Amelia - Lilly C. Zwetsch - E-Book

Amelia E-Book

Lilly C. Zwetsch

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aufgewachsen als Mündel des Königs, hatte Amelia schon immer eine Schwäche für dessen Sohn Henry. Doch als sie nach zwei Jahren aus dem Kloster zurückkehrt, muss sie feststellen, dass Henry sie nur wie eine Schwester liebt und schlimmer: Er wird heiraten. Nun steht sie vor der Entscheidung, ihren Kindheitsfreund zu unterstützen, oder die Heirat zu boykottieren. Denn ihr eigenes Schicksal steht auf Messersschneide. Der König will sie verheiraten und das ausgerechnet mit dem betagten Lord Paxter. Als noch ein zweiter Kandidat auf der Bildfläche erscheint, wähnt sie sich glücklich. Bis Geheimnisse ans Licht gezerrt werden, die besser begraben geblieben wären

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 344

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle Ritter und Ritterinnen, alle Prinzen und Prinzessinnen

Für Annalena R. und Rebecca H., die jede meiner Geschichten als Erste lesen. Ohne euch gäbe es auch diesen Band nicht. Danke!

Inhaltsverzeichnis

Der gläserne Schuh

Ein ehrlicher Rat

Die Suche

Die Braut des Prinzen

Ein abgewiesener Prinz

Ein Herz aus Gold

Eine königliche Hochzeit

Eine schwere Entscheidung

Ein haltloses Versprechen

Hoffnung

Hüter der Geheimnisse

Die Würfel sind gefallen

Die Schlacht von Getis

Wie Seide So Zart

Die Flucht

Verliebt, Verlobt, Verheiratet

Zahlen lügen nicht

Zweifel

Niederlage ohne Kampf

Die Schmerzhafte Wahrheit

Akzeptanz

Ewig gebunden

Die Rückkehr

Geständnisse

Jaden

Die Kraft der Überzeugung

Der Abschied

Erkenntnisse

Die Tage sind gezählt

Kronen und Herzen

Und sie lebten glücklich…

Der gläserne Schuh

Amelia

Der Tag, an dem das Mädchen mit den gläsernen Schuhen den Ballsaal betrat, sollte mein ganzes Leben verändern. In einem Kleid, schillernd wie Kaskaden fallender Sterne, schwebte sie über die Tanzfläche, schmiegte sich in den Arm des Prinzen, als sei dieser nur für sie gemacht. Als ich das Lächeln sah, das am linken Mundwinkel des Prinzen zupfte, wusste ich, dass meine Liebe verloren war.

Beinahe wären mir die Tränen gekommen, als ich Henry und die geheimnisvolle Schönheit beobachtete, wie sie auf die Terrasse traten, tief ins Gespräch versunken. Seit meiner Rückkehr an den Hof hatte ich mich nicht mehr so leer gefühlt. Doch eine Dame weinte nicht, das hatte man mir in den vergangenen zwei Jahren eingebläut. Zusammen mit Umgangsformen, Etikette, den Regeln der Rhetorik, Grundzügen der Mathematik und Heilkunde und natürlich Demut. Also schluckte ich die Tränen zusammen mit dem lästigen Kloß hinunter und setzte ein leichtes Lächeln auf. Ein Blick in die versammelte Gästeschar zeigte mir Entsetzen und Trauer in den Gesichtern der Kandidatinnen. Jede von ihnen war auf Geheiß des Königs erschienen, um dem Prinzen vorgestellt zu werden, auf dass er sich eine von ihnen zur Gemahlin erwählte. Es war eine Farce gewesen, zuzuschauen, wie die Damen der Reihe nach angekündigt worden und in den schönsten Kleidern vor das königliche Podest getreten waren. Selbstverständlich war ich selbst nicht unter ihnen, gehörte ich doch nicht dem Adelsstand an, ganz gleich, wie gut der König mit meinem Vater befreundet gewesen war.

Und Henry? Der Prinz hatte die Mädchen mit jenem freundlichen Lächeln begrüßt, welches er bei Hofe stets zur Schau stellte. Keine hatte seine Aufmerksamkeit für länger als ein paar Sekunden fesseln können. Und beinahe schon wollte ich aufatmen, da erschien die fremde Schönheit oben auf der Treppe und schwebte die Stufen hinab wie eine schillernde Fee. Sofort galt ihr alle Aufmerksamkeit und Henry vergaß das Mädchen ganz, dessen Hand er soeben küssen wollte. Selbst der König richtete sich auf seinem Thron auf, um die Ursache für die plötzliche andächtige Stille zu sehen. Ein strahlendes Lächeln erhellte sein Gesicht, als er das Mädchen sah.

Blondes Haar, kunstvoll hochgesteckt, nur einige schmale Strähnen umspielten ihren zarten Hals. Das silberne Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper und ließ die kleinen Rundungen ihrer Brüste hervorlugen, ohne, dass es anstößig gewirkt hätte. Sie trug keinen Schmuck, abgesehen von einem Paar unwirklicher Schuhe, die ganz aus Glas gemacht schienen und bei jedem Schritt leise klirrten. Ein zaghaftes Lächeln verzog die rosa Lippen und zauberte winzige Fältchen um die glänzenden blauen Augen. Unsicher sah sie sich im Raum um, da war Henry bereits vom Podest gesprungen und ihr entgegengeeilt. Und nun saßen sie dort auf einer Bank und wirkten dabei so vertraut, dass es mir ganz eng um die Brust wurde.

„Freust du dich denn gar nicht für unseren Freund?“, raunte eine Stimme hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer dort so unangebracht nahe bei mir stand. So wenig wie Henry mich mit seinem falschen Lächeln hatte täuschen können, so wenig gelang mir das nun mit Jaden. Ganz gleich, wie lange ich auch fortgewesen war, wir kannten uns seit frühester Jugend.

„Doch. Natürlich. Sieht man das denn nicht?“ Ich lächelte noch breiter.

„Pass auf, dass diese Grimasse nicht festfriert“, stichelte Jaden und ich unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Er hatte ja recht. Ich hätte mich für Henry freuen sollen. Sein Vater lag ihm nun schon seit drei Jahren damit in den Ohren, endlich eine heiratsfähige Prinzessin oder doch zumindest ein Mädchen von Adel auszuwählen und die Nachkommenschaft zu sichern. Keine hatte sein Interesse wecken können. Mit diesem Mädchen jedoch schien es ganz anders zu sein. Und wie auch nicht, so ausgesprochen schön wie sie war.

