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Das leise Ticken von Friedpark, das in der Nacht zum Leben erwachte, die wunderliche Vertrautheit der Stimmen an diesem seltsamen Ort, schienen magisch und unwirklich. Die Bewohner hatten keine Existenz außer der, die sie sich selbst verliehen. Herr Heinrich war sicher, dass er gestorben war, und er wusste nur nicht genau, wann sein Denken wieder eingesetzt hatte, er wiedergeboren worden war. Alles, so fuhren seine Gedanken fort, was vorher gewesen ist, gehörte zu einer anderen Welt. Die Erinnerung an seine Familie fühlte sich an, als ob sie die Gespenster wären. Unbewusst zwängte er sich aus seinem Körper, und im Gegensatz zu früher, wo er selbst an heißen Tagen gefröstelt hatte, spürte er nicht den geringsten Temperaturunterschied. Er straffte seine Muskeln, obwohl es unnötig war. Seltsamerweise wollte er jetzt unbedingt die exakte Uhrzeit wissen. Als er jedoch nach seiner Taschenuhr wühlen wollte, musste er zu seinem Schrecken feststellen, dass die Westentasche leer war und seine Hand ins Nichts griff. ... mit diesem Roman bekehrt Volker Schopf auch härteste Schwarzer-Humor-Gegner.
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Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Vom selben Autor bei BoD erschienen:
Der programmierte Tod
N - Ich
Andere Zeiten - Andere Menschen
Sinnlose Morde
Seelen-Glück
Sachbücher:
Über den Kosmos Reihe:
Ursprung und Evolution
Homo sapiens und Transzendenz
Individualität, Freiheit und Moral
Der Autor
Volker Schopf, wurde 1958 in Gerlingen bei Stuttgart geboren. Nach Schule und Ausbildung lebt er heute im nördlichen Schwarzwald.
Bisher veröffentlichte er erzählende Prosa, Theaterstücke und drei Fachbücher.
Außerdem ist er Naturforscher und setzt sich seit 30 Jahren mit den neuesten wissenschaftlichen Theorien auseinander und er ist der Überzeugung, dass wir in einer Übergangszeit leben, wie er in seinen Fachbüchern ‘Über den Kosmos’ darlegte.
wir gehen in den Friedwald.
Werbeslogan der Agentur Friedwald, aus der später das Unternehmen Friedpark hervorging.
17.03.2016 In der Abenddämmerung
18.03.2016 Am Morgen
18.03.2016 Vormittags
18.03.2016 Gegen Mittag
18.03.2016 Am Nachmittag
19.03.2016 Im Morgengrauen
19.03.2016 Um die Mittagszeit
20.03.2016 Nach Mitternacht
20.03.2016 Zwischen Mitternacht und Morgendämmerung
20.03.2016 Früher Vormittag
20.03. 2016 Zur Kaffeezeit am Nachmittag
20.03.2016 Nach Einbruch der Nacht
21.03.2016 Zur Öffnung des Kundencenters
Die Stille trieb dahin wie ein träger Fluss. Zeitlos, als wäre sie vom Lebensrhythmus abgekoppelt. Es war diese kurze Spanne der Zeit, in der die Besucher die Hallen verlassen und die Mitarbeiter der Reinigungsfirma ihre Tätigkeit noch nicht aufgenommen hatten. Renick genoss sie, weil sie ihm und seinem früheren Leben gehörte. Die Jahre der Kindheit, als in allen Geschehnissen Gefahren und Geheimnisse lauerten und dann im Verlauf weniger Tage zu Belanglosigkeiten schrumpften, bevor sie sich auflösten ohne sich ihm näher zu erklären. Die ersten Lichter in seinem Viertel flammten auf, lautlos und fern, den Sternen am Abendhimmel gleich, der blassgrau war und langsam dunkler wurde.
In diesen Abendhimmel trat er als Zehnjähriger hinaus; die Hände tief in den Taschen vergraben. Er hörte die Stimmen der Nachbarn, und die Luft roch nach Kohl und Braten. Zu dieser Tageszeit war er oft unterwegs, übte sich im Dosenschießen oder saß einfach auf der Treppe vor dem Haus, beobachtete die Vorübergehenden und hing seinen Gedanken nach. Doch an diesem Abend schlenderte er die Straße hinunter bis zu Hausers Kiosk. Das Sims des Schaufensters war verwaist, seit Werner fortgezogen war, und der freche Vogel zu seinen Füßen hatte längst einen neuen Futterplatz gefunden. Hauser lehnte am Eingang, die Arme vor der Brust verschränkt, und weil der Kiosk hell erleuchtet war, sah er aus wie ein Scherenschnitt, den man auf gelbes Papier geklebt hatte. Er warf Renick einen finsteren Blick zu, schnitt eine Grimasse und stapfte in den Kiosk.
‘Hauser war ein merkwürdiger Geselle’, dachte Renick. Seine Gefühle waren geprägt von dessen Schlachtruf: „Haut ab!“, und der drohend erhobenen Faust. Sie jagte ihm keine Angst ein, dafür aber Hausers Stimme, in der unterschwellig ein zerstörerischer Jähzorn keimte, der beim kleinsten Anlass ausbrechen konnte.
