Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In einer Berghütte werden fünf Menschen von einer niedergehenden Lawine eingeschlossen. Die Todesangst, der sie bis zu ihrer Rettung ausgesetzt sind, verändert ihr Leben. „Ja“, flüsterte Eris tonlos. „Vielleicht wäre es mir sonst wie Sybille ergangen“, fügte sie hinzu und schluckte trocken. „Die Hütte, diese furchtbare Todesangst“, versuchte Eris ihre Gefühle in Worte zu kleiden. „Tief hier drinnen“, sagte sie, und ihre Stimme klang rau wie Schleifpapier, wobei sie die Hand auf ihr Herz presste, „habe ich mich damit abgefunden, zu sterben, meine ich. Wie wir dort oben im Dunkeln kauerten, zusammengepfercht in der Ecke, schlimmer als Vieh, ohne Feuer, ohne Hoffnung… das Gebälk knarrte, ächzte unter der Last des Schnees und überall tropfte es und…“
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Volker Schopf, wurde 1958 in Gerlingen bei Stuttgart geboren. Nach Schule und Ausbildung lebt er heute im nördlichen Schwarzwald.
Bisher veröffentlichte er erzählende Prosa, Theaterstücke und drei Fachbücher.
Außerdem ist er Naturforscher und setzt sich seit 30 Jahren mit den neuesten wissenschaftlichen Theorien auseinander und er ist der Überzeugung, dass wir in einer Übergangszeit leben, wie er in seinen Fachbüchern ‘Über den Kosmos’ darlegte.
Für Heidi
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Die Straße nach Nachtkirchen ist holprig und wird von alten Platanen gesäumt. Wer kein Auto besitzt, muss mit dem Zug bis Naumburg fahren und dort in den Bus umsteigen oder er ruft ein Taxi. Trotzdem bleibt es eine unangenehme Sache, weil die Straße selbst neuen Autos zusetzt. Es ist ein einsamer Landstrich, weite Felder, durchzogen von grünen Wiesen, an deren Rändern Buschrosen blühen. Im Herbst regt sich hier an manchen Tagen nichts außer dem Nebel, der das morastige Land unter sich begräbt wie Erde die Verstorbenen. Die Straße, die in den Ort hineinführt, zerschneidet ihn in zwei Hälften, eine linke und eine rechte oder wie der alte Frank Bode zu sagen pflegte: in die Großkopferten und die anderen. Wie er zu seiner Meinung gelangt war, ist bis heute umstritten und Frank Bode selbst schwieg sich darüber beharrlich aus. Vielleicht wurzelte der Grund in dem Streit, den er sein halbes Leben lang mit dem Bauunternehmer Volker Wachutke führte und der erst mit Frank Bodes Schlaganfall endete. Anscheinend ging es um ein Stück Land, so richtig wusste es niemand im Ort zu sagen und vermutlich wären sämtliche Beteiligten der Sache längst überdrüssig geworden, hätte sie nicht hin und wieder die Eintönigkeit des Alltäglichen durchbrochen.
Es versprach ein glühend heißer Tag zu werden, als Hans Kümmelkorn und seine Frau Petra die letzten Kilometer in Angriff nahmen. Die Räder rumpelten über die Straße, schlugen hart in Schlaglöcher der leicht abfallenden Straße nach Nachtkirchen. Zerquetschte Insekten verschmierten die Windschutzscheibe, erinnerten Hans an die Bilder von Jürgen Groß, der mit einer Gummischleuder Farbkugeln auf Leinwände schoss, damit nicht nur seine unterdrückten und unbewussten Triebe, Wünsche und Hoffnungen zum Ausdruck brachte, wie er jedem Interessierten bereitwillig erklärte, sondern die Urkraft der Psyche selbst. Dann folgte ein längerer Monolog über Jung, Archetypen und Formen, die es zu füllen gelte, und dies sei es, was er im Grunde tue, indem er dem Unaussprechlichen als Werkzeug diene.
Petra regelte die Klimaanlage auf die höchste Stufe.