„Ich… ich bin wohl einfach noch etwas erschöpft“, wich ich wenig elegant aus.

Jaden zog die dichten Brauen zusammen. Besorgnis lag in seinen dunklen Augen. „Geht es dir nicht gut?“ Seine Hand ruhte auf meinem Arm und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Was hätte ich ihm sonst sagen sollen? Meine Gefühle für Henry gestand ich kaum mir selbst ein. Auch wenn ich ziemlich sicher war, dass Jaden sie trotzdem kannte.

Ich zuckte die Achseln. „Ich bin erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt. Die Fahrt war anstrengend und ich hatte nur wenig Zeit, mich an all den Trubel im Schloss zu gewöhnen. Des Nachts bekomme ich noch immer kaum ein Auge zu.“ Das zumindest war nicht gelogen. Im Kloster war es stets totenstill gewesen, während im Schloss selbst bei Nacht ein reger Betrieb herrschte.

Jaden drückte mitfühlend meinen Arm, ließ aber eilig los, als ein älterer Lord mit dichten Koteletten an uns vorüberging. Wir lächelten ihn beide an und neigten die Köpfe.

„Es war sicher nicht leicht für dich“, murmelte Jaden, streckte mir eine Hand entgegen und deutete eine Verbeugung an. „Darf ich dich vielleicht mit einem Tanz aufheitern?“ Als er zu mir aufsah umspielte ein Lächeln seinen Mund, das ich nur allzu gut kannte. Und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. Tatsächlich konnte ich seine Bitte nicht ausschlagen. Das Orchester hatte bereits wieder aufgespielt und die wenigen jungen Herren führten die Damen ihrer Wahl auf die Tanzfläche. Und wenn ich die giftigen Blicke der wohlerzogenen Damen richtig deutete, hätten sie mich für einen Tanz mit Jaden glatt abgestochen.

Warum auch nicht? Er sah gut aus mit seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen, die sein Gegenüber stets zu verschlingen schienen. Das graue Wams mit dem silbernen Hirsch seiner Familie darauf war ihm auf den muskulösen Leib geschneidert und betonte die breiten Schultern und schmalen Hüften, um die er zusätzlich einen kunstvoll verzierten Schwertgurt gebunden hatte, dessen Scheide allerdings leer war. In Gegenwart des Königs durfte nur die Palastwache Waffen tragen. Die schwarzen Hosen mündeten in polierte Stiefel aus weichem Leder. Und nicht nur sein Äußeres pflegte die Damen in Scharen anzulocken. Nein, zu allem Überfluss war Jaden auch noch ein Prinz. Gut, nur der drittgeborene Sohn eines Königs, gegen den Henrys Vater vor acht Jahren Krieg geführt und den er besiegt hatte. Aber Prinz ist Prinz. Jaden war in seinem Tross mitgereist und lebte seither als Mündel des Königs. Hinter vorgehaltener Hand sprach man allerdings eher von einer Geisel.

„Der König möchte Prinz Jadens Vater nur daran erinnern, dass er sich ja nicht noch einmal gegen Seine Gnaden auflehnen soll. Zu unserem Glück. Sonst hätte man uns Jaden womöglich noch vorenthalten“, hatte Karen, meine Zofe, erst neulich gesagt, während sie meine Truhen ausräumte und die Kleider säuberlich aufhängte. Karen war mit mir aus dem Kloster gekommen, teils, um mir beim Ankleiden und Baden zu helfen, beides Dinge, die eine Dame niemals allein erledigte, teils, um meine Freundin zu sein. Und sie schwärmte für Jaden, seit er ihr die Hand gereicht und aus der Kutsche geholfen hatte. Sie hätte er statt meiner zum Tanz auffordern sollen, doch natürlich war Karen zu einem solchen Fest nicht geladen. Auch ich wäre wohl nicht hier, hätte der König meinem Vater nicht vor zehn Jahren ein Versprechen gegeben. Es war eine unglaubliche Ehre, als Tochter eines einfachen Mannes von einem Prinzen zum Tanz gebeten zu werden. An Ablehnung war da nicht zu denken.

Jadens Finger fühlten sich angenehm kühl an, als ich sie ergriff und ihn mit meinem falschesten Lächeln bedachte. „Wie überaus freundlich von Euch, Majestät. Und welch eine Ehre für ein einfaches Mädchen wie mich.“ Ich errötete und senkte schüchtern den Blick.

Jaden prustete leise, damit die übrigen Tänzer uns nicht hörten und zog mich an seine Brust. „Du bist vieles, Amelia. Aber sicher nicht einfach“, flüsterte er mir ins Ohr. Sein Atem verfing sich in einer losen Strähne meines Haars und kitzelte mich im Nacken. Gänsehaut kroch über meinen Rücken. Bevor ich mir eine gewitzte Antwort überlegen konnte, wirbelte Jaden mich auch schon von sich fort. Mit seinen langen Beinen führte er die komplizierte Schrittfolge fehlerlos aus und fing mich sicher wieder ein, ehe ich mich in meinen Röcken verheddern konnte.

Jaden grinste. „Als ich dich neulich aus der Kutsche steigen sah, mit deinem vornehmen Kleid und den tadellosen Manieren, glaubte ich dich zur Gänze verändert. Doch wie ich sehe hast du noch immer zwei linke Füße.“

Ich kräuselte ganz kurz die Nase, eine Angewohnheit, für die mich die Schwestern regelmäßig ausgeschimpft hatten. Zu meiner Schande konnte ich Jaden kaum widersprechen. Bei Gott im Himmel, die Nonnen hatten wirklich alles versucht, mich zu einer vollendeten Tänzerin zu machen, doch bis zuletzt waren ihre Bemühungen fruchtlos geblieben. Ich konnte von Glück sagen, dass Jaden so hervorragend zu führen vermochte, sonst lägen wir beide bereits auf der Nase, verheddert in meinen ausladenden Röcken und zur Belustigung des gesamten Adels, der mich ohnehin schon für einen Bauerntrampel hielt. Ganz gleich, als welchen Helden der König meinen Vater stets pries. Neider gab es immer und überall, das hatte ich schon in meiner ersten Woche im Schloss gelernt, als die Mädchen mir die Kleider zerschnitten und meine Frisuren außer Form gerupft hatten, sobald die Kindermädchen und Mütter einmal nicht hingesehen hatten. Die einen missgönnten mir meine Nähe zum König, die anderen meine Freundschaft zu Prinz Henry. Und so waren er und Jaden meine einzigen Freunde. Obwohl das längst nicht immer so gewesen war.

