Amerika der Männer - Suzette Haden Elgin - E-Book

Amerika der Männer E-Book

Suzette Haden Elgin

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Beschreibung

Für Frauen verboten

Die USA im 23. Jahrhundert: Den Frauen wurden alle Rechte entzogen, die sie sich im 20. Jahrhundert erkämpft hatten. Es ist ihnen untersagt, gehobene Berufe auszuüben, ohne Einwilligung der Ehemänner Geldgeschäfte zu tätigen oder sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen. Sie werden von den Familienoberhäuptern wie Haustiere gehalten und eingesetzt. Den Frauen der sogenannten Linguisten-Dynastie ergeht es nicht anders. Doch ihnen und ihren Kleinkindern kommt eine besondere Aufgabe zu: Sie sollen Kontakt zu den verschiedenen raumfahrenden Völkern herstellen, denn nur das Gehirn von kleinen Kindern im vorsprachlichen Alter ist noch formbar genug, um die fremdartigen Sprachmuster zu erlernen, sodass sie später als Dolmetscher arbeiten können. Diese mühselige und frustrierende Arbeit ist zugleich die größte Chance der Frauen, sich eine eigene Geheimsprache zu schaffen, um sich so ein winziges Stück Freiheit und Unabhängigkeit zu erkämpfen.

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SUZETTE HADEN ELGIN

AMERIKA DER MÄNNER

Roman

Das Buch

Die USA im 23. Jahrhundert: Den Frauen wurden alle Rechte entzogen, die sie sich im 20. Jahrhundert erkämpft hatten. Es ist ihnen untersagt, gehobene Berufe auszuüben, ohne Einwilligung der Ehemänner Geldgeschäfte zu tätigen oder sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen. Sie werden von den Familienoberhäuptern wie Haustiere gehalten und eingesetzt. Den Frauen der sogenannten Linguisten-Dynastie ergeht es nicht anders. Doch ihnen und ihren Kleinkindern kommt eine besondere Aufgabe zu: Sie sollen Kontakt zu den verschiedenen raumfahrenden Völkern herstellen, denn nur das Gehirn von kleinen Kindern im vorsprachlichen Alter ist noch formbar genug, um die fremdartigen Sprachmuster zu erlernen, sodass sie später als Dolmetscher arbeiten können. Diese mühselige und frustrierende Arbeit ist zugleich die größte Chance der Frauen, sich eine eigene Geheimsprache zu schaffen, um sich so ein winziges Stück Freiheit und Unabhängigkeit zu erkämpfen.

Der Autor

Suzette Haden Elgin wurde am 18. November 1936 in Jefferson City, Missouri, als Patricia Anne Wilkins geboren. Um sich ihr Linguistikstudium an der University of California zu finanzieren, begann sie in den späten Sechzigerjahren mit dem Schreiben von Science-Fiction-Romanen und -Stories, die sich vor allem mit Themen wie Feminismus und Sprache auseinandersetzen. Elgin wurde schnell zu einer der prominentesten Vertreterinnern für feministische Science-Fiction, denn ihrer Ansicht nach könnten Schriftsteller nur in diesem Genre wirklich ausloten, wie eine Welt aussähe, in der die Frauen den Männern gleichgestellt wären. 1973 machte sie ihren Doktor in Linguistik und war die erste Studentin, die ihre Dissertation sowohl auf Englisch als auch auf Navajo schrieb. Sie konstruierte eigens für ihr Science-Fiction-Universum Native Tongue, zu dem die beiden Romane Amerika der Männer und Die Judasrose gehören, die künstliche Sprache Láadan, um den Frauenfiguren eine eigene, feministische Ausdrucksform zu geben. 1985 veröffentlichte sie eine Láadan-Grammatik, die unter http://www.sfwa.org/members/elgin

Titel der Originalausgabe

NATIVE TONGUE

Aus dem Amerikanischen von Horst Pukallus

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1984 by Suzette Haden Elgin

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Thomas Menne

Vorwort

In gewissem Sinn kann man heutzutage kein Buch als »gewöhnlich« bezeichnen; dessen sind wir uns wohl bewusst. Wenn das Erscheinen von zehn Büchern binnen eines Jahres als bemerkenswert gilt, kann selbst die bescheidenste Veröffentlichung nichts Gewöhnliches sein. Aber wenn wir sagen, dass dies kein gewöhnliches Buch ist, dann meinen wir damit erheblich mehr als nur die seltene Publikationsform.

Erstens glauben wir, dass das vorliegende Buch das einzige je von einem Mitglied der Linien verfasste dichterische Werk ist. Die Männer der Linguistenfamilien haben der Welt einen umfangreichen Schatz an wissenschaftlichen Werken und sonstigen Sachbüchern hinterlassen. Ihre Frauen haben zu diesen Werken beachtliche Beiträge geleistet, die Autoren in Einleitungen und Vorworten gebührend gewürdigt. »Native Tongue« (dt. »Amerika der Männer«) jedoch ist kein Werk der Gelehrsamkeit, keine für Unterrichtszwecke entworfene Grammatik, kein populärwissenschaftliches Buch; es ist ein ROMAN. Er vermittelt uns ein Gefühl der Teilhabe am Leben der Linguisten im ersten Viertel des 23. Jahrhunderts, wie wir es aus keiner historischen Darstellung jener Zeit gewinnen können, wie reich sie auch an Details sein, wie üppig sie mit zeitgenössischen Belegen ausgestattet sein mag. Es gibt sehr wenig erzählerische Werke zu diesem Thema, selbst aus der Feder von Nonlinguisten; dies Buch ist ein einzigartiges Beispiel von einem Linguisten und als solches eine unschätzbare Kostbarkeit. Wir stehen bei dem Gelehrten, der das Manuskript gefunden und dafür gesorgt hat, dass es in unseren Besitz gelangte, in tiefer Schuld; wir bedauern außerordentlich, dass unsere Unkenntnis der Identität dieses Gelehrten uns daran hindert, ihm unsere Anerkennung wirksamer auszudrücken. Es ist ein Wunder, dass dies Dokument nicht verlorengegangen ist; wir sind für das Wunder dankbar.

Zweitens, obwohl es uns nicht vor Schwierigkeiten gestellt hätte, den Text der Öffentlichkeit in herkömmlicher Publikationsweise als CompuDisk oder Mikrofilm zugänglich zu machen, war das nicht die Form, die wir uns wünschten. Bereits nach erstmaligem Lesen hatten wir stark das Empfinden, daraus müsste ein gedrucktes Buch werden, nach altem Verfahren gedruckt und gebunden. Es handelt sich um ein ganz besonderes Buch; darum hatten wir den Eindruck, dass es eine gleichermaßen besondere Form verdiente. Fast zehn Jahre und der Bemühungen Hunderter von Personen hat es bedurft, um die für das Projekt erforderlichen Gelder zu beschaffen und Handwerker mit den nötigen Fähigkeiten zu finden, die bereit waren, ihre Arbeit für das Entgelt zu leisten, das wir ihnen – selbst für eine limitierte Auflage – zahlen konnten.

Wir sind anzugeben außerstande, wer dieses Werk tatsächlich geschrieben hat. Als Urheber waren einfach »die Frauen im Chornyakschen Sterilenhaus« genannt. Der Text muss in einer Vielzahl kurzer Zeitspannen geschrieben worden sein, in unregelmäßig, um den Preis dringend gebrauchten Schlafs abgezweigten Momenten, denn die Frauen der Linien kannten keinen Müßiggang. Sollte irgendjemand über Belegmaterial verfügen, welches dazu beitragen könnte, das Rätsel der Verfasserschaft aufzuklären, wie unvollständig solche Unterlagen auch sein mögen, so bitten wir ihn, uns davon Kenntnis zu geben; wir sichern Informanten zu, dass wir ihr Material mit der äußersten Diskretion und allem Respekt behandeln werden.

Es geschieht mit großem Stolz und im Bewusstsein, eine wirkliche Errungenschaft präsentieren zu können, wenn wir Ihnen das Weiterlesen empfehlen und Ihnen nahelegen, diesen Band bei Ihren Kostbarkeiten und an einem Ehrenplatz aufzubewahren.

Patrica Ann Wilkins,

Leitende Herausgeberin

(»Native Tongue« ist eine Gemeinschaftspublikation

folgender Organisationen:

Historische Gesellschaft Erde FRAUENWORT,

Sektion Erde Metagilde der Laienlinguisten,

Kapitel 1

ARTIKEL XXIV

§ 1

Artikel XXIV der Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wird hiermit aufgehoben.

§ 2

Dieser Artikel ist ungültig, wenn er nicht innerhalb von sieben Jahren nach dem Zeitpunkt seiner Vorlage als Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Gesetzgebung eines Dreiviertels der Bundesländer ratifiziert wird.

