An den Drehschrauben filmischer Spannung - Jana Zündel - E-Book

An den Drehschrauben filmischer Spannung E-Book

Jana Zündel

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Beschreibung

„The birds will sing at 1.45“: Mit dieser Notiz informiert Alfred Hitchcock in Sabotage (USA 1936) das Publikum über eine bevorstehende Bombenexplosion. Dem Jungen, der dieser Katastrophe ausgesetzt ist, wird dieses Wissen gänzlich vorenthalten – ein Paradebeispiel der Suspense, dem von Hitchcock beschriebenen Spannungskonzept, dass sich durch einen Informationsvorsprung des Publikums gegenüber der in Gefahr schwebenden Figur auszeichnet. Das Mehrwissen des Zuschauers ist eine verbreitete Strategie in Spannungsszenen, doch ist sie existenziell? Welcher Instrumentarien bedient sich der Film noch, um den Zuschauer in bange Erwartung zu versetzen? Wird das Spannungsangebot der betreffenden Szene nicht auch dadurch konstituiert, dass die verrinnende Zeit bis zur Explosion angezeigt wird und der ahnungslose Junge mit der Bombe im Gepäck einen Bus besteigt? Welche Funktionen nehmen Zeit und Raum in Gefahrensituationen ein? Mit der detaillierten Analyse von Szenen aus den Hitchcock-Filmen North by Northwest, Notorious, Rear Window, Sabotage, Saboteur, Strangers on a Train, The Birds und The Man who knew too much widmet sich Jana Zündel den Wechselwirkungen von Information, Zeit und Raum bei der Ausbildung und Entfaltung filmischer Spannung. Sie setzt sich mit Strategien wie Suspense, Deadlines und klaustrophobischen Settings auseinander und lotet dabei sowohl ihre Variationen als auch mögliche Gegenentwürfe aus. Das eigens entwickelte flexible Analysemodell bietet für die Forschung neue Ansätze, die insbesondere dem Schichtencharakter der spannungsreichen Szenen Rechnung tragen.

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Zeit und Raum im Film

2.1 Zeitrepräsentation im Film: Erzählzeit und erzählte Zeit

2.2 Raumkonstruktion im Film: Räume der Handlung und Handlungsräume

3. Spannung im Film

3.1 Definitionen filmischer Spannung

3.2 Das Spiel mit dem Wissen des Zuschauers

4. Zeitstrategien in Spannungssituationen

4.1 Aufgeschoben ist nicht aufgehoben – Verzögerungen bei Hitchcock

4.1.1 Im Diskurs vorenthalten

4.1.2 Diegetischer Aufschub

4.2 Unter Zeitdruck ins Verderben – Deadlines bei Hitchcock

4.2.1 Mit dem Blick auf die Uhr

4.2.2 Zeitangaben ohne Zeit

4.3 Informationsgefälle und Zeitdramaturgien – ein Zwischenfazit

5. Raumstrategien in Spannungssituationen

5.1 Der invariante Handlungsraum

5.2 Transformationen des Handlungsraums

5.2.1 Jetzt wird es eng – Klaustrophobische Raumdynamiken

5.2.2 Flucht nach vorne – Exploratorische Raumdynamiken

6. Fazit und Ausblick

Bibliografie

Filmografie

Anhang

1. Einstellungsprotokoll: The Birds

2. Einstellungsprotokoll: Sabotage

3. Einstellungsprotokoll: The Man who knew too much

Reihe

Impressum

1. Vorwort

 

Jana Zündels Masterarbeit trägt einen schlichten, ja bescheidenen Titel: Um nichts anderes als die Parameter von Zeit und Raum bei der Erzeugung filmischer Spannung geht es ihr – und dies ausgerechnet am Beispiel des Werks von Alfred Hitchcock: Ist darüber denn nicht alles gesagt und geschrieben? Bedenken dieser Art erweisen sich als unangebracht angesichts der Souveränität, mit der sich die Verfasserin ihrem Gegenstand nähert, und der Präzision, mit der sie Erkenntnisse am Material sichert und damit der Spannungsforschung neue Impulse verleiht.