„Und als ich dich damals sah, mit deinem pomadigen Haar und den engen Hosen, glaubte ich schon, du seist nun endlich zu einem der vornehmen Herren verkommen. Doch wie ich sehe hast du noch immer keine Manieren.“

Jaden legte den Kopf in den Nacken und lachte. So laut, dass sich einige Tänzer schon nach uns umdrehten und ich den Blick des Königs auf uns spürte. Mochten sich manche Herren auch gern in diesem Licht suhlen, ich vermochte die Aufmerksamkeit des Königs nicht zu genießen. Als ich mit sieben Jahren vor diesem breiten Mann gekniet hatte, eine Waise ohne Vermögen und ohne Heim, und er mich auf den Arm genommen hatte, mit seiner dunklen Stimme beruhigende Worte murmelnd, da hatte ich ihn gleich liebgewonnen. Doch nach dieser Sache vor zwei Jahren, nach der er mich ins Kloster verbannt hatte, fürchtete ich, er könne beschließen, mich ganz loszuwerden. Im Sinne von verheiraten, nicht von um die Ecke bringen, natürlich. Und nach dieser unangenehmen Veranstaltung heute Abend konnte ich nur hoffen, ihm schwebe da nicht ein ähnliches Spektakel mich betreffend vor.

Also kniff ich Jaden unfein in den Arm und zischte. „Still. Wir erregen schon genug Aufmerksamkeit, auch ohne, dass du grunzt wie ein Schwein.“

Er holte empört Luft. „Also hör mal. Mein Lachen klingt doch nicht wie ein Schwein.“ Unsicherheit schlich in seinen Blick. „Oder?“

Ich grinste und konnte mir ein „Glaubst du denn, so etwas denke ich mir aus? Sieh doch nur, wie sie alle zu uns herübersehen“, nicht verkneifen.

Jaden sah kurz über die Schulter, doch da hatten die Adeligen schon geistesgegenwärtig die Blicke abgewandt. Er musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. „Du nimmst mich auf den Arm, nicht?“

Ich verdrehte die Augen. „Ja, du eitler Spatz.“

„Du bist unter den Nonnen ja richtig gemein geworden“, warf er mir vor und führte mich übergangslos in den nächsten Tanz, als das Lied wechselte.

Ich lächelte, musste jedoch den Blick abwenden. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass der König mich nur zu den Schwestern geschickt hatte, um mir einen Gefallen zu tun, hätte ich ihn gehasst. Es war eine Strafe, ja. Für meine Wildheit, so hatte er es genannt. Aber alles in allem sollte es meine Chancen auf eine vorteilhafte Eheschließung erhöhen. Damit ich meinem Vater Ehre machen konnte. Manchmal fragte ich mich jedoch, ob der König meinen Vater überhaupt wahrhaftig gekannt hatte. Denn wenn selbst ich mich an seinen Leitspruch „Freiheit und Gerechtigkeit sind Herz und Blut unseres Hauses“ erinnerte, dann musste der König dies auch tun. Seine Handlungen jedoch liefen dem zuwider.

„Amelia?“ Jaden klang verunsichert. Und da war wieder dieser besorgte Ausdruck in seinen Augen. Ich schämte mich, weil ich der Grund dafür war.

„Es ist nichts“, beteuerte ich. „Ich brauche nur etwas frische Luft.“ Damit wand ich mich aus seiner Umarmung und drängte mich durch die Menge jenseits der Tanzfläche. Die Glastüren standen nur einen Spalt weit offen und ließen kaum Sauerstoff herein. Umso überraschter war ich, die kalte Nachtluft draußen auf der Haut zu spüren. Schlagartig war der Nebel in meinem Kopf fort und eine Gänsehaut bedeckte meinen ganzen Körper. In der Ferne hörte ich die Glocken Mitternacht schlagen. Seufzend stieß ich den Atem aus und ließ den Kopf kreisen, um die verspannten Nackenmuskeln zu lockern. Es knackte vernehmlich. Rasch sah ich mich um, doch außer mir schien keiner der drückenden Hitze im Innern entfliehen zu wollen. Mein Atem stand in weißen Wölkchen vor meinem Mund, so dicht, dass ich das Aufblitzen eines silbernen Rockes beinahe nicht gesehen hätte. Ich drehte mich um und sah verblüfft, wie die geheimnisvolle Fremde die Terrassentür aufstieß und im Eilschritt den Ballsaal durchquerte. Wie ein Schiffsbug das Wasser teilte, teilte sie die Menge. Damen und Herren, Tanzende und Diener sprangen auseinander, um der Schönheit ihren Weg zu bahnen und so erreichte sie die Treppe, als ich Henry hinter mir rufen hörte: „Haltet sie auf!“

Er fegte an mir vorbei wie ein Wirbelwind und pflügte nun seinerseits durch die Menge. Ihn jedoch ließ man nicht so leicht entkommen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er auf seinem Weg gleich fünf Töchter zur Frau angeboten bekäme, doch er ließ sich nicht beirren, hielt den Blick stets auf die Röcke der Fremden gerichtet, die soeben in einer Wolke aus Sternenglanz im Gang verschwanden. Über die Menge hinweg erhaschte ich einen Blick auf Jaden, der nicht minder verdutzt zusah, wie sein Freund die Stufen hinaufstürmte. Sein Blick traf meinen und wie auf ein geheimes Zeichen hin rannten wir los.

Also gut, er rannte. Ich musste mich mit dem eleganten Eilschritt einer Dame begnügen, sodass ich erst im Gang hinter dem Ballsaal anlangte, als Jaden bereits nicht mehr zu sehen war. Nun gestattete ich mir, zu rennen, raffte die Röcke und achtete nicht auf die neugierigen Blicke der Wachposten, die entlang des Flures standen. Ich stürmte die Vortreppe hinab und auf den Innenhof. Henry und Jaden standen schwer atmend am Tor, gleich links von mir sattelte der Hauptmann der Palastwache persönlich sein Pferd und sprang auf, sobald der Gurt festgezurrt war. Etwa zwei Dutzend seiner Soldaten taten es ihm gleich und preschte durch das Haupttor hinaus auf den Königsweg. Die Hufe wirbelten Sand und Staub auf, dann waren sie in der Nacht entschwunden. Nicht einmal eine Minute war es her, seit ich auf die Terrasse getreten war. Die Glocken läuteten noch immer.