(In Kraft getreten am 11. März 1991)

ARTIKEL XXV

§ 1

Kein weiblicher Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika darf in irgendein Amt gewählt oder berufen werden, in irgendeiner Funktion (offiziell oder inoffiziell) einen akademischen oder wissenschaftlichen Beruf ausüben, ohne schriftliche Erlaubnis ihres Ehemannes oder (im Falle sie unverheiratet ist) eines anderen geschäftsfähigen Mannes, der mit ihr verwandt oder rechtmäßig zu ihrem Vormund ernannt worden ist, außerhalb des Hauses einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder ohne eine derartige schriftliche Erlaubnis die Verwaltung von Geld bzw. sonstigem Eigen- oder Besitztum wahrnehmen.

§2

Angesichts der Tatsache, dass die natürlichen Beschränktheiten der Frau eine unverkennbare, aktuelle Gefahr für das nationale Wohl sind, wenn ihre Folgen nicht durch die ununterbrochene, wachsame Aufsicht eines geschäftsfähigen männlichen Bürgers gemindert werden, gelten sämtliche Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika weiblichen Geschlechts juristisch als Minderjährige, ungeachtet ihres chronologischen Alters; hiervon gilt die Ausnahme, dass sie, falls sie achtzehn Jahre oder älter sind, vor Gericht Erwachsenen gleichgestellt werden.

§3

Insofern die in § 2 erwähnten natürlichen Beschränktheiten der Frau erblicher Natur sind und ihnen daher kein schuldhafter Charakter beizumessen ist, rechtfertigt Artikel XXV in keiner Weise die Misshandlung oder den Missbrauch der Frau.

§4

Der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika besitzt die Vollmacht, Artikel XXV durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen den erforderlichen Nachdruck zu verleihen.

§ 5

Dieser Artikel ist ungültig, wenn er nicht innerhalb von sieben Jahren nach dem Zeitpunkt seiner Vorlage als Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Gesetzgebung eines Dreiviertels der Bundesländer ratifiziert wird.

(In Kraft getreten am 11. März 1991)

SOMMER 2205

Nur acht von ihnen nahmen am Meeting teil; das war nicht die günstigste Zahl. Es war nicht allein eine ziemlich kleine Anzahl, um die Geschäfte effizient zu regeln, sondern zudem eine gerade Zahl – und das bedeutete, im Fall einer Stimmengleichheit musste man Thomas Blair Chornyak eine Zweitstimme zubilligen, und das war ihm stets zuwider. Es hatte den Anschein von Elitedenken, das völlig im Gegensatz zur Philosophie der Linien stand.

Paul John Chornyak war da, mischte mit 94 Jahren noch immer mit, während es Thomas hätte möglich sein dürfen, die Arbeit ohne das dauernde Eingreifen des Alten zu erledigen. Aaron war zur Stelle, musste in Anbetracht des letzten Tagesordnungspunkts, der ihn direkt betraf, anwesend sein. Man hatte es geschafft, zwei der älteren Mitglieder per ComSet aufzuscheuchen, so dass die Gesichter James Nathan Chornyaks und Thomas' Schwager Giles' nunmehr sozusagen in verschwommener Gereiztheit zugegen waren. Adam hatte sich eingefunden, lediglich zwei Jahre jünger als Thomas und mit voller Berechtigung Mitglied der Gruppe; Thomas verließ sich in mancherlei Hinsicht auf seinen jüngeren Bruder, nicht zuletzt auf dessen Fähigkeit, die Einsprüche ihres Vaters abzuwenden und Paul John dahingehend zu überzeugen, dass man auf seine – Thomas' – Worte hören sollte. Kenneth war gekommen, weil er kein Linguist war und sich jedes Mal zeitlich für Meetings freimachen konnte. Jason war da, weil sich die Verhandlungen, an denen er gegenwärtig teilnahm, an einer Verfahrensfrage festgefahren hatten, auf deren Lösung er keinen Einfluss nehmen konnte, so dass er abwarten musste – und darum gerade Zeit hatte –, bis das Außenministerium die Sache zu bereinigen vermochte.

Jeder der beiden Letztgenannten hätte das Problem der geraden Zahl beheben können, indem er sich höflich entschuldigte und ging – aber keiner von beiden wollte es tun. Jason hegte die Auffassung, es sei an Kenneth, weil er bloß Schwiegersohn war und kein Angehöriger der Linien durch Geburt, zu verschwinden und sich mit dem, was er eigentlich zu betreiben hatte, zu beschäftigen, statt sich hier einzumischen. Und Kenneth vertrat die Meinung, soviel Recht zur Teilnahme am Meeting wie Jason zu haben, weil er für nichts und wieder nichts auf den eigenen Familiennamen verzichtet und Mary Sarah Chornyaks Nachnamen angenommen hatte. Dadurch fühlte er sich genauso gut als Chornyak wie jeder andere in der Familie, und er wusste sehr wohl, dass es zu jenen Dingen zählte, auf die er zu achten hatte, diese Tatsache bei jeder Gelegenheit zu unterstreichen, denn andernfalls würden die jüngeren Männer ihn ganz ans untere Ende der Hackordnung drängen. Folglich hatte er keineswegs vor zu gehen.

Die Situation war peinlich, und flüchtig zog Thomas in Erwägung, James um Rücktritt von der Teilnahme zu bitten; aber sie hatten ihn extra für dieses Meeting geweckt, und er war darüber gar nicht erfreut gewesen. Die gesamte vorangegangene Nacht – bis lange nach der üblichen Frühstückszeit in den Morgen hinein – hatte es ihn beansprucht, im Zusammenhang mit einer der Krisen um die Dritte Kolonie zu dolmetschen, mit denen es kein Ende zu nehmen schien, und die Tätigkeit hatte ihn offensichtlich erschöpft. Nun war er geweckt worden, und es wäre alles andere als taktvoll gewesen, ihm vorzuschlagen, sich einfach wieder ins Bett zu legen: Tut uns leid, dass wir dich gestört haben, aber wir dachten, wir brauchen dich … Nein. So etwas gehörte sich nicht, und Thomas verwarf den Gedanken. Wenn es sich nicht anders einrichten ließ, als dass er doppelt abstimmte, dann musste es eben sein; sie würden es alle überleben. Und seit einiger Zeit fielen die Meetings des Chornyak-Haushalts immer klein aus, abgesehen von den Halbjahres-Versammlungen, die zur festen Terminplanung gehörten und für die sich jeder den betreffenden Tag im Kalender freihielt. Bei der Art und Weise, wie die Regierung neuerdings in den Weltraum vorstieß, jede Etappe des Vordringens Verhandlungen um den ganzen Komplex von Verträgen, Handelsabkommen und die Herstellung formeller Beziehungen begleiteten, war es schwierig, irgendeinen Linguisten unter 60 Jahren ausfindig zu machen, der von seiner Zeit bloß eine Stunde für die Angelegenheiten des Haushalts abzweigen konnte.

Thomas beschloss, sich in die Lage, so wie sie stand, zu fügen und froh zu sein, dass nicht nur er, der alte Paul John und Aaron hier saßen. Sie drei allein am Tisch hätten eine jämmerliche Besetzung abgegeben. Die Form des Tischs, ein A mit stumpfer Spitze und ohne Querbalken, war ideal für die Halbjahres-Versammlungen; die Männer vermochten dicht nebeneinander daran Platz zu nehmen, und es blieb trotzdem auf der dreieckigen Platte genügend Stellfläche für 3Ds und Hologramme. Mit lediglich einem halben Dutzend Teilnehmern dagegen verteilte man sich entweder so um den Tisch, dass jeder einen beliebigen Punkt der Sitzordnung ausfüllte, oder man setzte sich an einem Ende als kleines Häuflein zusammen und fühlte sich kümmerlich. Heute hatten sie sich fürs weiträumige Verteilen entschieden. Sein Vater saß rechts von Thomas, die ComSets befanden sich im Hintergrund, so dass keine Köpfe die Bildflächen verdeckten, und die vier anderen Männer bewahrten Abstand, als wären sie Kompassstriche. Blödsinniges Verhalten.

Er bekam die ersten sieben Tagesordnungspunkte ohne Aufregung und ohne Stimmengleichheit durchgezogen. Der eine Punkt, in Bezug auf den er ein wenig unsicher gewesen war – er betraf den Vertrag für REM 80-4-801 –, stieß auf keinerlei Widerstand. Bisweilen hatten auch Meetings mit einem wesentlichen Prozentsatz an unerfahrenen, jüngeren Teilnehmern ihre Vorteile. Für alle Fälle hatte er Argumente vorbereitet gehabt; aber entweder sah niemand die bedenkliche Lücke in Unterabschnitt 11, oder niemand erachtete sie als so bedenklich, dass er Zeit dafür zu opfern geneigt gewesen wäre, darüber zu diskutieren. Die anderen Punkte waren Routine; sie konnten fast die ganze Tagesordnung in etwas über zwölf Minuten abhaken.

