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Friedpark Das etwas andere Unternehmen ist zurück Allmählich verloren die Mitglieder des Begrüßungskomitees das Interesse an dem jungen Mann, zumal er regungslos vor seiner Statue ausharrte, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Umschlungen von der Dunkelheit im Augenblick seines Todes, der dunkelsten Dunkelheit, die er je erlebt hatte und die weit von der entfernt war, wie sie nach dem Untergang der Sonne eintrat. Es war eine alte, längst in Vergessenheit geratene Dunkelheit, vertraut nur mit sich selbst. Er spürte, wie sie ihn liebkoste, über Hals und Gesicht leckte, sanft und mit aller Vorsicht, so wie Katzen es tun, um herauszufinden, ob sie etwas fressen möchten. Sein Bewusstsein, verlor sich darin, schwand dahin, bis es luftig wurde und substanzlos wie wispernde Stimmen. Ihn fröstelte und einer Gewohnheit folgend suchte er nach dem Licht - vergeblich. Wir werden alt, wir werden älter, wir werden Friedwälder. (Philosophie der Agentur Friedwald, aus der später das Unternehmen Friedpark hervorging)
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Vom selben Autor bei BoD erschienen:
Der programmierte Tod
N - Ich
Andere Zeiten - Andere Menschen
Sinnlose Morde
Sachbücher:
Über den Kosmos Reihe:
Ursprung und Evolution
Homo sapiens und Transzendenz
Individualität, Freiheit und Moral
Der Autor
Volker Schopf, wurde 1958 in Gerlingen bei Stuttgart geboren. Nach Schule und Ausbildung lebt er heute im nördlichen Schwarzwald.
Bisher veröffentlichte er erzählende Prosa, Theaterstücke und drei Fachbücher.
Außerdem ist er Naturforscher und setzt sich seit 30 Jahren mit den neuesten wissenschaftlichen Theorien auseinander und er ist der Überzeugung, dass wir in einer Übergangszeit leben, wie er in seinen Fachbüchern ‘Über den Kosmos’ darlegte.
Wir werden alt, wir werden älter,
wir werden Friedwälder
Philosophie der Agentur Friedwald, aus der später
das Unternehmen Friedpark hervorging.
12.08.2015: Abends
13.08.2015: Am Morgen
14.08.2015: Gegen Ende der Nacht
14.08.2015: Vormittags
14.08.2015: Um die Mittagszeit
14.08.2015: Nachmittags
15.08.2015: Mitternacht
15.08.2015: Früher Vormittag
15.08.2015: Gegen Mittag
15.08.2015: Spät am Nachmittag
16.08.2015: Im Morgengrauen
15.08.2015: Kurz nach Mittag
06.08.2015: Im Laufe des Tages
17.08.2015: Gegen fünf Uhr
17.08.2015: Früher Vormittag
18.08.2015: Kurz vor dem Morgengrauen
‘Es gibt eine Zeit, die zeitlos ist’, dachte Renick und schüttelte den Kopf, wodurch sein großer Schopf aus lockigem braunen Haar hin und her wogte. ‘Eine Zeit, in der das Jetzt und die Ewigkeit zu etwas Neuem verschmelzen, das bisher keinen Namen besitzt. Wie wir hier im Friedpark’, wisperte ein Gedanke mit kleiner, trauriger Stimme. ‚Und es gefällt mir nicht.‘
Die Notbeleuchtung spielte mit seiner schmalen Gestalt, hüllte sie in sanftes Grün, das ihn an das Rascheln der Blätter an lauen Sommerabenden erinnerte, wenn die Vorboten der Nacht durch die Häuserschluchten strichen, wie eine flüchtige Brise oder der Lufthauch eines Geistes im Vorübergehen. Noch wehrte sich der Tag, kämpfte mit dem wachsenden Anspruch der Schatten, hielt er den letzten Atemzug in der Hoffnung zurück, er verliehe ihm Unsterblichkeit. Vergeblich!