„Was ist geschehen?“, fragte ich keuchend.

„Sie ist fort“, sagte Jaden wenig hilfreich. Ich rollte mit den Augen.

„Was hast du denn da?“, erkundigte ich mich bei Henry, der etwas Glitzerndes in Händen hielt. Er schien mich erst jetzt zu bemerken und hielt mir das zierliche Etwas hin. Es war ein Schuh. Ein Schuh aus Glas, der das Fackellicht in tausend Facetten zurückwarf.

„Der ist von ihr. Von dem Mädchen“, stellte ich fest.

Henry nickte. „Sie hat ihn verloren, als sie die Treppe hinunterlief. Er ist alles, was mir von ihr geblieben ist. Nicht einmal ihren Namen kenne ich.“

„Aber das ist doch immerhin etwas“, meinte ich tröstend.

„Ja“, stimmte Jaden zu und ich glaubte schon, er würde wenigstens einmal nützlich sein, da fügte er hinzu: „Das ist mehr, als ich von so manchem Mädchen bekam, ehe sie mich für immer verließ.“

„Hör nicht auf ihn“, sagte ich zu Henry und funkelte Jaden böse an. „Was er zumeist zurückbehält sind Pusteln und Juckreiz und das geschieht ihm recht. Du hingegen hast einen echten Anhaltspunkt.“

Henry sah von dem Schuh auf. In seinen Augen sah ich einen Schimmer Hoffnung. „Meinst du?“

„Aber natürlich“, ich lächelte sanft, auch wenn es mir das Herz zerriss, ihn so voller verzweifelter Sehnsucht nach einer anderen zu sehen. „Sieh dir das winzige Ding doch einmal an. Nicht einmal ich habe solch zarte Füße und das Mädchen, das dieses Kunstwerk trug, war gut einen Zoll größer als ich.“

Er drehte das Gebilde aus Glas in den Händen und betrachtete es nachdenklich. „Ja, du hast recht. Er ist tatsächlich sehr klein.“

„Genauso wie die Hoffnung, das Mädchen zu finden, dem dieser Schuh passt“, warf Jaden ein, der anscheinend begriffen hatte, worauf ich hinauswollte. „Du würdest ewig brauchen.“

Henry grinste. „Das spielt doch keine Rolle, Jade. Solange ich sie nur finde.“ Urplötzlich war wieder Leben in ihm. Er drückte mir stürmisch einen Kuss auf die Wange und schlug Jaden gegen die Brust, als er an ihm vorbeilief. „Ich hoffe doch sehr, du begleitest mich, alter Junge“, rief er, schon halb wieder im Schloss.

„Aber sicher doch.“ Jaden winkte ihm grinsend. Als Henry nicht mehr zu sehen war, wandte er sich mir zu uns musterte mich prüfend. „Warum hast du das getan?“

„Was getan?“, fragte ich unschuldig.

„Ihm diese Idee mit dem Schuh unterbreitet. Jetzt wird er sich auf die Suche nach dem Mädchen machen und nicht eher ruhen, als bis er sie gefunden und zu seiner Königin gemacht hat. Du hättest leichtes Spiel haben können. Stattdessen hast du aufgegeben. Warum?“

Betont gleichgültig zuckte ich die Achseln. „Leichte Spiele mochte ich noch nie.“

Jaden sah skeptisch drein, beließ es aber zum Glück dabei und bot mir seinen Arm. Ich hakte mich ein und ließ mich zurück zum Schloss und dem Ball führen. Ehe wir das Gebäude betraten, warf ich noch einen letzten Blick zurück zum Schlosstor und fragte mich, ob ich wohl soeben einen Fehler gemacht hatte.

Ein ehrlicher Rat

Amelia

Henry und Jaden waren nun schon fast zwei Monate unterwegs. Zunächst hatte sich der König geweigert, seinen Sohn ziehen zu lassen, doch selbst ein Blinder hätte bemerkt, wie zerfressen Henry vor Sehnsucht war. Er aß kaum, lief andauernd ruhelos auf und ab und hatte sich die Fingernägel bis aufs Blut abgekaut. Jedes Mal erwartete er den Raben mit den Briefen des Hauptmannes schon, wenn er eintraf. Und jedes Mal zog er ein langes Gesicht, wenn er las, dass sie noch immer keine Spur hatten. Der König sah sich das Spiel eine Weile lang an, dann rief er mich zu sich.

„Mein hübsches Kind“, seufzte er, als ich vor ihm kniete. Er rief mich nie in den Thronsaal, sondern stets in seine eigenen Räume, wo wir ungestört sprechen konnten. Er saß dann in einem Sessel am Kamin und ich kniete zu seinen Füßen auf einem Kissen. Manchmal las ich ihm vor, manchmal sprachen wir über Nichtigkeiten, für die er seinen Sohn nicht zu sich bemühen wollte.

„Ein junger Mann braucht Aufregung in seinem Leben und ein Pferd zwischen seinen Schenkeln. Nicht das kauzige Geplapper eines alten Mannes“, hatte der König mir einmal gesagt und wir hatten gelacht. Er, weil er seinen eigenen Witz bewunderte, ich, weil er der König war und man ihm nicht widersprach. Tatsächlich empfand ich seine Worte aber als Beleidigung. Warum sollte Henrys Zeit kostbarer sein als die meine? Hatten wir nicht alle bloß das eine Leben? Warum durfte er seines auskosten und ich nicht? Aber das sprach ich natürlich nicht laut aus. Damals nicht und später auch nicht.

Heute jedoch hatte der König mich zu sich holen lassen, weil er meinen Rat benötigte.