Die Untersuchung folgt dem Vorsatz, pauschalisierenden Urteilen mit einem differenzierten Analysemodell zu begegnen: „Inwiefern tragen die raumzeitlichen Bedingungen und Wendungen einer Sequenz zu Aufbau und Steigerung von Spannung bei? Wie beeinflussen diese Größen die Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse des Zuschauers? Wie werden Zeit- und Raumdynamiken kombiniert?“, so die leitenden Fragen der Untersuchung.

Die Analyse von Szenen aus NORTH BY NORTHWEST, NOTORIOUS, REAR WINDOW, SABOTAGE, SABOTEUR, STRANGERS ON A TRAIN, THE BIRDS und THE MAN WHO KNEW TOO MUCH erarbeitet zunächst eine differenzierte Darlegung der zeit- und informationsbezogenen Strategien, welche die bisherigen Forschungsergebnisse erweitern und modifizieren. So gelangt Zündel etwa zu einer binnendifferenzierten Betrachtung der Dramaturgie der Spannungsszene und arbeitet deren grundsätzliche Gliederung in eine Phase der Ausformulierung und eine der Problemlösung heraus, die mit ganz unterschiedlichen Strategien und Wissensverteilungen arbeiten.

Im zweiten Teil der Analyse ergänzt Zündel ihre systematische Aufschlüsselung des Materials um den Aspekt des Raums. Sie gelangt zu neuen Einsich­ten in die Funktion des Raumes in Spannungsszenen und verzahnt darüber hinaus die Wirkmechanismen der Inszenierungsentscheidungen mit­einander – eine raffinierte, elegante und, wie sich zeigt, überaus effektive Anlage der Analyse. Die Verfasserin widmet sich mithin der „[...] Frage, welche Raumkonzepte und -dy­namiken zur Spannungssteigerung genutzt werden“, und stellt der „populären Strategie“ der „Verengung des Raums“ und der „damit verbundenen Beklemmung des Protagonisten“ eine abwägende Betrachtung gegenüber. Verengung erweist sich als gän­gige, aber eben nicht alleinige Strategie in der Dynamik des Umgangs mit dem Hand­lungsraum, der „Eingrenzung“ steht die „Erweiterung“ gegenüber.

Zündel gelingt es, diese Parameter theoretisch und analytisch zu sezieren und vorzuführen, wie sie auf unterschiedlichste Weisen ineinan­dergreifen und einander zuarbeiten. Allzu simple Formeln von Spannung als „Verknappung der Zeit“ und „Verengung des Raums“ bei gleich­zeitigem Mehrwissen der Zuschauer gegenüber den gefährdeten Figuren werden geprüft und relativiert, die Kombinationen und Modulatio­nen von Spannung präzise herausgearbeitet. Darzulegen, welche Interdependenzen hier bestehen: Das ist zent­raler Ertrag der Untersuchung, die zum Schluss auf Fragen nach somatischer Em­pathie und der Moral für das Spannungserleben des Zuschauers geöffnet wird.

 

März 2016 BrittaHartmann

2. 1. Einleitung

Zu den elementaren Aufgaben filmischer Erzähltexte gehört das Fingieren einer Welt. Dieser Prozess wird auf die Entwurfs- und Verstehenstätigkeiten des Zuschauers ausgerichtet, der in der Rezeption die Diegese hervorbringt (vgl. Wulff 2007, 47). Als gemeinsames Produkt aus Textangebot und Zuschaueraktivität erweist sich die erzählte Welt als modellhafte Einheit mit eigenen raumzeitlichen Beziehungen (vgl. ebd., 40). Letztere sind für den Prozess des Diegetisierens von zentraler Bedeutung. Die filmische Auflösung des fiktionalen Raum-Zeit-Gefüges beeinflusst, welche Zusammenhänge der Rezipient zwischen den repräsentierten Ereignissen herstellt (vgl. Branigan 2006, 39). Die Darstellung von Zeit und Raum muss dabei nicht der Alltagswahrnehmung entsprechen. Im Regelfall weichen die räumlichen und zeitlichen Anordnungen im Film deutlich von realweltlichen Maßstäben ab, um den dramaturgischen Zielen des Spielfilms zu entsprechen. Eine dieser Aufgaben erweist sich in den meisten fiktionalen Filmen als unentbehrlich und ist für Publikum und Forschung gleichermaßen ein Phänomen: die Spannung. Sie gilt als Grundqualität eines Films (vgl. Wuss 1993, 101), in bestimmten Genres wird ihr sogar noch mehr Bedeutung zugeschrieben. Ob ein Film als spannend empfunden wird, ist einerseits eine subjektive Frage, da Spannungserleben die kognitive Mitarbeit des Zuschauers voraussetzt. Andererseits obliegen der Aufbau und die Steigerung von Spannung dem Geschick der Filmschaffenden. Das jeweilige Spannungskonstrukt stellt ein textuelles Angebot an den Zuschauer dar, der die Kontrolle über sein eigenes Spannungserleben hat (vgl. Wulff 2002, o.S.).