„Du solltest nicht so viel Zeit mit dir selbst verbringen“, sagte Lara, als sie neben Renick trat. Ihre grauen Augen tasteten sein Ohrläppchen, die Silhouette seiner ausgeprägten Hakennase ab und folgten dann seinem Blick zur Stadt hinüber. Ihr Haar hing schlaff bis über die Schultern herunter und sie trug ihr blaues Kattunkleid, wie jeden Tag.
„Jetzt sind die Straßen verwaist. Nicht so, wie in den frühen Morgenstunden, bevor die Menschen aus ihren Häusern quellen und die Straßen füllen. Sie klettern in ihre Wagen, warten an den Bushaltestellen oder strömen in die S-Bahn-Schächte, um wenig später von ihren Büros, ihren Arbeitsplätzen, aufgesaugt zu werden. Am Abend beginnt das Spiel von Neuem. Das ewige Spiel der Zeitmaschine.“ Renick verstummte und lächelte wehmütig. Die Erinnerung an alte Gewohnheiten ließ ihn mit der Hand über sein Gesicht streichen.
„Kannst du dich noch an ihre Geräusche erinnern?“ Lara, die bereits mit fünfzehn zu wachsen aufgehört und genauso dürr ausgesehen hatte wie heute, folgte seinem Blick. „Die der Stadt, meine ich.“
„Nur zu gut - und ich vermisse sie nicht.“
„Ich schon.“ Sie wandte den Blick von der Stadt ab und sah, wie Renicks Augen sie fixierten.
‘Sein Blick ist so fahl, ohne Tiefe, als ob sie etwas Schreckliches mit angesehen hätten. Sie passen überhaupt nicht zu seinem romantischen Charakter.’ Sie musste an die Gesichter der Jünglinge denken, wie sie auf mittelalterlichen Gemälden dargestellt wurden.
Die Bilder der Kindheit, die Renick in dieser Stadt verbracht hatte, zehrten an seiner Gestalt. „Links neben der Kirche, das war mein Viertel, meine Straße, das Haus mit der ewig knarrenden Holztür. Ich weiß nicht, wie oft Vater die Scharniere geölt, sie dabei verflucht und ihr angedroht hat, sie zu verheizen. Nichts hat jemals geholfen.
Um diese Zeit tritt dort die erste Katze aus dem überhitzten Hausflur und reckt die Nase in die Höhe, schnuppert die Gerüche ihres Reviers. Fenster werden geöffnet und das Scheppern von Töpfen dringt auf die Straße, gefolgt vom Klirren des Geschirrs, das von hungrigen Kindern aus dem Schrank und fantasievoll auf dem Tisch verteilt wird.“
Renick grinste spitzbübisch, wie damals, als sie den alten, stets griesgrämig dreinblickenden Händler geärgert hatten. Sich diese Dinge ins Gedächtnis zu rufen, war für ihn insofern von Bedeutung, als er fürchtete, dass sein jetziges Dasein seinen Geist früher oder später in den Irrsinn treiben würde.
Auf seiner inneren Leinwand sah er die beiden säuerlichen, früh verblühten Schwestern aus dem Haus gegenüber, die den lieben langen Tag auf der wurmstichigen Holzbank verbrachten und sich über jeden und alles zankten. Zwei Häuser weiter, an der Haltestelle der Straßenbahn, Hausers Kiosk, der am Nachmittag, wenn die Schule vorbei war und die Jungen vor lauter ungebändigter Energie nicht wussten, was sie zuerst unternehmen sollten, von diesen kreischend umringt wurde, bis Hauser brüllte: „Haut ab!“, und sie auseinander stoben wie die Glasperlen einer zerrissenen Halskette. Auf dem Schaufenstersims hockte Werner, der in der Wohnung unter ihnen lebte und auf sein Mädchen wartete. Gierig verschlang er sein Popcorn, und während er von ihr träumte, kam ein frecher, kleiner Vogel verstohlen näher und pickte das Popcorn auf, das wie Schnee um seine Füße verstreut lag. Und Renick dachte an Marie, seine Jugendliebe, deren Lippen er nie anders als aufgesprungen gesehen und die - als er ihr zum letzten Mal begegnet war - vor unausgesprochenem Versprechen gezittert hatte, wie es die Art von aufgeschreckten Schüchternen war, ehe sie aus seinem Blickfeld verschwand und als Schlagzeile in der Zeitung zu ihm zurückkehrte, weil das Wasser des nahe gelegenen Sees nach ihr gegriffen hatte.
