenentzündung im anderen Fuß.“ Er spürte sein Herz beklommen pochen. Es war nicht auszudenken, was es bedeuten würde, wenn Lulu wieder verletzt ausfiel. Das konnte sie sich nicht leisten. Sie musste die Vorbereitung mitmachen, um zu Saisonbeginn im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein.

„Ich weiß, was ich gesagt habe. In der Regel vergesse ich meine Diagnosen nicht so schnell. Aber irgendwas an diesen Bildern hat mich einfach nicht losgelassen. Und jetzt weiß ich endlich, was das war.“

Christian unterdrückte nur mit Mühe ein Augenrollen. „Ich weiß nicht, wovon du redest!“

Claudia hob die Bierflasche an und blickte auf die träge darin schwappende Flüssigkeit, während sie bedächtig antwortete: „Sie hat eine Deformierung der Kniescheibe. Jägerhutsyndrom dritten Grades. Wunderschön sichtbar auf den MRT-Bildern. Ist das nicht ein sagenhafter Zufall?“

Christian starrte sie an. Ihre Worte, denen ein Hauch von Bitterkeit anhaftete, besaßen die Durchschlagskraft einer Schrotflinte. „Ja, und?“, brachte er etwas zu schnell hervor und wusste sofort, dass das ein Fehler gewesen war.

Claudias Augen bohrten sich in seine, während sie einen Schluck von dem Bier nahm, das ihr ganz offensichtlich nicht schmeckte. Sie schluckte und zuckte mit den Achseln, ehe sie schließlich sagte: „Ich dachte nur, das solltest du wissen. Wenn du nicht willst, dass ihr die Kniescheibe rausfliegt und ihre Karriere beendet ist, dann solltest du ihre Beinmuskulatur stärken.“

Christian antwortete nicht. Etwas hatte sich verändert im Garten an der Rückseite des Hauses, der bereits im Schatten lag, da die hohen Hecken die Strahlen der tiefer stehenden Sonne abfingen. Es musste ein frischer Wind aufgekommen sein, der ihm unter sein verschwitztes T-Shirt kroch und ihn auskühlte. Es war nicht fair von ihr, auf die Verletzung anzuspielen, die seine Basketballkarriere beendet hatte. Doch seine sonst so empfindliche Stelle schien taub zu sein. Dagegen spürte er umso deutlicher ein nervöses Kribbeln im Bauch.

Er verengte seine Augen zu Schlitzen, während er abzuschätzen versuchte, was hier gerade passierte. „Danke, ich weiß, wie ich meinen Job zu erledigen habe“, sagte er schließlich und hielt ihrem Blick stand, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, bis er es nicht mehr aushielt. „Ich gehe mal duschen.“

In seinem Kopf rasten die Gedanken. Er musste sich unter dem kalten Wasser sortieren und würde hoffentlich zu dem Schluss kommen, dass er Gespenster sah. Doch kaum hatte er einen Schritt gemacht, ertönte noch einmal Claudias Stimme hinter ihm. „Wie geht’s Luisas Fuß eigentlich? Hat sie noch Schmerzen? Die letzte Kortisonspritze habe ich ihr vor zwei Wochen gegeben. Ich frage mich, ob sie ihr geholfen hat. Da sie ja schon wieder mit irgendeiner Nationalmannschaft unterwegs war, scheint sie sich nicht an die Pause gehalten zu haben, die ich ihr empfohlen habe.“

Christian blieb wie angenagelt stehen. Ihre Worte fühlten sich tatsächlich wie Nägel an, die durch seinen großen Zeh in den Boden geschlagen wurden. Das Zittern in seinen Beinen wurde stärker. Er drehte sich um. „Ihr und ihrem Fuß geht es bestens. Mach dir keine Gedanken.“

„Tja, weißt du, irgendwie mache ich das doch. Vielleicht sollte ich sie noch mal untersuchen und ein Blutbild machen, um … ich weiß auch nicht, sie mal gründlich durchzuchecken. Die Entzündungsparameter bestimmen und so weiter. Meinst du, das wäre eine gute Idee?“

Die Fünfundvierzigjährige war im Grunde keine hübsche Frau. Zwar hatte sie einen schlanken Körper, der nach diesem Sommer sonnengebräunt war, doch sie hatte helle, blaue Augen, die Stahl zerschneiden könnten. Ihre Gesichtszüge waren meistens ernst und kühl und von einer unübersehbaren Arroganz. Heute war ihr Gesicht geradezu in Stein gemeißelt, lockerte sich nun allerdings etwas auf, um Amüsement Platz zu machen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihre kurzen, blonden Haare, die feminin gestylt ihre Ohren freiließen. In ihrem Poloshirt und der dreiviertellangen Hose hielt sie die Illusion aufrecht, ein Bollwerk zu sein, an dem alles abprallte.