Spannung ist sowohl ein Charakteristikum des Films als Gesamttext als auch ein wesentlicher Faktor in der Rezeption einzelner Szenen. Unter der Annahme, dass eine mehr oder minder spezifische Frage- und Zielstellung einen Film von Beginn an bestimmt, ergibt sich Spannung aus den möglichen (gegensätzlichen) Antworten, die im Laufe der Handlung angedeutet und spezifiziert werden. Spannung geht zum einen aus handlungsübergreifenden Fragen hervor, die meist mit Ende des Films aufgelöst werden. Zum anderen ist sie in einzelnen Sequenzen präsent, in denen wiederum Teilfragen aufgeworfen und beantwortet werden (vgl. Carroll 1996, 96ff.). Dabei wird Spannung durch unterschiedlichste Faktoren bestimmt, die von den jeweiligen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben der Diegese und den filmspezifischen Mitteln geprägt werden. Zu diesen Faktoren gehört das Informationsgefälle zwischen Zuschauer und Filmfiguren. In diesem Zusammenhang kommt in der Forschungsliteratur immer wieder das Suspense-Modell des Regisseurs Alfred Hitchcock zur Sprache. Letzteres bezieht sich auf Szenen, in denen das Publikum einen signifikanten Informationsvorsprung gegenüber der Figur hat. Die Dramaturgie von Suspense-Situationen, wie Hitchcock sie mit dem „Die Bombe unter dem Tisch“-Beispiel beschreibt (vgl. Truffaut 1967, 52), wurde in zahlreichen filmwissenschaftlichen Publikationen umfassend diskutiert (vgl. Borringo 1980, Carroll 1996, Wulff 1993a, Vorderer/Wulff/Friedrichsen 1996, Goetsch 1997 etc.), wobei jedoch selten hinterfragt wurde, wie sich das Wissensgefälle zwischen Zuschauern und Figuren anderweitig gestalten lässt, d.h. auf welche informationellen Strategien und Modifikationen einzelne Spannungssituationen tatsächlich zurückgreifen. Nicht immer handelt es sich bei einer spannenden Szene um eine Variante des Hitchcock’schen Suspense-Konzeptes. Der Regisseur selbst spielte mit verschiedenen Ausprägungen von Spannung (vgl. Stiegler 2011, 336ff.). Die vorliegende Abschlussarbeit befasst sich deshalb mit konkreten Spannungsszenen aus dem Œuvre des Regisseurs, um diese Diskrepanzen herauszuarbeiten und ein differenziertes Analysemodell zu entwerfen. Ausgehend von der Informationsverteilung werden die Faktoren „Zeit“ und „Raum“ auf ihre Funktion in der jeweiligen Spannungssituation untersucht. Inwiefern tragen die raumzeitlichen Bedingungen und Wendungen einer Szene zu Aufbau und Steigerung von Spannung bei? Wie beeinflussen diese Größen die Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse des Zuschauers? Wie werden Zeit- und Raumdynamiken kombiniert?

