Amraser - Georg Fabjan - E-Book

Amraser E-Book

Georg Fabjan

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit Innsbrucks - lebendig in persönlichen Erinnerungen!Mit viel Wortwitz und Selbstironie skizziert Georg Fabjan den wohl dörflichsten Stadtteil Innsbrucks, wo Mais zwischen Wohnblöcken wächst und Kuhmist und Kaufhaus-Kommerz friedlich aufeinandertreffen. Dabei erinnert er sich an Folklore, Feste und Vereine, die das Dorfgeschehen bestimmt haben, ebenso wie an Orte und Persönlichkeiten, die wiederum ihn geprägt haben. Darunter sind bekannte Plätze, die nach wie vor unverändert scheinen, wie das Schloss Ambras, solche, die sich unglaublich verändert haben, zum Beispiel das DEZ, oder auch Institutionen, die inzwischen verschwunden sind, wie der Gasthof Seewirt samt Campingplatz. In packenden Kurzgeschichten und Anekdoten entführt uns der Autor in sein Amras - wie es einmal war und an vielen Ecken immer noch ist.

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ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 13:

Georg Fabjan

Amraser

Schnelle Geschichten vom langsamen Erwachsenwerden

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
PROLOG
PLÄTZE, PERSONEN & PERSÖNLICHKEITEN
Die Kirche
Das bäuerliche Amras
Die Höfe
Der Kindergarten
Willi
Das Schloss
Der Schlosspark
Die Geschäfte
Der Anranter
Der Resch
Der Hölzl
Das DEZ
Der Müllmann
Der Tummelplatz – Die Forstmeile – Tantegert
Der Garten von Frau Steixner oder: Ein Schiff wird kommen
Die Gasthäuser
Der Seewirt
Der Kapeller
Der Bierwirt
Das Charlotte
Das Trappschlössl
Schloßcafé und Café Regina
Die Volksschule
Die Öffis
Das Jugendheim
Der Pradler Friedhof
PERCHTEN, PALMEN & PROZESSIONEN: FOLKLORE UND VEREINE IN AMRAS
Krampusse
Die Palmprozession
Die Feuerwehr
Der Kirchenchor
Die Chorgemeinschaft Amras
Die Amraser Bäuerinnen
Der Skiclub Amras
Die Matschgerer
Der Trachtenverein
Die Musikkapelle
Die Schützen
Das Amraser Dorffest
PARTITUREN, PAUKEN & POSAUNEN
Familiäre Amraser Klangwolken
Die Klarinette
Die Sternsinger
Die Schlosskonzerte
PAUSEN, PARTYS & PRÜGELEIEN
Wintersport am Willi-Bichl
Rabauken, Rattler & Raufereien
Pausensport mit Nähzubehör
Der Verdacht
Die Faschingsparty
DER BLICK IN DIE ZUKUNFT
DANK
Georg Fabjan
Zum Autor
Impressum

Für meine Mutter Monika

© Arno Fabjan

© David Lederbauer

PROLOG

In My Life

There are places I’ll remember

All my life though some have changed

Some forever not for better

Some have gone and some remain

All these places had their moments

With lovers and friends I still can recall

Some are dead and some are living

In my life I’ve loved them all.

The Beatles

„Sind Sie von hier?“, fragt mich ein Mann mit Glatze und deutschem Akzent. Er kommt hastig den Kirchsteig von Amras entlang, als ich mich gerade auf der Recherche für dieses Buch vor dem Widum – dem Haus des Pfarrers – und der Volksschule umschaue. Beide sind wir auf der Suche: Er nach einem Weg, ich nach meinen Wurzeln. Der Mann hat es eilig und schaut mich auffordernd an, ich möge ihm doch bitte endlich diese einfache Frage beantworten. Ich reiche die Frage an mich weiter. Doch so einfach sie scheinen mag, gehen mir in diesem Bruchteil einer Sekunde unterbewusst viele Dinge durch den Kopf.