Und dann mussten sie sich dem letzten Punkt widmen. Und zwar vorsichtig. Thomas las ihn vor, hielt seinen Tonfall sachlich und fügte keinen Kommentar hinzu; dann wartete er. Wie er es vorausgesehen hatte, legte Aaron Wert darauf, eine nachgerade untragbar gelangweilte Miene aufzusetzen; er beherrschte sein Mienenspiel mit aller Geschicklichkeit der Adiness-Linie, und dazu gesellte sich durch lange Übung erworbene Ungezwungenheit, so dass es ihm gelang, unerträglich desinteressiert zu wirken. »Die Sache steht zur Diskussion«, sagte Thomas. »Irgendwelche Stellungnahmen?«

»Offen gestanden, ich weiß keinen Anlass zur Diskussion«, meldete sich Aaron sofort zu Wort. »Nach meiner Ansicht hätten wir den ganzen Kram schriftlich abwickeln können, ich verstehe weiß Gott was Besseres mit meiner Zeit anzufangen. So verhält es sich doch bei uns allen. Thomas – ich bin sicher, ich bin hier nicht der einzige, dem vor lauter Regierungsterminen die Luft wegbleibt.« Thomas war noch nicht bereit, sich zu äußern; er hob die Brauen just das winzige Stück weit, wie er es als angemessen empfand, rieb sich mit einer Hand am Kinn und wartete nochmals ab; und gleich darauf sprach Aaron weiter: »Das Faktum, dass du die Sache auf die formelle Tagesordnung setzen musstest, ist anzuerkennen, damit bin ich einverstanden, du hast mich von der Notwendigkeit überzeugt«, sagte er. »Und wir haben's gemacht. Sie steht auf der Tagesordnung und ist somit protokollarisch erfasst. Die gesamte neugierige Welt kann's sehen und gutheißen. Und damit haben wir genug Zeit verschwendet. Ich befürworte, dass wir abstimmen und darunter 'n Schlussstrich ziehen.«

»Ohne jede Diskussion?«, fragte Thomas freundlich.

Aaron hob die Schultern. »Was gibt's da zu diskutieren?«

Diese Antwort bewog Paul John zum Eingreifen; er war alt genug, um die Arroganz seines Schwiegersohns als nicht sonderlich amüsant zu empfinden, und zu alt, als dass dessen Brillanz im Umgang mit Sprache oder sein erstaunlich gutes Aussehen ihn beeindruckt hätten.

»Vielleicht wirst du's erfahren, wenn du einmal jemand anderes reden lässt«, sagte der Alte. »Was hältst du davon, es mal zu versuchen und abzuwarten, was dabei herauskommt?«

Rasch griff Thomas nun seinerseits ein; er hatte kein Interesse daran, Aaron und Paul John sich in eines jener Wortgefechte verwickeln zu lassen, an denen beide soviel Spaß hatten. Das wäre Zeitvergeudung. »Aaron«, sagte er, »das Meeting ist keine bloße Mache.«

»Richtig. Wir mussten uns über die Verträge einigen. Und über sie abstimmen.«

»Und auch der letzte Tagesordnungspunkt ist nicht bloß Mache für die Öffentlichkeit«, beharrte Thomas. »Es gibt einen Grund, einen sehr triftigen Grund, der nichts damit zu tun hat, dass wir ihn bloß protokollarisch festhalten wollten, weshalb es angebracht ist, ihm unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Wir bringen nämlich der betroffenen Frau – und ich möchte hinzufügen, so zu empfinden, ist schlichtweg unsere Pflicht – mehr als rein förmliche Achtung entgegen.«

»Und ich möchte darauf hinweisen, dass die Frau schon bei Anlegung rein wirtschaftlicher Maßstäbe ein Recht auf eine solche Hochachtung hat«, unterstützte ihn Kenneth am anderen Ende des Tischs, am rechten Bein des A. Er war nervös, es fehlte ihm sowohl bezüglich der Stimme als auch der Körpersprache am Vermögen, seine Nervosität zu verbergen, aber er zeigte Entschlossenheit. »Nazareth Chornyak hat dieser Linie neun gesunde Kinder geboren«, fügte er hinzu. »Damit hat sie die Aktivposten des Haushalts um neun Alien-Sprachen bereichert. Es ist nicht so, als wäre sie ein unerfahrenes Mädchen.«

Thomas sah, wie Aaron einen sehr schwachen Ausdruck von Verachtung, ein ganz sorgfältig bemessenes Anzeichen der Geringschätzung sich in seiner Miene widerspiegeln ließ; sogleich wichen sie einem falschen, widerlichen Wohlwollen, das auch allem anhaften würde, was er nun zu sagen gedachte. In keiner Beziehung war die Auseinandersetzung fair; der arme Kenneth war geradewegs aus der Allgemeinheit mit all ihrer abgrundtiefen Unkenntnis sämtlicher linguistischen Fähigkeiten in den Chornyak-Haushalt gekommen – wogegen Aaron William Adiness ein Sohn des Adiness-Haushalts war, über dem in den Dynastien der Linguisten ausschließlich die Chornyak-Linie stand. Kenneth glich einem Pappkameraden auf dem Schießplatz, und Pappkameraden zu beballern machte Aaron zuviel Freude, als dass er eine derartige Gelegenheit versäumte.

»Manchmal, Kenneth«, sagte er mitleidig, »ist es überwältigend offenkundig, dass du nicht zum Linguisten geboren bist … Du lernst einfach nicht dazu, nicht wahr?« Kenneth lief rot an, und Thomas bedauerte die Behandlung, die ihm widerfuhr, aber er äußerte sich nicht. Auf gewisse Weise hatte Aaron recht: Kenneth lernte nicht. Zum Beispiel hatte er noch immer nicht begriffen, dass alle Zeit, die man darauf verwendete, Aarons kleine Spielchen mitzuspielen, Zeit war, die man dafür aufwendete, Aaron in seinem ungeheuer ausgeprägten Ego zu bestärken, und darum verschwendete Zeit. Jedes Mal fiel Kenneth wieder darauf herein. »Es ist nicht die Frau«, erklärte Aaron liebenswürdig, »die das Haushalts-Kapital um Alien-Sprachen bereichert. Es ist der MANN. Der Mann unterzieht sich der Mühe, die Frau zu schwängern, die anschließend, um das Wohlergehen des Kindes zu gewährleisten, verhätschelt, vorn und hinten bedient und grässlich verwöhnt wird. Der Frau, die nur die Rolle des Brutkastens spielt, irgendwie Verdienste anzurechnen, ist primitiver Romantizismus, Kenneth, und völlig unwissenschaftlich. Du solltest noch einmal die Biologie-Texte lesen.«

Noch einmal lesen. Womit Aaron unterstellte, dass Kenneth sie schon gelesen und sie nicht verstanden hatte. Sauberer Seitenhieb. Und typisch für Aaron Adiness.

Kenneth errötete noch stärker und fing zu stammeln an. »Verflucht, Aaron …«

Doch Aaron monologisierte ihn auch weiterhin mühelos; Kenneths Gegenwart hatte für ihn kaum Bedeutung, außer womöglich als Adressat seiner mitleidsvollen Belehrungen. »Und außerdem tätest du gut dran, dich darauf zu besinnen, dass immer nur Frauen geboren würden, wäre nicht die Intervention seitens der Männer. Das Menschengeschlecht müsste zu einer ausschließlich aus genetisch minderwertigen Organismen zusammengesetzten Spezies degenerieren. Darüber solltest du mal nachdenken, Kenneth! Es könnte ratsam sein, sich diese grundsätzlichen Fakten nachhaltig zu vergegenwärtigen, gewissermaßen als Gegenmittel gegen … sentimentale Neigungen.« Danach lehnte er sich zurück, blies einen prächtigen Rauchring zur Decke hinauf und lächelte. »Wir wollen nicht den Topf mit dem Töpfer verwechseln, lieber Bruder«, fügte er hinzu.

Auf der anderen Seite des Tischs lachte Jason gedämpft über den lahmen Scherz. Thomas war enttäuscht. Er nahm sich vor, später ein Wörtchen darüber mit seinem Sohn zu reden, wie wenig anständig es war, jemandem zu schmeicheln, der ein Gewehr in der Hand hatte, wenn das Ziel nichts anderes war als ein Pappkamerad. Mit dem, was als nächstes geschah, konnte er hingegen zufrieden sein: Die Zurechtweisung Aarons erfolgte von jenem ComSet-Bildschirm, auf dem mit den Fluktuationen der Haushalts-Stromversorgung James Nathans Gesicht wallte und flackerte.