Aber Christian wusste es besser. Den entscheidenden Machtkampf in ihrer seit zweiundzwanzig Jahren andauernden Ehe hatte schließlich er gewonnen. Und die Erinnerung daran gab dem einsneunzig großen, stabil gebauten Mann mit dem Bauchansatz, den kurzen, roten Haaren und dem Bart die Sicherheit, sich zu seiner vollen Größe aufzubauen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Er sagte das mit seiner tiefen Raucherstimme, die er durch das jahrelange Qualmen nach dem Ende seiner Karriere bekommen hatte. Er hatte erst damit aufgehört, als Claudia und er versucht hatten, schwanger zu werden. Es hatte monatelang nicht funktioniert. Schließlich hatte sie ihm vorgeworfen, dass er durch das Rauchen seine Spermien zerstört habe. Doch es hatte nicht an ihm gelegen. Das hatte er schwarz auf weiß. Und sie wusste es.

„Ich spreche davon, dass Luisas Trainer sich verzockt hat. Die Wahrheit kommt immer irgendwann ans Licht. Und das hättest du wissen sollen.“ Claudias Stimme klang nicht triumphierend. Ihr Blick flackerte verwundet.

Christian trat einen Schritt auf sie zu und sagte leise, mit ebenfalls angeschlagener Stimme: „Claudia, ich habe keine Ahnung, welchen Unsinn du da faselst.“

Claudia antwortete nicht. Eine Pause trat ein, in der die Rufe Fußball spielender Kinder aus der Nachbarschaft zu ihnen drangen. Sie starrten sich an. Christians Herz schlug ihm irgendwo in der Nähe seines Adamsapfels. Sie würde nicht tun, was nötig war.

„Wie du meinst“, stieß Claudia ebenso leise hervor, wandte ihren Blick ab und leerte den Rest des Bieres in einem Zug.

Zwei

Charlotte Scheiber wusste genau, wie oft sie in den letzten drei Jahren im Haus ihrer Schwester gewesen war. Aber Nele war eben sehr beschäftigt. Ihr war sicherlich nicht klar, dass Charlotte zuletzt im November vergangenen Jahres hier gewesen war, kurz nach dem Tod ihres Vaters. Das war für Charlotte kein Grund, sich nun, als sie im Auto vor Neles Haus saß, Gedanken darüber zu machen, weshalb ihre Schwester sie zur Grillfeier für die Sponsoren des BBC Kronberg eingeladen hatte. So wie Linda es gewollt hatte.

Die Vierzigjährige saß über das Lenkrad gebeugt da und ließ ihren Blick an der Vorderseite des zweistöckigen Hauses mit der makellosen Fassade und der anthrazitfarbenen Eingangstür entlanggleiten. An die gepflasterte Einfahrt schloss sich eine Garage an, an deren Wand ein Basketballkorb hing.

Sie fragte sich, weshalb sie alles so anders in Erinnerung gehabt hatte. Vielleicht lag es daran, dass das Haus letztes Jahr im November im eintönigen, kalten Grau des Winters versunken war, während an diesem fünfundzwanzigsten August die Natur noch in ihrer vollen Blüte stand. Wäre Linda doch nur mitgekommen. Aber Linda hatte ihre Einladung nicht annehmen wollen. Sie hatte Linda heute noch zweimal angerufen, aber sie war bei ihrer Meinung von vor drei Tagen geblieben, als Charlotte ihr von der Feier erzählt hatte.

Ein plötzliches Klopfen gegen die Scheibe auf der Fahrerseite riss Charlotte aus ihren Überlegungen und ließ sie erschrocken zusammenzucken. Sie drehte ihren Kopf und blickte geradewegs in Luisa von Goltz‘ freundliches Gesicht. Sie stand neben Charlottes altem Opel und winkte ihr zu, unter ihren Arm einen abgegriffenen Basketball geklemmt. „Hallo Lotte!“

Charlotte wusste nie, wie ihr geschah, wenn das Lächeln der Neunzehnjährigen ihr galt. Sie öffnete die Tür und stieg aus, um ihre Nichte fest in ihre Arme zu schließen.

„Hallo, meine Kleine“, sagte sie, obwohl Lulu mit ihren Einssiebzig sogar ein kleines bisschen größer war als ihre Tante. Aber Lulu würde immer ihre Kleine bleiben. Das war sie seit dem Tag ihrer Einschulung, als Charlotte sich unsicher in der hintersten Reihe der Schulturnhalle herumgedrückt hatte und auch auf das auffordernde Winken ihres Vaters nicht nach vorne gekommen war. Schließlich hatte Nele ihr erklärt, dass Lulu sie kaum kennen und Angst bekommen würde. Sie war ohnehin schon nervös genug gewesen am Tag ihrer Einschulung. Doch dann war Lulu, dieses süße Mädchen mit der Zahnlücke, auf sie zumarschiert und hatte sie gefragt, weshalb sie von ihr nichts in ihrer Schultüte hatte. Überrumpelt hatte Charlotte in ihren Hosentaschen gekramt und einen Lutscher gefunden, den sie beim Einkauf im Supermarkt geschenkt bekommen hatte. Hocherfreut hatte Lulu daraufhin ihre Hand genommen und mit ihr gemeinsam den Schulhof erkundet.