„Heute sind die Häuser modernisiert, die Wohnungen teuer und ihre früheren Bewohner entweder fortgezogen oder gestorben. Der lärmende Straßenverkehr hat selbst die meisten Vögel vertrieben und anstatt ihres Gesangs, dringen Abgase, Flüche und die hektische Betriebsamkeit des alltäglichen Irrsinns in die Wohnungen ein und verkriechen sich hinter den Schränken und unter den Teppichen und treiben dort ihr Unwesen mit den Bewohnern.“
„Was hast du heute nur, Renick? So melancholisch kenne ich dich überhaupt nicht.“
„Es ist nichts“, meinte Renick und versuchte ein Lächeln, das misslang. „Dort hätte mich meine Familie begraben sollen“, fügte er hinzu und in seiner Stimme lag die ganze Einsamkeit einer nächtlichen Großstadt.
„Dann würdest du anstatt hier über einen Friedhof wandern.“ Lara sprach die Worte so leise, dass er sie von ihren Lippen ablesen musste.
Renick zuckte auf seine vertraute, schiefe Art mit den Schultern, zog gleichzeitig den Kopf ein und legte ihn schräg wie ein Vogel, der auf Würmer lauert.
„Nein“, widersprach er mit verblüffendem Eifer und einer Gewissheit, die Lara aufhorchen ließ. „Dort hätten wir die Wahl - ins Licht gehen oder auf unbestimmte Zeit bei unseren Angehörigen verweilen.“
„Woher willst du das wissen?“ Laras Stimme klang beunruhigt und neugierig zugleich.
Er wurde vom Strudel der Erinnerungen in die Tiefe gezogen. „Als Kind wanderte ich nach dem Abendessen oft stundenlang über den Friedhof. Mutter spülte das Geschirr, während Vater die Zeitung las und später saßen sie vor dem Fernseher, bis Mutter das Gähnen anfing und Vater fragte: ‘Hast du den Jungen gesehen?’ Natürlich lag ich um diese Zeit im Bett.“ Für den Bruchteil eines Augenblicks sah Renick froh und glücklich aus - wie einer, der seine Familie vom Bahnhof abholt.
„Nach Einbruch der Dunkelheit ließen sich die Besucher an einer Hand abzählen. Angehörige, die nach der Arbeit, schnell zum Gießen kamen oder Trauernde in ihrem frischen Schmerz. Sie wollten den Geliebten nicht loslassen, zupften die verwelkten Blüten von den Gestecken und weinten still und unaufhörlich vor sich hin.“
„An meiner Statue weint niemand“, warf Lara leise ein. „Nur unausgesprochene Vorwürfe, als hätte ich Schuld an meinem eigenen Tod.“
Renick hörte ihre Worte nicht.