»Verdammt noch mal, Aaron«, sagte Thomas' anderer, fähigerer Sohn, »der einzige Grund, warum wir noch nicht fertig sind und uns mit den Terminen beschäftigen können, um die du dir erst vor fünf Minuten solche Sorgen gemacht hast – und der einzige Grund, weshalb ich noch nicht wieder im Bett bin, wo ich mit Sicherheit sein sollte –, ist doch dein Verliebtsein in dein eigenes Geplapper. Keiner von uns – und ich schließe Kenneth, bei dem ich mich für dein schlechtes Benehmen entschuldige, ausdrücklich mit ein – hat Bedarf an einem so idiotischen Herunterleiern von Informationen, die jeder normale Mensch schon im Alter von drei Jahren kennt. Ich gehe davon aus, dass du fertig bist, Aaron … Ich leg's dir ganz einfach nahe, fertig zu sein!«

Aaron nickte, blieb gänzlich höflich und selbstsicher, lächelte unbekümmert, und Thomas war sich darüber im Klaren, dass er das Vergnügen, das er an seinem Spiel mit Kenneth Chornyak, geb. Williams, gehabt hatte, als durchaus der Rüge lohnend erachtete. Aaron hatte die Zufuhr frischer Gene durch Kenneth niemals als ausreichende Rechtfertigung für seine Gegenwart betrachtet. Von Anfang an war er dagegen gewesen, ihn als Mary Sarahs Ehemann in den Haushalt aufzunehmen, und er hatte danach nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass seine Meinung sich im Laufe von sieben Jahren nicht geändert hatte. Kenneth, so pflegte er gerne zu bemerken, sei »eindeutig zu mädchenhaft«. Natürlich tat er das nicht in Kenneths Hörweite, doch stets bei Gelegenheiten, die sicherstellten, dass sein Schwager ziemlich bald von der Beleidigung erfahren musste.

»Nazareth ist jetzt unfruchtbar«, sagte Jason, dem aufgefallen war, dass nur er über Aarons Stichelei gelacht hatte, so dass er sich nun von einer besseren Seite zeigen wollte. »Sie ist fast vierzig Jahre alt, und nicht mal in ihrer Jugend ist sie 'ne Schönheit gewesen. Was sollte sie denn noch mit Brüsten anfangen? Das ist ja absurd. Das ist einfach kein Thema. Es ist keine fünf Minuten wert, geschweige denn ein Meeting. Ich bin Aarons Meinung, ich bin dafür, dass wir mit der Diskussion Schluss machen, abstimmen und die Sitzung beenden.«

»Und mit welchem Ergebnis? Dass wir sie sterben lassen?«

Paul John räusperte sich, und die älteren Anwesenden schauten höflich hinauf zur Decke. Offensichtlich würde Kenneth sie noch mehr Zeit kosten. Vielleicht schadete es nichts, einmal ein Wort mit Mary Sarah zu wechseln …

»Herrje, Kenneth, wie kannst du so einen Unfug reden!« Diesmal fühlte Jason sich geärgert. »Auf dem Konto für die Individualmedizinische Betreuung der Frauen ist jede Menge Geld, wir können jede Behandlung bezahlen, die Nazareth benötigt. Wer hat was davon gesagt, dass wir sie sterben lassen wollen? Wir lassen unsere Frauen nicht einfach abkratzen, du Dummkopf. Glaubst du eigentlich alles, was in den Medien über Linguisten verbreitet wird? Noch immer?«

In diesem Moment seufzte Thomas auf, laut genug, dass man es hören konnte, und sofort warf Aaron ihm einen scharfen Blick zu. Aaron folgerte vermutlich, er sei heute morgen müde. Müde und – für das geübte Auge erkennbar – ein wenig gestresst. Zweifellos dachte Aaron, es sei höchste Zeit, dass Thomas zurücktrat und die Leitung des Haushalts einem jüngeren und tüchtigeren Mann übergab, vorzugsweise Thomas Blair II., denn den, so wusste Aaron, vermochte er herumzuschubsen. Thomas lächelte Aaron zu, ließ ihn merken, dass er seine Gedankengänge durchschaut hatte, und die Augen sprechen: ›Es wird noch so manches Jahr vergehen, bis ich die Leitung des Chornyak-Haushalts an jemanden abtrete, du falscher Lump.‹ Dann hob er die Hand, um dem Disput zwischen Kenneth und Jason ein Ende zu bereiten.

»Schau mal …«, begann Kenneth, ehe Thomas ihn unterbrach.

»Linguisten sagen nicht ›Schau mal‹, Kenneth. Ebenso wenig gebrauchen sie Ausdrücke wie ›Sieh mal‹, ›Hör mal‹ oder ›Kapier doch endlich‹. Bitte bemühe dich um eine weniger krude Ausdrucksweise.« Thomas war ein geduldiger Mann, und er hatte die Absicht, diesen jungen, starrsinnigen Hitzkopf auch künftig zu fördern. Im Verlauf seines Lebens hatte er noch weit rohere Diamanten etwas werden sehen; und die vier Kinder, die Kenneth bisher für sie gezeugt hatte, waren hervorragende Exemplare.

Offenbar begriff Kenneth nicht, welchen Unterschied seine Wahl sinnesbezogener Prädikate hier im Innern des großen Gebäudes, Kilometer von jeder Person der Allgemeinheit entfernt, die durch seine mangelhaften Formulierungen verfehlte Eindrücke bekommen könnte, ausmachen sollte, aber er besaß hinlänglich gute Manieren, um seine Ansicht nicht auszusprechen. (Selbstverständlich war er nicht imstande, seine Einstellung aus seiner Miene fernzuhalten, aber das wusste er nicht, und man hatte keinen Grund, weshalb man ihn darauf hinweisen sollte.) Er nickte, um anzudeuten, dass er einen Anlass sah, um Entschuldigung zu ersuchen, und fing noch einmal an.

»Erkennt folgendes«, sagte er bedächtig. »Es befindet sich also für die Brustregeneration genug Geld für dem ImB-Konto der Frauen. Wie euch bekannt ist, führe ich die Konten. Folglich weiß ich darüber Bescheid, für was Geld da ist und für was nicht. Die erforderliche Summe ist lächerlich … Es müssen nur ein oder zwei Zellen eingepflanzt und eine anfängliche Stimulation vorgenommen werden, um die Regeneration der Drüsen auszulösen. Das ist grundlegende Biologie … und grundlegende Buchführung. Die Maßnahme kostet tatsächlich nicht mehr als ein Armband-Computer, und davon haben wir dieses Jahr vierzig Stück gekauft. Wie sollen wir erklären, dass wir nicht willens sind, einen so kleinen Betrag zum Wohle jemandes zu bewilligen, der ein so tüchtiger, robuster und produktiver ›Brutkasten‹ gewesen ist? Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass ich kein geborener Linguist bin – auch ohne dass Aaron mich ständig daran erinnern müsste –, aber ich bin ein Mitglied dieses Haushalts, ich habe das Recht, angehört zu werden, ich bin keineswegs so dumm, und ich sage euch mit aller Deutlichkeit, dass diese Entscheidung mir missfällt.«

»Kenneth«, sagte Thomas – und die Freundschaftlichkeit in seiner Stimme war völlig aufrichtig –, »wir wissen das Mitgefühl und die Eigenschaft der Einfühlsamkeit, um die du uns bereicherst, sehr zu schätzen. Ich möchte, dass du dir darüber im Klaren bist. Wir haben einen derartigen Einfluss dringend nötig. Wir verbringen soviel Zeit damit, uns auf die Ansichten und Betrachtungsweisen von Wesen einzustellen, die keine Menschen sind, dass es nur zu wahrscheinlich ist, wenn wir uns allmählich selbst ein wenig von Menschen unterscheiden werden. Wir brauchen jemanden wie dich, der uns ab und zu daran erinnert.«

»Warum also …«

»Weil wir es uns bei allem, was uns an Geldern wirklich verfügbar ist, was wir an Credits tatsächlich ausgeben können, nicht leisten dürfen, Geld für sentimentale Gesten auszugeben. Und es tut mir leid, dass dir dabei unbehaglich zumute ist, Kenneth, aber damit hat's sich. Wir alle bedauern's, aber es ist nun einmal so. Die Regel, die besagt: KEIN LINGUIST GIBT EINEN CENT AUS, IN DESSEN AUSGABE DIE ÖFFENTLICHKEIT GELDVERSCHWENDUNG SEHEN KÖNNTE, hat hier, so wie in jedem Haushalt der Linien, uneingeschränkte Gültigkeit.«