Überwältigt von dieser Erinnerung musste Charlotte ein paar Tränen wegblinzeln. Sie hielt Lulu eine Armlänge von sich entfernt fest und betrachtete sie glücklich. Ihre Nichte hatte hellbraune Haare, die sie zu einem Zopf gebunden trug, warme, nussbraune Augen und dieses kindliche Lächeln. Überhaupt sah sie gar nicht aus wie eine Abiturientin. Sie hatte eine zierliche Figur, auch wenn sie verglichen mit dem letzten Mal, als Charlotte sie gesehen hatte, ein wenig an Muskulatur zugelegt hatte. Jemand, der sie nicht kannte, erriet wohl kaum, dass sie demnächst Basketball in der 1. Bundesliga spielen würde.

„Wie geht’s dir? Hast du einen Platz in Zahnmedizin bekommen?“, fragte Charlotte.

„Na ja …“, begann Lulu ausweichend und befingerte den Ball unter ihrem Arm. „Ich war zwar zugelassen, aber Mama meinte, es wäre besser, ich mache erst mal etwas anderes, damit ich noch Zeit für Basketball habe.“

Charlotte blinzelte in die Abendsonne. Die Straße war nur auf einer Seite bebaut, da auf der anderen Straßenseite, jenseits des hohen Bordsteins, an dem Charlotte parkte, ein grasbewachsener Hang abfiel. Neben dem Haus ihrer Schwester gab es noch fünf weitere in der kleinen Straße. Es waren allesamt freistehende Häuser von einer Größe, bei der Charlotte sich fragte, ob sie bereits als Villen galten. „Und was machst du dann jetzt?“

„Ich fange im Oktober an, Lehramt zu studieren. Für Englisch und Sport“, erklärte Lulu achselzuckend und verzog ihren Mund zu einem Lächeln.

„Oh“, entfuhr es Charlotte überrascht. Doch ehe sie noch etwas dazu sagen konnte, fragte Lulu: „Wo ist Linda?“

Charlotte spürte, wie ihr der Schweiß in den Nacken rann. Dabei sorgte gerade ein Windstoß für ein wenig Abkühlung.

„Sie … sie hat leider keine Zeit“, stammelte Charlotte und wich dem Blick ihrer Nichte aus. Da war es wieder. Dieses Gefühl, ihr Magen sei in sich verdreht. Eigentlich hatte sie gar keinen Appetit auf etwas vom Grill aus dem Garten hinter dem Haus ihrer Schwester, aus dem sie nun gedämpfte Stimmen, Gelächter und das Klirren von Gläsern vernahm.

„Schade. Ich wollte ihr einen Reversekorbleger zeigen, bei dem ich mir den Ball im Sprung einmal durch die Beine gebe.“

Charlotte sah ihre Nichte verständnislos an.

Lulu grinste. „Das hab ich in diesem Video gesehen, das ich Linda das letzte Mal gezeigt habe. Pass auf!“

Sie führte Charlotte zum Basketballkorb an der Garagenwand. Ein kleines Tor trennte die Einfahrt vom Garten, hielt jedoch nicht die Geräusche ab, die von dort herüber drangen. Charlotte erhaschte einen kurzen Blick auf den dampfenden Grill, aber von Nele war nichts zu sehen.

„Aber nicht lachen, wenn es nicht klappt!“, meinte Lulu und stellte sich gut drei Meter vor dem Korb auf. Charlotte blickte sie gespannt an. Vielleicht könnte Lulu mal zum MTV Urberach kommen und Charlottes Mädchenmannschaft vormachen, was sie alles konnte.

Ihre Nichte, die passend zu ihrer kurzen Sommerhose pinkfarbene Flip-Flops trug, machte ein Dribbling und zwei Schritte und wollte dann unter dem Korb auf ihrem linken Fuß abspringen, doch sie hob nur ein kleines Stück vom Boden ab, als hätte sie plötzlich die Kraft verlassen. Dann landete sie mit einem spitzen Aufschrei unsanft auf dem Pflaster.

„Au!“, stöhnte und wimmerte sie und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an ihren Fuß, während der Ball gegen die Garage prallte und wegrollte. Charlotte eilte mit einem Satz zu ihr.

„Lulu, was ist passiert?“, fragte sie alarmiert und kniete sich neben sie.

„Nichts. Ich glaube, da war nur ein Steinchen … oder so etwas“, ächzte Lulu, doch ihr Gesichtsausdruck verriet Schmerzen.

„Lass mich mal sehen“, sagte Charlotte und schob Lulus Hände von ihrem Fuß, um nachzusehen.

„Es ist nichts“, erwiderte Lulu und versuchte hastig, ihren Fuß aus dem Griff ihrer Tante zu befreien. Doch Charlotte hatte es bereits entdeckt. Ihr klappte schockiert der Mund auf.

„Was ist das denn?“, brachte sie hervor und starrte auf die Innenseite von Lulus Fuß, die von winzigen, schwach lila verfärbten Flecken übersät war. Sie sahen aus wie Einstichstellen von Spritzen; etwas, das sie bei ihrem lange pflegebedürftigen Vater ständig gesehen hatte. Die Innenseite von Lulus linkem Fuß sah aus, als hätte sie gleich mehrere Spritzen verabreicht bekommen. Sie hob ihren Blick, um ihrer Nichte ins Gesicht zu sehen, als plötzlich Lindas Stimme in ihrem Kopf laut wurde.