Ich bin hier aufgewachsen. Ich habe hier gelebt. 26 Jahre lang. Dann aber habe ich mehr und mehr Abstand genommen von diesem Ort meiner Kindheit. Ich habe in der Normandie, in Wien und Paris gelebt und wohne jetzt in Dornbirn in Vorarlberg. Ich bin nicht aus einer alteingesessenen Amraser Familie, ich bin keiner der Ullmanns, Steixners, Stampfers, kein Klotz oder Schlögl und ich habe auch nie im eigentlichen Herzen von Amras, in einem dieser alten Häuser rund um die Kirche, gewohnt.

Meine Eltern sind Anfang der 1970er Jahre in einen der Wohnblöcke gezogen, die die Alpenländische Heimstätte damals im großen – und immer gleichen – Stil in der Geyrstraße, der Gerhart-Hauptmann- und der Philippine-Welser-Straße errichtet hatte. Häuserblocks, die anfänglich nur ungern von den Amrasern akzeptiert worden waren, die nun aber, nach bald 50 Jahren, fix zum Ortsbild gehören. Unser Haus stand und steht immer noch in der Gerhart-Hauptmann-Straße/Kreuzung Geyrstraße. Und obwohl hier für mich immer der Anfangspunkt dieser wichtigen Amraser Straße lag, weil der Verkehr, vor allem jener vom DEZ kommend, von der Geyrstraße hier einmündet und sich ausschließlich in Richtung Pradler Friedhof an Feldern und Wohnblocks vorbeischlängelt, war unser Haus nicht die logische Nummer 1. Vielmehr war quasi das Gegenteil der Fall: Das cremefarbene Schild trug die Nummer 70. Wir waren das letzte.

In der Gerhart-Hauptmann-Straße 70 bin ich aufgewachsen. Das Haus 1970 (Foto: Stadtarchiv Innsbruck), unmittelbar nach der Errichtung, und 2019 (Foto: David Lederbauer).

Das war vermutlich dann aber doch nicht der Grund, warum wir ein paar Jahre später innerhalb der gleichen Straße in die Nummer 23 gezogen und somit geradezu aufgerückt sind. Sehr flexibel waren wir nicht. Vor allem meine zwei jüngeren Schwestern und ich nicht. Als unsere Eltern uns fragten, ob wir in ein Reihenhaus nach Hötting oder in eine neue Wohnung in Amras ziehen möchten, war klar: Wir wollen in Amras bleiben.

Von der Gerhart-Hauptmann-Straße 70 aus habe ich Amras als Kind erkundet, erforscht, erlebt. Der Radius war angenehm begrenzt und groß genug zugleich. Die überschaubaren, dörflichen Strukturen des Stadtteils im Südosten von Innsbruck waren für ein Kind, demnach für mich, wie gemacht.

Unmittelbar vor unserer Haustüre konnte ich im Laufe der Zeit auch beobachten, wie sehr sich Amras in all den Jahren verändert hat: Der Gasthof Seewirt schräg gegenüber steht schon längst nicht mehr. Und auch der Campingplatz, auf den sich in den späten 1980er Jahren noch die letzten spärlichen Urlaubsgäste verirrten, ist Geschichte. Wenn ich jetzt bei meinen Eltern aus dem Fenster schaue, sehe ich einen riesigen, lang gezogenen Wohn- und Büroblock, eine Art „Karl-Marx-Hof“ von Innsbruck, und den C-Bus, der statt des K daran vorbeifährt.

Auf der nahen Wiese, wo jetzt der Ableger eines schwedischen Möbelkonzerns steht, habe ich noch Radfahren gelernt. Und Drachen steigen lassen, denn auf diesen Wiesen, auf denen sich das DEZ noch immer weiter ausbreitet und von denen kaum noch etwas übrig ist, weht seit Jahrzehnten der berüchtigte „Seewind“, obwohl an den See nur mehr ein Straßenname erinnert. Die Amraser kennen den Wind und seinen deutlichen Unterschied zum Föhn allerdings und sie wissen, wann sie am besten ihre Wäsche zum Trocken in ihren Wind hängen.

