Amsterdam - Ian McEwan - E-Book

Amsterdam E-Book

Ian McEwan

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alle haben sie dieselbe Frau geliebt, die nun nicht mehr ist: ein Politiker, ein Chefredakteur, ein Komponist. Als desto gegensätzlicher erweisen sich ihre Ambitionen: Ein Freundschaftspakt wird zum Teufelspakt, als es in Amsterdam zum Showdown kommt. Ian McEwan erhielt 1998 den Booker-Preis für diese ebenso witzige wie gnadenlose Geschichte über die Mechanismen der Medien und der Macht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 217

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ian McEwan

Amsterdam

Roman

Aus dem Englischen vonHans-Christian Oeser

Titel der 1998 bei

Jonathan Cape, London,

erschienenen Originalausgabe:

›Amsterdam‹

Copyright © 1998 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1999 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Edward Hopper,

›Two Comedians‹, 1966

Für Jaco und Elisabeth Groot

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23284 4 (9.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60326 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Die Freunde, die hier sich trafen und umarmten, sind fort,

Jeder zu seinen eigenen Fehlern.

W. H. Auden, ›The Crossroads‹

[7] I

[9] 1

Zwei ehemalige Liebhaber von Molly Lane standen wartend mit dem Rücken zur Februarkälte vor der Kapelle des Krematoriums. Es war zwar schon alles gesagt worden, aber sie sagten es noch einmal.

»Sie wußte gar nicht, wie ihr geschah.«

»Als sie’s gemerkt hat, war’s schon zu spät.«

»Dann ging alles blitzschnell.«

»Arme Molly.«

»Mmm.«

Arme Molly. Es hatte mit einem Kribbeln in ihrem Arm begonnen, als sie vor dem Dorchester Grill ein Taxi herbeigewinkt hatte; eine Empfindung, die sie nicht mehr verließ. Schon nach wenigen Wochen mußte sie in ihrem Gedächtnis nach den Namen der Dinge kramen. Auf Parlament, Chemie, Propeller konnte sie noch verzichten, auf Bett, Sahne, Spiegel dagegen schon weniger. Nachdem sich zeitweise auch Akanthus und bresaola verflüchtigt hatten, holte sie ärztlichen Rat ein, rechnete sie doch mit beruhigenden Versicherungen. Statt dessen wurde sie zu Untersuchungen fortgeschickt und kehrte in gewissem Sinne nie mehr zurück. Wie rasch die lebhafte Molly zur bettlägerigen Gefangenen ihres grämlichen, krankhaft eifersüchtigen Ehegatten George geworden war! Molly, ein hinreißender, geistreicher Mensch, Restaurantkritikerin und Fotografin, [10] wagemutige Gärtnerin, die den Außenminister zum Geliebten gehabt hatte und noch im Alter von sechsundvierzig Jahren ein tadelloses Rad schlagen konnte! Die Geschwindigkeit, mit der sie in den Tiefen der Umnachtung und des Schmerzes versank, wurde Gegenstand allgemeinen Geredes: Ihr sei die Kontrolle über ihre Körperfunktionen entglitten und zugleich ihr Sinn für Humor, sie verliere sich im Ungefähren, dazwischen Ausbrüche blinder Gewalt und unartikulierte Schreie.

Der Anblick von George, der eben aus der Kapelle trat, veranlaßte Mollys Liebhaber, den mit Unkraut überwucherten Kiespfad hinaufzugehen. Sie verirrten sich in eine Anlage ovaler Rosenbeete, die durch ein Schild als »Garten der Besinnung« ausgewiesen war. Jede Pflanze war brutal bis auf wenige Zentimeter über dem gefrorenen Boden zurückgeschnitten worden, ein Vorgehen, das Molly stets beklagt hatte. Das Rasenstück war mit festgetretenen Zigarettenstummeln übersät, denn dies war ein Ort, an dem die Leute herumstanden und darauf warteten, daß die vorhergehende Trauergemeinde das Gebäude räumte. Während sie auf und ab schlenderten, nahmen die beiden alten Freunde das Gespräch wieder auf, das sie, in verschiedenen Formen, schon ein halbes dutzendmal geführt hatten, das ihnen indes mehr Trost verschaffte als das Absingen des Kirchenliedes Pilger.