„Wie kannst du ignorieren, was Lisa erzählt? Glaubst du wirklich, sie hat das erfunden? An der Sache mit Amalia war doch auch etwas faul. Muss erst Lulu was passieren, damit du einsiehst, dass in diesem Verein etwas nicht stimmt? Ich kann einfach nicht mehr. Hör bitte auf, dir etwas vorzumachen! Auch über mich!“

„Lulu! Ich suche dich seit …“ Nele von Goltz‘ harsche Stimme durchschnitt die sommerliche Luft aus dem Nichts. Charlotte hatte sie nicht kommen hören. Sie ließ den Fuß ihrer Nichte los, als sie sich erschrocken umdrehte und ihre Schwester hinter dem Gartentor erblickte.

„Oh, Lotte, du bist schon … Was macht ihr zwei denn da unten auf dem Boden?“ Nele klang unkonzentriert, als hätte sie eine Million Dinge in ihrem Kopf, an die sie gleichzeitig zu denken versuchte. Charlotte erhob sich, während Lulu aufsprang, um ihren Ball zu holen, ehe dieser die Straße hinabrollen konnte.

„Sie wollte mir etwas zeigen. Einen Korbleger“, stotterte Charlotte. Sie wollte auf ihre Schwester zugehen und sie umarmen, doch das geschlossene Gartentor, hinter dem Nele stand, machte diese Absicht zunichte.

„Aha“, sagte Nele. Ehe Charlotte noch einmal ihren Mund aufmachen konnte, wanderte Neles Blick zu ihrer Tochter.

„Lulu, hör auf, hier rumzualbern. Ich hab dir gesagt, du sollst dich umziehen und dann bitte zum Essen kommen!“, wies Nele sie an. Sie klang unentspannt. Überhaupt wirkte die achtundvierzig Jahre alte Frau gestresst. Ihre schlanke Figur steckte in einer schicken, weißen Baumwollhose und einer locker fallenden, teuer aussehenden Bluse. Dazu trug sie ihre schwarzen Haare zu einem voluminösen Dutt hochgesteckt. Sie sah gut aus, aber ihr ernster Gesichtsausdruck und der stechende Blick aus ihren kleinen, grauen Augen verrieten ihre Anspannung.

„Ich wollte Lotte nur …“

„Das freut mich, aber beeil dich bitte, das Essen ist fertig und wir hatten doch besprochen, dass du den Leuten etwas über dich erzählst.“ Nele klang angestrengt.

Lulu blickte schüchtern von ihrer Tante zu ihrer Mutter und erwiderte dann artig: „Okay. Ich bin gleich da.“ Mit dem Ball unter dem Arm ging sie die Stufen zur Haustür hoch.

„Und zieh bitte die Sachen auf deinem Bett an! Die mit dem Vereinslogo, ja?“, rief Nele ihr noch um die Ecke hinterher. „Dieses basketballverrückte Mädchen“, meinte sie dann an ihre Schwester gewandt und lächelte, wobei sie ihre Zähne entblößte. „Komm rein, die ersten Steaks sind gerade durchgebraten“, fügte sie hinzu, als der würzige Duft von frisch gebratenem Fleisch Charlottes Nase erreichte, und öffnete das Tor von innen.

Doch sie wartete weder auf eine Erwiderung von Charlotte noch darauf, dass sie den Garten betrat. Nele wandte sich um und eilte mit wehender Kleidung zurück auf die Feier, während ihre Schwester in der Einfahrt stand und ihr nachsah, einen stechenden Schmerz niederringend, der ihr fast den Atem raubte.

Aber das war schon in Ordnung. Nele meinte das nicht böse. Sie war durch den Wind an diesem wichtigen Abend, wollte Sponsorengelder sammeln, um den Aufstieg ihres Vereins in die 1. Bundesliga zu finanzieren. Und Charlotte würde sie dabei unterstützen. Dennoch wusste sie nicht so recht wohin mit sich, als sie das Gartentor hinter sich geschlossen hatte. Sie stand am Rande des saftigen Rasens, der aussah wie aus einem Katalog für Gartenmöbel und stellte fest, dass ihr der Garten früher größer erschienen war, als es bloß die kleine Holzhütte in einer Ecke und den winzigen Teich in der anderen gegeben hatte und keine dreißig bis vierzig Menschen sich auf dem gepflegten Rasen getummelt hatten.

Zwei Bierbankgarnituren, über deren blankes Holz bereits viele Hintern scheuerten, während die zugehörigen Münder die erste Ladung vom Grill verspeisten, standen in der Mitte des Gartens. Sie zeigten geradewegs auf den Grill, ein dampfendes, hochmodernes Monstrum, auf dem bereits die nächste Fuhre Fleisch brutzelte. Zwei Stufen führten vom Rasen auf die Terrasse mit dem langen Gartentisch, an dem weitere Gäste Platz genommen hatten. Charlotte ließ ihren Blick durch die Menge schweifen. Sie suchte Nele, von der sie gehofft hatte, sie würde allen ihre Schwester aus Urberach vorstellen, einem kleinen Städtchen bei Rödermark, knapp vierzig Minuten von hier entfernt, die selbst auch jahrelang Basketball gespielt hatte. Charlotte könnte vom MTV Urberach erzählen, wo sie ehrenamtliche Jugendtrainerin war, und davon, dass zwei talentierte Mädchen, die nun beim BBC Kronberg spielten, einst von ihr trainiert und nach Kronberg geschickt worden waren, weil sie dort die besseren Ausbildungsmöglichkeiten hatten. Das wäre eine gute Werbung für den Verein. Doch wie sollte Charlotte erklären, dass eines dieser Mädchen tot war und das andere im Augenblick nicht mehr nach Kronberg ins Training wollte?