"Die Hitze ist unerträglich", jammerte sie und fächerte sich mit der Modezeitschrift kühle Luft ins Gesicht.
"Wir sind ja bald da", sagte Hans, den Blick starr geradeaus auf die Straße gerichtet. "An der Kreuzung vorher waren es noch zehn Kilometer." Petra schwieg, schluckte für den Augenblick ihren Unmut über die Reise hinunter und dachte: 'Weshalb bin ich mitgefahren? Weil ich gelaubt habe, dass Hans es erwartete oder weil ich wieder nicht nein sagen konnte? Verdammte Hitze!'
Im Rückspiegel tauchte der Lieferwagen von Holger Merz auf, der drei Mal in der Woche Mutter Hansens Laden belieferte. Bis vor zwei Jahren musste er die Tour täglich bewältigen, doch seit Mutter Hansen den Backautomaten für Brötchen und Brezeln hatte, stapelte er lediglich die Bleche mit den Teiglingen in den Kühlschrank, der die Hälfte ihrer Küche einnahm und den Stromzähler richtig in Schwung brachte. Holger Merz überholte den klapprigen Golf von Hans, touchierte dabei fast den Außenspiegel, als ihn ein Schlagloch nach rechts warf, ehe er vorbei und wenige Meter vor Bauer Stübers knarrendem Traktor einscherte, der vom Feld wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Bauer Stüber, der die Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, grüßte Holger Merz und schob seinen ausgebrannten Zigarrenstummel von einer Seite des Mundes zur anderen.
Ein Werbeschild von McDonald´s tauchte auf, das Hans sagte, wenn er in zwei Minuten rechts abbog und sechs Kilometer in diese Richtung fuhr, er im Industriegebiet neben Möbel Heinrich den dicksten Hamburger aller Zeiten essen könne.
"Die gibt es wohl überall," bemerkte Hans und blickte aus den Augenwinkeln zu Petra hinüber, die gelangweilt gähnte.
"Was ist mit überall?", fragte sie benommen. "Ich denke gerade an Mutter. Sie ist auf dem Land aufgewachsen … Ach, ist ja egal."
"McDonald´s", erklärte er ihr. "Hast du das Schild nicht gesehen?"
"Nein", antwortete Petra und veränderte ihre Position. Sie regelte die Klimaanlage von frostig auf normal, weil es mittlerweile empfindlich kalt geworden war.
"Dort vorne, das müsste Nachtkirchen sein", sagte Hans und tatsächlich tauchten zwischen den Bäumen die ersten Häuser auf.
Nachtkirchen ist kein besonderer Ort und außer der zu Beginn des 12. Jahrhunderts erbauten Kirche, gab es nichts Sehenswertes. Links, keine hundert Meter nach der Ortseinfahrt, befindet sich die Reparaturwerkstatt vom alten Gruber, Traditionsbetrieb seit hundert Jahren, wie der ausgebleichte Zeitungsartikel an der Wand, eingerahmt von Postkarten aus allen Teilen der Welt, im Büro verriet, der die Geschicke der Werkstatt allmählich in jüngere Hände, die seines ältesten Sohnes Manfred legte, während er im Büro saß, mit Kunden redete oder von der Vergangenheit träumte, und ein paar Häuser weiter auf derselben Seite lag der einzige Gasthof des Dorfes, 'Zum Ochsen'. Mutter Hansens Laden, zu dem man drei Stufen hinauf gehen musste, befand sich in der nächsten Seitenstraße und schräg gegenüber wies ein unscheinbares Schild im Fenster mit dem Schriftzug 'Friseur' auf Karl Hübner hin, der seit seiner Entlassung aus dem Staatsdienst der ehemaligen DDR Köpfe statt Menschen in Form brachte. Darunter stand mit rotem Filzstift 'und Schönheitssalon' geschrieben, seit Ilona, seine Tochter, ihre Ausbildung beendet und im frisch renovierten Keller die Frauen des Dorfes nach allen Regeln der Kunst, und mit tatkräftiger Unterstützung der Industrie, zu verschönern suchte.