„Wenn der Wind leise um die Grabsteine wisperte, die Farben blasser wurden, weil die Schatten aus ihren verborgenen Ritzen und Winkeln krochen, und die Kreuze auf den Familiengräbern zusammenrückten wie frierende Kühe, dann setzte ich mich auf den geharkten Kiesweg, schloss die Augen und stellte mir vor, wie es ist, in dieser schmalen Holzkiste, umgeben von Erde.“
Er unterbrach sich, lachte kopfschüttelnd und fuhr fort: „Es war, als läge ich nachts unter dem Bett, nur dass ich anstatt der Matratze, der Wand und den Füßen der Kommode fein geschliffenes und poliertes Holz sah. Dann würde ich einschlafen und - weiter bin ich in meiner Vorstellung nie gekommen.“
„Hattest du keine Angst?“
„Darauf wollte ich ja hinaus“, antwortete er. „Kinder sind sensitiv veranlagt. Sie leben in einer umfassenderen Realität - aber ich fühlte und sah nichts. Keine Stimmen, die aus der Erde drangen oder schemenhafte Gestalten, die zwischen den Gräbern irrlichterten. Nur Stille und die üblichen Geräusche der Stadt. Es existierte nichts, wovor ich mich hätte fürchten können.“
„Bisher ist kein Kind auf uns aufmerksam geworden“, erwiderte Lara, ehrlich wie immer. „So viel zu deiner Theorie.“
„Weil wir im Gegensatz zu den Ersten hier anders sind“, sagte Renick und aus seiner Stimme sprach eine ruhige Furcht. „Selbst Kindern bleibt unsere Existenz verborgen. Verstehst du?“
„Was hat die Wahrnehmung von Kindern hier im Friedpark, mit deinen nächtlichen Erlebnissen auf einem Friedhof zu tun?“
„Kein Geist lebt auf dem Friedhof. Entweder er geht hinüber oder er folgt seinen Angehörigen. Folglich konnte ich so spät am Abend keine Geister sehen oder eben nur, wenn ich unwahrscheinliches Glück besessen hätte.“
„Hm. Weshalb sollte es auf dem Friedhof keine Geister geben? Nur weil du sie nicht gesehen hast? Vermutlich hast du ihnen Angst eingejagt“, scherzte sie und ihre Gestalt flackerte, als sie lachte, wie eine Kerze, die Zugluft ausgesetzt ist. Im spärlichen Licht der Notbeleuchtung sah sein Gesicht wie das eines Vierzehnjährigen aus. Es wirkte fleckig, als habe die Erinnerung an früher, das Erlebnis seiner seltsamen Wiedergeburt, eine allergische Reaktion hervorgerufen.
„Vielleicht hast du recht.“ Renick löste den Blick von der Stadt seiner Kindheit. „Ich muss die Gabe nicht besessen haben. Und Adam und Karl ...“ Seine Stimme verlor sich auf dem Weg zu ihr, löste sich auf wie Nebel in der Morgensonne.
Lara seufzte.
„Komm!“, befahl sie und berührte mit ihren Fingerspitzen seinen Arm. „Der Neue müsste jetzt bald schlüpfen. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.“
Sie schwebte ein Stück von ihm fort in Richtung Halle acht und ihre Gestalt wirkte auf Renick wie der Same einer Pusteblume oder ein Luftballon, der sich von der Leine gelöst hatte.
„Geh schon vor“, sagte er.
„Schön. Ich warte auf dich“, hörte er Lara noch rufen, als ihre Gestalt längst mit der Dunkelheit der angrenzenden Halle verschmolzen war.
Murr rieb schnurrend ihren Kopf an Renicks Fuß.
„Flüchtest du vor dem Rummel?“ Er kauerte sich neben der Katze auf den Boden. Zärtlich kraulte er sie hinter den Ohren und seine Finger versanken bis zum Mittelglied in ihrem langen, blaugrauen Fell. Die Zeit verstrich. Murrs Schnurren schläferte seine Gedanken ein. Plötzlich hob er den Kopf.
„Schlecht geträumt, Murr?“ Renick folgte unwillkürlich der Bewegung ihres Kopfes und sah die Gestalt. „Warum ich?“, seufzte er betrübt und wäre am liebsten geflohen. „Was zieht die Verrückten nur an?“
Die Katze sprang auf und verschwand.
„Sie“, stotterte der Neue aus der Tropenabteilung und seine Hand zuckte vor Renicks Gesicht vor und zurück.
Renick nickte, war jedoch nicht bereit aufzustehen, auch nicht, als die Notbeleuchtung plötzlich für einige Augenblicke ausging.
„Wo bin ich hier?“ Das kehlige Atmen des Neuen hörte sich wie das Fauchen von Flammen an. „Was ist mit mir geschehen?“
„Sie sind gestorben.“
„Gestorben?“, wiederholte der Neue mechanisch. Dann schrie er auf und Renick hätte es nie für möglich gehalten, dass die kleine Gestalt ein solches Geräusch verursachen konnte. Wie ein wütender Drache hing er in der Luft und kreischte wie ein Mensch, der einen Arm verliert, oder dessen Kind gerade gestorben ist, wobei eine der beiden Glühbirnen der Notbeleuchtung endgültig erlosch.