Apropos Wind. Bevor die Antwort auf die Frage des Deutschen, ob ich von hier sei, wie dahingeblasen ist, komme ich ins Hier und Jetzt zurück und gebe sie deutlich: „Ursprünglich ja!“

„Wo geht’s denn hier bitte zum Schlosspark?“

Die Antwort auf diese Frage kommt schnell und ohne zu zögern. Den Weg, vielmehr alle Wege zum Schloss Ambras und seinen Park, kenne ich noch immer in- und auswendig. Plötzlich spüre ich, wie ich mich darüber freue und wie wohl ich mich hier fühle. Der Deutsche bedankt sich und lässt mich mit meinen Gedanken zurück. Und mit meinen Erinnerungen.

Das hier sind Erinnerungen an Orte und Menschen, die mich geprägt haben – ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Wahrheit. Ich möchte und kann die Kindheit in Amras nur so wiedergeben, wie ich sie wahrgenommen habe. Eine Zeit, die ich manchmal gehasst, viel öfter aber geliebt habe.

PLÄTZE, PERSONEN & PERSÖNLICHKEITEN

Die Kirche

Wollen wir mal die Kirche im Dorf lassen. Aber ganz ehrlich: Was wäre Amras ohne seine Kirche? Wo wäre hier ein Zentrum zu erkennen? Wo schlüge das Herz dieses Dorfs? Denn das ist Amras trotz seiner Eingemeindung in die Stadt Innsbruck im Jahr 1938 doch noch immer: ein Dorf. Und man ist stolz darauf und pflegt auch alles, was zu einem Dorf gehört, also auch seine Kirche. Da muss man gar nicht römisch-katholisch oder sonst wie gläubig sein, um das zu spüren. Als Kind spürt man so etwas sofort. Eine Kirche ist etwas Mächtiges, Ernstzunehmendes, Würdevolles, manchmal sogar Furchteinflößendes, eben Ehrfurchterregendes, aber auch ein Ort mit Stil und Kunst, ein Ort einer Gemeinschaft, der Begegnung, der Ruhe.

In die Amraser Kirche ging ich erst, als in der dritten Klasse Volksschule einige Schulfreunde bei der örtlichen Ministrantengruppe angeheuert hatten und um neue Mitglieder warben. Und zwar mit überzeugenden Argumenten im Stile eines professionellen Staubsauger-Vertreters: „Hey Georg, bei den Minis isch es volle geil. Mia spiel’n volle viel Fuaßball und der Herr Pfarrer hat ma’s letschte Mal in da Reli-Stund’ an Einsa geb’n.“ Mehr musste ich nicht hören. Ich wurde Ministrant.

Wochenlang haben wir trainiert. Üben, üben und nochmal üben schien das Motto zu sein für Ministranten-Anfänger und Robert & Robert achteten sehr darauf, dass wir auch tatsächlich jeden kleinen Schritt, jeden Handgriff, den es für einen würdigen Gottesdienst braucht, beherrschten. Es sollte quasi eine perfekte „Show“ werden, wobei Robert & Robert keine Magier waren, die das herbeizaubern konnten. Robert & Robert mussten uns wie Dompteure oft regelrecht bändigen, damit im Hause Gottes eine Ruhe war und alles seine Ordnung hatte. Wir waren der lebendige Beweis dafür, dass das Schlagwort „Brav wie ein Ministrant“ ein totes Klischee ist. Motivation ist bekanntlich alles und so versprachen uns unsere Betreuer Robert & Robert, mit Nachnamen das eine Mal Engelbrecht und das andere Mal Gassler, meistens, den Rest der Mini-Stunde im Jugendheim unter Zuhilfenahme eines Fußballs abzurunden. Das half.

Das erste Mal ist immer etwas Besonderes. Meine Premiere als Ministrant hatte ich zu Allerheiligen. Lange hatten wir darauf hingefiebert und jetzt sollte es endlich so weit sein. Nachdem wir wochenlang immer „in Zivil“ geprobt hatten, nahmen wir nun zum allerersten Mal in der Sakristei die feierlichen Gewänder aus dem Schrank: einen schwarzen Rock, der um die Taille zugeschnürt und zugebunden werden musste, zudem eine Art schwarzer Stehkragen und darüber wurden frische und saubere weiße Hemden mit Rüschchen-Verzierungen an den Ärmeln gestülpt. Mit schwitzigen Händen und pochenden Herzen warteten wir in der Sakristei auf unseren großen Auftritt. Dann endlich wurde die Sakristei-Glocke gezogen. Ein zweifaches Klingeln, dann ein gleichmäßiges Rumpeln der sich erhebenden Kirchenbesucher in den Holzbänken und jetzt schickten uns Robert & Robert nach draußen, hinauf auf die Bühne – wenn man den Altarraum derart salopp taufen darf –, hinaus ins Rampenlicht.