Clive Linley hatte Molly zuerst kennengelernt, damals, 1968, als sie Studenten waren und im Vale of Health in einem chaotischen Haushalt mit wechselnden Bewohnern zusammenlebten.

»Ein furchtbares Ende.«

[11] Clive sah, wie sein dunstiger Atem in die graue Luft entschwebte. Es hieß, daß die Temperatur im Londoner Stadtzentrum heute minus elf Grad betrug. Minus elf. Mit der Welt ging es ernstlich bergab, wofür weder Gott noch seine Abwesenheit verantwortlich gemacht werden konnte. Des Menschen erster Ungehorsam, der Sündenfall, eine abfallende Tonfolge, eine Oboe, neun Töne, zehn Töne. Clive hatte ein absolutes Gehör und hörte sie vom G absteigen. Es war nicht nötig, sie zu notieren.

Er fuhr fort: »Ich meine, so zu sterben, ohne Bewußtsein, wie ein Tier. So geschwächt, so gedemütigt, bevor sie noch Vorkehrungen treffen oder auch nur Lebewohl sagen konnte. Unbemerkt kam’s über sie, und dann…«

Er hob die Schultern. Sie gelangten ans Ende des zertrampelten Rasens, machten kehrt und gingen zurück.

»Sie hätte sich lieber umgebracht, statt so zu enden«, sagte Vernon Halliday. 1974 hatte er ein Jahr lang mit ihr in Paris gelebt, als er seine erste Anstellung bei Reuters bekam und Molly irgend etwas mit Vogue zu tun hatte.

»Hirntot und in den Klauen von George«, sagte Clive.

George, der schwermütige, wohlhabende Verleger, der sie abgöttisch liebte und den sie, obwohl sie ihn stets schlecht behandelte, zu jedermanns Überraschung nicht verlassen hatte. Sie sahen zu ihm hin, wie er vor dem Portal stand und die Beileidsbezeigungen einer Gruppe von Trauergästen entgegennahm. Mollys Tod hatte ihn der allgemeinen Verachtung enthoben. Er schien ein, zwei Zoll gewachsen zu sein, sein Rücken war gerader, seine Stimme tiefer geworden, eine neue Würde hatte seine flehenden, gierigen Augen verengt. Er hatte sich geweigert, sie in ein [12] Heim einweisen zu lassen, und sie höchstpersönlich gepflegt. Genauer gesagt, hatte er anfangs, als die Leute sie noch besuchen wollten, ihre Besucher streng überprüft. Clive und Vernon waren auf eiserne Rationen gesetzt. Eine weitere männliche Schlüsselfigur, der Außenminister, war gleichfalls unwillkommen. Die Leute begannen zu murren, in einigen Klatschspalten gab es versteckte Hinweise. Und dann kam es nicht länger darauf an, denn es ging die Nachricht um, Molly sei auf gräßliche Weise nicht mehr sie selbst; die Leute wollten sie nicht mehr besuchen und waren froh, daß George zugegen war, um sie daran zu hindern. Clive und Vernon jedoch zogen weiterhin Genuß daraus, ihn zu hassen.

Als sie sich wieder umwandten, klingelte das Mobiltelefon in Vernons Tasche. Er entschuldigte sich, trat zur Seite und ließ seinen Freund allein weitergehen. Clive wickelte seinen Mantel um sich und verlangsamte seine Schritte. Mittlerweile mochte die schwarzgekleidete Menge vor dem Krematorium auf mehr als zweihundert Köpfe angewachsen sein. Es würde unhöflich wirken, wenn sie nicht bald hinübergingen und mit George ein paar Worte wechselten. Am Ende, als Molly im Spiegel ihr eigenes Gesicht nicht mehr erkannte, war er ihrer habhaft geworden. An ihren Liebschaften konnte er nichts ändern, doch am Ende gehörte sie ganz ihm. Clives Füße wurden taub, und als er aufstampfte, schenkte der Rhythmus ihm das Motiv von zehn absteigenden Tönen wieder, ritardando, ein Englischhorn, und in sanft aufsteigender kontrapunktischer Gegenbewegung die Violoncelli – ihr Spiegelbild. Ihr Gesicht im Spiegel. Das Ende. Jetzt wollte er nur noch eines: die Wärme, die [13] Stille seines Arbeitszimmers, sein Klavier, die unvollendete Partitur, und ans Ende gelangen. Er hörte Vernon zum Abschied sagen: »Gut. Schreiben Sie das Lead um, und bringen Sie den Artikel auf Seite vier. Ich bin in zwei Stunden da.« Dann sagte er zu Clive: »Diese verdammten Israelis. Wir sollten hinübergehen.«