„Niemals!“ Schmerz und Zorn sprachen aus diesem Wort, das wie ein Fluch aus seinem Mund schoss, um den für seinen Zustand Verantwortlichen auf der Stelle hinzurichten.
„Sie sind so tot wie ein überfahrenes Tier“, sagte Renick, als der Neue aus alter Gewohnheit nach Luft schnappte.
„Tot“, krächzte der und wirkte plötzlich wie gelähmt. Nur widerwillig nahm die durchscheinende Gestalt ihr früheres Aussehen an. Es schien Renick, als sträube sie sich gegen die Erinnerung, die Vergangenheit als Mensch. Die Hakennase kehrte zuerst zurück, gefolgt von dem braun gebrannten, rundlichen Gesicht und den dünnen Lippen. Der starre Blick, der von ganz hinten aus den Augen kam, lag bleischwer auf ihm.
„Ist das die - Hölle?“
„Das ist Friedpark“, antwortete Renick. „Himmel und Hölle sind nur für die Lebenden.“
Der Mittvierziger in Tropenkleidung sah ihn verständnislos an. „Friedpark?“ Er runzelte die Stirn. „Ich war Lehrer ... nichts Besonderes. Ich komme sicher in den Himmel.“
„Das dürfen Sie sich nicht einreden.“ Ins Paradies gehen die Geistlichen, die Gläubigen und Kranken, die täglich stundenlang vor den Altären knien und Gott um Erlösung bitten. Das ist nicht unsere Welt. Wir sind anders.“
„Anders?“ Der Neue wusste nicht, ob er die Worte seines Gegenübers ernst nehmen sollte. „Sie meinen, es gibt für uns keinen Himmel?“ Nachdenklich setzte er sich zu Renick auf den Boden.
„Wir hängen hier fest.“ Das alte Messegelände ist unser Zuhause. Gewöhnen Sie sich daran.“ Seine Stimme war sanft und mitleidlos, tröstend.
„Vielleicht löst sich dieser Albtraum auf, wenn ich ihm keine weitere Beachtung schenke“, antwortete der Mann vom Amazonas, und weil Renick schwieg: „Müssen Sie mir nicht meinen Lebensfilm vorspielen?“
Renick seufzte. Tief in seinem Innern hatte er es gewusst, ja gefürchtet. Er war der Mann, dem der Ärger wie ein streunender Hund nach Hause folgt, unabhängig davon, ob es sein Haus ist oder wer ihm das Futter bringt. Renick hatte keine Ahnung, aus welcher Ecke der Ärger hervorkriechen würde, aber er konnte ihn förmlich riechen, so wie andere Regen riechen oder eine Fuhre Gülle, bevor der Bauer um die Ecke biegt.
„Renick“, stellte Renick sich vor und nickte mürrisch dazu.
„Anton Rubinger. Sollen wir dann beginnen?“
„Beginnen? Womit?“ Renick runzelte die Brauen.
„Meinem Lebensfilm. Bringen wir es hinter uns und dann begleiten Sie mich zur Insel der Seligen“, erwiderte Anton mit einem Anflug von Wut in der Stimme und sein Kopf drehte sich suchend hin und her.
Die verbliebene Glühbirne der Notbeleuchtung flackerte wie ein Irrlicht über sumpfigem Gebiet.
Renick seufzte erneut. „Haben Sie ihren Körper gesehen?“
„Meinen Körper? Soll ich auf den Friedhof gehen und ihn eigenhändig ausgraben?“
„Denken Sie an ihn“, sagte Renick und dachte dabei: ‘Hoffentlich gelingt es ihm auf Anhieb.’
„Ich ...“
„Tun Sie es einfach, Anton.“
„Wenn Sie es wünschen.“ Anton schloss die Augen. In seiner Vorstellung trat er vor den Spiegel, betrachtete sein rundliches Gesicht, die flüchtigen Spuren beginnender Krähenfüße und dachte: ‘Höchstens vierzig.’ Und dann hörte er die Stimmen.