„Mein Sohn steht völlig neben sich“, klagte er. „Er ist kaum noch zu gebrauchen, dabei sollte er dringend lernen, ein Reich zu führen.“

„Ihr habt ihn schon früh dazu erzogen, Eure Gnaden. Und er hat Eure Fähigkeiten geerbt.“ Schmeicheleien waren für gewöhnlich nicht mein Stil, aber gelogen war es sicher nicht. Der derzeitige König Henry war ein guter Mann, der Frieden und Wohlstand in sein Reich gebracht hatte und nur dann in den Krieg zog, wenn es sich wahrlich nicht vermeiden ließ. Obgleich die Gerüchte stimmten und Jaden eher eine Geisel, denn ein Mündel war, würde der König nie Hand an ihn legen, nur um seinen Vater zu bestrafen. Und der künftige König Henry hatte alle Formen der Diplomatie, Rechtsprechung und Kriegsführung von seinem Vater gelernt. Aufgesogen wie ein Schwamm hatte er das Wissen und mehr als einmal schon angewandt. Zugegeben, meistens, um sich eine Tracht Prügel zu ersparen, doch das schmälerte sein Talent keineswegs.

„Da magst du recht haben, Liebes.“ Wieder seufzte der König. Ich hatte den Eindruck, als sähe er noch älter aus als für gewöhnlich. Sicher, ich war zwei Jahre lang fort gewesen und Menschen veränderten sich, aber ich hatte diesen Bären von einem Mann noch nie so erschöpft gesehen. Er lag zusammengesunken in den Polstern. Das Haar war bei meiner Abreise lediglich an den Schläfen leicht von Grau durchzogen gewesen, nun jedoch fand man kaum mehr eine braune Strähne darin.

„Doch er scheint den Sturkopf seiner Mutter auf dem Hals zu tragen. Jeden Tag tritt er vor den Thron und bittet mich, ihm die Suchtrupps zu unterstellen. Bislang konnte ich ihm diese Bitte abschlagen, nur sehe ich doch, wie er dahinschwindet. Und dieser dreimal verfluchte Peter scheint als Hauptmann nicht viel zu taugen.“ Er rieb sich die müden Augen, ehe die grünen Iriden meinen Blick suchten. Früher hatte sein Blick gebrannt wie Feuer. Heute erkannte ich das Trübe darin. Nicht mehr lange und er würde sein Augenlicht einbüßen. Vorsichtig nahm ich seine weiche Hand in meine.

„Ihr wünscht meinen Rat in dieser Angelegenheit, Eure Gnaden. Und Ihr wisst, dass ich stets ehrlich zu Euch bin und nur das Beste für Euch und Euer Reich wünsche?“

Er nickte. „Natürlich weiß ich das, Liebes. Du kommst ganz nach deinem Vater.“

Ich unterdrückte das Gefühl von Stolz, das bei seinen Worten in meiner Brust aufkeimte. „Dann rate ich Euch…“ Ich stockte. Dies war nun die Möglichkeit, einen möglichen Fehler auszubügeln. Wenn ich Henry nie auf die Suche nach dem fremden Mädchen geschickt hätte, hätte ich ihn womöglich für mich gewinnen können, ganz wie Jaden es angedeutet hatte. Doch nein, wem machte ich hier etwas vor? Henry liebte mich. Aber eher wie eine Schwester als eine Frau. Ich glaube, er hatte mich seit meiner Rückkehr nicht einmal richtig angesehen. Sonst hätte er bemerkt, dass in den zwei Jahren aus einem stockdünnen Mädchen, mit flacher Brust und schmalen Hüften, eine Frau geworden war. Sogar das Bisschen Speck in meinem Gesicht, das Kindern so eigen ist, war verschwunden und hatte stolze Wangenknochen und ein hübsches Kinn enthüllt. Ich war nie sonderlich eitel gewesen, hatte weder vor einem aufgeschlagenen Knie, noch vor Schlamm zurückgeschreckt, doch musste ich mich meiner auch nicht schämen. Es gefiel mir sogar ganz besonders, dass es die Adelstöchter fuchste, die eigenen Pickel mit dicker Schminke vertuschen zu müssen, während ich selbst keinerlei Farbe im Gesicht trug. Henry jedoch schien das nicht zu interessieren. Ganz anders als Jaden, doch der blickte ohnehin jedem Rock hinterher. Und deshalb sagte ich: „Lasst ihn gehen. Er wird keine Ruhe geben, ehe er nicht selbst auf die Suche nach ihr gegangen ist, Eure Gnaden. Und womöglich findet er sie ja tatsächlich. Das wäre eine große Freude für uns alle.“

Der König blickte nachdenklich auf mich herab. „Du bist erwachsen geworden, Amelia. Eine echte Frau. Und wie eine solche hast du gesprochen.“

Mir war nicht so recht klar, ob das als Beleidigung oder als Kompliment gemeint war. „Eure Gnaden?“

Der König stemmte sich mühsam aus dem Sessel hoch und ich sprang eilig auf die Füße, um ihm zu helfen. Wann war er nur so schwach geworden? So alt konnte er doch noch gar nicht sein. Höchstens fünfundvierzig Winter.

„Ich erinnere mich an eine Zeit, da hast du meinem Sohn mit deinen großen Rehaugen nachgeblickt, wann immer du dich unbeobachtet wähntest. Und mir war, als sei dies noch immer so. Doch du lässt deine Gefühle nicht den Rat beeinflussen, den du deinem König gibst. Das ist selten, besonders in meinem Hause. Ein jeder wünscht sich meine Gunst. Ein jeder hofft auf ein wenig Gewinn. Du hättest mich davon abhalten können, meinem Sohn zu geben, wonach ihn verlangt. Das hätte womöglich dich selbst in ein besseres Licht gerückt. Doch du hast lieber auf das geblickt, was besser für meinen Sohn ist.“ Der König zog mich an seine breite Brust, in der das Herz nur langsam schlug. Ich spürte seine trockenen Lippen, als er mir einen Kuss auf den Scheitel drückte. Dann schob er mich fort und sah mich ernst an. „Ehrlicher Rat ist etwas, auf das man als König nur hoffen kann. Mein Sohn kann sich glücklich schätzen, dich als Freundin zu haben. Ja, als Schwester, möchte man sagen.“

Vielleicht täuschte ich mich, aber ich meinte, in seiner Stimme eine leichte Mahnung zu vernehmen.