»Aber …«

»Du weißt genau, Kenneth, weil du ja der Allgemeinheit entstammst – und im Gegensatz zu Aaron erachte ich das nicht als Defizit –, dass kein Mann der Allgemeinheit eine sterile Frau mittleren Alters in der Weise verwöhnen würde, wie du es vorschlägst. Möchtest du, dass unser Haushalt für eine neue Serie von Anti-Linguisten-Krawallen verantwortlich ist, Junge? Bloß um einer törichten Frau willen, die schon ihr ganzes Leben lang übertrieben verwöhnt worden ist und jetzt um ein Paar völlig verschlissener Euter das übliche weibliche Gedöns veranstaltet? So was willst du doch sicher nicht, Kenneth, wie verständnisvoll du Nazareths Forderungen auch gegenüberstehen magst.«

»Einen Moment!«, sagte Aaron ausdruckslos. »Ich wünsche etwas zu klären. Nazareth hat nicht gefordert, sie hat lediglich darum gebeten.«

»Völlig richtig«, antwortete Thomas. »Ich habe den Sachverhalt zu krass dargestellt.«

»Aber im Kern sind deine Aussagen korrekt, Thomas, im Kern sind sie korrekt. Ich bin davon überzeugt, dass Kenneth die Angelegenheit jetzt weniger … rührselig betrachtet.«

Kenneth starrte auf die Tischplatte und sagte nichts mehr, und die anderen Anwesenden empfanden Erleichterung. Man hätte ihn selbstverständlich ohne viel Gerede überstimmen können. Diese Möglichkeit stand immer offen. Doch es war günstiger, so etwas zu vermeiden, wenn es vermieden werden konnte. Linguisten lebten zu viel und zu sehr im gegenseitigen Einflussbereich, als dass familiäre Intrigen kein Hemmschuh für die normale Abwicklung ihrer Angelegenheiten gewesen wären – und mit 91 Personen unter einem Dach war der Chornyak-Haushalt von allen einer der umfangreichsten. Unter diesen Umständen kam es auf Frieden an … und Aarons Bereitschaft, Ruhe und Frieden zu gefährden, nur um ein bis zwei Pluspunkte einzuheimsen, bedeutete für Thomas einen wesentlichen Grund, aus dem er dafür zu sorgen beabsichtigte, dass Aaron nie die Gelegenheit erhielt, sich in diesem Haus wahre Macht anzueignen. In Wirklichkeit war es Aaron, der nichts dazulernte, und anscheinend war er in dieser Hinsicht unfähig. Trotz sämtlicher Bitten Kenneths um Entschuldigung.

»Na schön«, sagte Paul John, rieb sich die Hände. »Dann sind wir uns also einig, oder? Wir bewilligen die Zurverfügungstellung von Geldern für die Behandlung, der es bedarf, um bei der bewussten Dame die Erkrankung von Gebärmutter und Brüsten zu beheben, und wir geben Anweisung, dass das sofort geschehen soll, und das ist alles, was wir veranlassen. Richtig, meine Herren?«

Thomas schaute am Tisch in die Runde, hinüber zu den ComSet-Schirmen, wartete höflichkeitshalber ein paar Sekunden lang, um sicher sein zu können, dass niemand noch zu diesem Thema das Wort zu ergreifen wünschte. Er nickte, sobald er diesbezüglich Gewissheit hatte.

»Sonst irgendetwas?«, erkundigte er sich. »Ist irgendwem im neuen Vertrag des Referats für Analyse und Übersetzung in Bezug auf die Dialekt-Modellstudien etwas unklar? Hat jemand Einwände gegen die angebotenen Konditionen? Bitte denkt daran, dass es sich von vorn bis hinten nur um eine Computer-Arbeit handelt … Wir werden damit wenig Aufwand haben. Gibt's irgendwelche persönlichen Fragen zu besprechen? Oder Bedenken dagegen, dass wir den Beschluss über Nazareths medizinische Behandlung im Protokoll als einmütig gefasst vermerken? Nicht?« Er ließ eine Handkante auf den Tisch fallen, eine abgehackte Geste, die den Sinn eines Schlusszeichens hatte. »Gut. Dann sind wir fertig. Aaron, du wirst dafür sorgen, dass deine Frau umgehend von unserem Beschluss informiert wird und unverzüglich die Klinik aufsucht. Ich will vermeiden, dass später in den Medien Anschuldigungen erhoben werden, wir hätten zu lange gewartet und ihr Leben gefährdet, ganz egal, wie kleinkariert so etwas für unsere Begriffe wäre. Gefühlloser, schlechter Behandlung einer Frau beschuldigt zu werden, ist für uns keineswegs vorteilhafter als der Verdacht, wir gingen mit unseren unrechtmäßig erworbenen Milliarden verschwenderisch um. Kann ich mich auf dich verlassen?«

»Sicherlich«, antwortete Aaron scharf. »Ich kenne meine Pflichten. Und ich bin so empfindsam für das Problem der Öffentlichen Meinung wie jeder hier. Ich werde gleich Mutter damit betrauen.«

»Deine Schwiegermutter ist im Moment unabkömmlich, Aaron«, entgegnete Thomas. »Sie befasst sich heute Vormittag mit irgendwelchem Firlefanz im Zusammenhang mit dem Kodierungsprojekt. Beauftrage an ihrer Stelle eine der anderen Frauen, oder du musst's selber erledigen.«

Aaron öffnete den Mund, um eine Äußerung zu machen. Und schloss ihn wieder. Er wusste schon, was ihm sein Schwiegervater erwidern würde, wenn er erneut Einwände gegen die Zeitvergeudung erhob, welche die Frauen mit ihrem albernen ›Kodierungsprojekt‹ betrieben: Es beschäftigt sie, Aaron, und sie sind zufrieden. Die Unfruchtbaren und die, die für andere Arbeit zu alt sind, brauchen irgendeine harmlose Betätigung, um etwas mit ihrer Zeit anfangen zu können, Aaron. Hätten sie nicht mit ihrem endlosen ›Projekt‹ zu tun, würden sie nur herumnörgeln und uns stören. Aaron – sei froh, dass sie sich so leicht beschäftigen lassen. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, Aaron. Es hatte keinen Zweck, erkannte Aaron, sich das alles noch einmal anzuhören.

Außerdem hatte Thomas recht. Jene paar Frauen unter den Ausgedienten, die sich nicht für die wirrhirnigen Aktivitäten des Projekts interessierten, kamen wirklich dauernd in die Quere, fielen lästig, nur weil sie sich langweilten. Also schwieg Aaron, verließ den Raum rasch durch die Nebentür, erstieg die Treppe und nahm die Richtung zur Gartenanlage, wo einer seiner Söhne auf ihn wartete, um mit ihm ein Übersetzungsproblem zu diskutieren. Er hat zu lange warten müssen, dachte Aaron verstimmt. Nicht einmal einem männlichen Kind konnte man im Alter von sieben Jahren unbegrenzte Geduld abverlangen.

Er hatte den Weg zum Garten halb hinter sich gebracht, befand sich bereits bei den Beeten mit orangefarbenen Tagetes, welche die Frauen überreichlich zu pflanzen pflegten, weil nicht einmal der fanatischste Anti-Linguist sie als teure Geldverschwendung betrachten konnte, ehe er merkte, dass er nun doch vergessen hatte, seine Frau zu benachrichtigen. Herrgott, was waren Frauen mit ihren ewigen Beschwerden und blöden Krankheiten doch für ein Ärgernis! Um Himmels willen, wie konnte jemand im Jahre zweitausendzweihundertfünf Krebs haben! Kein männlicher Mensch hatte Krebs seit … seit wenigstens fünfzig Jahren gehabt, darauf war er zu wetten bereit. Einfach armselige Geschöpfe, diese Frauen, sie waren es kaum wert, dass man sie unterhielt – und erst recht nicht den Verdruss, den sie verursachten.

Sein Ärger über das Erfordernis, zum Haus umzukehren und die erteilte Zusage einzuhalten, bewog ihn fast dazu, einen unentschuldbaren Strauch mit gelben Rosen, zwischen den Tagetes halb versteckt, mitsamt den Wurzeln auszureißen. Es war nur ein Strauch, aber er bedeutete eine Provokation. Aaron vermochte sich das Gerede der Bürger vorzustellen. »Arbeiten, Schuften und Schwitzen für jeden Cent, und's ist nicht mal genug Geld da, um die Gleitwege anständig zu warten, weil die Hälfte der Steuern an die verdammten Lingus geht – dass sie allesamt der Teufel hole! –, und sie stecken alles in ihre unterirdischen Paläste und ihre verfluchten Rosengärten …« Er konnte sich die Parolen ausmalen, das Wortgeklingel, und wie die Medien allen Ernstes über die wahren Zahlen der von Linguisten in der Periode zwischen 2195 und 2205 erworbenen Rosensträucher schwatzten … In den Medien arbeitete man gerne mit Zehnjahreszeiträumen, weil man so leicht an statistische Daten für zehnjährige Zeitabschnitte gelangte. Und er war sicher, dass dieser üppige Rosenstrauch wieder einer jener kleinen Sabotageakte war, mit denen Großtante Sarah die Buchhaltung übers Ohr zu hauen pflegte.