»Ich denke auch.«

Doch statt dessen spazierten sie noch einmal über den Rasen, denn schließlich waren sie hier, um Mollys zu gedenken. Vernon – er hatte sichtlich Mühe, sich zu konzentrieren – widerstand den Belangen seiner Redaktionsstube: »Sie war eine wunderbare Frau. Erinnerst du dich noch an den Snookertisch?«

Weihnachten 1978 hatte eine Gruppe von Freunden ein großes Haus in Schottland gemietet. Molly und der Mann, mit dem sie damals ging, ein Kronanwalt namens Brady, führten auf einem ausrangierten Snookertisch das Tableau »Adam und Eva« vor, er in seinem Slip, sie in BH und Höschen, mit einem Queueständer als Schlange und einer roten Kugel als Apfel. So allerdings, wie die Geschichte der Nachwelt überliefert und in einem Nachruf festgehalten worden war, ja wie sie selbst von einigen der Anwesenden erinnert wurde, hatte Molly »am Heiligabend in einem schottischen Schloß nackt auf einem Snookertisch getanzt«.

»Eine wunderbare Frau«, wiederholte Clive.

Als sie so tat, als ob sie in den Apfel beißen wollte, hatte sie, eine Hand auf die ausladende Hüfte gestützt, ihm, Clive, direkt in die Augen geschaut und, während sie geräuschvoll kaute, verführerisch gelächelt wie die Parodie einer Nutte in einem Varieté. Er dachte, die Art, wie sie [14] seinem Blick standhielt, sei ein Zeichen, und siehe da, in jenem April waren sie wieder zusammen. Sie zog in das Studio in South Kensington ein und blieb den Sommer über dort wohnen. Das war etwa zu der Zeit, als sie mit ihrer Restaurantkolumne erste Erfolge erzielte, als sie im Fernsehen auftrat und den Michelin Gastronomique als »Kitsch der Küche« anprangerte. Es war auch die Zeit seines eigenen Durchbruchs, der Variationen für Orchester in der Festival Hall. Ein zweiter Anlauf. Vermutlich hatte sie sich nicht verändert, er dagegen schon. Nach zehn Jahren hatte er genug gelernt, um sich von ihr etwas beibringen zu lassen. Er hatte stets der »Dran, drauf und drüber«-Schule angehört. Sie hatte ihm sexuelles Geschick beigebracht, die Notwendigkeit gelegentlichen Stillhaltens. Lieg still, so, sieh mich an, sieh mich richtig an. Wir sind eine Zeitbombe. Er war beinahe dreißig, nach heutigen Maßstäben ein Spätentwickler. Als sie eine eigene Wohnung fand und ihre Taschen packte, bat er sie, ihn zu heiraten. Sie küßte ihn und flüsterte ihm das Zitat ins Ohr: He married a woman to stop her getting away / Now she’s there all day. Sie hatte recht, denn nachdem sie ausgezogen war, liebte er es mehr denn je, allein zu sein, und komponierte in weniger als einem Monat die Drei Herbstlieder.

»Hast du je etwas von ihr gelernt?« fragte Clive plötzlich.

Mitte der achtziger Jahre, während der Ferien auf einem Gut in Umbrien, hatte auch Vernon zum zweiten Mal in den Apfel gebissen. Damals war er Romkorrespondent der Zeitung gewesen, deren Chefredakteur er jetzt war, und verheiratet.