Das Lampenfieber ging vorüber, der Gottesdienst auch. Alles klappte wie am Schnürchen. Robert & Robert strahlten nach 45 Minuten in der Sakristei förmlich und schauten zufriedener drein als ein Trainer nach der ersten erfolgreich überstandenen Halbzeit in der Champions League. Alle waren nun, wie das so üblich ist, zurück in die Sakristei gegangen. Alle, bis auf einen: mich. Während ich verzweifelt und hilfesuchend in die Sakristei schaute, schauten Robert & Robert verwundert zurück.

Bis jetzt war es unbemerkt geblieben, aber es hatte doch nicht alles wie am Schnürchen geklappt. Ein Schnürchen hatte sich nämlich gelöst, war heimlich, still und leise aufgegangen. Alles hatten wir in den zahllosen Proben geübt, nur nicht das Zubinden der Ministrantengewänder. Für mich persönlich hatte das zur Folge, dass mein schwarzer Rock in der Zwischenzeit tief nach unten über die Knöchel gerutscht war und dort dicke Falten warf. Ich war quasi gefesselt und konnte nicht mehr gehen, allerhöchstens watscheln. Dem lieben Gott sei Dank, hatte sich immerhin nicht alles Textil gelöst: Meine Jeans befand sich nach wie vor darunter und so stand ich nicht voll und ganz mit runtergelassenen Hosen da. Trotzdem machte sich Verzweiflung breit. Während die Kirchengäste interessiert und amüsiert auf den übrig gebliebenen Ministranten mit runtergelassenem Rock starrten, deutete mir Robert Engelbrecht aus der Sakristei, ich solle doch den Rock einfach hochziehen. Er machte es mir vor, ruderte dabei mit Armen und Händen.

Aber da kam mir ein weiteres Problem in die Quere, denn eines war uns Ministranten während der Vorbereitungszeit auf unseren großen Auftritt mehrfach ganz eindeutig gebetsmühlenartig eingebläut worden: Immer die Hände falten! Ja nicht irgendwie an den Gewändern herumzupfen! Auf gar keinen Fall! Das macht den Pfarrer fuchsteufelswild! Und wenn ein Pfarrer einmal mit einem teuflischen Wort umschrieben wird, dann … ja, spätestens dann muss man sich in Acht nehmen! Zupfen an den Gewändern, das tun nur Mädchen – und auch deswegen wollte der Pfarrer damals (noch) keines ministrieren lassen. Ich blieb also wie angewurzelt stehen, mit gefalteten Händen, frei nach dem Motto: „Hände falten, Goschen halten.“ Einen Ausweg wusste ich allerdings nicht, ich war den Tränen nahe. Da sprang Robert Gassler zur Hilfe. Er eilte heran, packte mich und trug mich unter dem Applaus der Kirchengänger wie ein frisch vermählter Bräutigam seine Angetraute über die Schwelle der Sakristei.

Das war mein erstes Mal. An das letzte Mal Ministrieren in Amras kann ich mich nicht erinnern. Fakt ist aber: Ich war ein „Langzeit-Ministrant“. Nicht, dass ich allzu viele Jahre mit Ministrieren verbracht hätte, nein, aber meine Kirchendienste fielen eben in die Zeit von Pfarrer Lang. Der Prämonstratenser Stefan Lang befolgte allerdings seinen Nachnamen, er war eine ganze lange Epoche, gar eine Ära lang das Kirchenoberhaupt von Amras. Es stimmt schon: Ein bisschen strenger war er als sein Mitbruder Norbert Gapp, den wir in den ersten beiden Volksschuljahren als Religionslehrer genießen durften, und tatsächlich schien Herr Lang ministrierenden Schülern im Unterricht ein wenig wohlwollender gesinnt zu sein. Andere riskierten einen seiner berüchtigten Schlüsselbund-Würfe, wenn sie nicht brav waren. Aber so richtig gefürchtet war er ja dann doch nicht. Manche fanden Pfarrer Stefan Lang sogar richtig cool. Wenn er mit kurzer, dunkler Stoppelfrisur und statt im weißen Ordenskleid mit schwarzer Lederjacke, großzügiger Kette und dickem Kreuz um den Hals zur Kirche geradelt kam, hätte nur das Fahrrad gegen ein Bike ausgetauscht werden müssen und Pfarrer Lang wäre glatt als Rocker der Hells Angels durchgegangen. Mehr Angel als Hell – versteht sich. Und einen Schmäh wie diesen hätte der Herr Pfarrer wohl mit einem schmunzelnden Augenzwinkern pariert.