Charlotte schüttelte den Kopf, irritiert von ihrem Gedanken. Sie wollte ihre Schwester finden, die alles erklären würde. Auf ihre Schuhe starrend, Sneakers von RiseUp, die Linda ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, setzte Charlotte sich in Bewegung. Sie achtete angestrengt darauf, niemanden anzurempeln, während sie sich durch die Menge schob. Bei ihrer geringen Körpergröße war das normalerweise kein Problem, doch sie war nicht nur anders gekleidet als die übrigen Frauen, sie hatte im Vergleich zu ihnen auch eine etwas pummelige Figur. Ihre kurzen, schwarzen Haare mussten beim Friseur eigentlich mal wieder ordentlich in Form geschnitten werden und sie trug eine Brille, hinter der sich schüchterne, dunkle Augen verbargen.

Die laute, kratzige Stimme ihrer Schwester ließ sie aufschauen. Sie entdeckte Nele, die gerade über die Terrasse in die Küche ging. Charlotte folgte ihr eilig und schritt mit gesenktem Kopf über die rötlichen Steinplatten in die Küche, in der sie dieselben Temperaturen wie draußen empfingen.

Die Küche war ein großer Raum mit den schicksten Küchengeräten, die Charlotte je gesehen hatte. Allen voran einer High-Tech-Kaffeemaschine, die sie noch nicht einmal einschalten könnte. Abgesehen davon sah es hier allerdings gerade alles andere als schick aus. Die schwarzen Arbeitsplatten auf den hölzernen Küchentheken waren übersät mit den Resten von geschnittenen Tomaten, gewaschenen Salatblättern, Zwiebelschalen, einer leeren Mozzarellapackung, etwas, das nach Couscous aussah, und einem Kochtopf, in dem offensichtlich Nudeln gekocht worden waren. Mehrere Gewürzdosen flogen neben der Spüle herum. Alles in allem sah es aus, als hätte Nele sämtliche Salate und Beilagen, die draußen auf dem Gartentisch standen, selbst zubereitet. Und jetzt stand sie neben der Herdplatte und schnitt ein krümelndes Baguette, während an dem Hängeschrank über ihr die Türen offenstanden.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Charlotte zaghaft.

Nele wirbelte herum. „Mensch! Was machst du denn hier drin?“ Das Messer fiel klappernd auf das Brett, auf dem sie das Baguette gerade geschnitten hatte. Sie griff sich mit einer Hand ans Herz, als hätte Charlotte es darauf abgesehen. „Schleich dich doch nicht so an, Schwesterherz!“

Für einen Moment war sie so überwältigt von Neles letztem Wort, dass sie erst einmal tief Luft holen musste. Charlotte begann ihre Finger zu kneten und suchte nach irgendetwas in ihrem Wortschatz, das eine angemessene Erwiderung wäre, während ihre Schwester ihr wieder den Rücken zuwandte, zum Kühlschrank schritt und ein Bier herausholte.

„Entschuldige. Hätte ich nicht reinkommen sollen?“, war alles, was Charlotte einfiel, als sie glaubte, dass die Stille zwischen ihnen zu lange andauerte.

Nele warf ihr mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu, während sie einen Flaschenöffner aus einer der Schubladen kramte. Mit einem Zischen öffnete sie das Bier und reichte es Charlotte.

„Oh, aber ich kann auch … Ich kann auch einen Wein trinken. Oder Sekt“, meinte sie hastig.

„Papperlapapp! Du trinkst, was du am liebsten magst.“

„Danke“, sagte Charlotte lächelnd, als sie das Bier entgegennahm. „Soll ich mit Kajus anstoßen? Er trinkt ja sicher auch Bier, oder? Ist er draußen?“

Charlotte drehte sich um und blickte zurück in den Garten. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie Neles Mann im Getümmel übersehen hätte. Doch sie entdeckte ihn auch jetzt nicht in dem Haufen unbekannter Gesichter. Fragend wandte sie sich wieder um, während Nele aus dem Kühlschrank ein weiteres Bier hervorholte.

„Ach, der ist noch in der Praxis wegen irgendwelchem Papierkram. Dafür steht Christian am Grill. So, für Linda auch eines, nehme ich …“ Nele stutzte und unterbrach sich mitten in ihrem Satz. Sie hielt die zweite Bierflasche unschlüssig in der Hand, während sie sich verwirrt in der Küche umblickte, als hätte sie gerade erst realisiert, dass sie Linda noch gar nicht gesehen hatte. „Wo ist sie?“

Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten fühlte Charlotte sich, als würde sie Schiffbruch erleiden. Sie umschloss mit beiden Händen fest die Bierflasche.