[15] »Ich kann mich an Sex nie erinnern«, sagte Vernon nach einigem Zögern. »Ich bin sicher, es war herrlich. Aber ich erinnere mich noch daran, was sie mir alles über porcini beigebracht hat, wie man sie sammelt, wie man sie zubereitet.«

Clive nahm an, daß dies eine Ausflucht war, und entschied sich gegen Vertraulichkeiten von seiner Seite. Er blickte zum Kapelleneingang hin. Sie würden hinübergehen müssen. Er überraschte sich selbst mit der ziemlich brutalen Bemerkung: »Weißt du, ich hätte sie heiraten sollen. Als ihr Verfall einsetzte, hätte ich sie mit einem Kissen oder dergleichen umgebracht und sie vor jedermanns Mitleid bewahrt.«

Vernon lachte, während er seinen Freund vom Garten der Besinnung fortlotste. »Leicht gesagt. Ich sehe dich schon Gefängnishofhymnen für Sträflinge schreiben, wie diese, wie heißt sie doch gleich, die Suffragette.«

»Ethel Smyth. Besser als die würde ich es allemal hinkriegen.«

Mollys Freunde, aus denen die Trauergemeinde sich zusammensetzte, hätten es vorgezogen, sich nicht in einem Krematorium aufhalten zu müssen, doch George hatte deutlich gemacht, daß es keinen Gedächtnisgottesdienst geben würde. Er wollte nicht, daß auf der Kanzel von St.Martin’s oder St.James’s drei frühere Liebhaber in aller Öffentlichkeit Notizen verglichen oder Blicke tauschten, wenn er seine eigene Rede hielt. Als Clive und Vernon auf ihn zutraten, hörten sie das vertraute Gebrabbel einer Cocktailparty. Keine Tabletts mit Champagner, keine Restaurantwände, die den Schall zurückwarfen, ansonsten jedoch hätte man sich ebensogut auf einer weiteren [16] Vernissage befinden können, bei einem weiteren Medienereignis. So viele Gesichter, die Clive noch nie bei Tageslicht gesehen hatte und die schauerlich aussahen, wie Leichname, aus den Gräbern auffahrend, um die neue Tote willkommen zu heißen. Belebt von diesem jähen Anfall von Misanthropie, bewegte er sich geschmeidig durch den Lärm, überhörte seinen Namen, als man nach ihm rief, zog seinen Ellbogen ein, wenn man daran zupfte, und hielt weiter auf George zu, der sich gerade mit zwei Frauen und einem verhutzelten alten Kauz mit Filzhut und Stock unterhielt.

»Es ist zu kalt, wir müssen gehen«, hörte Clive jemanden ausrufen, doch für den Augenblick vermochte sich der Zentripetalkraft eines gesellschaftlichen Anlasses niemand zu entziehen. Vernon, der von dem Besitzer eines Fernsehsenders beseite genommen worden war, hatte er bereits aus den Augen verloren.

Endlich hatte Clive Gelegenheit, sein aufrichtiges Mitgefühl angemessen herauszukehren und George die Hand zu drücken. »Eine wunderbare Zeremonie.«

»Es ist sehr nett von dir, daß du gekommen bist.«

Ihr Tod hatte ihn geadelt. Der ruhige Ernst paßte überhaupt nicht zu ihm – er hatte stets ebenso bedürftig wie verdrießlich dreingeschaut; ängstlich besorgt, daß man ihn mochte, aber außerstande, Freundlichkeit als selbstverständlich anzusehen. Die Bürde der Superreichen.

»Entschuldige«, fügte er hinzu, »das sind die Schwestern Finch – Vera und Mini –, die Molly aus ihrer Zeit in Boston kannten. Clive Linley.«

Sie schüttelten einander die Hand.

»Sie sind der Komponist?« fragte Vera oder Mini.

[17] »Richtig.«

»Ist mir eine große Ehre, Mr.Linley. Für ihre Violinprüfung hat meine elfjährige Enkelin Ihre Sonatine einstudiert. Hat ihr ausnehmend gut gefallen.«

»Freut mich zu hören.«

Der Gedanke, daß seine Musik von Kindern gespielt wurde, deprimierte ihn leicht.

»Und das«, sagte George, »ist Hart Pullman, ebenfalls aus den Staaten.«

»Hart Pullman! Endlich! Erinnern Sie sich noch? Ich habe Ihre Rage-Gedichte für Jazzband vertont.«

Pullman war der Beat-Lyriker, der letzte Überlebende der Kerouac-Generation, ein verschrumpftes, echsenhaftes Männlein, das Mühe hatte, seinen Hals so zu verdrehen, daß es zu Clive hinaufschauen konnte. »Dieser Tage erinnere ich mich an nichts mehr, nicht an den kleinsten Fick«, sagte er liebenswürdig mit zwitschernder Fistelstimme. »Aber wenn Sie es sagen, wird es wohl stimmen.«

»Aber an Molly erinnern Sie sich doch noch?« fragte Clive.