Das Haus neben dem Gasthof wurde seit der Wende nicht mehr bewohnt und zerfiel mit den Jahren. Die Fenster sind zersprungen, dicke Holzbalken stützen die oberen Stockwerke und ein maroder Balkon neigt sich gefährlich nach unten. Der Dachstuhl wurde durch ein Feuer zerstört, das Jonas, der Enkel vom Gruber, beim verbotenen Rauchen verursacht hatte. Der Brand war schnell gelöscht, trotzdem standen die Gastleute Heider mit bangem Herzen auf der Straße und beteten, dass kein Funke auf ihren Besitz übergreife. Das Beten half. Der Schaden beschränkte sich auf verrußte Stellen der Fassade und einige geplatzte Scheiben im zweiten Stock. Der Polizist aus Naumburg, der die Angelegenheit untersuchte, neigte dazu, es sich mit einem Glas Bier im 'Ochsen' wohl sein zu lassen. Dabei besprach er mit Gruber den Sachverhalt und statt der Anzeige wegen mangelnder Aufsichtspflicht, trug er als Täter 'unbekannt' in das Protokoll ein. Damit war die Sache erledigt.
Die Einwohnerzahl sinkt. Die Jungen gehen fort, sobald sie erwachsen sind und Fremde lassen sich hier selten nieder; schließlich gibt es hier kaum Arbeit. Die Alten verlassen Nachtkirchen nur, wenn sie ihren einsamen Weg antreten, der sie zu der alten Kirche führt, wo windschiefe Grabsteine zwischen Blumen und Unkraut aufragen. Unmittelbar hinter dem Friedhof beginnt der Totenwald; ein Hain, durchzogen von Trampelpfaden und schattigen Plätzen.
Hans parkte vor dem Gasthof. Das Gesicht im Rückspiegel sah müde aus. Die Krähenfüße, das zersauste, seit dem Unglück in den Bergen ergraute Haar verstärkten den Eindruck. Plötzlich fühlte er sich alt, trotz der noch immer sportlichen Figur. Mit seinen ein Meter siebzig war er für einen Mann nicht gerade groß, aber er hatte diesen Umstand nie als Nachteil empfunden, im Gegenteil, es hatte ihn stets angespornt, mindestens zu den zehn Besten zu gehören.
"Was für ein ödes Kaff", sagte Petra, als sie aus dem Auto glitt, den Blick auf die verdreckten Häuserfronten gerichtet.
"Du hättest nicht mitfahren müssen", erwiderte Hans und kämpfte vergeblich mit der in ihm brodelnden Erregung, vom Sturm aufgepeitschten Wellen gleich, die Petras abfällige Bemerkungen in letzter Zeit bei ihm in schöner Regelmäßigkeit auszulösen begannen. Eine Erregung, die nicht nach außen drang, sondern ihn in die unzerschmetterbare innere Abkapselung trieb, wo er Ruhe und den für sein Leben so wichtigen Frieden fand.
"Morgen hätte auch gereicht. Ich verstehe nur nicht, was du hier zwei Tage lang willst?" Petra schlug die Wagentür zu, setzte die Sonnenbrille auf und sah missmutig die Straße hinab.
"Willst du jetzt wieder davon anfangen? Ich habe es dir erklärt, Petra; Recherche für meinen Roman. Mich langweilt die Vorkor Dämonenreihe. Ich will endlich etwas anderes, Anspruchsvolleres schreiben."
Eine Weile später antwortete Petra mit finsterer, nachdenklicher Miene: "Du wolltest, dass ich mitfahre!" Sie wartete auf seine Reaktion. "Jetzt schweigst du wieder. Typisch! Verkriechst dich in dein Schneckenhäuschen. Und alles wegen dieser Beerdigung." Es entstand eine kurze Pause, bis sie hinzufügte: "Hauptsache du hast deinen Willen durchgesetzt."