Trotz der ausschließlichen Betrachtung von Szenen aus Alfred Hitchcocks Filmen ist es nicht das Anliegen dieser Arbeit, eine spezifische „Handschrift“ des Regisseurs in Spannungsszenen auszumachen. Der Forschungsstand ist diesbezüglich mehr als ausreichend. Die Untersuchung verschiedener Sequenzen aus dem Hitchcock’schen Repertoire soll allerdings die Argumentation dahingehend unterstützen, dass sich auch bei ein und demselben Filmemacher unterschiedlichste Dramaturgien der Spannung herausarbeiten lassen. Das vielbesprochene informationelle Konzept der „Suspense“ ist keine Doktrin für Spannungsszenen. Hinsichtlich des Informationsgrades des Zuschauers gegenüber den Figuren entfalten sich bei Hitchcock ebenso viele Möglichkeiten wie hinsichtlich der Behandlung von Raum und Zeit im Film. Wie diese diegetischen Faktoren aufeinander einwirken und mittels filmischer Parameter fingiert und manipuliert werden, soll in der vorliegenden Arbeit anhand von ausgewählten Szenen aus folgenden Filmen erarbeitet werden: NORTH BY NORTHWEST (1959), NOTORIOUS (1946), REAR WINDOW (1954), SABOTAGE (1936), SABOTEUR (1942), STRANGERS ON A TRAIN (1951), THE BIRDS (1963) und THE MAN WHO KNEW TOO MUCH (1956). Um sich diesen vielschichtigen Spannungsszenen zu nähern und das entsprechende Analysewerkzeug festzulegen, werden zunächst die Darstellung von Zeit und Raum in filmischen Texten betrachtet. Daraufhin sollen die gängigen Definitionen und Variationen von Spannung überprüft werden, um eine Differenzierung von informationellen Strategien für die nachfolgende Analyse zu gewährleisten. Schließlich werden die genannten Filmbeispiele hinsichtlich ihrer Kombination von Informations-, Zeit- und Raumkonzepten analysiert und einander gegenübergestellt, um dem Schichtencharakter von Spannungsdramaturgien auf die Spur zu kommen.

 

3. 2. Zeit und Raum im Film

Anhand des textuellen Angebots auf der Kino-Leinwand entwirft der Zuschauer ein mit Figuren bevölkertes räumlich-zeitliches Universum (vgl. Wulff 2007, 40ff.). Jeder Film verwendet bestimmte Textvermittlungsstrategien, auf die der Rezipient mit entsprechenden Textverarbeitungsstrategien reagiert. Die Diegese ist ein Produkt aus medialen und rezeptorischen Leistungen, das der Alltagswelt zwar nicht entspricht, jedoch auf den gleichen Wahrnehmungsgrößen aufbaut: Zeit und Raum bilden sowohl den grundlegenden Rahmen der fiktionalen Welt als Gesamtmodell als auch einflussreiche Faktoren in der Repräsentation einzelner Textabschnitte. Die kinematographische Zeit- und Raumdarstellung ist eines der „Elemente, in denen sich der kommunikative Verkehr manifestiert, in den der Film eingebunden ist“ (Wulff 1999c, o.S.). Beide Faktoren hängen empirisch miteinander zusammen und voneinander ab. Während sie jedoch in der realweltlichen Wahrnehmung ein per definitionem lückenlos zusammenhängendes Gefüge bilden, unterliegt die Rezeption von Zeit und Raum im Film den erwähnten Textvermittlungs- und Textverarbeitungsstrategien.

 

3.1. 2.1 Zeitrepräsentation im Film: Erzählzeit und erzählte Zeit

Unlike real life situations, film involves the passage of both, ‘real‘ time (i.e. clock time) and some fictitious story time (de Wied 1991, 13, Herv. i. O.).

Zeit spielt im Film gleich auf zweifache Weise eine Rolle: Die Rezeption eines Films bezieht sich zum einen auf die Erzählzeit und zum anderen auf die erzählte Zeit. Erstere bezeichnet die Zeitspanne, die der Film beansprucht, um erzählt zu werden, d.h. die Lauflänge in Echtzeit (screen duration, Bordwell 1985, 81). Die erzählte Zeit beschreibt die fiktionale Zeitspanne, die im Film repräsentiert wird, d.h. den zeitlichen Umfang der Handlung (vgl. Borringo 1980, 86). Dabei kann es sich um Stunden, Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre handeln. Nochmals unterschieden wird zwischen plot und story time. Während plot time sich auf die im Film gezeigten Ereignisse bezieht, umfasst story time alle für die Geschichte relevanten Ereignisse, selbst jene, auf die im Film nur verwiesen wird (vgl. Bordwell 1985, 77ff.). Plot time bezeichnet demnach aus der gesamten story time ausgewählte, signifikante Zeitspanne(n):

As we watch a film, we construct story time on the basis of what the plot presents. […] In general, a film’s plot selects certain stretches of story duration. This could involve concentrating on a short, relatively cohesive time span, […] or by highlighting significant stretches of time from a period of many years […] The sum of all these slices of story duration yields an overall plot duration (ebd., 81).