„Sie … konnte nicht kommen.“ Ihre Augen fuhren unruhig die Küchenmöbel ab und landeten letztendlich bei ihrer Schwester, die ihre Stirn in misstrauische Falten gezogen hatte.

„Wie, sie konnte nicht kommen? Wo ist sie denn?“

Charlotte blickte auf die Küchenfliesen zwischen sich und ihrer Schwester. Sie hörte, dass Nele die überflüssige Bierflasche auf einer Theke abstellte und dann fragte: „Ach du meine Güte … Habt ihr euch etwa getrennt?“

Charlotte spürte, wie ihr übel wurde. Ihr Herz hämmerte direkt unter ihrer Schädeldecke, während sie abwehrend den Kopf schüttelte. Sie öffnete die Lippen, bereit, vehement zu widersprechen, doch ihr Mund formte bloß stumme Worte.

Von Nele kam ein Seufzen. „Schöne Scheiße … Dabei wollte ich Linda heute etwas Wichtiges fragen.“

Charlottes Kopf schnellte nach oben. Ihre Fingernägel begannen sich in das aufgeweichte Etikett der Bierflasche zu krallen.

Nele seufzte erneut und wandte sich wieder ihrem Baguette zu. „Das ist echt blöd“, murmelte sie. „Wir brauchen unbedingt einen … Was ist denn passiert? Ich meine, redet ihr noch miteinander?“

Charlotte bewegte ihren Mund, auf der krampfhaften Suche nach Worten. „Doch. Natürlich reden wir. Es ist alles in Ordnung“, brachte sie schließlich hervor. „Wieso?“

Nele schnitt die letzten Zentimeter der Stange in kleine Stücke, diesmal langsamer, fast bedächtig. So klangen auch ihre Worte. „Na ja, nächste Woche beginnt die Vorbereitung. Da wir es in der 1. Bundesliga mit physisch stärkeren Gegnerinnen zu tun haben werden, dachten wir, es wäre eine gute Idee, professionelles Athletiktraining in die Vorbereitung zu integrieren. Und wir dachten, vielleicht hätte Linda Lust, das Ganze zu übernehmen.“ Sie legte eine kurze Pause ein, ehe sie hinzufügte: „Ich weiß, dass Linda im Januar abgesagt hat, die Mädels nach der Weihnachtspause wieder fit zu machen, aber es ging damals nur um drei Einheiten und wir konnten ihr kein Geld anbieten. Jetzt würde sie mehrere Wochen mit der Mannschaft arbeiten und wir sind auch bereit, das zu entlohnen. Deshalb dachten wir, wir fragen einfach noch mal, ob Linda diesmal das Athletiktraining übernehmen will. Lulu würde sich natürlich wahnsinnig freuen.“ Nele legte die geschnittenen Baguettescheiben in einen silbernen Brotkorb und warf ihrer Schwester einen gespannten Blick zu.

Charlotte wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber die Idee gefiel ihr. Und Linda würde es mit Sicherheit auch wollen. Es gab nichts, was dagegensprach.

„Hör zu, vielleicht gibst du mir einfach Lindas Nummer und ich frage selbst. Das ist einfacher und …“ Nele ließ den Satz unvollendet und nahm von einer anderen Küchentheke ihr schwarzes Smartphone, das Charlotte auf der gleichfarbigen Arbeitsfläche gar nicht entdeckt hatte. Sie sah sie an, als wartete sie darauf, dass Charlotte ihr die Nummer diktierte.

„Nein, nein, das ist nicht nötig. Ich werde Linda fragen. Sie macht das bestimmt gerne“, versicherte Charlotte. Nele hatte zweifelnd einen Arm in die Hüfte gestemmt und schien ihr widersprechen zu wollen, doch in diesem Moment trat Lulu in die Küche.

„Ist das Essen schon fertig?“, fragte sie, in einem Trainingsshirt mit dem Logo des BBC Kronberg auf der Brust und einer kurzen Hose mit dem Namen des Vereins groß auf dem Oberschenkel. Sie sah aus wie eine lebende Schaufensterpuppe.

„Na endlich, Lulu.“ Nele drückte ihr den Brotkorb in die Hand. „Bevor du isst, bringst du das bitte an den Gartentisch und gehst dann zu Christian an den Grill. Jetzt, wo die meisten essen und ruhig sind, werden er und ich die Gäste begrüßen. Und du sagst dann das, was wir ausgemacht hatten, ja?“

„Das sind aber viele Leute“, meinte Lulu, nachdem sie an ihrer Tante vorbei nach draußen gelunzt hatte, offenkundig nervös.

„Je mehr, desto besser“, entgegnete Nele und schob ihre Tochter vor sich her, in Richtung der halb geöffneten Schiebetür zur Terrasse. Im Vorbeigehen wandte sie sich kurz zu ihrer Schwester und sagte: „Lotte, ich bin gleich wieder da. Dann reden wir weiter.“

Charlotte brachte ein Nicken zustande, doch das sah Nele nicht mehr. Sie trat hinaus auf die Terrasse, die im warmen Schein der untergehenden Sonne lag. Die letzten Strahlen des Tages fielen schräg über die Baumwipfel am Ende des Gartens herein. Die Stimmen, das Geklapper der Bestecke auf den Tellern und das Gelächter verschmolzen zu einer undefinierbaren sommerlichen Geräuschkulisse. Der Abendhimmel über Kronberg bot passend dazu ein prächtiges, immer mehr ins Orange-Rötliche abdriftende Farbenspiel. Nele erhob ihre Stimme.