"Lass uns nicht streiten. Bitte!", sagte er und kaute auf seiner Unterlippe herum. Die Hitze setzte ihm zu. Er verspürte Hunger und wünschte sich nichts sehnlicher als ein wenig Ruhe und Entspannung nach der langen Fahrt.
Petra winkte ab. Sie nahm ihre Handtasche, betrachtete kopfschüttelnd die Überreste des Nachbargebäudes. "Was für ein Kaff", wiederholte sie und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
In dem kastenförmigen Raum standen oder saßen ein paar Männer mit verdreckten Overalls, geröteten Gesichtern und starrten zu den Neuankömmlingen herüber. Das Stimmengewirr der Gespräche riss ab wie ein dünner Faden, der das Gewicht nicht mehr zu tragen vermochte, als sie den Gastraum betraten und zur Theke gingen.
"Was kann ich für die Herrschaften tun?", dröhnte der beleibte Wirt, der sofort herbeieilte und vor ihnen die Hände auf die Theke stützte.
"Wir haben ein Zimmer reserviert", sagte Hans, betrachtete dabei die langen Arme, schwabbelige Fettpolster, bei denen jede Bewegung Erdbeben ähnliche Erschütterungen hervorrief.
"Das haben wir sofort", meinte der Wirt und durchstöberte einige Schubladen an der rückwärtigen Wand. "Else! Wo hast du das Gästebuch?"
"Da, wo es immer liegt, neben dem Telefon", antwortete eine Stimme und nur wenige Sekunden später tauchte eine Frau in mittleren Jahren, mit schmalem Gesicht, Bubikopf und freundlich lächelnden Augen auf. "Entschuldigen Sie, Else Heider", stellte sie sich vor und reichte ihnen die Hand über die Theke. "Aber mein Mann, ohne mich ist er verloren. Hilflos wie ein Kind", sagte sie etwas leiser und grinste breit über das ganze Gesicht.
"Nichts passiert. Wir hatten reserviert. Kümmelkorn."
"Das ruhige Doppelzimmer", ergänzte Else, während sie Petra die Hand schüttelte. "Die 14, Heinz!" Sie boxte ihrem Mann zärtlich in die Seite. "Das Zimmer geht nach hinten raus, zum Hof. Da hören sie nichts von der Straße."
Vereinzelt setzten die Gespräche wieder ein. Hans` Blicke wanderten durch den Raum, der nach Bier, Schweiß und altem Bratfett roch. Landschaftsbilder hingen an den Wänden, eine Fahne des Naumburger Fußballklubs, und auf einem kleinen Regal hinter dem Stammtisch stand ein angelaufener, verstaubter Pokal, den Heinz im Alter von achtzehn Jahren im Kleinkaliberschießen errungen hatte. Von der Decke hingen, wahllos über den Gastraum verteilt, giftige Papierschlangen als Fliegenfänger herunter, sowie vom Zigarettenrauch gebräunte Lampenschirme.
"14", sagte Heinz und knallte den Schlüssel auf die Theke. "Haben Sie Gepäck?", fragte er neugierig, marschierte dann ohne die Antwort abzuwarten davon, weil ein junger Mann nach einem weiteren Bier brüllte.
"Können wir bei Ihnen essen?"
"Setzen Sie sich! Ich bringe Ihnen die Karte, oder wollen Sie zuerst auf Ihr Zimmer?", fragte Else. "Dann zeige ich Ihnen den Weg. Das Haus ist verwinkelt, und wenn man nicht aufpasst, stößt man sich schnell an einem Balken den Kopf an."
"Ich kümmere mich um die Koffer", sagte Hans und flüchtete nach draußen. Befreit atmete er auf. Die Atmosphäre drückte seine Stimmung, weckte Erinnerungen an die Hütte, Enge, Dunkelheit, Hilflosigkeit und die Todesangst, welche mit jedem Knarren der bis an die Grenzen belasteten Balken tiefer, verletzender in den Körper eindrang, in blindem Schmerz nach dem Herzen tastete.
"Ah!", rief Hans, als er schwerbepackt wieder den Gastraum betrat und Petra in der Ecke sitzend vorfand.