Murr rieb seinen Kopf an Renicks Bein. Er ging in die Hocke und kraulte ihren Kopf, ohne den Blick von der Silhouette der Stadt abzuwenden. „Ja, Murr“, flüsterte er mit der Stimme eines Zehnjährigen, „etwas stimmte nicht mit ihm. Doch das ist längst vergangen. Nur damals, an diesem Abend, lag das schreckliche Ereignis noch in der Zukunft.“
„Du solltest nicht so viel Zeit mit dir selbst verbringen“, ermahnte ihn Lara, und als er sich umwendete, hörte er sie wieder das Lied summen, das ihm seit ihrem Übergang ins Jenseits nicht mehr aus dem Kopf ging.
„Lara.“ Seine Stimme erinnerte an das Knarren der Dachsparren älterer Häuser. „Seltsam, Murr. Woran man sich erinnert ...“ Doch er wusste nicht zu sagen, ob sich die flüchtige Erinnerung auf Lara oder die Geschehnisse von damals bezog.
In der Halle hinter ihm ging das Licht an. Das Geräusch von Gustavos Putzmaschine drang zu ihm herüber und wenig später auch dessen leiser, fröhlicher Gesang. Mit ihm erwachte die andere Seite von Friedpark zum Leben. Sie war für Renick, selbst nach 17 Jahren, ein Paradox. Verstörend, und so ganz anders als er sich das Dasein nach dem Tod vorgestellt hatte. Und als er bereits geglaubt hatte, all die Seltsamkeiten innerhalb der Hallen zu kennen, überraschte ihn Friedpark mit der Rückkehr von Adam. Die Wiedersehensfreude war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen, weil Adam, ehe seine Lebensenergie aufgezehrt war, ins Jenseits hatte hinübergehen müssen. Begleitet von Lara, Zoe, Nathalie hatte Adam seine letzte Reise angetreten. Ihm selbst war der Zutritt verweigert worden. Am selben Tag hatte Anton Rubinger seinen Körper in Mitleidenschaft gezogen, und weil er seither von keinem der Bewohner von Friedpark mehr gesehen worden war, hielt der überwiegende Teil ihn für tot. Der Rest vertrat die Meinung, dass er sich in einer Art Koma befinde und nach der Restauration seines Körpers zu neuem Leben erwachen würde.
„Wie“, fragte er Murr, „treibt man einen Geist aus, wenn man selbst ein Geist ist?“ Murr gab keine Antwort. „Friedpark hat den Prozess gegen Rubingers Angehörige verloren, deshalb wird er seit Tagen aufwendig restauriert. Und das bedeutet nichts Gutes, Murr.“
Gustavo fuhr am Durchgang vorüber, den Refrain des letzten Hits von Jörg Drehts laut mitsingend, dessen Zeremonie der Aufstellung am späten Nachmittag stattgefunden hatte.
‘Ich bin schon viel zu lange hier. Vielleicht sollte ich mich einfach in meinen Körper zurückziehen und warten - bis die Zeit vergeht.’ Renick nahm in Gedanken einen tiefen Atemzug. ‘Nur leider kommen wir nicht von der Stelle.’
Renick verließ seinen Platz und folgte Gustavos Gesang.
„Dort drüben“, hörte er Birgit Sonntag sagen, die ihm mit ihrer Auszubildenden Leonie entgegenkam und einen kleinen Reisekoffer hinter sich her rollte. „Heiderose Häffner. Sie ist Teil der Themengruppe ‘Geschichte der Menschheit’ und verkörpert Marie Curie“, entnahm sie dem Datenblatt und bewegte ihre füllige Figur - Hüften und Fußgelenke neigten zur Schwere und Korpulenz - in den Nebengang. Ihr Gesicht war von beispielloser Ausdruckslosigkeit, ohne Mitleid, ohne Heuchelei. Es erinnerte an die feisten, lächelnden Züge von Buddhastatuen.
„Hm“, entgegnete Leonie nur, das genaue Gegenteil ihrer Ausbilderin; groß, schlank und auf jeden Gesichtsausdruck der Bewohner von Friedpark wie Lackmuspapier reagierend. „Weshalb tun die Angehörigen ihnen das an?“
„Was tun sie wem an?“ Birgits Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
„Na, ihnen hier! Sie auszustellen ... als ob es sich um Kunstwerke handelt.“
„Keine Ahnung. Liebe - Sentimentalität, nicht loslassen können“, antwortete sie. Ihr Tonfall war entsetzlicher als jede Grabesleere. „Hier haben wir sie ja, unsere verhinderte Marie Curie.“ Sie faltete ihr Datenblatt zusammen und stopfte es in ihre rechte Gesäßtasche. „Ausziehen, Haare kämen und neu aufstecken. Gesichtspflege, Schminke, Maniküre“, ordnete Birgit an und schüttelte den Kopf. „Vergebliche Liebesmüh. Vierzehntägig wechseln wir ihre Kleider, und weshalb? Das würde ich liebend gerne ihren Mann fragen.“
„Was ist daran ungewöhnlich?“, wollte Leonie wissen, die erst vor wenigen Tagen ihre Ausbildung in Friedpark begonnen hatte.