Zum fünfzehnten Mal nahm er sich vor, irgendwann in diesem Jahr in seinem Terminkalender eine Möglichkeit zu finden, um mit ihren Kongress-Lobbyisten über eine Gesetzesvorlage zu beraten, die es Frauen untersagen sollte, ohne die schriftliche Genehmigung eines Mannes überhaupt irgendetwas zu kaufen. Diese Gewohnheit, ihnen Taschengeld zuzugestehen, zu gestatten, dass sie Ausgaben für Blumen, Süßigkeiten, Medien-Romantik und diesen und jenen Tinnef machten, führte ständig zu unvorhergesehenen Schwierigkeiten …

Erstaunlich, wie gerissen Frauen waren, wenn es darum ging, den Buchstaben des Gesetzes zu beugen! Fast verhielt es sich mit ihnen ähnlich wie mit den Schimpansen, die sich beim Militär mit ihren Dienstanweisungen auseinandersetzen mussten und dabei Faxen veranstalteten, die man ihnen nicht verboten hatte, weil niemand sie in den wildesten Phantasien hätte voraussehen können. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass man einem Schimpansen erst förmlich beibringen musste, nicht auf seine Waffen zu scheißen?

Aaron persönlich hätte am liebsten überall, wo Geschäfte irgendwelcher Art stattfanden, FÜR FRAUEN VERBOTEN-Schilder gesehen. Doch wieder einmal musste er sich dem Argument beugen, dass diese Wesen erheblich weniger Ärger verursachten, wenn man sie in ihrer Freizeit herumspazieren und sich das Zeug in den Kaufhäusern anschauen ließ, statt ihnen zu erlauben, die Einkäufe per ComSet vorzunehmen, wie es die Männer taten. Es kam zu keinem Ende, immer wieder musste man noch ein und noch ein Zugeständnis eingehen. Und dabei war es immerhin ein gewisser Trost, behaupten zu dürfen, dass zumindest die Frauen der Linien, die Linguisten-Frauen, keine Freizeit hatten.

Falls irgendetwas Aaron William Adiness-Chornyak zu einer so finsteren Gotteslästerlichkeit wie dem Gedanken einer Schöpferin verleiten konnte, so war es die allem Anschein nach widersinnige, unvernünftige Erschaffung der Frauen. Hätte der Allmächtige nicht den schlichten Anstand haben sollen, Frauen stumm zu machen? Oder sie mit dem biologischen Äquivalent eines Ein/Aus-Schalters zu versehen, dessen sich die Männer bedienen durften, die sich mit ihnen abplagen mussten? Soviel hätte man erwarten können, wenn er schon nicht den Einfallsreichtum besessen hatte, durch den es möglich geworden wäre, ganz auf sie zu verzichten.

»Du kannst dich glücklich schätzen«, hätte sein Vater gesagt. »Weißt du, du hättest geboren werden können, bevor Whisslers Verfassungsänderungen verabschiedet worden sind. Dann wärst du in eine Zeit hineingeboren worden, als Frauen noch bei Wahlen abstimmen durften, als Frauen im Kongress der Vereinigten Staaten saßen, als eine Frau sich Bundesrichterin nennen durfte. Denk mal drüber nach, Junge, und sei froh, dass dir das erspart geblieben ist!«

Aaron lachte gedämpft, erinnerte sich an das erste Mal, als er von solchen Dingen gehört hatte. Damals war er sieben Jahre alt gewesen, im gleichen Alter wie der Junge, mit dem er sich gleich zu treffen beabsichtigte. Und er war bestraft worden, hatte ein Dutzend Seiten voller nutzloser Substantivdeklinationen einer gleichermaßen nutzlosen, künstlichen Sprache auswendig lernen müssen, weil er es mit seinen sieben Jahren – aus lauter Schrecken – gewagt hatte, Ross Adiness einen Lügner zu schimpfen. Die Listen von Substantivendungen hatte er längst vergessen, aber das Entsetzen war nie wieder von ihm gewichen.

»Nazareth?«, fragte Clara, blieb stehen und starrte sie an.

Nazareth Joanna Chornyak-Adiness, Zwillingsschwester James Nathan Chornyaks, älteste Tochter des Haushalts, Mutter von neun Kindern, ähnelte momentan nichts so sehr wie einem arg mitgenommenen Servomechanismus. Reif zum Umtauschen. Reif für den Schrott. Der unschöne Anblick flößte der Frau, die von Aaron mit seiner Nachricht zu Nazareth geschickt worden war, starke Betroffenheit ein, ein solches Unbehagen, dass sie es eilends unterdrücken musste. Es wäre unverzeihlich, die Entscheidung der Männer mit einem Ausdruck des Abscheus in der Miene auszurichten.

Aber an ihr war etwas Abstoßendes: irgendetwas an ihrer hageren Gestalt, dem angegrauten, straff nach hinten gekämmten, mit scheußlichen Haarnadeln am Kopf befestigten Haar, an der verkrampften Körperhaltung, einer Reaktion hartnäckigen Stolzes auf unerträglichen Stress und Erschöpfung. Sie sah nicht im entferntesten wie das stattliche Wrack einer Frau aus, nicht einmal wie ein gequältes Tier … Konnte man eine Maschine, überlegte Clara, jemals so zurichten wie Nazareth?

Dann jedoch gewann Clara die Fassung zurück, und ihr schauderte. Vergib mir, o Gott, dachte sie, dass ich sie so ansehen konnte. Ich will sie nicht so sehen. Sie ist eine lebendige Frau, ermahnte sie sich streng, keiner von diesen dünnen Zylindern mit einem runden Knopf oben drauf, wie sie leise in Häusern und an Arbeitsplätzen von Nonlinguisten umherwalzen und die Drecksarbeit tun. Eine lebendige Frau, der man Leid zufügen kann, und ich werde mit ihr reden, ohne auf verzerrte Eindrücke hereinzufallen. »Nazareth?«, wiederholte sie leise. »Meine Liebe, bist du eingeschlafen?«

Aufgeschreckt fuhr Nazareth leicht zusammen, kehrte sich von den transparenten Wänden des Interface ab, in dem ihr jüngstes Kind gerade unterm freundlichen Blick des gegenwärtigen Gast-Alien gutgelaunt Plastikklötze aufeinanderstapelte.

»Entschuldige, Tante Clara«, sagte sie. »Ich habe dich nicht gehört … Leider war ich gerade geistig weggetreten. Brauchst du mich für irgendwas?«

Indem sie ihre Aufgabe noch aufschob, wies Clara mit der Kinnspitze auf das Kind, das soeben über eine Bemerkung des GA lachte. »Er kommt gut voran, nicht wahr?«

»Ich glaube schon. Anscheinend kann er bereits Sätze bilden … kurze Sätze, aber zweifellos Sätze. Nicht schlecht für einen knapp Zweijährigen, der drei Sprachen gleichzeitig lernen muss. Und seine Fortschritte im Englischen haben sich anscheinend nicht verlangsamt.«

»Drei Sprachen«, sann Clara. »Nicht übel, Liebes … Ich weiß noch, wie's üblich war, ihnen ein halbes Dutzend zuzumuten, als noch nicht so viele Kinder zur Verfügung standen.«

»Ach, aber entsinnst du dich an Paul Hadley? Erinnerst du dich, welche Sorgen wir uns gemacht haben? Drei Jahre mit dem Nord-Alphaner im Interface, und in keiner Sprache beherrschte er mehr als ein paar Babywörter.«

»Es hat sich alles eingerenkt«, rief Clara in Erinnerung. »Das ist die Hauptsache. So was tritt eben dann und wann auf.«

»Das weiß ich. Darum sorge ich mich ja, es könnte noch einmal auftreten. Gerade diesmal.«

Clara räusperte sich, und ihre Hände vollführten eine knappe Gebärde der Sinnlosigkeit. »Das ist unwahrscheinlich«, sagte sie.