Die im Plot explizit präsentierten Teilstücke der Geschichte werden auf der Leinwand i.d.R. schneller dargeboten als sie sich in der Realität ereignen würden (in Anlehnung an de Wied 1991, 15). Filme verschaffen uns also nur einen „Eindruck von Zeit“ (vgl. Borringo 1980, 83). Der Zuschauer ist im Allgemeinen in der Lage, durch die im plot präsentierten Ereignisse und Informationen die komplette story duration in etwa zu rekonstruieren. Für die vorliegende Arbeit sind lediglich die für den plot ausgewählten Zeitspannen relevant, da sich die Analyse auf einzelne Szenen oder Sequenzen bezieht. Der Ausdruck „erzählte Zeit“ bezieht sich hier auf die Dauer dieser Plotsegmente, d.h. die jeweils vorliegende filmische Handlung.

Die Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit wird vom (erfahrenen) Zuschauer sowohl akzeptiert als auch in der Rezeption ständig mitgedacht. Hierzu argumentiert Noël Carroll, dass temporale Effekte wie Verzögerungen eher als kontingente Erscheinungen zu betrachten seien. Er begründet dies damit, dass das Empfinden einer Verzögerung im Film ein außerfilmisches Ereignis impliziert, das verzögert wird (vgl. Carroll 1996, 107). Da es ein solches Ereignis nicht gäbe, insofern sich die Ereignisse ausschließlich auf der Leinwand abspielen, unterstellt Carroll, dass im Film Verzögerungen und dergleichen nur zufällig, als Begleiterscheinungen der Spannungssituation, auftreten. Dabei übersieht er jedoch, dass Erzählzeit und erzählte Zeit niemals unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Jeder Film gibt einen zeitlichen Handlungsrahmen vor, welcher vom Zuschauer mit der aufgewendeten Erzählzeit in Beziehung gesetzt wird. Um einen „Eindruck von Zeit“ zu vermitteln, werden Erzählzeit und erzählte Zeit aneinander entwickelt. Die Ereignisse der Handlung werden durch den filmischen Diskurs angepasst und auf eine konventionelle Erzählzeit reduziert: „Just as plot duration selects from story duration, so screen duration selects from overall plot duration“ (Bordwell 1985, 81). I.d.R. ist die Dauer des Films kürzer als der repräsentierte Plot, und der Plot ist kürzer als die Gesamtgeschichte der Erzählung (vgl. ebd.). Aus der erzählten Zeit werden Ereignisse für den Plot selektiert und für eine akzeptable Filmlänge entsprechend verkürzt oder beschleunigt. An bestimmten Stellen muss die Erzählzeit aber auch verlängert werden, um dem Zuschauer Zeit zu geben, die gegebenen Informationen zu verarbeiten (vgl. de Wied 1991, 16) oder um die emotionale Wirkung einer Szene zu verstärken. Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ist demnach nicht konstant. I.d.R. wechselt ein Film zwischen zeitdeckendem und zeitraffendem Erzählen (vgl. Kuhn 2011, 216f.), d.h. die für das Verständnis unersetzlichen Ereignisse werden mehr oder weniger in Echtzeit wiedergegeben, während weniger bedeutsame in kürzerer Zeit abgehandelt und gänzlich weggelassen werden. Wesentlich seltener kommen zeitdehnende Erzählverfahren zum Einsatz, weshalb den betreffenden Ereignissen in der Diegese meist besondere Signifikanz zukommt. Dem Publikum kann die differenzierte zeitliche Behandlung der filmischen Begebenheiten nicht verborgen bleiben. Das Bewusstsein um Verzögerungen kann ihm daher nicht abgesprochen werden. Konsequenterweise treten Zeit-Effekte im Film nicht zufällig auf. Im Gegenteil: Gerade weil bei der Filmrezeption Zeit in (mindestens) zweifacher Weise wahrgenommen wird, können temporale Effekte in der Erzählung gezielt eingesetzt werden.