"Lässt mich einfach mit diesen Leuten da stehen", zischelte Petra verärgert. "Wo warst du denn solange?" Sie biss die Zähne aufeinander und sah demonstrativ an ihm vorbei, behandelte ihn wie einen Luftzug, der zufällig ihr Gesicht streifte.
"Ich hab nur ein wenig frische Luft geschnappt", flüsterte er, stellte die Koffer ab und zwängte sich zwischen Lehne und Tisch auf den Stuhl neben ihr. "Die Atmosphäre hier", unternahm er den unnötigen Versuch einer Erklärung, "erinnert an … Du weißt schon."
"Weshalb bist du dann gefahren?", fauchte Petra und fuhr die Krallen aus. "Du hättest einen Kranz schicken können. Aber nein! Du musstest ja unbedingt an der Beerdigung teilnehmen."
Else kam an den Tisch. "Was möchten Sie trinken?"
"Ich nehme ein Mineralwasser", sagte Petra und schlug die Karte auf. "Den gemischten Braten."
"Zwei Mal, bitte."
"Wie ist das Zimmer?", fragte Hans beiläufig, während er die Männer an der Theke musterte. Die Overalls verschmutzt; Öl- und Lackflecken bildeten ein bizarres Muster. Sie nippten gleichzeitig an ihrem Bier, wischten den Schaum von der Oberlippe; ein eingespieltes Team, an der Theke wie bei der Arbeit. Der Linke, grauhaarig, untersetzt, mit schmalem, vom Leben zerfurchtem Gesicht, und der Rechte, einen halben Kopf kleiner, schlank, mit kurzen, strähnigen, hellblonden Haaren, starrten stumpfsinnig auf ihre Gläser. Vater Gruber und sein Sohn Manfred, die seit dem Tod von Grubers Frau vor drei Jahren im 'Ochsen' zu Mittag aßen. Zurzeit war nicht viel los und so dehnten sie ihre Pause, tranken ein Bier mehr als üblich. Außerdem wusste jeder im Ort, wo sie zu finden waren.
"Mineralwasser", sagte Heinz abschätzig, knallte die Gläser auf den Tisch, dass sie überschwappten, und kehrte schnaufend hinter seine Theke zurück, wo er sich am wohlsten fühlte.
Das Scharren eines Stuhls. "Heinz", sagte der Mann im dunklen Jogginganzug und hob die Hand. "Jo, Kurt! Bis dann. Und lass den Deckel zu, wenn die Sybille so übel zugerichtet ist", meinte Heinz, zauberte eine Sorgenfalte auf seine niedere Stirn und trocknete mit der Schürze ein Glas ab. Kurt winkte ab. "Lass mal."
"Vor den Zug geworfen", murmelte der alte Gruber. "So ein junges Ding. Das ganze Leben vor sich." Er schüttelte verständnislos den Kopf.
"Das Unglück muss jetzt eineinhalb Jahre her sein", rechnete Heinz, das Glas im Licht musternd "Hat sie verändert. Kam völlig aus der Bahn das Kind."
"Mach noch zwei Bier", sagte Gruber, nickte zustimmend und stieß seinem Sohn mit dem Ellbogen in die Rippen. "Erzähl doch mal!"
"Wozu?", erwiderte Manfred gedehnt. "Ist längst vergessen, den Bach runter."
"Im Februar, bei Lisas Geburtstag, war schon Nacht, als sie klingelte …"
"Hör doch auf, Vater", murrte Manfred. "Interessiert niemand. War doch nichts."
"Ihr Wagen springe nicht an, meinte sie, und fingerte dauernd an ihren Haaren rum. Ob ich nicht nachsehen könne. Morgen, sagte ich und wollte gerade die Tür schließen, da sagt Manfred über meinen Rücken hinweg, dass sie warten soll."
"Jetzt lass doch!", protestierte Manfred und nahm einen kräftigen Schluck.