„Sing einen Spiritual!“, befahl er sich und summte leise die ersten Takte. Die Stimmen wurden lauter, ekstatischer und er dachte, dass dies wohl die letzten menschlichen Stimmen sein würden, die er zu hören bekommen würde, bevor er die jenseitigen Gefilde betreten durfte.
„Je später der Abend, desto interessanter die Gäste!“, hörte er eine Frauenstimme in seinem Kopf rufen, und er fühlte sich, als ob ein Fremder neben ihm vor dem Spiegel stand, weil er die Haustür abzuschließen vergessen hatte.
Anton betete um Ruhe.
„Etwas schüchtern, unser Tropenheld“, scherzte eine männliche Stimme und Anton fühlte körperlich dessen schläfrigen, leicht blasierten Blick, der ihn von oben bis unten musterte, abwog und für zu leicht befand.
Als alles Flehen und Bitten um Frieden nichts helfen wollte, öffnete Anton die Augen, und die Ungewissheit, die bis zu diesem Zeitpunkt geschlafen hatte, stieg in ihm auf und ergriff ihn hart und erbarmungslos. Trotz der Menschenmenge um ihn herum fühlte Anton sich allein. Der Übergang und der Anblick seines Körpers in Tropenmontur waren zu viel für sein Gemüt.
‘So ergeht es den alten Leuten’, dachte er mit trübem Herzen. ‘Oder den Kindern, die im hell erleuchteten Wohnzimmer auf der Couch eingeschlafen sind und mitten in der Nacht aufwachen, allein und in einer ungewohnten Umgebung, die jetzt feindselig und unheimlich ist.’
Die Gestalten in seiner Umgebung begrüßten ihn auf ihre Weise, klatschten lautlos in die Hände und hießen ihn willkommen. Ein junges Mädchen in marineblauer Jacke, Schottenrock und weißer Bluse löste sich aus der Gruppe, und bei ihrem Anblick kam Anton sich wieder wie ein kleiner Junge mit schorfigen Knien vor.
„Zoe“, sagte das Kind und vollführte einen perfekten Knicks. „Sie haben sich Zeit gelassen, Anton.“ Sie grinste schelmisch, als gebe es noch einen Trumpf im Ärmel, den sie nur zu besonderen Anlässen ausspielte. Zoe holte tief Luft, spie symbolisch dreimal in die Luft und sprach Wörter, die wie Glockengeläut unter einem See klangen. Sie streute eine Handvoll imaginäres Pulver auf den Boden und lachte triumphierend, als Anton wie gebannt und mit dümmlichem Gesichtsausdruck ihr Treiben verfolgte. Zuletzt murmelte sie drei weitere Worte. Sie klangen wie das Brummen von dicken Hummeln unter dem Dachgebälk.
‘Ich bin von Verrückten umgeben.’ Anton schluckte trocken, obwohl dies in seinem jetzigen Zustand unmöglich war und ihm lediglich von seinem Gedächtnis vermittelt wurde. ‘Poltergeister, Spukgestalten ...’
„Ich habe dich verzaubert“, krähte Zoe mit kindlicher Stimme. „Du bist jetzt ein Geisterprinz und musst mir zu Diensten sein.“
Anton schlug die Hände vors Gesicht. Die illustre Theatergruppe wich keinen Augenblick aus seinem Bewusstsein. Wie auch, wenn die Hände durchsichtig sind.
„Renick!“, rief er heiser und seine Stimme klang, als komme sie von jener Sphäre, von dem die Geister in diese Dimension der Kuriositäten eindringen, wie die Katze des Nachbarn, die wir mit Leckereien angelockt haben, damit sie unsere Mäuse fängt.
„Hallo! Vom Himmel zurück?“
„Das ist schlimmer als die Hölle, Renick.“ Anton war froh dessen vertraute Stimme zu hören.