 

3.2. 2.2 Raumkonstruktion im Film: Räume der Handlung und Handlungsräume

Im Bezug auf das traditionelle Système des Beaux-Arts (vgl. Alain 1983) stellt Film eine synthetische Kunst dar (vgl. Canudo 1995, 7ff.): Er ist den Zeitkünsten (Arts du temps) gleichermaßen zuzuordnen wie den Raumkünsten (Arts de l’espace) – jedoch mit unterschiedlicher Evidenz. Das kinematographische Bild entfaltet sich grundsätzlich in der Zeit, da seine Rezeption von vorneherein einer bestimmten Dauer unterliegt. Hinzu kommt die doppelte Wahrnehmung von der Spieldauer des Films einerseits und der diegetischen Zeitspanne andererseits. Die Auffassung von Film als Raumkunst erscheint dagegen weniger offensichtlich, insofern das kinematographische Geschehen auf die Zweidimensionalität der Leinwand beschränkt bleibt. Dennoch konstruiert jeder Film die Räume seiner Handlung, welche auch als solche wahrgenommen werden. Zwar steht die Erfahrung des filmischen Raumes stets in Differenz zum realweltlichen Dispositiv ihrer Wahrnehmung, dies soll hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden. Entscheidend für die Raumkonstruktion im Film ist, dass der Zuschauer aufgrund alltäglicher, stofflicher Erfahrungen von Raum und Räumlichkeit die diesbezüglichen Informationen des filmischen Textes zu verarbeiten weiß. Er führt während der Rezeption eines Filmes ein aus „realer“ Wahrnehmung gewonnenes „Objektwissen“ mit sich (Wulff 1999a, o.S.). Hinzu kommt – unter der Voraussetzung eines filmografischen Erfahrungsschatzes – das „Kamerawissen“, wodurch der Rezipient die gegebenen Bildinformationen in einen dreidimensionalen Raum übersetzen (ebd.), im übertragenen Sinne also über das Medium der Kamera hinaus denken kann. Das empirische Raumwissen und der Filmerfahrungsschatz befähigen den Zuschauer i.d.R. hinreichend, einen filmischen Raum für jede Szene zu entwerfen.

Wie auch auf der Ebene der Zeit, ließe sich der filmische Raum in screen space, die tatsächlich gezeigten Ausschnitte einer Räumlichkeit oder eines Ortes, und plot space, die kognitive Zusammensetzung von sichtbarem screen space und impliziertem off-screen space, unterscheiden. Beide sind Teil des story space, die Totalität von Räumlichkeiten und Orten der Handlung, welche außerdem auch diejenigen Orte und Räume mit einschließt, die im Film lediglich erwähnt werden (vgl. Bordwell/Thompson 2008, 82). Dieses basale Schichtenmodell des filmischen Raumes lässt sich relativ simpel anhand von REAR WINDOW (1954) nachvollziehen: Der plot space umfasst den gesamten Innenhof von L.B. „Jeff“ Jefferies‘ Nachbarschaft inklusive deren Apartments. Aus diesem klar definierten Raum der Handlung, den der Protagonist nie verlässt, selektiert der screen space einige wenige Ausschnitte und Perspektiven: Die Plansequenz zu Beginn des Films steckt zunächst das Territorium des Innenhofes und die Lage der einzelnen Apartments des Gebäudekomplexes ab. Im Anschluss werden immer wieder Einblicke in die Wohnungen der Nachbarn gezeigt – i.d.R. aus der Sicht der Hauptfigur. Die restriktiven Fensteransichten stehen stets im Bezug zu seiner räumlichen Position. Der Zuschauer kann ausgehend von der zu Beginn etablierten Lage von Jeffs Apartment das nachbarschaftliche Areal zusammenfügen und anhand der Fensterblicke die Wohnräume der Nachbarn entwerfen sowie weiterdenken. Hinzu kommt die Verortung des Hofes in New York: Hiermit wird der übergeordnete Ort der Handlung, story space, festgelegt. Auch wenn keine Räumlichkeiten jenseits der Grenzen des Innenhofes gezeigt werden, wird der Großraum New York im Film mitgedacht und impliziert, u.a. durch das häufige Kommen und Gehen von Jeffs Freundin sowie seiner Krankenpflegerin. Für die vorliegende Arbeit reicht dieses basale Modell jedoch nicht aus, da es nicht das geeignete Analysewerkzeug liefert. Für das Forschungsvorhaben sind vielmehr die filmspezifischen Komponenten von Bedeutung, die das Material zur Zusammensetzung des plot space liefern: „On the basis of visual and auditory cues, we act to construct a space of figures, objects, and fields – a space of greater or lesser depth, scope, coherence, and solidity” (Bordwell 1985, 113). Die Kategorie des plot space lässt sich demnach in formale „Teilräume“ differenzieren, auf deren Grundlage der Zuschauer Schlussfolgerungen über den gegenwärtigen Raum der Handlung zieht (ebd. 100ff.).