„Was mein Sohn jetzt braucht, ist eine Hochzeit mit einer angemessenen Braut. Das wird das Reich festigen und vielleicht trommeln bald schon wieder Kinderfüße durch diese kalten Flure.“ Er lächelte, doch als er mich ansah, verblasste seine Freude. „Es schmerzt mich, dies tun zu müssen, doch ich möchte nicht, dass wir uns falsch verstehen. Du bist die Tochter meines besten Freundes, der viel zu früh von uns genommen wurde. Und ich versprach ihm, aus dir eine ehrbare Frau zu machen und für deine Sicherheit zu sorgen. Dies kann ich am besten durch eine Heirat mit einem treuen Untertan. Einem Grafen oder Baron. Mein Sohn ist ein Prinz. Bald wird er König sein. Und so sehr ich deinen Vater noch immer achte und schätze, so war er doch nur ein General. Ich hoffe, wir verstehen uns.“

Ich hielt den Blick gesenkt, wie es von mir erwartet wurde. Noch vor zwei Jahren hätte ich womöglich aufbegehrt, die Ungerechtigkeit auszuräumen versucht. Doch heute war es mir gleich. Ich hatte gelernt, wo mein Platz war. Und egal wie sehnlich mein Herz es sich auch wünschte, so war er nicht an Henrys Seite. Weder heute noch sonst irgendwann. Der König wollte mir nichts Böses, das war mir bewusst. Er wollte lediglich seinen Sohn vor dem wilden, rücksichtslosen Mädchen schützen, als das er mich kannte. Aber so war ich nicht mehr. Und wenn er dafür noch mehr Beweise brauchte, dann würde ich sie ihm geben.

„Das tun wir, Eure Gnaden“, sagte ich.

Der König lächelte und tätschelte unbeholfen meine Schulter. „Gut. Gut.“ Er schien erleichtert, so als sei ihm diese Angelegenheit tatsächlich unangenehm gewesen. „Nun lauf, Kind, und überbringe meinem Sohn die frohe Botschaft.“

Und also war ich zu Henry gegangen. Nur eine Stunde später waren Jaden und er aus dem Tor geritten und seit nunmehr acht Wochen hatten wir nichts mehr von ihnen gehört. Der König war krank vor Sorge und hütete das Bett, was mir gelegen kam, so grausam es auch klingen mag, denn es hinderte ihn daran, weitere Heiratskandidaten zu Tisch zu laden. Bislang waren es sieben Stück gewesen. Drei Graubärte, deren Blicke unangenehm auf meiner Haut geklebt hatten, ein Fettwanst, der nicht nur die Tafel leer geputzt hatte, sondern sicher auch nicht vor dem Blumenbouquet haltgemacht hätte, wäre der König nicht rechtzeitig eingeschritten. Mit höflichen Worten wurde er hinauskomplimentiert, genauso wie seine Vorgänger und die drei folgenden Grafen, von denen einer beim Essen laut schmatzte, der andere kaum je aufhören wollte zu sprechen und der letzte mehr Interesse an dem hübschen Diener zu haben schien, denn an mir. Sieben hochrangige Männer. Und alles Nieten. Zu meinem Glück hatte der König beschlossen, dass er mich, in Gedenken an seinen Freund, selbst wählen lassen wollte, sodass ich rundheraus ablehnen konnte. Nach dem siebten Gast hegte der König bereits Pläne für einen Ball, da ereilte ihn ein übler Husten und er konnte das Bett nicht mehr verlassen.

Nun blieb mir also Zeit, meine Tage im Schloss in vollen Zügen zu genießen. Mit Karen an meiner Seite schlenderte ich durch die filigranen Bogengänge, die die Innenhöfe umliefen, stattete meiner Stute in den königlichen Stallungen einen Besuch ab und plauderte mit Hob, dem Schmied, der mir vor vier Jahren meinen ersten Dolch geschenkt hatte. Ein seltsames Präsent für die dreizehnjährige Spielgefährtin des Prinzen, möchte man meinen. Doch Hob hatte schon früh erkannt, dass mehr in mir steckte, als das hübsche Gesicht und die feinen Kleider vermuten ließen. Und als noch im selben Jahr Jaden an den Hof kam und mir meinen einzigen Freund abspenstig machte, war es Hob, der mir half, den Jungen Streiche zu spielen. Und von ihm hatte ich auch den Bogen erhalten, der nur zwei Jahre später zu meinem Verhängnis werden sollte.

Die Waffe hatte man mir abgenommen, doch den Dolch trug ich noch immer in einer Scheide am Oberschenkel. Sollte mir Gefahr drohen, und das war bei Hofe nicht unwahrscheinlich, besonders, wenn man das Vertrauen des Königs genoss, brauchte ich nur durch den in den Falten meines Rockes verborgenen Schlitz greifen und die Klinge hervorholen. Mein Überleben hinge in diesem Falle jedoch trotzdem von dem Geschick meines Gegenübers ab, denn der König hatte mir die Ausbildung an den Waffen verboten, seit er einmal zufällig beobachtet hatte, wie sein Sohn und dessen feiger Kumpan mich im Schwertkampfunterricht windelweich prügelten. Es schickte sich nicht für eine Dame, zu kämpfen wie ein Mann. Ihre Waffen waren Schönheit und natürlich Tränen. Zu meinem Leidwesen waren davon in jener Übungsstunde viele geflossen. Die Nonnen hatten des Königs Meinung geteilt und so hatte meine Klinge bislang lediglich das Blut einiger Fische zu schmecken bekommen, die man im Kloster nur allzu oft im Eintopf fand.

Hob war nicht der einzige, der sich freute, mich wieder bei Hofe zu sehen. Cleos, der Bibliothekar und Schreiber des Königs, empfing mich mit überschwänglich. Der junge Mann war seinem Vorgänger erst vor drei Jahren ins Amt gefolgt, demnach hatten wir uns nur kurz gekannt, ehe ich ins Kloster geschickt wurde. Dennoch hatte die Liebe zu Büchern und alten Legenden uns vom ersten Augenblick an eng verbunden. Nun wuselte der unscheinbare, gertenschlanke Cleos mit der silberumrandeten Brille auf der langen Nase durch die Gänge der königlichen Bibliothek und zeigte mir seine neuesten Errungenschaften.