»An wen?« Zwei Sekunden lang verzog Pullman nicht das Gesicht, dann lachte er gackernd und umklammerte mit mageren, weißen Fingern Clives Unterarm. »Aber natürlich«, sagte er mit seiner Bugs-Bunny-Stimme. »Molly und ich kannten uns schon ’65 im East Village. Und ob ich mich an Molly erinnere. Junge, Junge!«

Clive verhehlte seine Beunruhigung, als er nachrechnete. Im Juni dieses Jahres mußte sie sechzehn geworden sein. Warum hatte sie es nie erwähnt? Scheinbar unbeteiligt stieß er nach.

[18] »Sie kam im Sommer herüber, nehme ich an?«

»Nee, nee. Sie kam am Vorabend von Dreikönige auf meine Party. Was für ein Mädel, was, George?«

Also Unzucht mit Minderjährigen. Drei Jahre vor ihm. Von Hart Pullman hatte sie ihm nie erzählt. Und war sie nicht zur Uraufführung von Rage gekommen? War sie hinterher nicht mit ins Restaurant gegangen? Clive konnte sich an nichts erinnern. Nicht an den kleinsten Fick.

George hatte sich abgewandt, um mit den Schwestern aus Amerika zu reden. Clive, der fand, daß er nichts zu verlieren hatte, hielt eine Hand vor den Mund und beugte sich hinab, um in Pullmans Ohr zu flüstern.

»Du hast sie nie gefickt, du verlogenes Reptil. Dazu hätte sie sich nicht herabgelassen.«

Er hatte gar nicht vorgehabt, schon jetzt zu gehen, denn er wollte Pullmans Antwort hören, doch in diesem Augenblick drängten von links und rechts zwei lärmende Gruppen herbei, die eine, um George zu kondolieren, die andere, um den Dichter zu ehren, und in dem Gewoge fand Clive seine Freiheit wieder und ging davon. Hart Pullman und Molly als Teenager. Angeekelt schob er sich weiter durch die Menge, bis er zu einer kleinen Lichtung gelangte. Dort blieb er, glücklicherweise unbehelligt, stehen und sah sich nach den Freunden und Bekannten um, die in Gespräche vertieft waren. Er fand, er war der einzige, der Molly wirklich vermißte. Hätte er sie geheiratet, hätte er sich womöglich noch schlimmer aufgeführt als George und nicht einmal diese Versammlung geduldet. Und ihre Hilflosigkeit auch nicht. Aus dem kleinen, fast quadratischen braunen Plastikfläschchen hätte er dreißig Schlaftabletten [19] auf seine Hand geschüttet. Stößel und Mörser, ein Glas Whisky. Drei Eßlöffel voll weißgelben Breis. Molly hätte sie zu sich genommen und ihn angesehen, als wisse sie Bescheid. Mit der Linken hätte er sie unterm Kinn gefaßt, um aufzufangen, was ihr aus den Mundwinkeln floß. Er hätte sie im Arm gehalten, bis sie eingeschlafen wäre, und noch die ganze Nacht hindurch.

Außer ihm fehlte sie keinem hier. Er sah sich unter seinen Mittrauernden um, von denen viele in seinem Alter waren, in Mollys Alter, plus minus ein oder zwei Jahre. Wie wohlhabend, wie einflußreich sie waren, wie sie prosperiert hatten unter einer Regierung, die sie beinahe siebzehn Jahre lang verachtet hatten! Talking ’bout my generation. Diese Tatkraft, dieser unverschämte Dusel! Im Sozialstaat der Nachkriegszeit genährt von Milch und Honig des Staates, danach verwöhnt vom zaghaft-unschuldigen Wohlstand ihrer Eltern, mündig dann in einer Zeit der Vollbeschäftigung mit neuen Universitäten und bunten Taschenbüchern, dem augusteischen Zeitalter des Rock'n'Roll, der erschwinglichen Ideale. Als die Leiter hinter ihnen bröckelte, als der Staat seine Zitzen verweigerte und zum Hausdrachen wurde, saßen sie schon im trockenen, konsolidierten sich und ließen sich häuslich nieder, um dieses oder jenes zu bilden – Geschmack, Meinungen, Vermögen.