„Zwei Blusen, eine mit und eine ohne Rüschen, und dazu zwei Röcke, einen in rot-schwarz und einen schwarz-rot gesprenkelten. Dazu diese klobigen, dunkelbraunen Schnürschuhe, breit wie der Boulevard einer Großstadt ...“ Sie verstummte mit einem vielsagenden Augenaufschlag, während sie Heiderose die Bluse aufknöpfte.
„Können alle Kleidungsstücke auf diese Weise geöffnet werden?“, fragte Leonie, die am Boden kniete und den Koffer aufklappte.
„Ja. Zum Glück! Das Sorglos-Paket kostet im Monat 23,00 Euro. Dafür müssen wir alle vierzehn Tage antreten, Kleider wechseln, die freien Hautpartien polieren ... Die Geschäftsleitung billigt uns dafür fünfzehn Minuten zu. Da hast du keine Zeit, um lange Knöpfe aufzuknibbeln.“
„Und wie werden die Schuhe ausgezogen?“
„Du stellst Fragen, Kindchen. Dafür gibt es ein elektrisches Hebegerät. Was glaubst du, was die Dinger wiegen?“
„Dreißig Kilo, vielleicht?“, schätzte Leonie und fühlte, wie das Unbehagen, das Heideroses entblößter Oberkörper in ihr auslöste, ihre Hände feucht werden ließ.
„Mindestens ihr früheres Gewicht“, antwortete Birgit und klopfte mit den Knöcheln auf Heideroses Rücken. „Allein das Konservierungsmittel wiegt - lass mich nachdenken, damit ich dir nichts Falsches sage - so an die fünfzehn Kilo.“
Das Geräusch von Gustavos Putzmaschine näherte sich, und nur wenige Augenblicke später bog er mit seinem Gefährt um die Ecke. „Ah, hallo Donna Birgit!“, rief er bereits von Weitem und setzte sein breitestes Grinsen auf. „Und neue Donna Azubi. Zwei Sonnen, die mein Herz bebrüten“, flirtete er, während er, die Augen wie ein verliebter Kater zum Himmel verdreht, mit angezogener Handbremse vorbeituckerte. Aus dem Radio dröhnte der Top-Hit des Friedpark Duos ‘Herzinfarkt’, der die Ivanowitsch Brüder binnen zwei Wochen auf Platz eins der deutschen Charts katapultiert hatte. „Liebe bis zum Herzinfarkt“, sang Gustavo den Refrain mit, „vereint auf ewig im Friedpark.“
„Was für ein komischer Kerl“, meinte Leonie, die den Kopf so voller Gedanken hatte, dass sie sich nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren konnte.
„Er ist der Liebling der Putzkolonne“, erwiderte Birgit kühl und abweisend, „weil er ein Putz-Auto hat“, glaubte sie als witzige Bemerkung anfügen zu müssen. Dann bemerkte sie Leonies verständnislosen Blick. „Vergiss es. Du bist zu jung, um die Werbung zu kennen.“
Behutsam legte Leonie die Bluse von Heiderose zusammen, tauschte sie mit der rüschenbesetzten und reichte sie Birgit. „Hier!“ Mehr kam nicht mehr über ihre Lippen. Ihre Augen weiteten sich vor Furcht und mit einem spitzen, durchdringenden Schrei fiel sie nach hinten. Von panischem Schrecken ergriffen rutschte sie von der fürchterlich aussehenden Gestalt weg, bis sie mit der Schulter an das Schienbein von Karl dem Großen stieß und erneut einen markerschütternden Schrei ausstieß. „Da ... Geist ...!“ Die Worte schien sie aus der Kehle zu stoßen, denn ihre Lippen bewegten sich kaum.
Murr sprang fauchend von Renicks Arm und flüchtete an Leonie und Karl dem Großen vorbei in Richtung Halle 9. Birgit drehte sich um, und was sie sah war unaussprechlich. Es erinnerte sie schmerzvoll an den zerstörten Körper von Anton Rubinger. Ihr war, als lebte und lärmte seine Seele noch die unüberwindliche Angst vor dem Urdunkel, den Schrecken von einer alten unsterblichen Stille. „Helft mir“, stieß er mit beschwörender Sanftheit in der Stimme hervor. Seine Worte trafen Birgit mit dem Ton äußerster Verzweiflung, traurig und verloren. In seinen Augen glomm ein hilfloses und einsames Licht, so als sei Birgit das Phantom und auf ewig verloren.
‘Ich habe es geahnt’, dachte Renick . ‘Dieser Rubinger bedeutet Ärger. Und noch ist sein Körper nicht vollständig restauriert.’
„Helft mir.“ Rubingers Erscheinung flackerte.
Zur selben Zeit.
Das Licht der Bildschirme, so schwach sie auch leuchteten, bannte doch die alten, hier seit Jahren hausenden Schatten in die Ecken und Nischen der Empfangshalle. Das Friedpark Duo präsentierte tonlos die zweite Singleauskopplung aus ihrem neuen Album: ‘Wa ... wa ... warum liebst du mich?’