„Und dies ist eine Abhandlung über die Kriege der Drachen gegen ihre späteren Herren. Nun, viel eher ist es ein Lied, aber dennoch möchte ich seinen Wahrheitsgehalt auf weit höher schätzen als den so mancher Geschichte renommierter Autoren“, erklärte er und hielt mir einen abgegriffenen Band aus braunem Leder entgegen. Als ich ihn aufschlug, stieg mir der Duft vergilbter Seiten in die Nase. Unwillkürlich schloss ich die Augen. Beinahe konnte ich die Drachen sehen, wie sie am Himmel vorbeizogen, mit Krallen, Zähnen und Feuer gegen die Jagara mit ihren Eisspeeren kämpften. Es gab viele Erzählungen und Zeitzeugenberichte aus diesen Kriegen, doch die waren nur wenig verlässlich und widersprachen sich zu häufig, um sie als tatsächlichen Anhaltspunkt für Studien nutzen zu können. Wenn Cleos mit seiner Einschätzung recht hatte, konnte dies die Geschichten, wie wir sie kannten, in ein vollkommen neues Licht rücken.

„Woher habt Ihr das?“, erkundigte ich mich und reichte ihm den Band zurück, nicht ohne mir die Stelle zu merken, an der er ihn ins Regal schob.

Ein wissendes Lächeln ließ die Brille leicht schwanken. „Von einem Händler, der an jedem siebten Tag des Monats seinen Stand am Marktplatz aufstellt, gleich unter der Statue der Meneya. Unter den nahezu wertlosen Ausgaben von Romanen und Gedichtbänden findet sich stets der ein oder andere Schatz.“ Er errötete leicht. „Wenn… wenn Ihr wollt, könntet Ihr mich beim nächsten Mal begleiten.“

Sein nervöses Stottern entlockte mir ein Lächeln. Der arme Junge tat mir leid. Schon bei früheren Begegnungen war mir aufgefallen, dass er mehr für mich übrighatte, als gut für ihn war. Zwar bekleidete er als Schreiber des Königs und Hüter des gesamten Wissens des Reiches einen nicht eben bedeutungslosen Rang und unter normalen Umständen wäre ich es gewesen, die von einer Heirat mit ihm nur hätte träumen können. Doch der König hatte meinem Vater ein Versprechen gegeben und das sah er nicht erfüllt, indem er mich einem Mann wie Cleos gab. Schade eigentlich. Wenn ich mir die übrigen Kandidaten so ansah, wäre der Bibliothekar eine gute Partie gewesen.

Ich wollte ihm keine Hoffnungen machen, die am Ende doch nur enttäuscht werden würden. Also legte ich sanft eine Hand auf seinen Arm und sagte: „Euer Angebot ehrt mich, Meister Cleos. Doch ich fürchte, meine Pflichten halten mich von derlei Vergnügungen fern.“ Hinter mir hörte ich Karen leise schnauben und als ich den betroffenen Ausdruck auf Cleos‘ Gesicht sah, hätte ich meiner Zofe am liebsten die Ohren langgezogen, doch mir blieb nichts, als ihn traurig anzulächeln. Und traurig war ich, denn die Auslage des Händlers interessierte mich wahrhaftig brennend.

„Vielleicht seid Ihr so freundlich, mir bei Eurem nächsten Besuch auf dem Markt einen der Schätze mitzubringen, die Ihr entdeckt?“, bat ich deshalb. „Ich erstatte Euch den Betrag selbstverständlich.“

Sofort hellte sich Cleos‘ Miene auf. Er nickte eifrig. „Natürlich. Das werde ich mit Freuden tun, Herrin.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an, die meinem Rang absolut nicht entsprechend war. Aber ich hatte schon vor zwei Jahren aufgegeben, Cleos darauf hinzuweisen, dass ich nicht seine Herrin war. „Darf ich Euch noch die übrigen Stücke zeigen?“, bat er nun, nahm die Brille ab und rieb mit der königlichen Livree über die Gläser. Als er sie wieder aufsetzte, waren sie verschmierter denn je.

„Ich fürchte, dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit“, lehnte ich ab. „Aber ich verspreche Euch, wiederzukommen, sobald es mein Terminplan erlaubt.“

Cleos wirkte enttäuscht, aber er nickte verständnisvoll. „Wie Ihr sagt.“

„Ich wünsche Euch noch einen angenehmen Tag, Meister Cleos“, rief ich, schon im Gehen und winkte. Sein „Das wünsche ich Euch auch, Herrin“, hörte ich schon beinahe nicht mehr.

Karen neben mir schnaubte erneut. „Armer Tölpel.“

„Er ist alles andere als das, Karen“, wies ich sie nicht eben freundlich zurecht. „Und ich verbitte mir, dass du so über ihn sprichst. Er hat ein gutes Herz und jede Frau dürfte sich glücklich schätzen, seine Aufmerksamkeit zu erregen.“

Karen zuckte ob meines barschen Tonfalls nicht mit der Wimper. „Und doch tut Ihr das nicht“, stichelte sie. „Denn Euer Herz gehört einem Mann, der seit zwei Monaten einem Flittchen nachjagt.“

Ich erwiderte nichts. Auf ihre Weise hatte Karen recht und es half nicht, dagegen anzureden. Selbst der König wusste um meine Gefühle für seinen Sohn und er war kein aufmerksamer Mann. Wozu also leugnen, was offensichtlich war? Und noch dazu vergeblich. Schon wenn ich an den Ausdruck auf Henrys Gesicht dachte, als er die fremde Schönheit zum ersten Mal erblickt hatte, schnürte sich mir das Herz zusammen.

Bis ich an den Hof zurückgekehrt war, hatte ich nie auf solche Weise an Henry gedacht. Ja, wir waren schon Freunde, solange ich zurückdenken konnte. Er war es gewesen, der mich aus meiner anfänglichen Angst gerissen und zu seiner neuen besten Freundin erklärt hatte. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich dieses Schloss als mein Zuhause empfand. Dafür war ich ihm mit kindlicher Bewunderung überallhin gefolgt. Und auch, als wir älter wurden, Jaden zu uns stieß und mich zur Zielscheibe seines Spotts erklärte, mit meinen Pickeln und der fettigen Haut, verblasste die Liebe, die wir füreinander hegten, niemals ganz. Es war die Liebe einer Schwester zu ihrem Bruder. Noch heute erinnere ich mich an die Einsamkeit, die mich nach jenem schicksalhaften Tag umfangen hatte, an dem ich des Hofes verwiesen worden war und dabei hatte zusehen müssen, wie Henry und Jaden auf dem Hof immer kleiner geworden waren, während meine Kutsche sich vom Schloss, der einzigen Heimat, die ich je gekannt, entfernt hatte. Als ich vor nun beinahe drei Monaten aus ebendieser Kutsche gestiegen war, angetan mit meinem neuen Kleid und einem kleinen feinen Hut auf dem Kopf, und Henry erblickt hatte, wie stolz er dastand und meine Heimkehr erwartete, hatte mein Herz mit einem Mal in einem neuen Rhythmus geschlagen. Die Sonnenstrahlen hatten mit seinem Haar gespielt und das breite Lächeln hatte Wärme und Vertrautheit verheißen. Aus dem dürren Jungen mit dem weichen Pfirsichflaum im Gesicht war ein gutaussehender Mann mit breiten Schultern und langen starken Beinen geworden. Den Bart hatte er abrasiert, doch das Haar hatte die kantigen Züge umspielt und geradezu dazu eingeladen, mit den Fingern hindurchzufahren. In diesem Moment hatte ich begriffen, dass aus Geschwisterliebe mehr geworden war. Doch leider, leider nur für mich. Henry schien in mir noch immer das kleine Mädchen zu sehen, das vor zehn Jahren einfach so in sein Leben geplatzt war.