Hinter dem Glas der Schiebetür stehend, blickte Charlotte auf ihre Schwester. Sie stand flankiert von ihrer Tochter und Christian Merkens, einem stabil gebauten Mann, der eine alberne Schürze trug und grimmig dreinblickte, neben dem Grill und lächelte, während sie sprach. Mit Sicherheit hielt sie eine kleine Lobrede auf den BBC Kronberg, aber Charlotte verstand kein Wort, obwohl es im Garten höflich still geworden war.

Sie starrte bloß ihre Schwester an, neben diesem Mann und ihrer Tochter. Für einen winzigen Augenblick wurde ihr ganz flau. Charlotte nahm hastig den ersten Schluck von ihrem Bier. Noch ehe die angenehm kalte Flüssigkeit ihre Speiseröhre ganz hinabgeronnen war, hatte sie sich davon überzeugt, dass dieses Gefühl nichts als Unsinn war.

Drei

Jane Sious Augen brannten vor Müdigkeit, während sie auf den Bildschirm ihres Laptops starrte. Es war zwar erst kurz nach zehn an diesem Freitagabend, dem fünfundzwanzigsten August, doch nachdem sie in den letzten beiden Nächten mehr mit ihrer Bettdecke gerungen als geschlafen hatte, fühlte sie sich am Ende dieser arbeitsreichen Woche bei RiseUp wie ein ausgewrungenes, nasses Handtuch.

Sie wäre gerne in einen teilnahmslosen Schlaf gesunken, doch es war Daniel wichtig, dass sie zur Geburtstagsfeier seines Bruders mitkam. Sie war zwar nicht in Stimmung für einen guten ersten Eindruck, aber da Daniel bis neun im Büro gehockt hatte, würden sie sicherlich nicht allzu lange bleiben. Nach ihrem klitzekleinen Streit neulich wollte sie ihn nicht enttäuschen. Er hätte sich nicht entschuldigen müssen. Sie hatte ja selbst Angst.

Diese Sache, die auf Janes Laptop vor sich hin flimmerte, würde mehr als schwierig werden. Es würde jede Freundschaft auf die Probe stellen und ihre Beziehung umso mehr. Vielleicht würde es ihnen beiden Schmerzen ersparen und ihre Zukunft nicht noch fragiler machen, wenn sie einfach wieder nur Freunde wurden. Solche Gedanken hatten sie in den letzten Nächten um den Schlaf gebracht. Sie konnte einfach nicht aufhören, an all diese Dinge zu denken, die schieflaufen konnten.

Jane nahm einen Schluck aus der Bierdose, die neben ihrem Laptop stand, und starrte wieder auf den Bildschirm, als wolle sie sich zwingen, positiv zu denken und zu glauben, dass es wirklich so einfach werden würde, wie es ihr das geöffnete Dokument mit den Pfeilen und von Vierecken umrahmten Schlagwörtern vorgaukeln wollte. Die Reihenfolge der Dinge, die zu erledigen waren, war simpel.

Sie würden eine GmbH gründen, bestätigt durch einen notariellen Vertrag. Jane würde als Geschäftsführerin bestellt werden. Sie würden das zusammengelegte Geld auf ihr neu eingerichtetes Geschäftskonto überweisen. Dann würde die Anmeldung beim Handelsregister erfolgen. Und danach ginge es richtig los: Die Ladenräume für ihren Sneakerstore mussten gemietet und renoviert werden, sobald sie sich auf einen Standort geeignet hatten. Anschließend würden sie das Sortiment bestellen, das hauptsächlich aus Basketballschuhen bestehen sollte. Hier endete der Plan auf ihrem Computer. Doch noch eine unüberschaubare Menge an anderen Dingen, an die Jane jetzt gar nicht denken wollte, musste erledigt werden, bevor ihr Laden irgendwann eröffnen würde. Und die Tatsache, dass sie noch immer am Gesellschaftervertrag saßen, weil noch nicht mal klar war, wie hoch ihr Stammkapital sein sollte, machte es nicht besser. Überhaupt befürchtete Jane immer noch, dass Linda zu Charlotte zurückkehren und ihre Teilnahme an dieser ganzen Sache abblasen könnte.

Janes Brustkorb zog sich zusammen. Sie leerte ihre Dose mit zwei langen Schlucken. Das ohrenbetäubende Heulen einer Polizeisirene, das sich anhörte, als würde das Einsatzfahrzeug mitten durch Janes große Küche donnern, vertrieb ihre trüben Gedanken. Die Dreiunddreißigjährige erhob sich von ihrem Schreibtisch direkt vor der Balkontür und trat hinaus auf den kleinen Balkon. Er bot gerade einmal Platz für einen winzigen Tisch und zwei Stühle. Trotzdem fühlte Jane sich draußen besser. Das mochte am Wind liegen, der aufgefrischt hatte und der Stadt, die den ganzen Tag unter der Hitze gestöhnt hatte, endlich Linderung verschaffte. Die Brise zerzauste Janes kinnlange, schwarze Haare, als sich die gebürtige Malaiin mit den Unterarmen auf die wacklige Brüstung stützte und nach unten blickte.