Er hörte, wie eine Frau fröhlich rief: »Mir frieren Hände und Füße ab, ich gehe jetzt!« Als er sich umdrehte, bemerkte er hinter sich einen jungen Mann, der ihn gerade an der Schulter berühren wollte. Er war Mitte Zwanzig, glatzköpfig oder kahlgeschoren und trug einen grauen Anzug ohne Mantel.

[20] »Mr.Linley? Tut mir leid, daß ich Sie aus Ihren Gedanken reiße«, sagte der Mann und zog seine Hand zurück.

Clive nahm an, daß es sich um einen Musiker handelte oder um jemanden, der ihn um ein Autogramm bitten wollte, und ließ sein Gesicht zu einer Maske der Langmut erstarren. »Ist schon recht.«

»Ob Sie sich wohl auf einen Moment zum Außenminister hinüberbemühen könnten? Er ist sehr daran interessiert, Sie kennenzulernen.«

Clive schürzte die Lippen. Zwar wollte er Julian Garmony nicht vorgestellt werden, doch wollte er sich auch nicht die Mühe machen, ihn zu brüskieren. Kein Entkommen. »Zeigen Sie mir den Weg«, sagte er und wurde an Grüppchen umstehender Freunde vorbeigeführt, von denen einige errieten, wohin er ging, und ihn seinem Führer abspenstig zu machen suchten.

»He, Linley. Keine Unterredung mit dem Feind!«

In der Tat, der Feind. Was hatte sie nur an ihm gefunden? Der Typ sah eigenartig aus: großer Schädel, gewelltes, schwarzes Haar, das noch ganz sein eigenes war, eine entsetzliche Gesichtsblässe, schmale, unsinnliche Lippen. Seinen Lebensunterhalt auf dem politischen Markt hatte er sich verdient, indem er eine nicht eben außergewöhnliche Palette von fremdenfeindlichen und extremen strafrechtlichen Ansichten feilbot. Vernon hatte eine schlichte Erklärung parat gehabt: ein hochrangiger Arsch, scharf wie Holzessig. Aber das hätte sie auch anderswo finden können. Es mußte auch an jenem verborgenen Riecher gelegen haben, mit dessen Hilfe er dort angelangt war, wo er sich jetzt befand, und der ihn im Augenblick [21] dazu trieb, dem Premierminister seinen Posten streitig zu machen.

Der Referent bugsierte Clive in eine hufeisenförmig arrangierte Gruppe um Garmony, der offenbar eine Ansprache hielt oder eine Geschichte zum besten gab. Er unterbrach sich, um seine Hand in Clives zu schieben und, als seien sie unter sich, eindringlich zu murmeln: »Schon seit Jahren möchte ich Ihre Bekanntschaft machen.«

»Guten Tag.«

Damit alle ihn hören konnten – darunter zwei junge Männer mit dem angenehmen, offen unaufrichtigen Aussehen von Klatschkolumnisten –, sprach Garmony lauter. Der Minister hatte seinen Auftritt, und Clive diente ihm als Requisit. »Meine Frau kennt einige Ihrer Klavierstücke auswendig.«

Schon wieder. Clive überlegte. War sein Talent so domestiziert und gezähmt, wie manch einer seiner jüngeren Kritiker behauptete – der Górecki der denkenden Bevölkerung? »Sie muß gut sein«, sagte er.

Es war schon eine Weile her, daß er einen Politiker aus nächster Nähe gesehen hatte, ihm war das Huschen der Augen entfallen, die rastlose Ausschau nach neuen Zuhörern oder Abtrünnigen, nach der Nähe einer Persönlichkeit von höherem Rang oder einer anderen wichtigen Gelegenheit, die womöglich ungenutzt verstrich.

Garmony sah sich um und versicherte sich seines Publikums. »Sie war hochintelligent. Goldsmith’s, dann Guildhall. Ihr stand eine fabelhafte Karriere bevor…« Dem komischen Effekt zuliebe legte er eine Kunstpause ein. »Dann lernte sie mich kennen und verlegte sich auf Medizin.«

[22] Nur der Referent und eine weitere Mitarbeiterin des Ministers kicherten. Die Journalisten blieben ungerührt. Vielleicht hatten sie das alles schon einmal gehört.