Ganz besonders mochten wir Ministranten Pfarrer Lang alle Jahre wieder um die Weihnachtszeit, konkret am 26. Dezember. Jeder, der da nämlich ministrierte, bekam im Anschluss an die Messe in der Sakristei vom Herrn Pfarrer höchstpersönlich 20 Schilling zugesteckt. Wir brauchten von da an keinen Kalender mehr, um zu wissen, wessen Fest- und Namenstag auf den 26. Dezember fällt.

Mit der Zeit hatten wir das Ministrieren wirklich drauf. Wir bewiesen Rhythmus- und Taktgefühl – und das war gut so, denn manchmal erinnerten unsere Tätigkeiten mehr an eine musikalische Früherziehung nach Carl Orff: Wir konnten im richtigen Moment, genau dann, wenn die große, runde Hostie in die Höhe emporstieg, exakt zweimal klingeln und in der Karwoche sogar mit Holzhammergeräten, die Geräusche von sich gaben wie pädagogisch wertvolle Klanghölzer, die Karfreitagsliturgie in Schwung halten. Besonders liebten wir es aber, wenn wir mit dem Weihrauchfass und seiner Kette dynamisch und rhythmisch dreimal in alle Richtungen einen derartigen Dampf ablassen durften, dass die mutigen Gläubigen in den ersten Bankreihen nur knapp dem Erstickungstod entronnen sind. Im Laufe eines Hochamtes zogen dann durch den relativ kleinen, barocken, goldenen Kirchenraum enorme Rauchschwaden. Das Singen wurde zum Krächzen und viele Amraser verfielen in einen ansteckenden, kräftigen Keuchhusten, der auch uns selbst – inklusive Pfarrer – nicht immer verschonte.

Unter den Ministranten waren aber nicht nur die rhythmisch begabten gefragt, sondern auch die kräftigen. Wenn etwa wieder einmal ein Evangelium von zwei großen Kerzen links und rechts umrahmt werden sollte, begann so mancher Bizeps nach einigen Minuten unwillkürlich und unkontrolliert zu zittern. Da konnte es schon passieren, dass das heiße Wachs in die Heilige Schrift tropfte. Warum man angesichts solcher Gefahren bei Tageslicht trotzdem auf die Kerzenbeleuchtung nicht verzichten wollte, blieb für einige bis heute ein Mysterium. Leid tun konnten einem vor allem jene, die das große Los gezogen hatten, bei einer Prozession das Kreuz bei jedem Wetter vor dem gesamten Ministrantenzug hertragen zu müssen. Das waren zwar oft richtige Muskelpakete, oder auf gut Amraserisch Kraftlaggl, aber vielleicht um möglichst authentisch an die Leiden Jesu zu erinnern, kamen diese mit jedem zusätzlichen gegangenen Meter mehr und mehr ins Schwitzen. Da hätte eine einzelne Veronika mit einem kleinen Schweißtuch gar nichts mehr ausrichten können. Da hätten am besten Veronika, Monika und Angelika je eine ganze Tunika zum Schweißabwischen gereicht. Aber wehe, wenn man sie einmal braucht. Wo ist Veronika, wenn der Lenz da ist? Na eben …