Auf der Schlossstraße in Frankfurt-Bockenheim bog das Einsatzfahrzeug der gegenüberliegenden Polizeiwache mit flackerndem, die Dunkelheit zerfetzendem Blaulicht in Richtung Bockenheimer Warte ab. Sie drehte ihren Kopf, erhaschte links einen Blick auf die hell erleuchtete Spitze des nahen Messeturms und sah rechts über den flachen Dächern jenseits der riesigen Kreuzung der Adalbert- und Schlossstraße das wohl letzte Flugzeug des heutigen Tages, das sich mit blinkenden Positionslichtern im Landeanflug befand. Dann drang von unten das Quietschen der Straßenbahn zu ihr hoch und sie sah die grüne Bahn mit hell erleuchteten Fenstern direkt unter ihrem Balkon halten. Eine Traube Menschen stieg ein und aus. Jane drehte ihren Kopf. Vor den beiden Pizzerien links die Straße hinunter wurde in der lauen Luft gelacht und geraucht.

Nur eine Sache passte nicht ins Bild. Das war der dunkle Wagen, der auf der anderen Straßenseite mitten auf dem Fahrradweg parkte. Der Motor war aus und es brannte kein Licht. Aus irgendeinem Grund konnte Jane ihre Augen nicht von dem Auto abwenden.

Ihre schokoladenbraunen Augen, die vor Gutherzigkeit überliefen, wie Daniel es ihr immer wieder sagte. Und er war nicht der Erste, der ihr das gesagt hatte. Aber das hatte sie ihm nicht erzählt. Er würde es falsch verstehen, wenn sie ihm gestand, dass auch er das über ihre Augen gesagt hatte und sie jedes Mal daran dachte, wenn Daniel ihr dieses Kompliment machte. Es war schlimm genug, dass sie nach zweieinhalb Jahren noch immer daran dachte.

Während sie auf ihrem Balkon stand und das fremde Auto anstarrte, fragte sie sich, wie schon so oft, ob er manchmal an sie dachte und alles bereute. Dabei tat sie doch alles, um weiterzumachen. Sie versuchte immerhin gerade, ihren großen Traum ohne ihn zum Leben zu erwecken. Und doch fühlte es sich an, als käme sie nicht von der Stelle. Die Erinnerungen schienen stärker zu werden, als stecke sie im Treibsand. Je heftiger sie sich bewegte, umso mehr verschlang sie der Boden.

Plötzlich meinte Jane eine Bewegung hinter den düsteren Autoscheiben wahrzunehmen und zuckte erschrocken zurück. Es sah aus, als habe sich im Auto jemand eine Zigarette angezündet. Jane trat zurück in ihre Küche, schloss die Tür hinter sich und zog auch gleich die Vorhänge zu, als befürchte sie, der Mann im Auto könne sich rächen und sie nun seinerseits beobachten.

Die Küche war ein großer Raum, gedämpft beleuchtet von einer Stehlampe neben dem Schreibtisch. Sie war ausgelegt mit grauen Fliesen und hatte eine hohe Decke. Ihre etwas ramponierten Küchenmöbel, bei denen sich einige Schubladen nur mit Gewalt schließen ließen, weshalb sie bei Jane meistens einen Spalt offenstanden, rahmten den kleinen Esstisch in der Mitte des Raumes ein. Die Pfanne stand zum Einweichen auf dem Herd, ihr ungespülter Teller daneben. Leere Verpackungen flogen überall herum. Jane war noch nie sonderlich ordentlich gewesen und war froh, dass Daniel genauso chaotisch war. Er war tatsächlich ihr bester Freund. Und er hielt seine Versprechen, wie der Strauß Rosen in der Vase auf dem Esstisch bewies.

Für Janes Geschmack hatten sie in den letzten Tagen eher eine Diskussion geführt. Sie hatte ihm bloß klarmachen wollen, dass ihr gemeinsamer Sneakerstore auf gar keinen Fall SneakersHeaven heißen würde. Dieser Name gehörte zu einem anderen Schuhladen mit einem anderen Mann. Dieser Name war verbunden mit Erinnerungen, die ihren Magen noch immer zersetzen konnten wie Batteriesäure. Manchmal meinte sie zu glauben, dass sich ihr Leben in ein Davor und ein Danach gliederte und sie befürchtete, dass ihr Danach dem Leben einer trockenen Alkoholikerin glich. Es gab einen bestimmten Namen, den sie nicht hören konnte, einen Duft, den sie nicht ertrug und die zufällige Begegnung mit einem ganz bestimmten Typ Mann, groß und mit Glatze, versetzte sie regelmäßig in eine Schockstarre.

Das wusste Daniel. Sie hatte in seinen Augen gelesen, welche Überlegungen in seinem Gehirn herumgespukt waren, als sie versucht hatte ihm klarzumachen, weshalb ihr Laden auf keinen Fall SneakersHeaven heißen konnte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr widersprechen würde.