Der Blick des Außenministers hatte sich wieder an Clive festgehakt. »Da war noch etwas. Ich wollte Sie zu Ihrem Auftragswerk beglückwünschen. Zur Millenniumssinfonie. Wußten Sie, daß die Entscheidung auf Kabinettsebene gefallen ist?«

»Ich habe davon gehört. Und Sie haben für mich gestimmt.«

Clive gestattete sich einen Anflug von Überdruß, Garmony indes reagierte, als habe er ihm überschwenglich gedankt. »Das war das mindeste, was ich tun konnte. Einige meiner Kollegen wollten den Burschen da, diesen Popstar, den Ex-Beatle. Wie auch immer, wie kommen Sie voran? Fast fertig?«

»Fast.«

Seine Gliedmaßen waren seit einer halben Stunde steif, doch erst jetzt drang die Kälte bis in sein Innerstes. In der Wärme seines Arbeitszimmers säße er jetzt in Hemdsärmeln da und würde an den letzten Seiten dieser Sinfonie arbeiten, deren Uraufführung in wenigen Wochen erfolgen sollte. Zwei Abgabetermine hatte er bereits überschritten, und er sehnte sich nach Hause.

Er hielt Garmony die Hand hin. »Schön, Sie kennengelernt zu haben. Ich muß mich jetzt auf den Weg machen.«

Aber der Minister ergriff seine Hand nicht, sondern sprach über ihn hinweg, denn die Gegenwart des berühmten Komponisten ließ sich noch weidlich ausschlachten.

»Wissen Sie, ich habe oft gedacht, was meine eigene [23] Arbeit lohnenswert macht, ist die Freiheit von Künstlern wie Ihnen, ihrer Arbeit nachzugehen…«

Es folgte dergleichen mehr. Clive schaute zu, seine Miene verriet in nichts seinen wachsenden Widerwillen. Auch Garmony gehörte zu seiner Generation. Das hohe Amt hatte seine Fähigkeit ausgehöhlt, mit einem Fremden von gleich zu gleich zu reden. Vielleicht war es das, was er ihr im Bett geboten hatte: der Kitzel des Unpersönlichen. Ein Mann, der sich vor Spiegeln zu verrenken beginnt. Aber sie hatte doch sicherlich Gefühlswärme bevorzugt. Lieg still, sieh mich an, sieh mich richtig an. Vielleicht war es nur ein Irrtum, Molly und Garmony. Wie auch immer, der Gedanke war Clive unerträglich.

Der Außenminister kam zum Schluß: »Dies sind die Traditionen, die uns zu dem machen, was wir sind.«

»Ich frage mich«, sagte Clive zu Mollys ehemaligem Liebhaber, »ob Sie immer noch für die Todesstrafe eintreten.«

Garmony war durchaus in der Lage, mit diesem plötzlichen Themenwechsel fertig zu werden, aber sein Blick wurde stahlhart.

»Ich glaube, die meisten Menschen kennen meine diesbezügliche Position. Einstweilen bin ich damit zufrieden, die Auffassung des Parlaments und die kollektive Verantwortung des Kabinetts zu akzeptieren.« Er hatte sich aus der Affäre gezogen, gleichzeitig knipste er seinen Charme an.

Die beiden Journalisten schoben sich mit ihren Notizbüchern etwas näher heran.

»In einer Rede sollen Sie einmal gesagt haben, Nelson Mandela verdiene es, gehängt zu werden.«

[24] Garmony, der im folgenden Monat Südafrika besuchen sollte, lächelte gelassen. Die Rede war unlängst von Vernons Zeitung in recht verleumderischer Absicht ans Tageslicht gezerrt worden. »Ich glaube nicht, daß Sie Leuten Dinge vorhalten können, die sie als hitzköpfige Studenten geäußert haben.« Er hielt inne und lachte glucksend. »Ich wette, vor fast dreißig Jahren haben Sie selber auch ein paar ziemlich schockierende Dinge geäußert oder gedacht.«

»Gewiß«, sagte Clive. »Genau darauf wollte ich hinaus. Wenn Sie sich damals durchgesetzt hätten, bestünde heute wohl kaum noch eine Chance zum Umdenken.«

Garmony neigte kurz bejahend den Kopf.