Nazareth hob den Blick und schaute ihre Tante an. Ihr Gesicht hatte die wie verblichene Färbung billigen Papiers. »Du kommst von den Männern, Tante Clara«, sagte sie, »und du versuchst dich davor zu drücken, mir zu verraten, was sie beschlossen haben. Das hat keinen Zweck … Wir können ein Dutzend nichtiger Themen finden, um zu plaudern und es aufzuschieben, aber zu guter Letzt wirst du's mir sagen müssen, das ist dir doch klar.«

»Ja.«

»Die Entscheidung ist ungünstig ausgefallen, oder?«

»Es könnte schlimmer sein.«

Nazareth schwankte, stützte sich gegen die Transparentwand des Interface, aber Clara tat nichts, um ihr irgendwie beizustehen. Nazareth erlaubte niemandem, ihr zu helfen, und sie verhielt sich so aus gutem Grund.

»Also?«, fragte sie. »Was haben sie beschlossen, Clara?«

»Die Operation ist dir bewilligt worden.«

»Die Laseroperation.«

»Ja. Aber nicht die Brustregeneration.«

»Ist das Frauen-ImB-Konto schon auf so niedrigem Stand?«

»Nein, Natha … Es war keine finanzielle Entscheidung.«

»Aha … Ich erkenne den Sachverhalt.« Nazareths Hände tasteten nach ihren Brüsten, umfingen sie zärtlich, so wie ein Liebhaber sie umfangen haben mochte, um sie gegen eisigen Wind zu schützen.

Wortlos schauten die beiden Frauen einander an. Und in der gleichen Weise, wie Clara Schmerz um der Frau willen empfand, die sich mit einer gänzlich vermeidbaren Verstümmelung abfinden musste, so verspürte Nazareth um der Frau willen Schmerz, der man befohlen hatte, ihr die Mitteilung zu überbringen. Doch so war eben der Lauf der Welt. Und wie Clara bemerkt hatte, es könnte schlimmer sein. Man hätte sich weigern können, ihr die Operation zu genehmigen; nur hätten dann die Medien die Sache aufgegriffen und daraus eine Story mit einem neuen Beispiel über den Unterschied zwischen Linguisten und normalen Menschen gemacht.

»Du sollst gleich in die Klinik gehen«, sagte Clara, als sie es nicht länger verkraften konnte, Nazareths stummes Leid mitanzusehen. »In ungefähr fünfzehn Minuten ist ein RoboBus fällig, der dort hält. Man will, dass du ihn nimmst, Kind. Du brauchst nichts mitzunehmen … Mach dich bloß für die Straße fertig. Wenn du möchtest, helfe ich dir.«

»Nein. Danke, Tante Clara. Ich komme zurecht.« Nazareth ließ die Hände sinken, faltete sie auf dem Rücken, außerhalb von Claras Sicht.

»Dann werde ich dafür sorgen, dass jemand die Überweisung der Credits aufs Konto der Klinik genehmigt«, sagte die Ältere. »Es ist nicht nötig, dass du hier herumsitzt und auf die Bestätigung wartest. Ich kann die Buchungen erledigt haben, bevor du in der Klinik eintriffst, falls ich einen Mann finde, der nicht gerade mit Dringendem beschäftigt ist.«

»Wie den Tabakrechnungen.«

»Zum Beispiel.«

»Wenn's klappt«, sagte Nazareth gleichgültig, »wäre das ganz angenehm. Wenn nicht, mach dir keine Gedanken. Ich bin eine der am besten in Geduld geübten Personen der Linie. Und einige Stunden länger werden mir keinen ernsten Schaden zufügen.«

Clara nickte. Nazareth war immer sehr akkurat.

»Hast du irgendwelche Instruktionen in Bezug auf die Kinder? Soll ich mich um irgendwas kümmern?«

»Ich glaube, das ist nicht nötig. Judith und Cecily kennen meine Planung, und falls auf der üblichen Liste was fehlt, werden sie's merken … Dann werden sie sich an dich wenden. Du könntest ihnen ausrichten, sie sollen sicherheitshalber morgens in meinem Terminkalender nachschlagen.«

Clara wartete ab; doch Nazareth hatte nichts mehr zu sagen, und Clara machte wieder jene Geste der Ausweglosigkeit. »Geh mit Gottes Gnade, Nazareth Joanna«, meinte sie leise.

Nazareth nickte, im reglosen Gesicht die Lippen grau und fest zusammengepresst. Sie nickte immerfort weiter, mit knappen, abgehackten Kopfbewegungen, als wäre sie ein Spielzeug zum Aufziehen, wie man sie in den Sammlungen von Museen betrachten konnte, bis Clara sich schließlich abwandte und sie verließ. Nazareth schenkte dem kleinen Matthew und dem GA keinen Blick mehr, nahm lediglich die Körperhaltung der obligatorischen Abschiedsgeste des PanSig ein, wie es die Höflichkeit verlangte. Schließlich traf den Alien keine Schuld.

Denk an ihn, sagte sich Nazareth. Denk an den Gast-Alien. Befasse dein verstörtes Gemüt mit Konstruktivem. Jetzt ist kein geeigneter Zeitpunkt für weitschweifende Gedanken.

Der Alien war interessant, bei GA keineswegs eine charakteristische Eigenschaft. Nazareth freute sich darauf, mehr über seine Kultur und Sprache zu erfahren, wenn Matthew älter wurde und die Fähigkeit gewann, sie zu schildern. Drei statt zwei Beine, ein Gesicht, das eher eine ›Kopfvorderseite‹ abgab …? Tentakel, die wie eine Mähne vom Schädel über die gesamte Länge des Rückgrats hinabfielen, Tentakel, die entweder auf etwas in der Umgebung reagierten, sich reflexmäßig bewegten oder unter bewusster Kontrolle standen … Bevor man ihn als GA akzeptierte, hatte es ausgedehnte Debatten gegeben, in denen unter anderem die Frage aufgeworfen worden war, ob er tatsächlich humanoid sei. Es hatte einer einstimmigen Entscheidung der Oberhäupter aller dreizehn Linguisten-Linien bedurft, um ihn als GA durchzubringen und den Vertrag abgesegnet zu erhalten, und der Alte des Shawnessey-Haushalts in der Schweiz hatte beträchtliche Überzeugungsarbeit nötig gemacht.

Mein Kind, dachte sie, ihm den Rücken zugekehrt. Mein kleiner Sohn. Mein letzter Sohn, mein letztes Kind. Und falls ein Irrtum unterlaufen ist, falls dies Wesen nicht wirklich humanoid ist, wird es mein Kind sein, das zum Schwachsinnigen oder Schlimmerem verkommt.

Dein Verstand gehorcht dir wieder einmal nicht, Nazareth! Sie schnalzte mit der Zunge – »Tz!« – und verklammerte die Hände noch fester ineinander. Es war besser, den Verstand mit den interessanten Charakteristika dieses neuen GA zu beschäftigen, oder mit einer Betrachtung des aktuellen Umfangs der linguistischen Fähigkeiten ihrer Kinder. Besser, sich mit irgendetwas zu befassen, bloß nicht der bitteren Galle schlichter Wahrheit, dem scheußlichen Kloß in ihrer Kehle.

Sie soll sich für die Straße fertigmachen, hatte man gesagt … Was stellte man sich vor? Nazareth schaute an sich hinab und sah nichts, was Anlass zur Kritik geliefert hätte. Keinen Schmuck. Ein einfaches Kleid mit züchtigen Ärmeln bis über die Ellbogen, in einer Farbe, die man eigentlich nicht als Farbe bezeichnen konnte. An den Füßen Haftsandalen, sonst nichts. Ihr Haar, so wusste sie, war ordentlich. Niemand war dazu in der Lage, sie anzublicken und zu denken: Da geht so eine Linguistenschnalle. Es sei denn, jemandem fiel bei ihrem Maß an ärmlichem Äußeren auf, dass es nur ein Resultat des Umstands sein konnte, in dieser Hinsicht eine Wahl zu haben.

Den Armband-Computer beließ sie am Handgelenk; es gab keinen Menschen, der keinen solchen Apparat hatte, und ihr Exemplar war alt und abgenutzt. Wenn sie in der Klinik auf der Station lag, würde sie ihn brauchen, um von Zeit zu Zeit mit dem Haushalt in Kontakt zu treten.

Ich bin fertig, so wie ich bin, dachte Nazareth. Fertig für jede Straße. Und sämtliche Daten, die man in der Klinik von ihr wissen wollen mochte, konnte man den Tätowierungen in ihren Achselhöhlen entnehmen.

Nazareth ging an der Frontseite aus dem Haus, um auf den RoboBus zu warten. Sie ersparte es sich, irgendetwas aus dem Zimmer zu holen, das sie mit Aaron teilte. Ihre Brüste rührte sie nicht noch einmal an.