Der Einstellungsraum, oder shot space, bezeichnet den im jeweiligen filmischen Einzelbild repräsentierten Raum. Jede Einstellung kann potenziell neue Informationen über den Raum geben, in dem sich die aktuelle Szene abspielt – je nachdem, wie das Bild komponiert, perspektiviert oder verändert wird. Zur Komposition zählen u.a. Merkmale wie die Anordnung von Objekten und Figuren, deren Textur und Schärfe, die Lichtsetzung sowie die Farbgebung. Die Position der Kamera nimmt eine bestimmte Perspektivierung des filmischen Raums vor: Die Nähe- oder Distanzrelationen zu den Figuren und Objekten, sowie Winkel und Höhe zur vorfilmischen Szenerie beeinflussen den Größen- und Tiefeneindruck des Raums (vgl. Bordwell 1985, 113f.). Bis hierher unterscheiden sich die raumstiftenden Faktoren nicht von jenen anderer Bildmedien. Als spezifisch filmische Komponente trägt Bewegung zur Raumkonstruktion durch die Cadrage bei – und das in zweifacher Weise:

One of the cinema’s most important cues for object identification and spatial relations is the fact that figures move in the frame. […] Movement helps concretize the space, reinforcing object and depth hypotheses. […] Another very powerful spatial cue is the ability of the camera itself to move. Panning and tilting […] significantly modify the perceived layout of surfaces and the apparent distances among objects. Tracking and craning the camera in any direction can yield even more information about the field (Bordwell 1985, 114).

Sowohl Figuren- und Objektbewegung als auch die Dynamik der Kamera definieren und erweitern den jeweils sichtbaren Raum. Gleichzeitig spielen sie mit dem umliegenden, nicht sichtbaren Raum. Für die Darstellung und Rekonstruktion von Räumlichkeiten kann ebenso von Bedeutung sein, was im Frame nicht oder nicht mehr gezeigt wird. Offscreen space bezeichnet den jenseits der Grenzen einer Einstellung liegenden Raum und hat sechs Dimensionen: Zum einen die Zonen jenseits der vier Linien des Frames, zum anderen der Raum hinter der Kamera sowie jener „hinter dem Horizont“ vor der Kamera (vgl. Bordwell 1985, 120). Was in einer Einstellung zunächst offscreen ist, muss es nicht bleiben. Je nach Kamerabewegung kann sich der Einstellungsraum über diese Grenzen hinwegsetzen, vormals sichtbaren Raum im Off zurücklassen und neue Informationen auf die Leinwand bringen. Dieses fluktuierende Verhältnis von onscreen und offscreen space (in Anlehnung an ebd., 120) wird jedoch nicht exklusiv von der Kamerabewegung, sondern auch durch die Montage bestimmt.