"Mit dem Wagen war alles in bester Ordnung. Mein Junge drehte den Schlüssel und zack surrte er wie eine Nähmaschine. Die Sybille lächelte, zog ihren Rock hoch – nichts drunter – und begann an meinem Jungen rumzufummeln …"
"Vater, lass gut sein. Die Sybille war betrunken."
"Die Katastrophe in den Bergen war ein Unglück für sie", meinte Heinz erneut und nickte wie zur Unterstützung seiner Behauptung.
Der Geruch von Bratkartoffeln zog durch den Raum. Hans verspürte plötzlich wieder Hunger, der durch das Gespräch über Sybille kurzzeitig in den Hintergrund getreten war.
'Die Eris hat das besser verkraftet', fügte Heinz in Gedanken hinzu, während er sich selbst ein Bier zapfte. 'Hat was gemacht aus ihrem Leben. Merkwürdig, wie das Schicksal so spielt.'
"Du kennst die Eris doch gut." Gruber stieß seinen Sohn erneut in die Seite. "Sag doch mal was. Jedes Wort muss ich dem Jungen aus der Nase ziehen. Das kommt nur von den Spielen; das ewige Rumballern. Jede freie Minute hockt er vor dem Ding, anstatt dass er mal rausgeht. Sei froh, dass du keinen Krieg mitgemacht hast … Aber was rede ich", schimpfte der alte Gruber resignierend.
"Gibt nichts zu sagen, Vater. Seit sie wieder hier ist, hab ich sie drei oder vier Mal gesehen. Weiß nur, dass sie bei Wachutke arbeitet. Buchhaltung oder so was", gab Manfred widerwillig preis und verschanzte sich hinter seinem Bier.
"Was starrst du so auffällig dort hinüber?", fragte Petra und rüttelte ihn am Arm.
"Nichts! Ich war in Gedanken versunken. Wie ist das Zimmer?", wiederholte Hans und wandte ihr den Kopf zu.
"Hörst du mir überhaupt zu?"
"Entschuldige", sagte er und massierte sein Bein, das eingeschlafen war, weil es zu lange in einer Stellung geblieben war und jetzt kribbelte.
"Es ist winzig, aber zumindest sauber. Nur der Weg dorthin", sie musste unwillkürlich lachen, "ein Labyrinth ist nichts dagegen. Ich hätte Brotkrümel streuen oder eine Schnur spannen sollen."
"Lasst es euch wohl sein", sagte Else, stellte das Essen vor sie hin und schenkte beiden ein Lächeln.
"Danke", sagten Petra und Hans gleichzeitig.
"Was ist?", fragte er kauend. "Schmeckt doch sehr gut."
"Die Soße ist aus der Packung, das Fleisch zäh und die Kartoffeln schwimmen im Fett", konstatierte sie und blickte angewidert auf. "Mir reicht es!"
"Jetzt sei doch …", sagte er vorwurfsvoll und rollte unruhig mit den Augen, weil ihm keine passende Erwiderung einfiel. Seufzend blickte Hans sich um. Der Wirt polierte weiter seine Gläser, Gruber und Sohn hingen dumpf brütend über ihrem Bier und die drei Männer im hinteren Teil aßen schweigsam und nur ab und zu unterbrach ein Rülpsen die plötzlich eingetretene Stille.
Hans schob mit der letzten Kartoffelscheibe die restliche Soße in der Mitte des Tellers zusammen, tunkte sie ein und …
"Willst du den Teller nicht ablecken?", sagte Petra gereizt und entpuppte sich wieder mal als absolutes Scheusal. "Hier, Sohn!", äffte sie Hans` Vater nach, nahm seinen Teller und stellte ihren an dessen Stelle. "Iss, damit du etwas wirst. Nichts bist du schon lange." Sie stand auf. Ihre Augen funkelten angriffslustig. "Ich gehe spazieren!"