So verständnisvoll Pfarrer Lang mit uns letztendlich war: Regelmäßig waren wir bei ihm mit unserem Latein ganz einfach am Ende. Wir verstanden ihn einfach nicht. Und zwar immer in derselben Situation, nämlich wenn Pfarrer Lang die Kommunion an die Gemeinde austeilte und einer von uns mit der Patene, einer Art kleinem, goldenem Serviertablett, neben ihm stand. Diese Patene sollten wir den Gläubigen, die nach einer Mundkommunion verlangten, unters Kinn halten. Man weiß ja nie, was passiert: Der eine beißt daneben, die andere verschluckt sich und bekommt einen Hustenanfall. Da sind die Amraser ja nicht anders als andere Kirchenbesucher woanders auch. So eine Mundkommunion nehmen ja – neben den ungeübten Erstkommunikanten – vor allem die älteren Semester zu sich und egal, ob die Eintropfsuppe im trauten Heim oder die Hostie in der Kirche: Da kann schon einmal etwas danebengehen. Die Patene war also dazu da, dass nichts auf den Boden fällt. Denn was kann es Schlimmeres geben – so wurde uns eingetrichtert –, als wenn der Herrgott höchstpersönlich und leiblich auf den kalten, staubigen Fußboden fällt. Schließlich ist doch die Oblate nach der Wandlung eben der Leib Christi, demnach Gott himself. Da standen wir also hochkonzentriert in Lauerstellung, bereit, einen Hechtsprung hinzulegen, sollte sich ein Brösel Gottes aus einem Mundwinkel auf den Weg in Richtung schwarz-weiß karierten Marmorboden machen. Neben uns Pfarrer Lang, der nichts unversucht ließ, die Hostien zügig an den Mann und die Frau zu bringen. Was uns dabei wunderte – und was wir eben nicht verstanden –, war, warum Pfarrer Lang dabei jedes Mal ausnahmslos jeden, der zur Kommunion schritt, richtiggehend anzischte. Denn immerhin könnte da ja auch irgendwer erschrecken und dann wäre natürlich Patenen-Alarmstufe Rot gewesen! Aber jedem, dem eine Kommunion in den Mund oder die aufgefalteten Hände gelegt wurde, warf der Pfarrer ein kurzes, heftiges „Pst-Pst!“ zu. Wir dachten uns, das wäre vielleicht so etwas wie ein Befehl oder Kommando, dass die Kommunikanten auch wirklich still sind und auch stillhalten, damit eben nichts hinunterfällt. Gewissermaßen eine präventive Maßnahme von Gottes Gnaden. Andererseits: Warum dann so laut? Denn das könnte ja auch das genaue Gegenteil bewirken. Viel zu lange haben wir gerätselt, was es mit dem geheimnisvollen „Pst-Pst“ wohl auf sich hat, aber niemand wagte zu fragen. Ich weiß nicht mehr, wie es schlussendlich herauskam, vielleicht weil einer der Älteren von uns dann in der Schule Latein hatte. Irgendwann wurde das Rätsel jedenfalls gelöst: Pfarrer Langs „Pst-Pst!“ hieß nichts anderes als „Corpus Christi“, was Herr Lang sehr schnell, ein wenig undeutlich und mit einem enorm kräftig betonten „S“ aussprach: Corpusss Chrisssti, also „der Leib Christi“. So ist das, wenn man sich nicht versteht, weil man die Sprache nicht beherrscht – oder auch, weil man sich nicht zu fragen traut. Hätte man drüber geredet, wäre das missverständliche Rätsel wohl schon lange gelöst gewesen. Frei nach dem Motto: Kommunizieren kann Kommunionen klären.

Jahre später sollte ich übrigens in einer anderen Kirche einen Priester ertappen, der eine Hostie auf den Fußboden fallen ließ. Weit und breit kein Ministrant mit einer Patene zum Auffangen des Malheurs. Und was machte der Priester kurzerhand? Einmal gebückt, die Hostie aufgehoben und von oben wieder in den Kelch zum Austeilen plumpsen lassen. Da sieht man: Amras war anders.