Der „montierte Raum“ (Wulff 1999a, o.S.), oder editing space, beschreibt die Korrelationen zwischen den Einstellungsräumen. Die Einzelbilder werden durch die Verstehens- und Entwurfstätigkeiten des Zuschauers zu einem hinreichend konsistenten Raum zusammengesetzt. Dabei spielen Objekt- und Kamerawissen eine gewichtige Rolle, insofern sie die Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten bezüglich der Raumdarstellung und –verarbeitung stellen. „The perceiver constructs intershot space on the basis of anticipation and memory, favoring cause-effect schemata and creating a ‚cognitive map‘ of the pertinent terrain“ (Bordwell 1985, 117). Diese Synthese von Ausschnitten, der sogenannte master space, wird durch die Anschlussfähigkeit der filmischen Bilder bedient (vgl. Wulff 2009, 150f.). Der Zuschauer ist grundsätzlich bemüht, aus einer Reihe von Bildern Logik und Sinnhaftigkeit zu erschließen. Für die Rekonstruktion von Raum bedeutet dies ein rezeptives Spiel aus Erwartung, Erinnerung und Wiederkennung (vgl. ebd., 101f.): Bei einer Einstellung B wird grundsätzlich versucht, eine Verbindung kausaler oder assoziativer Art mit dem shot space ihrer Vorgängerin A herzustellen – B führt somit die Erinnerung an A stets mit sich. Weiterhin gibt Einstellung B textuelle Hinweise auf ihre Nachfolgerin C – sie schürt eine mehr oder minder spezifische Erwartung auf kommende Rauminformationen. Außerdem wiederholt oder variiert B möglicherweise bereits bekannte Bildinhalte aus einer vorherigen Einstellung B0 – der jeweilige Raumabschnitt wird wiedererkannt, die Vorstellung der räumlichen Szenerie wird so gefestigt. Am einfachsten lässt sich dies am Prinzip des continuity editing nachvollziehen, welches dem Aufbau einer kohärenten Raumvorstellung dient. Die Montage bedient diese schemata-geleitete Textverarbeitung durch eine zweckmäßige Anordnung der Bilder B0 – A – B – C im Dienste der Erzählung. So wird der Wandel von onscreen zu offscreen space und andersherum als folgerichtig wahrgenommen, wenn er durch die vorhergehenden Einstellung(en) motiviert erscheint. In REAR WINDOW folgt eine Einstellung auf die Wohnungen der Nachbarn meist auf ein Bild, in dem der aus dem Fenster blickende Protagonist zu sehen ist. Der aufmerksame Blick einer Figur erzeugt die auf Konventionen beruhende Erwartung, dass in der nächsten Einstellung das angeblickte Objekt gezeigt wird. Derartige Annahmen über das nächste Bild und den offscreen space vermag auch der Ton zu generieren.

Der Tonraum, oder sonic space, formt Räumlichkeit durch die akustische Textur und Lautstärke von Stimmen, Geräuschen und Musik. Bezüglich des akustischen Vorder- und Hintergrunds ist auf Produktionsseite meist von „Atmosphäre“ die Rede, wobei die Geräuschkulisse wichtige Informationen über die räumliche Umgebung geben und eine Sichtbarmachung von offscreen space motivieren kann. Ist in einer Einstellung das Zerspringen von Geschirr zu hören, wird in den folgenden Bildern i.d.R. der entstandene Schaden gezeigt und wer ihn verursacht hat.

Die hier skizzierten Komponenten bilden das formale Analysewerkzeug für die folgenden Spannungsszenen. Aus der dynamischen Zusammensetzung der drei Informationsquellen shot, editing und sonic space ergibt sich ein imaginäres Raumkonstrukt:

Die filmische Raumdarstellung wird gespeist aus unterschiedlichen perzeptuellen Quellen und fußt auf sehr verschiedenen semiotischen Beziehungen: Während der Einstellungsraum ein ikonisch repräsentierter Raum ist, fußt der montierte Raum auf einer konventionellen Choreographie von Kamerapositionen, die es für den Zuschauer möglich macht, unterschiedliche Ansichten des Geschehens in einer einheitlichen Raumvorstellung zu synthetisieren. Der Ton-Raum schließlich ist ein primär indexikalisch angezeigter Raum. Es sind also unterschiedliche semiotische Beziehungen, die in die Illusionierung des Raums der Handlung übersetzt, und ganz verschiedene Arten des Wissens, die zu diesem Zweck aktiviert werden müssen (Wulff 1999a, o.S.).

Da Einstellungs-, Montage- und Tonraum auf unterschiedliche Weise zur Vermittlung eines plot space beitragen, dabei einander ergänzen oder widersprechen können, gestaltet sich die Raum-(Re-)Konstruktion durch den Zuschauer als komplexer kognitiver Vorgang.Sie kann dabei niemals auf Vollständigkeit ausgelegt sein: „[…] any pictorial representation is inherently incomplete and potentially ambiguous“ (Bordwell 1985, 101). Selbst die Synthese aus shot, editing und sonic space