Kapitel 2

Der linguistische Terminus Lexikalische Codierung bezieht sich auf die Art und Weise, wie Menschen einen bestimmten Ausschnitt ihrer Welt absondern, sei er äußerlicher oder innerlicher Natur, und diesem Ausschnitt eine oberflächliche Fasson verleihen, die sein Name sein wird; er meint den Prozess der Wortschöpfung. Wenn wir Frauen ›Kodierung‹ sagen – zur Unterscheidung mit K geschrieben –, meinen wir damit etwas, das sich davon ein wenig unterscheidet. Wir verstehen darunter die Festlegung einer Bezeichnung für einen Bestandteil der Welt, dem unseres Wissens noch in keiner menschlichen Sprache ein Name gegeben worden ist und der nicht plötzlich gemacht, entdeckt oder mit unserer Kultur konfrontiert worden ist. Wir meinen die Benennung eines Bestandteils der Welt, der schon lange existiert, aber den noch niemand als ausreichend wichtig erachtet hat, um zu befinden, dass er eine besondere Bezeichnung verdient.

Bei der gewöhnlichen Lexikalischen Codierung kann man systematisch vorgehen – zum Beispiel, indem man die Worte einer existenten Sprache prüft und entscheidet, dass man für sie Pendants in seiner Muttersprache zu haben wünscht. Danach braucht man nur noch zulässige, bedeutungstragende Laute der Muttersprache zweckmäßig zu ordnen, um an solche Pendants zu gelangen. Dagegen gibt es keine Möglichkeit, die Lexikalische Kodierung systematisch zu betreiben. Diese Begriffe scheinen wie aus dem Nichts zu kommen, und man erkennt sofort, dass man sie immer schon benötigt hat; doch man kann nicht nach ihnen forschen, sie zeigen sich nicht als konkrete, augenfällige Einheiten, an denen es dick und fett leuchtet: GIB MIR EINEN NAMEN! Darum sind sie sehr kostbar.

(Chornyaksches Sterilenhaus:

Handbuch für Anfängerinnen, S. 71)

WINTER 2179

Aquina Chornyak langweilte sich. Die Verhandlungen verliefen langweilig, betrafen ein langweiliges Zusatzabkommen zu einem langweiligen Vertrag, und sie mussten mit Transit-Alien geführt werden, die nachgerade lähmende Langeweile verbreiteten. Von einem TA erwartete man erst gar nicht, dass er sich als sonderlich aufregender Umgang erwies; erstens besuchten TA die Erde nicht zwecks Geselligkeit, und zweitens gab es keinen Grund zu der Annahme, dass irgendetwas, was ein Terraner als Anregung empfand, auch einen TA stimulierte, oder umgekehrt; manchmal jedoch kam in der Öde des bürokratischen Trotts wenigstens der eine oder andere kleine Lichtblick von Interessantem auf.

Diesmal nicht. Die Jeelod waren in ihrer äußeren Erscheinung Terranern so stark ähnlich, dass man zu leicht vergaß, sie waren TA … Sie besaßen keine lustigen Tentakel oder Schwänze, keine Spitzohren, keine doppelten Nasen. Nicht einmal irgendeine exotische Mode ihrer Bekleidung verlieh ihnen etwas Unterhaltungswert. Ihr Körperbau war untersetzt, stämmig, sie sahen insgesamt ein wenig vierschrötiger aus, als es für terranische Humanoide typisch war, und sie hatten lange Bärte. Und damit hatte es sich schon. In ihren ausgebeulten Overalls sahen sie aus wie ein Trio von … ja, vielleicht von Klempnern. Wie irgendetwas dieser Art. Es war alles langweilig. Wen interessierte es denn (ausgenommen die Jeelod, wie sich von selbst verstand, andernfalls hätten sie diese Verhandlungen nicht gefordert), ob die Container, in denen Terra Waffen an sie verfrachtete, blau waren oder nicht?

Sie interessierten sich dafür. Das hatten sie klargestellt. Blau, so hatten sie erklärt, sei eine Farbe, die jedem Jeelod einen Schock bereite, eine Schmähung der Ehre jedes Jeelod; eine Sache von twx'twxqtldx. Wie man das aussprach, vermochte Aquina sich nicht vorzustellen, aber sie brauchte es auch nicht; sie war lediglich als inoffizielle Ersatzkraft zur Unterstützung Nazareths hier, die auf der Erde Native Speaker{1} für REM 34-5-720 war. Nazareth konnte das Wort so leicht aussprechen, wie Aquina ›Quatsch‹ sagen konnte. Und Nazareth hatte geduldig zu erläutern versucht, was die Äußerung bedeutete.

Wenn Aquina sie richtig begriff, besagte die Verwendung blauer Container ungefähr das gleiche, als hätten die Jeelod mit menschlichen Fäkalien beschmierte Container zur Erde geschickt … Merkwürdig, wie man überall im Universum bei so vielen Humanoiden die gleichen idiotischen Tabus vorfand. Aber die Jeelod kannten keine Bereitschaft, die Angelegenheit so zu handhaben, wie in einer ähnlichen Situation zwei irdische Kulturen sie geregelt hätten, etwa so:

»Ihr meint, blaue Container zu verwenden, ist für euch das gleiche, als hätten wir sie mit Scheiße vollgeschmiert?«

»Verdammt richtig!«

»Heiliger Bimbam, das haben wir nicht gewusst. Entschuldigung, ja? Welche Farbe wäre euch denn recht?«

»Nehmt rote Container.«

»Dann sind wir uns ja einig.«

Und damit wäre die Zusammenkunft vorbei. Nein … Hier spielte sich eindeutig etwas anderes ab, und es würde absolut nicht in diesem Stil ablaufen. (Und wenn man ehrlich war, musste man einräumen, dass es irdische Kulturen gab, die auch nicht auf so unkomplizierte Weise zurechtgekommen wären.)

Jedes Mal wenn Nazareth die Sachlage zu erklären versuchte, indem sie zuerst in makellosem REM 34-5-720 mit den Jeelod, dann in fehlerfreiem Englisch mit den Vertretern der US-Regierung redete, geschah das gleiche: Die Jeelod wurden blass, drehten sich um, setzten sich auf den Fußboden und bedeckten den Kopf mit den Händen – eine Haltung, die Nazareth zufolge anzeigte, dass sie sich in jedem rechtsgültigen Sinne des Wortes als ›abwesend‹ betrachteten. Diese Perioden juristischer Abwesenheit dauerten, wie die kulturellen Imperative der Jeelod es vorschrieben, exakt achtzehn Minuten und elf Sekunden. Danach nahmen sie wieder am Konferenztisch Platz, und Nazareth durfte es noch einmal versuchen. Armes Kindchen.

Wenn sogar sie sich langweilte, überlegte Aquina, musste Nazareth gänzlich am Ende ihrer Geduld sein. Elf Jahre waren kein Alter, in dem man besonders viel Geduld kannte, nicht einmal als Kind der Linien. Und im Gegensatz zu den Leuten vom Außenministerium, die inzwischen dazu übergegangen waren, sich jeweils für genau achtzehn Minuten und drei Sekunden zum Kaffeetrinken zu verabschieden, wenn erneut eine Unterbrechung entstand, musste Nazareth im Verhandlungssaal bleiben. Man vermochte nicht vorauszusehen, wie die TA erst reagierten, falls während des Rituals des Gekränktseins die Dolmetscherin das Zimmer verließ.

Die letzte derartige Episode dauerte nun seit fünfzehn Minuten und ein paar Sekunden an, und Aquina seufzte, zog in Erwägung, sich gleichfalls einen Kaffee zu gönnen; da sie nur als Ersatzkraft für Nazareth da war, konnte sie wahrscheinlich entbehrt werden. Allerdings war ihr Bedürfnis schwierig zu erfüllen, weil sie zuvor einen liebenswürdigen Mann zur Begleitung finden musste. Und der Kleinen gegenüber wäre es nicht nett … Sie mochte Nazareth sehr; das Kind war etwas Besonderes für ein elfjähriges Mädchen. Zärtlich schaute Aquina sie an, wünschte sich, sie könnte ihr Spaßiges oder dergleichen erzählen, um die Zwischenzeit zu überbrücken, und sah, dass das Kind in völliger Konzentration den Kopf über einen kleinen Schreibblock gebeugt hielt. Es kritzelte etwas darauf, die Zungenspitze zwischen den fest zusammengepressten Lippen hervorgeschoben. Behutsam berührte Aquina es am Arm, um Aufmerksamkeit zu erregen, stellte mittels eines Zeichens eine Frage; da die Jeelod ihnen die Rücken zuwandten, merkten sie nicht, dass die Terranerinnen sich per Zeichensprache verständigten.

ENDE DER LESEPROBE