Nun war er fort, auf der Suche nach einer Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hatte und ich war hier, im Schloss, und erwartete sehnsüchtig seine Rückkehr, in stiller Hoffnung, die Suche möge erfolglos bleiben. Doch was würde das schon ändern? Der König hatte sich klar geäußert: die Tochter eines Soldaten war der Hand des Prinzen nicht würdig, gleichgültig, wie nah sie ihm stand. Selbst wenn er also ohne seine Braut zurückkehrte, würde ich niemals ihre Stelle einnehmen. Geziemte es sich da nicht für eine gute Freundin, dem Spielgefährten aus Kindertagen Glück zu wünschen? Vermutlich. Doch es fiel mir schwer, diese Rolle einzunehmen.

„Sei es, wie es sei“, sagte ich laut, mehr, um mich selbst zu überzeugen, denn Karen. „Ich habe Pflichten zu erfüllen. Der König hat es sich in den Kopf gesetzt, mich zeitnah zu verheiraten.“ Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Seufzer. „Was hältst du also von einem Besuch beim Schneider?“

Die Suche

Jaden

„Verdammt, Henry. Das ist jetzt schon das millionste Haus, das wir durchsuchen. Kannst du das Mädchen nicht einfach vergessen?“

Meine Laune war am Tiefpunkt angelangt. Es war heiß, mein Rücken juckte vom Schweiß und mein Hintern tat weh von den vielen Tagen im Sattel. Seit zwei Monaten schlief ich auf unebenem Waldboden, hatte kein sauberes Hemd mehr zum Wechseln und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt meine Füße gesehen hatte. Mittlerweile zog ich die Stiefel nicht einmal mehr zum Schlafen aus. Ich hasste alles an dieser Expedition. Vor allem aber, dass ich andauernd an Amelia denken musste, wie wunderschön sie ausgesehen hatte, als sie aus der Kutsche gestiegen war. Das kastanienbraue Haar war von der Sonne leicht rötlich, die Sommersprossen auf ihrer Nase verliehen ihr ein verschmitztes Aussehen und ihre großen grünen Augen hatten gestrahlt, als sie Henry und mich erblickt hatte. Oder, nun ja, ich ging davon aus, dass sie hauptsächlich wegen Henry gestrahlt hatten. Du denkst schon wieder an sie. Verdammt.

„Nein, ich kann sie nicht vergessen“, sagte Henry neben mir, der zu meinem Verdruss kein bisschen außer Form geraten war. Weder durch die wochenlangen Rückenschmerzen, noch durch den Ritt. Nicht einmal sein Haar war vom Wind zerzaust. Dieser Elende.

„Sie ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Wie soll ich sie da vergessen? Und wozu auch? Sobald wir sie gefunden haben, mache ich sie zu meiner Frau.“

Da war er wieder, dieser unerschütterliche Optimismus. Selbst noch nach all diesen erfolglosen Tagen wollte er nicht weichen. Es machte mich wahnsinnig.

Aber so war Henry schon immer gewesen. Und es hatte sich stets gelohnt. Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass mein bester Freund kein Interesse an Amelia gezeigt hatte. Sonst wäre auch dieser Traum für mich gestorben. Und dabei hatte es schon genug geschmerzt, ihr Interesse an meinem besten Freund in ihren Augen zu sehen. Nicht an sie denken, ermahnte ich mich erneut.

Wir ritten an diesem wunderbaren Sommermorgen durch den Wald. Ein Späher hatte uns von einem Haus unweit des Weges erzählt und Henry hatte darauf bestanden, auch dieses aufzusuchen. Es fiel mir schwer, noch immer Begeisterung für diese Schnitzeljagd aufzubringen, auch wenn ich meinem Freund ehrlich nur das Beste wünschte. Solange es nicht Amelia ist, flüsterte eine gemeine kleine Stimme in meinem Kopf. Klappe, zischte ich in Gedanken zurück. Götter, jetzt sprach ich schon mit mir selbst. Es wurde langsam Zeit, dass wir an den Hof zurückkehrten.

„Kannst du nicht einfach eine von den tausend schönen Jungfrauen nehmen, die dein Vater dir direkt vor die Nase gestellt hat?“

„Nein“, sagte Henry stur.

„Götter, du bist doch nicht normal“, brummte ich.

„Du verstehst das nicht, mein Freund“, fand Henry.

„In der Tat nicht. Wärest du so freundlich, mich zu erleuchten?“

„Ich habe es einfach gespürt, verstehst du? Vom ersten Moment an, in dem ich sie sah, da habe ich es einfach gewusst. Sie ist die Eine.“ Henry seufzte tief. „Lach nur über mich, du kannst es gar nicht verstehen.“

Und ob ich das konnte. Und nein, ich lachte nicht. Seine Worte erinnerten mich zu sehr an Amelia. Wie konnte es überhaupt sein, dass ich plötzlich, nach zwei Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, solche Gefühle ihr gegenüber hegte? Ich kannte sie beinahe mein ganzes Leben. Götter. Ich hatte sie eine Zeit lang sogar gehasst, weil Henry sie so gern gehabt und lieber mit ihr gespielt hatte als mit mir. Und weil sie mich im Unterricht auf ihre neunmalkluge Art überflügelt hatte. Und weil sie besser Bogenschießen konnte als ich. Leider hatte