Freilich wurden wir für unsere Ministranten-Mühen auch belohnt. Etwa mit einem Abenteuer, das vermutlich nur ganz wenige Amraser ebenfalls erleben durften. Wir durften. Und es gehörte auch ein wenig Mut dazu, um das zu erleben und – wie wir es danach angeberisch erzählten – auch zu überleben. Und das kam so: Ich weiß nicht mehr, warum uns dieses Glück zuteilwurde, aber in einer Ministrantenstunde durften wir den Glockenturm unserer Pfarrkirche erklimmen. Zuerst wurde die kleine, eiserne Tür direkt über dem Tor der Sakristei, die man während eines normalen Kirchenbesuches kaum wahrnimmt, umständlich geöffnet. Mit einer Leiter stiegen wir die ersten paar Treppen hinauf, duckten uns und betraten so durch das gotische Tor erst den eigentlichen Kirchturm: ein düsteres Gebälk aus dunklem Holz, vor allem aber aus unzähligen Holztreppen, die uns in schwindelnde Höhen bringen sollten. Wer an Vampire glaubt, hat hier jedenfalls nichts verloren. Etliche Fledermäuse hatten sich hier zum Schlafen zurückgezogen, ja, regelrecht aufgehängt. Im schmalen Inneren des Turmes war es enorm dunkel, obwohl wir bei Tageslicht eingestiegen waren. Kaum auszudenken, wie unheimlich es hier in der Nacht sein musste. Angesichts solcher Horror-Umstände hieß es für uns aber, den Kopf nicht hängen lassen und sich mutig, aber dennoch vorsichtig eine Treppe nach der anderen nach oben wagen. Apropos Kopf: Dieser befand sich während dieses Aufstiegs vielmehr in einem Dauereinsatz: Zum einen musste man ihn mal nach links, mal nach rechts wegdrehen, um den unzähligen Spinnweben zu entgehen. Dann war er in einer ständigen Auf-und-ab-Bewegung: nach oben schauen, wo’s hingeht, und dann rechtzeitig ducken, wenn schon wieder ein enormer und dafür umso niedrigerer Holzbalken fast den Weg versperrte – bis wir dann im Herzstück des Turms angelangt waren: dort, wo sie zu Hause sind – die Kirchturmglocken von Amras.

Die Ankunft war wohl jener von Kolumbus im vermeintlichen Indien nicht unähnlich. Manche schwiegen ehrfürchtig und fasziniert von dem Anblick, den die schmalen Turmfenster nun wieder bei Tageslicht zuließen. Anderen entkam ein kräftiges „Wow“, und dann gab es noch einige, die die Faszination nur erfassen konnten, indem sie tatsächlich begriffen, nämlich die mächtigen und wuchtigen Glocken, sich darunterstellten und mit ihren Händen den hohlen „Bauch“ der Glocken betatschen und darüberstrichen. So weit, so gut. Aber schon die kleinste Berührung erzeugte einen enormen Klang, der für die Ohren nur schwer auszuhalten war. Kaum auszudenken, wenn es einer gewagt hätte, einen der Klöppel gegen eine dieser Glocken zu schlagen. Dennoch versuchten einige Leichtsinnige sogar, die schweren Glocken leicht hin- und herzuschaukeln. Allerdings wurden sie von unserem Betreuer rechtzeitig eingebremst – und zwar vehement. Schließlich hängt im Kirchturm von Amras nicht irgendeine Glocke, sondern unter ihren fünf Glocken ist auch eine der ältesten Glocken Tirols, ein jahrhundertealtes Werk der Glockengießerfamilie Löffler, genauer von Peter Löffler aus dem Jahr 1491. Die große, stark verzierte Marienglocke, gestiftet von Sigismund dem Münzreichen und Kaiser Maximilian persönlich. Zum Glück wusste unser Betreuer das und er wusste auch, dass die großen Glocken nur zu gewissen Zeiten, wie um 7 Uhr in der Früh oder um Punkt Mittag, geläutet werden. Oder wenn man sie vor einem Gottesdienst in der Sakristei extra freischaltet. Mittels Knöpfen brachte man sie ferngesteuert von unten zum Schwingen. Ein Schwingen, das man Dutzende Meter weiter unten fast spüren, jedenfalls hören konnte, bis dann mit einem weiteren Knopfdruck der Klöppel freigeschaltet wurde und das Geläute tatsächlich losging. Insofern bestand für uns keine wirkliche Gefahr – dachten wir. Denn dann passierte es doch: Eine vermeintlich kleine Glocke, die nur zur vollen Stunde schlägt, ging plötzlich in unserer unmittelbaren Nähe los. Angesichts unserer Begeisterung hatten wir die Zeit übersehen und wurden geradezu „vollstündig“ überrascht und obwohl wir uns die Ohren zuhielten, dröhnte es dermaßen, dass jeder Schlag sprichwörtlich durch Mark und Bein ging und wir kurz wie betäubt waren. Danach hörten wir die Englein singen, soll heißen: Süßer die Glocken nie klangen.