»Ein ziemlich stichhaltiges Argument, Mr.Linley. Doch Irren ist menschlich, kein Rechtssystem der Welt ist davon frei.«

Dann tat der Außenminister etwas ganz Außergewöhnliches, das Clives Theorie über die Auswirkungen öffentlicher Ämter vollkommen erschütterte und das er im nachhinein zu bewundern genötigt war. Garmony streckte die Hand aus, faßte Clive mit Zeigefinger und Daumen am Mantelrevers, zog ihn zu sich heran und sprach mit einer Stimme, die kein anderer verstehen konnte: »Als ich Molly das allerletzte Mal sah, hat sie mir gesagt, daß Sie impotent sind und es schon immer waren.«

»Völliger Unsinn. Das hat sie nie gesagt.«

»Natürlich müssen Sie das bestreiten. Die Sache ist nur die, wir könnten es in aller Lautstärke vor den Herren dort drüben erörtern, oder Sie gehen mir von der Pelle und verabschieden sich höflich. Soll heißen: Verpiß dich!«

Garmony sprach schnell, aber mit Nachdruck, und so[25] bald er zu Ende geredet hatte, lehnte er sich zurück, drückte dem Komponisten strahlend die Hand und rief seinem Referenten zu: »Mr.Linley war so freundlich, die Einladung zu einem Dinner anzunehmen.« Letzteres mochte ein verabredeter Code gewesen sein, denn der junge Mann trat prompt herbei, um Clive hinwegzugeleiten, während Garmony ihm den Rücken kehrte und zu den Journalisten sagte: »Großartiger Mann, dieser Clive Linley. Meinungsverschiedenheiten austragen und doch Freunde bleiben – die Quintessenz zivilisierten Lebens, meinen Sie nicht?«

[26] 2

Eine Stunde später setzte Vernons Wagen, der dafür, daß er einen Chauffeur hatte, aberwitzig klein war, Clive in South Kensington ab. Vernon stieg aus, um sich von ihm zu verabschieden.

»Gräßliches Begräbnis.«

»Nicht mal was zu trinken.«

»Arme Molly.«

Clive sperrte auf und trat ins Haus. In der Diele blieb er stehen und ließ die Wärme der Heizkörper und die Stille auf sich wirken. Auf einem Zettel seiner Haushälterin stand, daß in seinem Arbeitszimmer eine Thermoskanne Kaffee auf ihn warte. Noch immer im Mantel, ging er hinauf, nahm einen Bleistift und einen Bogen Notenpapier zur Hand und kritzelte, am Konzertflügel lehnend, die zehn absteigenden Töne hin. Er stellte sich ans Fenster, starrte auf das Blatt und versuchte sich die kontrapunktisch aufsteigenden Celli vorzustellen. Es gab viele Tage, an denen der Auftrag, zur Jahrtausendwende eine Sinfonie zu komponieren, eine lächerliche Zumutung war: eine bürokratische Einmischung in seine künstlerische Autonomie; dann das Hin und Her in der Frage, wo Giulio Bo, der große italienische Dirigent, mit dem Britischen Sinfonieorchester proben könne; die milde, aber anhaltende Belästigung durch Nachstellungen einer allzu aufgeregten oder feindseligen Presse; [27] die Tatsache, daß er bereits zwei Abgabetermine überschritten hatte – bis zur Jahrtausendwende selbst war es noch Jahre hin. Aber es gab auch Tage wie heute, da er an nichts anderes als an die Musik selbst dachte, die ihn ganz in ihren Bann schlug. Seine vor Kälte noch immer fühllose Linke in die Manteltasche gesteckt, setzte er sich an den Flügel und spielte den Abschnitt, wie er ihn aufgeschrieben hatte: langsam, chromatisch und rhythmisch so vertrackt, daß er zwei unterschiedliche Taktvorzeichnungen vorgesehen hatte. Daraufhin improvisierte er, immer noch mit der Rechten und in halbem Tempo, die aufsteigende Linie der Celli, die er mehrere Male abgewandelt spielte, bis er zufrieden war. Er arbeitete den neuen Part aus, der im obersten Bereich des Tonumfangs der Celli lag und nach furioser, aber gebändigter Energie klingen würde. Diese später, im letzten Abschnitt der Sinfonie, freizusetzen wäre eine Freude.