Im Gegensatz zu den Ivanowitsch Brüdern wirkte der Tresen trotz seiner beachtlichen Größe zierlich. Linker Hand, durch die Notbeleuchtung in grünen Lichtschein getaucht, drei Sessel, geometrisch exakt um den runden Glastisch gruppiert. Auf der anderen Seite, lässig an den Tresen gelehnt, warb Bruno, der erste seines Standes, höchstselbst für die neue Produktlinie von Friedpark. Der blaue Overall über dem bunt karierten Arbeitshemd war im Halbdunkel mehr zu ahnen als zu sehen; nur der auf Hochglanz polierte Schutzhelm spiegelte die Werbung der Bildschirme wider. Er lächelte so unbedarft wie ein Kleinkind. Es ging das Gerücht, dass die Kunden bei seinem Anblick für einen Moment glückliche Menschen wurden.
Das Friedpark Duo schmetterte gerade den letzten Refrain ‘Wa ... wa ... warum erschießt du mich?’, mit der ihnen eigenen Inbrunst in die grölende Menge, als der Neue auftauchte, kaum drei Schritte von Bruno entfernt.
„Ich wusste es! Sie lieben mich“, frohlockte jede Nervenfaser in Jörg Drehts. Er reckte triumphierend die Arme in den Himmel und setzte sein strahlendstes Lächeln auf, mit dem er bisher noch jeden niedergestreckt hatte, sogar den missliebigsten Kritiker. „Endlich! Mein bejubeltes Comeback!“ Der frisch Geschlüpfte, und daran konnte auch sein aufgesetztes, selbst die hintersten Backenzähne entblößendes Grinsen nichts ändern, besaß ein trauriges, graues, fast plattes Gesicht. Jörg Drehts war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, und außer seinem roten Haar hatte er nichts Auffälliges an sich.
„Jetzt!’ Plötzlich war er verunsichert und lauschte in die Stille, als warte er auf ein bestimmtes Zeichen. ‘Müsste jetzt nicht der Spot aufleuchten?’ Er hüstelte und es gelang ihm, selbst dieses beiläufige Geräusch unfreundlich klingen zu lassen. Sichtlich erbost über die laienhafte Inszenierung seines ersten Auftritts nach über sechs Jahren, suchte Jörg Drehts sich abzulenken, indem er die erste Textzeile seines Eröffnungsliedes summte, ‘Ich gebe dir mein letztes Hemd’, bis er den Geist des früheren, jüngeren und um einiges besser aussehenden Jörg Drehts mit dem in vielen Stunden eingeübten Lächeln auf sich zukommen sah. Es handelte sich um jenes besondere Lächeln, das er sich vor großen Auftritten stets selbst schenkte und das ihn, zumindest für die nächsten zwei Stunden beruhigte. In diesen - für Uneingeweihte kaum merklichen - Minuten, verstand er sich selbst so weit, wie er sich selbst verstehen wollte. Und er glaubte felsenfest an sich und seinen immerwährenden Erfolg, weil ihm dieses Lächeln genau diesen Eindruck suggerierte und ihm überzeugend versicherte, dass der heutige Abend zu den besten seines Lebens gehören würde. Zu seinem größten Bedauern zog sich dieses, ihn wie keine Chartplatzierung oder in einschlägigen Frauenzeitschriften hingeworfene Huldigung in höhere Sphären entrückende Lächeln von ihm zurück, und was ihm blieb war sein jüngeres, um einiges zu schrill gekleidetes Ego, das ihn stier angrinste, als ob ihm gerade erfolgreich ein Gutteil seines Gehirns operativ entfernt worden wäre.
‘Du trägst bereits dein letztes Hemd’, offenbarte ihm dieser junge Schnösel mit einer Stimme, die verriet, dass ihm gerade eine höchst seltsame und überaus bedeutsame Nachricht mitgeteilt worden war, ehe er an ihm vorbeieilte und in dem von der Notbeleuchtung nur spärlich aufgehellten Dunkel untertauchte.
„Wie jetzt?“ Verwundert blickte er sich um, und als seine noch immer emporgestreckten Arme allmählich zu zittern anfingen, überließ er sie der Schwerkraft. Dann bemerkte er die Bildschirme.
Nur wenig später, an anderer Stelle.
Das leise Ticken von Friedpark, das in der Nacht zum Leben erwachte, die wunderliche Vertrautheit der Stimmen an diesem seltsamen Ort, schienen magisch und unwirklich. Die Bewohner hatten keine Existenz außer der, die sie sich selbst verliehen. Herr Heinrich war sicher, dass er gestorben und, er wusste nur nicht genau, wann sein Denken wieder eingesetzt hatte, er wiedergeboren worden war. Alles, so fuhren seine Gedanken fort, was vorher gewesen ist, gehörte zu einer anderen Welt. Die Erinnerung an seine Familie fühlte sich an, als ob sie die Gespenster wären. Unbewusst zwängte er sich aus seinem Körper, und im Gegensatz zu früher, wo er selbst an heißen Tagen gefröstelt hatte, spürte er nicht den geringsten Temperaturunterschied. Er straffte seine Muskeln, obwohl es unnötig war.