Tatsächlich haben die Kirchenglocken von Amras ein ganz spezielles Läuten. Unverwechselbar, aber auch unbeschreiblich. Herbert Edenhauser, der langjährige Schulwart von Amras, hat es einmal für einen Artikel versucht und die Innenharmonie der Marienglocke folgendermaßen beschrieben: „Der Unterton ist zu einer None vertieft, während die Prime nur leicht erhöht und die Quinte zu einer Quarte abgerutscht ist. Dadurch erhält die Glocke ihre völlig eigene und unverwechselbare Note.“ Wer sich nichts darunter vorstellen kann, sollte einfach einmal zur Mittagszeit nach Amras gehen. Aber Vorsicht! Auch wenn ich mir da früher nie einen Gedanken darüber gemacht habe: Der jahrelange passive Konsum von Kirchengeläute kann offensichtlich unterbewusst zur Abhängigkeit und irrationalen Heimatgefühlen führen. Anders kann ich mir das nicht erklären: Wenn ich heute zufällig einmal das banal klingende sakrale Läuten in meinem jetzigen Wohnort vernehme, bin ich manchmal enttäuscht. Ob None, Quinte oder Quarte, mir fehlt tatsächlich der warme Klang der Amraser Glocken.

Dabei habe ich dieses Läuten nicht immer gemocht. Etwa dann nicht, wenn ich als Ministrant entweder spät in der Nacht oder auch besonders früh zu einer Morgenmesse gerufen wurde und mich oft noch im Dunkeln auf den Weg zur Kirche machen musste. Und Glocken, die einen aus dem Schlaf reißen, habe ich später als Jugendlicher noch mehr gehasst (und das mag ich auch heute noch nicht). Aber als kleines Kind sich in einer finsteren und kalten Nacht dem von Scheinwerfern angestrahlten, weiß erleuchteten Kirchturm nähern zu müssen, war mitunter unheimlich. Ganz so, als ob einem die letzte Stunde schlagen sollte, strahlten die goldenen Zeiger der Uhr am Turm, die römischen Ziffern, der blaue Uhrkreis.

Die Amraser Pfarrkirche markiert für viele das Ortszentrum. (Foto: Georg Fabjan)

Besonders „brenzlig“ waren die letzten Meter: die wenigen Treppen zum kleinen Friedhof hinauf, das quietschende Eisengatter, das hinter einem mit schrillem Klirren wieder ins Schloss fiel, die eiligen Schritte über den knirschenden Kies, die roten ewigen Lichter auf den schummrigen Gräbern mit eisernen Kreuzen. Und dann tauchte sie wie aus dem Nichts aus dem Dunkeln auf: die Totenkapelle am gegenüberliegenden südlichen Eingang zur Kirche. Da hieß es, besser nicht allzu genau hinschauen, denn das Fresko über dem Portal zeigt in drastischer Weise die Geschehnisse, wie sie in Zukunft beim jüngsten Gericht womöglich für uns arme Sünder bereitgehalten werden – jedenfalls so, wie sich das der Künstler damals in jeder Hinsicht ausmalte. Und dieser Künstler hatte teuflische Horrorphantasien, bei denen die Behörden heute vermutlich stundenlang darüber diskutieren würden, ob man sie nach dem Jugendschutzgesetz nicht doch besser erst ab 16 freigeben solle. Bevor einen diese Phantasie anstecken und gedanklich via Höllenhund und Teufelsschlund nonstop verzweifelt und als Nackabatzi ins Fegefeuer schicken konnte, hieß es, schnell die Eingangstür zur Kirche aufstoßen. Der meist hell erleuchtete, goldene Innenraum gab einen himmlischen Kontrast zu den höllischen Bildern ab, man wog sich in Sicherheit.