Hans sah ihr nach, bis sie zur Tür hinaus war. Die Stille im Raum wurde unerträglich, verzerrte seine Wahrnehmung, und wenn er die Gäste bisher wie ein Fotograf betrachtet und in seinen Gedanken abgebildet hatte, so änderte sich das jetzt; er sah, was er fühlte. Ihre Gesichter, sämtlich ihm zugewandt, höhnten im Chor: 'Die Alte tanzt dir schön auf der Nase herum!' Gruber prustete amüsiert los, stieß Manfred den Ellbogen in die Rippen und rief in überschäumender Heiterkeit: 'Dass du mir nicht so eine Fuchtel von Frau heimbringst, Junge!' 'Die rasiert sich bestimmt jeden Tag', warf jemand vom hinteren Tisch in das allgemeine Gelächter.
"War es nicht nach Ihrem Geschmack?", fragte Else und deutete mit dem Kinn auf seinen Teller.
"Wie?", erwiderte Hans mechanisch, kniff die Augen zusammen und vertrieb den Spuk. "Doch … doch. Es war ausgezeichnet, nur meine Frau ist keine große Esserin", entschuldigte er Petras Verhalten, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, wobei er geschickt ihrem Blick auswich.
Als Hans auf die Straße trat, flirrte die Luft. Die Hitze war unmenschlich. Zwei Krähen stritten über ihm, flogen krächzend auf. Während er die Straße überquerte, verließen Gruber und Sohn den 'Ochsen' und blickten ihm nach.
"Bei dem habe ich ein ungutes Gefühl", sagte Gruber geheimnisvoll, zog die Mütze tiefer ins Gesicht. "Ein ganz ungutes." Damit gingen sie davon. Er dachte plötzlich an Marga, seine verstorbene Frau, wie sie letzten Herbst von dem Lastwagen angefahren und so schwer verletzt worden war, dass sie eine Woche später im Krankenhaus in Naumburg gestorben war. Zu Bewusstsein war sie nicht mehr gekommen. Die ganze Zeit hat er ihre Hand gehalten und geschluchzt wie ein kleines Kind, das zu Weihnachten nicht das erhoffte Geschenk bekommen hatte. 'So zerbrechlich sah sie aus, meine Marga', berichtete er damals den Freunden, die Stimme brüchig und der Blick trübe. 'So klein und hilflos inmitten der ganzen Geräte.' Seither plagen ihn Albträume, in denen er von blinkenden Geräten verfolgt und durch aus Computern erbaute Städte gejagt wird. Schläuche greifen nach ihm, ein Piepsen dringt schmerzvoll in sein Gehirn, wobei grüne Punkte wie Polizeihunde seine Spur aufnehmen. Er rennt direkt auf eine Regenwand zu, spürt die Verfolger im Nacken und schlägt einen Haken. Die Welt, funken seine Synapsen in Form von grünen Diagrammen, ist ein fürchterlicher Ort. Gebirge verwittern, Seen gefrieren, Leben verfault; Menschen sterben nach Unfällen und Kinder und Narren sprechen öfter die Wahrheit als die meisten Menschen. Herzen bluten und vernarben und während Marga stirbt, wächst überall Neues; von einer Sekunde zur anderen verändert sich alles, nur die Liebe und die Trauer sprießen stets neu. Gruber kauert unter einem Tisch. Plötzlich einsetzender Regen zerstört die Stille. Der Wind pfeift, wirft Türen auf und zu und – er ahnt ihn mehr, als dass er ihn sieht – taucht einer seiner Verfolger den Raum in ein gespenstisches Licht. Grüne Punkte, sabbernde Bluthunde, zerren an seinen Händen und Füßen; dann wacht er gewöhnlich auf. Schweißgebadet. Der Schlafanzug klebt ihm am Körper. 'Nachts Albträume und tagsüber seltsame Ahnungen', fluchte er in Gedanken. 'Im Februar, als Sybille klingelte und ich die Tür öffnete, da hatte ich es gewusst. So wie jetzt bei diesem Fremden.'
"Lass mal, Vater. Der ist in Ordnung", sagte Manfred bedächtig und vergrub die Hände in den Taschen. "Ganz ungut", wiederholte Gruber gedankenversunken.