Seltsamerweise wollte er jetzt unbedingt die exakte Uhrzeit wissen. Als er jedoch nach seiner Taschenuhr wühlen wollte, musste er zu seinem Schrecken feststellen, dass die Westentasche leer war und seine Hand ins Nichts griff. Unwillkürlich formulierten seine Lippen stets dieselbe Phrase: „Was für eine Nacht.“
Herr Heinrich trug einen dunkelgrauen Zweireiher, dazu eine Krawatte, hellgrün mit schwarzen Punkten, dunkle Lederschuhe, und, soviel er in der Glasscheibe zu erkennen vermochte, trug er sein Haar wie gewohnt. Kurz, mit einem angedeuteten Scheitel auf der linken Seite. Er überprüfte schnell den korrekten Sitz der Krawatte. Sie saß ebenso perfekt wie sein neues Gebiss, nur sein Gesicht war von unnatürlicher Blässe - ja eigentlich sah es aus, als sei es von einer Schicht weißen Puders bedeckt -, und das besorgte ihn doch ein wenig.
„Willkommen!“, hörte er zahllose Stimmen unterschiedlicher Färbung und Lautstärke rufen. Erst jetzt wurde er der Gruppe ansichtig, die er - und hier stutzte er zum ersten, jedoch nicht zum letzten Mal in dieser Nacht - hinter der Glasscheibe an einer Haltestelle der Friedparkschen Straßenbahn stehen sah.
„War das der Zeitgeist?“ Herr Heinrich nahm seine Umgebung näher in Augenschein. Er stand im Mittelgang eines Straßenbahnwagens aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, unmittelbar neben einer jungen, schlanken Frau von ungefähr dreißig Jahren, mit einem Bubikopf von roten Haaren und rötlicher Haut. Ihre Augenbrauen waren gezupft und dann in verwegener Form nachgemalt worden. Ihr gegenüber eine ältere Frau mit ihrem Mann, beide in trübsinniges Schweigen vertieft, und links, auf der ihm gegenüberliegenden Seite, auf einem Einzelplatz, saß er selbst, das Kinn auf die Faust gestützt, und blickte gelangweilt nach draußen. Bei diesem Anblick durchfuhr ihn ein kräftiger Schauer, der auf Höhe des Herzens aufblitzte, dann gleichzeitig in Richtung Kopf und Füße brauste und an beiden Polen für gehörig Unordnung sorgte. Der Überraschungsangriff zwang ihn dazu, sich am Haltegriff festzuklammern, weil seine Beine sich schlagartig in eine gummiartige Masse verwandelt hatten, während in seinem Kopf ein heftiges Unwetter losbrach, das ihn binnen Sekunden in einen grimassierenden Trottel transformierte.
„Willkommen!“, schrie Sally und hüpfte, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend auf und ab als wäre sie zufällig mit beiden Füßen in einen Ameisenhaufen geraten. „Jetzt bleib geschmeidig und komm endlich raus, oder bist ein Bergaufbremser?“ Wie immer, wenn sie aufgeregt war, verfiel sie in ihren von der Clique geprägten Slang.
„Ist das der Tod?“, fragte sich Herr Heinrich, und weil er in diesem Moment in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, lief er in Gedanken den Gang auf und ab. „Oder bin ich bereits im Jenseits? Doch da war weder ein Tunnel noch eine Brücke ... Hermine.“ Betrübt seufzend betrachtete er sich selbst und, war trotz sämtlicher Ungereimtheiten in Bezug auf seine Situation mit seinem Äußeren leidlich zufrieden. Plötzlich dachte er: ‘Der Beobachter des Beobachters?’ Der Gedanke irritierte ihn zuerst, dann amüsierte er ihn aber und zuletzt ertappte Herr Heinrich sich dabei, dass er darüber nachgrübelte, wie er ihn zu interpretieren gedachte. ‘Wie es aussieht, bin ich tot. Folglich werde ich in der mir bekannten Welt nicht mehr existent sein - aber was ist stattdessen? Der Aufenthalt in einem Wagen der Straßenbahn aus dem vorigen Jahrhundert?’ Er musste lachen. Ein Fremder, der Herrn Heinrich nicht von früher her kannte, hätte ihn aufgrund seines Heiterkeitsausbruchs mit Sicherheit als etwas seltsame, zumindest einfach strukturierte Person betrachtet. „Ich will zu meiner Hermine“, seufzte er und blickte irritiert auf die wie Puppen in einem Marionettentheater angeordneten Menschen. Die vertrackte Situation belastete ihn. Ein beängstigender Druck lastete auf seinem Herzen und ließ ihn sich nach Hermine sehnen, um diese entsetzliche Bürde nicht alleine tragen zu müssen. ‘Da stimmt doch etwas nicht. Ich muss sachlich bleiben und die Fakten noch einmal von Anfang an überdenken.’
„Jetzt aber! Nicht so schüchtern. Wir beißen nicht“, sagte Sally in seine Richtung, die plötzlich hinter ihm auf dem freien Sitzplatz auftauchte, dort mit überkreuzten Beinen saß und bei jedem Wort mit dem Fuß wippte. Herr Heinrich wendete langsam den Kopf. Ihr Gesicht von Ausschweifungen gezeichnet, grau und mager, als ob sämtliche Feuchtigkeit herausgepresst worden wäre um den schmalen Mund spielte steif ein hölzernes Lachen.
„Was ist das hier?“
„Endstation Sehnsucht. Spaß beiseite, das hier ist Friedpark. Vielleicht hast du bereits darüber gelesen. Wir sind das Empfangskomitee.“
„Aha“, erwiderte Herr Heinrich verwundert. Er zitterte, schwitzte und wäre am liebsten neben seiner Hermine aufgewacht, doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht.
„Tja, das ist die Stornokarte. Heute Nachmittag wurdest du in einer echt coolen Party aufgestellt. Würdevoller Anfang.“
„War ... war meine Hermine auch dabei?“ Sein Blick geisterte durch den Straßenbahnwagen wie ein Schatten. „Sie ist eher klein, gedrungene Figur, große Nase und sie trägt ihr Haar immer hochgesteckt.“
„Ja - ich erinnere mich. Grauer Hosenanzug ... weinte unaufhörlich ...“
„Das ist meine Hermine! Hat sie etwas gesagt?“
„Nur die üblichen Phrasen. Alles Gute für den Neuanfang. Ich komm dich jeden Tag besuchen. Du wirst dich hier bestimmt schnell eingewöhnen und neue Bekannte finden. Richtiges Martinshorn. Am Ende, nachdem der Pfaffe und die Herren und Damen von der Verwaltung gegangen waren, hat sie noch Ihr Namensschild poliert, und sich mit einem Klapps auf Ihre Schulter verabschiedet. Sollte mal zu einem flotten Harrschopfchrasher. Auf der Treppe wäre sie fast noch gestürzt.“
„Eindeutig meine Hermine“, bestätigte Herr Heinrich und verlor sich etwas in Gedanken, wobei eine Frage, die ihn noch vor wenigen Augenblicken beschäftigt hatte, irgendwie abhandengekommen war. „Wenn ich nur wüsste, was genau mit mir passiert ist.“
„Keine Sorge“, beruhigte ihn Sally. „Gerade bei den älteren Semestern, oder wenn sie in den letzten Tagen unter Drogen gestanden haben, dauert es gewöhnlich ein paar Tage bis die Erinnerung zurückkommt.“
„Danke.“ Plötzlich entsann sich Herr Heinrich seiner Frage von vorhin. „Wie war doch gleich Ihr Name?“
„Nenn mich einfach Sally. Ich stehe in Halle fünf. Themengruppe ‘Geschichte der Kunst’. Ich verkörpere dort den Ritter in Dürers ‘Ritter, Tod und Teufel’. Allerdings fehlt uns noch der Tod. Jammerschade.“
„Schön.“ Er wirkte nachdenklich. „Und Sie sind tatsächlich der Meinung, dass mein Gedächtnis vollständig genesen wird?“
„Vertraue mir. So, und jetzt sollten wir das Empfangskomitee nicht länger warten lassen.“
„Aber ... was wird denn von mir erwartet? Doch nicht eine Rede?“
Ein markerschütternder Schrei zerriss nicht nur den abendlichen Frieden, sondern unterbrach auch Herrn Heinrich, der mit offenem Mund mit ansehen musste, wie Sally verblasste und sich praktisch in Luft auflöste.
Noch immer zur selben Zeit.
„Helft mir“, flüsterte Rubinger so leise, dass Birgit die Worte von seinen zerfledderten Lippen ablesen musste. Er streckte ihr seine verletzte Hand entgegen, als bedürfe es zu seiner Rettung nur der flüchtigen Berührung mit einem Lebenden. Sein Gesicht war gezeichnet von den Schatten des Todes, eines weiteren Todes. Sein rechtes Auge war halb geschlossen, umwoben vom ewigen Schlaf und bereits glasig vom Blick in jene andere Welt.
„Helft mir! Rettet euch“, flehte Rubinger. Birgit fühlte, dass der Sterbende sich nicht länger von der Hoffnung auf Genesung zum Narren halten ließ; sie wusste, dass er es wusste, dass er dem Ende nahe war. Dieses Wissen hatte ihm zweifelsohne neue Kräfte verliehen, ungeahnte, kaum vorstellbare Kräfte, die aus der Resignation stammten und die das fürchterliche Gefühl des Entsetzens und der Verzweiflung überwanden. Rubinger hatte sich mit dem Tod abgefunden und er würde ihn voller Demut annehmen, damit er endlich Erlösung fand. Von plötzlicher Rührung überwältigt, streckte sie ihm wie in Trance ihre Hand entgegen.
„Nicht!“, schrie Leonie, die ihren anfänglichen Schock überwunden hatte, noch immer am Boden kauernd, das harte Schienbein von Karl dem Großen im Rücken. Rubingers Gestalt flackerte als unterliege sie Spannungsschwankungen, ehe sie verblasste.
Renick näherte sich der Stelle, an der Rubinger gestanden hatte. „Das riecht nach Ärger!“ Er ging in die Hocke und fuhr mit der Hand über den Boden. „Warm. Gefährlich warm.“ Er wechselte den Ort.
Gustavo hielt am Ende des Ganges, und als er Leonie mit ihrem kalkweißen Gesicht am Boden kauern sah, auf dem sich der ganze Schrecken der letzten Minuten eingenistet hatte, parkte er seine Maschine, sprang vom Sitz und eilte ihr zu Hilfe.
„Mamma Mia! Ist passiert Unglück? Donna Azubi nicht gehen gut?“, bestürmte er sie mit Fragen, als er neben ihr kniete. Besorgnis sprach aus seinem Blick.