Hans folgte der Straße. Die Häuser waren hier so eng aneinander gebaut, dass die Ruinen dazwischen wie Wunden wirkten. 'Vorsicht', las er auf einem gelben Schild, 'bitte benutzen Sie den Gehweg auf der anderen Straßenseite'. Er blickte nach oben. Im zweiten Stock fehlten Teile der Hauswand. Waschbecken, vergilbte Bilder und zerborstene Kacheln. Hans dachte: 'Wer weiß, wie lange das Haus dem Zerfall noch trotzt, die Erinnerungen an früher bewahrt?'
An der nächsten Seitenstraße bog er ab, hielt auf den zwischen den Häusern aufragenden Kirchturm zu, der eigentlich ein Wehrturm war. Hinter dem trutzigen Bau lag der Friedhof, eingesäumt von einer Mauer, die ebenso alt und baufällig wie der gesamte Ort war.
Alte Bäume umstanden wie Wachsoldaten die Gräber, schiefe Kreuze, verwitterte Steine, die Namen eingemeißelt und kaum mehr lesbar. Hans entdeckte zwei Arbeiter, die auf der einzigen Bank saßen und schweigsam ihre Brote aßen. Sie sahen kurz auf, als er den Friedhof betrat, erwiderten nickend seinen Gruß, und als er zu dem frisch ausgehobenen Grab ging, fühlte er ihre Blicke im Rücken.
'Sybille', dachte Hans, während er in das von zwei Erdhügeln flankierte Loch starrte. Plötzlich überfiel ihn Schwindel, nicht zum ersten Mal seit dem Unglück, und er fühlte, wie die Beklemmung anwuchs, ihn zu überwältigen drohte. Der Schweiß brach ihm aus sämtlichen Poren, als er ihren Namen wiederholte: 'Sybille.' Sie rieb sich die Nase, betrachtete ihn aus weit aufgerissenen und flehenden Augen. 'Wir werden doch nicht', würgte sie mit brüchiger Stimme hervor und zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als die Last des Schnees dem Gebälk ein Stöhnen entrang. 'Nein', hörte Hans sich antworten, wobei er seiner Stimme einen festen, überzeugenden Klang zu geben versuchte. 'Sie werden uns finden. Ganz bestimmt.' Sybille senkte den Kopf, zupfte nervös an ihrem Taschentuch. 'Gerade jetzt!' Sie lachte hysterisch auf und fügte hinzu: 'Die Herausforderung in Bremen … Belohnung für Jahre unermüdlichen Einsatzes.' Sie sprach jetzt mit sich selbst, beklagte ihr Schicksal, die Ungerechtigkeit des Lebens, und dass ihr plötzlich alles so sinnlos, so leer vorkäme und sie nicht mehr verstehen könne, weshalb sie ihr Leben so bedingungslos dem Wohl der Firma geopfert hätte. 'Verheiratet war ich mit ihr', sagte sie und starrte aus geröteten Augen zu ihm auf, 'und das ist der Dank. Begraben unter Schneemassen. Welche Ironie!' Hans blinzelte, wandte den Blick nach rechts, dann verwundert nach links, stets hatte er dasselbe Bild vor Augen: das dunkle Loch, dieses gefräßige Untier, das wie der Sandmann jeden Menschen in den Schlaf bettete.
Einer der Arbeiter packte Hans mit herzhaft kameradschaftlichem Griff an der Schulter. "Passen Sie auf", sagte er in gutturalem Ton und grinste breit über sein sommersprossiges Gesicht. "Kommen noch früh genug in den Genuss", meinte sein Kollege, die Schaufel, in James-Dean-Pose, lässig über der Schulter, während das dünne Habichtgesicht Hans von oben bis unten musterte. "Sind Sie zur Beerdigung gekommen?", fragte der Sommersprossige und nahm, nachdem er einen Schritt zurückgetreten war, die Hand von seiner Schulter.
"Sybille Erdmann."
"Ja. Traurige Sache. Hätte meine Tochter sein können. Kannten Sie die Verstorbene?"