„Nein. Danke ... alles in Ordnung. Ich habe nur das Gleichgewicht verloren und bin dann über den Koffer gestolpert.“
„Kommen, Blume meines Herzens. Ich helfen dir aufstehen.“ Behutsam, als müsse er ein rohes Ei mit seinen, im Verhältnis zum Körper, großen Händen unbeschadet in Sicherheit bringen, nahm er ihre Hand und half ihr auf. „Leicht wie Feder. Mamma Mia! Du zittern wie Laub von diese Baum, eh. Was passiert? Ihr gesehen Geist?“
Durch Leonies Aufschrei fiel Heiderose aus ihrem Körper. Sie erblickte Rubinger, den sie bisher nur aus Berichten kannte. Ihr Schrei verfing sich heiser und hart in ihrer Kehle, wodurch er zu einem hysterischen Seufzer degradiert wurde. Ihr war, als hätte das Herz zu schlagen aufgehört, als wäre sie an Körper und Seele erstarrt. Gebannt, voller Unglauben blickte sie auf Rubingers entstellten Körper. Bis zu dessen Auflösung war sie sich ihrer selbst nicht bewusst gewesen. Ihr Atem ging schwer und auf ihrem grobknochigen Gesicht lag ein Ausdruck von seelischer Qual. Das starke Kinn hing leblos herunter. So fand Karl von Stetten sie vor.
„Ist ihnen nicht wohl, Verehrteste?“, fragte er Heiderose, wobei seine Worte durch die ungewohnte Art seiner Betonung, die ihm eigen war, mehr zu sein schienen als eine gewöhnliche Frage nach ihrem Befinden.
„Dort.“ Heiderose hauchte das Wort aus, gleich ihrem letzten Atemzug vor geraumer Zeit. „Rubinger ... glaube ich ... den schweren Verletzungen nach.“
„Rubinger? Sind Sie sich dessen ganz sicher?“
„Ja. Er war hier ... und sah ... schrecklich zugerichtet aus ...“
„Danke, Gustavo“, sagte Leonie jetzt, „es geht wieder.“ Sie schloss kurz die Augen, als könne sie damit das Bild der übel zugerichteten Erscheinung aus ihren Gedanken verscheuchen. Nachdem sie tief Atem geschöpft hatte, sah sie zu Birgit hinüber, die sich in Zeitlupe umdrehte, mit fahrigen Bewegungen Heideroses Bluse vom Boden aufhob, sie um deren knochige, weiß glänzende Schulter legte und mechanisch verschloss.
„Reich mir bitte den Rock.“ Birgit schnippte mit den Fingern.
„Alles gut? Mamma Mia! Herz von Gustavo solche Ärger nicht gewohnt. Wird zerspringen wie Glas, wenn fällt auf Boden. Armer Gustavo. Wird vermissen seine Sonnen im Herzen. Armer Gustavo“, wiederholte er wie zur Bekräftigung seines bedauernswerten Zustandes, bestieg sein Gefährt und fuhr, bereits wieder einen seiner Lieblingstitel summend, den Gang hinunter.
„Rubinger?“, antwortete von Stetten verspätet, als wären Heideroses Worte erst jetzt in sein Bewusstsein eingesickert. „Nicht umzubringen, der Knabe. Alle Achtung! Ja, der Körper ist zäh. Gelebt und gestorben, durch Millionen von Geburten, Leben und Tode hindurch, gezeichnet durch dunkles Vergessen. Da hat dieser Rubinger bis über den Tod hinaus gestrebt, gekämpft, gehofft und war, so sah es zumindest aus, ein weiteres Mal Opfer des ewigen Mahlstroms, ausgelöscht wie das Zeitgefühl selbst. Und jetzt wird es für ihn zum unheimlichen Traum, der womöglich niemals endet.“
„Gehen wir!“, sagte Birgit zu Leonie, die eiligst Heideroses Kleider im Koffer verstaute und dann ihrer davoneilenden Chefin folgte.
Heiderose schreckte auf. „Wie? Was für ein Albtraum ... Entschuldigen Sie, was haben Sie gesagt?“
„Nichts! Nichts“, beeilte sich von Stetten mit der rechten Hand abwinkend zu erwidern, während weitere Bewohner von Friedpark am Ort des Geschehens auftauchten, um ihre Neugier zu befriedigen oder auch, um neue Hoffnung zu schöpfen in ihrem Ringen um Erlösung.
„Wer ist dieser Rubinger?“
Von Stetten war ganz in die Betrachtung von Heideroses Statue versunken. Auf dem dünnen, nicht vollständig entwickelten Hals saß ein schmaler, hochstirniger Kopf mit dichtem schwarzbraunem Haar, das ein hageres Gesicht wie eine Kuppel überwölbte.
„Hören Sie! Wer ist dieser Rubinger?“
„Der Mann vom Amazonas.“
„Was ist mit ihm geschehen? Wer hat ihn so übel zugerichtet?“ Heideroses Angst, welche bis zu diesem Augenblick mit Rubingers Erscheinung beschäftigt gewesen war, ergriff sie nun hart und erbarmungslos. „Ich kann das nicht länger ertragen! Warum musste meine Mutter mir das antun?“
„Beruhigen Sie sich, Frau Häffner“, sagte von Stetten, der, bevor er einen Vortrag über die weibliche Psyche anschließen konnte, mit ansehen musste wie Heiderose sich auflöste und einzig den Nachhall ihrer Worte zurückließ.
„Hast du ihn gesehen?“, wurde er gefragt.
„Nein, Lothar.“
Der Mittvierziger, klein, Junggeselle, war von seinem Onkel altmodisch dandyhaft gekleidet worden. Sein Haar voll, an den Schläfen bereits ergraut und wunderbar frisiert. Die stark hervortretenden gelben Augäpfel suchten zwischen den Statuen nach Rubinger. „Soll kein schöner Anblick gewesen sein. Hat er was gesagt? Man, hier in Friedpark ist alles so geheimnisvoll.“
„Nur dass er Hilfe benötigt. Oh, wie bekannt ist mir dieser Zustand der Hilflosigkeit“, übermannte ihn einmal mehr sein Schicksal. „Nach meiner Erkrankung, die mich in den Rollstuhl zwang ... also die ersten Wochen ... da war nur Dunkelheit; eine Dunkelheit, schlimmer als jene, die ich bei meinen Rückführungen zwischen Tod und Wiederverkörperung durchschreiten musste. Selbst eine Welt ohne Sonne könnte eine solche Dunkelheit nicht erzeugen; es war eine alte Dunkelheit aus früher Urzeit, vermutlich nur sich selbst vertraut. Damals suchte ich verzweifelt nach einem Hoffnungsschimmer ... Oh, ich weiß, was Rubinger erleidet.“
„Wird er wiederkommen?“, wollte eine ältere Frau wissen, die erst vor wenigen Wochen zu den Landfrauen gestoßen war und, infolge der bescheidenen Mittel ihrer Familie, kräftig die Werbetrommel für den robusten Mixer von Homework rühren musste.
Lothar zuckte mit den Schultern.
„Dass er jetzt auftaucht ist kein Zufall. Das hängt mit der Restauration seiner Statue zusammen. Die Energie der Arbeiter eröffnet ihm gewisse Möglichkeiten“, vermutete von Stetten.
„Schön. Und was will er so Wichtiges mitteilen?“
„Dass er eine Gefahr darstellt? Ich habe keine Ahnung, Lothar.“
„Ist ja schrecklich! Das muss ich sofort meinen Freundinnen erzählen.“ Die Dame mit dem unverwüstlichen Mixer, der vor keinem Teig kapitulierte, verblasste zitternd.
„Ich sollte Renick informieren“, verabschiedete sich von Stetten und ließ einen verängstigten Lothar an dem mittlerweile verwaisten Tatort zurück.
Minuten später in der Empfangshalle.
„Unser besonderes Angebot für Schulen und Auszubildende in Pflegeberufen“, pries die junge Frau in freundlichem Ton ein neues Angebot des Unternehmens an, während sie auf eine in Form eines Sarges gestaltete Kiste wies. Sie besaß eine der Werbung angepasste blasse Haut mit hübschen Sommersprossen und einen schmalen, humorvollen Mund.
„Unser Übungskoffer ‘Ich bin dann mal weg’ ist eine überall einsetzbare Trainingsbox für werdende Trauernde von 6 - 80 Jahren und solche, die es noch werden wollen. Auf spielerische Weise werden die Seminarteilnehmer durch eine Vielzahl informativer Karten und Requisiten zum Kennenlernen und Ausprobieren der Thematik ‘Abschied, Umzug, Trauern und Pflege’ des künftig in Friedpark lebenden Angehörigen herangeführt. So werden Hilfen zum Umgang mit dem neuen Lebensabschnitt der geliebten Person angeboten und soziale Kompetenz wie Empathie gegenüber Gleichgesinnten gestärkt.
Sämtliche Requisiten, die sich in der farbenfrohen Kiste befinden, können in die Hand genommen und mit allen Sinnen erfahren werden. Hörrohr, Federn und Streichhölzer beleuchten den Übergang in den neuen Lebensabschnitt von der fachlichen Seite. Berührungsängste können zudem leichter überwunden werden, wenn die Seminarteilnehmer zum Beispiel mit Schminke, Sonnenbrille und schwarzem Hut mit Schleier die Begrüßung ihres geliebten Angehörigen in Friedpark in einem Rollenspiel vorab üben. Unser Übungskoffer eignet sich auch für Anfänger“, endete sie mit einem Fingerzeig auf die geschmackvoll gestaltete Übungsbox und einem verheißungsvollen Lächeln, das Besucher sofort an einen Umzug in den Friedpark denken ließ.
„Wie jetzt?“, stieß Jörg Drehts irritiert aus, während auf dem Bildschirm ein kurzer Kameraschwenk über die Themengruppe ‘Geschichte der Menschheit’ eingeblendet wurde. Verwundert schloss er die Augen, und im Widerschein seines eigenen inneren Lichts wurde er sich eines Ereignisses von universaler Bedeutung bewusst. Die Blicke tausender Fans ruhten voll heiliger Scheu auf ihm. Er antwortete darauf mit einem nervösen Schluckauf.