„Ich weiß nicht, wie es in der Hölle zugeht“, sagte Renick freundlich. „Die Hölle hier, das sind die Anderen.“
„Die Anderen?“
„Familienangehörige. Ich habe übrigens die Zeremonie Ihrer Aufstellung mit angesehen.“
„Ach ja!“ Anton kauerte sich wieder neben Renick auf den Boden. „Wie war sie denn?“
„Sehr schön - bewegend“, sagte Renick. „Ruhig, und die Frau - ich vermute, es war Ihre Frau - weinte unaufhörlich. Ihr Tod muss für sie ein schmerzlicher Verlust gewesen sein.“
Anton lächelte schwach. „Was weiß ich schon vom Tod?“
„Sie werden es lernen, Anton, genau, wie Sie als Kind das Laufen lernten, oder in der Pubertät, den Umgang mit Mädchen. Zum Glück brauchen Sie sich jetzt nicht mehr zu beeilen - Sie haben ausreichend Zeit.“
„Arme Bettina“, sagte Anton betrübt. Seine Stimme war kaum hörbar. „Wir wollten ...“ Er wurde so bleich wie die Irrlichter über dem Sumpf im Mondschein, und wenn Leichen und Geister bleich aussehen, so musste für sein Äußeres ein neuer Begriff erfunden werden.
„Herzinfarkt?“, fragte Renick mehr aus Gewohnheit als wirklicher Anteilnahme.
„Es war ein kurioser Tod“, erzählte Anton, und spulte von Neugier ergriffen die letzten Bilder seines Lebens ab, wie einen Film, auf dessen Premiere er seit Wochen wartete.
„Bis zu meinem Ableben war ich Lehrer - Hauptschullehrer. An meinem vierzigsten Geburtstag sagte ich noch im Scherz zu Bettina: ‘Wenn die dreimal verfluchten Jugendlichen mich nicht unter die Erde bringen, dann gelingt es nur einem Erdrutsch in den Tropen.’ Sie machen sich keine Vorstellung, was Jugendliche heutzutage vom Leben erwarten und was sie andererseits dafür zu tun bereit sind. Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier so weit auseinander, dass der Grand Canyon dagegen wie ein Haarriss wirkt. Aber ich will sie nicht langweilen“, sagte Anton, stützte den Kopf mit der Faust und redete unverdrossen weiter.
„Es muss jetzt vor ungefähr einem Jahr gewesen sein, da habe ich in der Pause beobachtet, wie zwei der schlimmsten Schüler der Schule Drogen verkauften. Alles, was ‘anturnt’, die Wirklichkeit rosiger erscheinen lässt, wird geraucht, geschluckt, geschnupft. Hauptsache es zieht ordentlich rein und treibt den öden Alltag raus. Ich verstehe die Kinder nicht mehr“, sagte er auf seltsam atemlose Weise, wie ein Kind, das aus Übermut gelaufen ist, nur aus Freude an der Bewegung. „Ich habe die beiden Halbstarken zur Rede gestellt, an ihr Gewissen appelliert, vergebliche Liebesmühe. Sie haben bloß gegrinst, blöde Sprüche über meine Generation vom Stapel gelassen, und als ich dem Jüngeren ein Tütchen mit Marihuana entrissen habe, bedrängten sie mich. Zum Glück haben zwei jüngere Kollegen das Ganze verfolgt und sind mir sofort zur Hilfe geeilt.“
„Nette Tätigkeit, die Sie sich da ausgesucht haben“, sagte Renick, zog leicht die Mundwinkel nach oben und zeigte Anton sein schmerzhaft wirkendes Beinahe-Lächeln.
Murr kehrte zurück, sprang ihm auf die Beine und schnupperte an Antons Arm.
„Ich kann ihren Fuß unter Ihrem Körper sehen“, bemerkte Anton, und sein Gesicht veränderte sich, als sei er gerade zum zweiten Mal gestorben.
„Das ist Murr - zumindest taufte ich ihn so. E. T. A. Hoffmann.“
„Gibt es hier auch eine Abteilung für Tiere?“
„Noch nicht. Nur Murr. Auch so ein Rätsel.“ Renick kraulte Murr am Hals. „Wie ging es dann mit dir - ich darf doch du sagen - weiter?“
„Natürlich. Ja ... Ich weiß nicht weshalb, aber ich habe das Tütchen behalten und zu Hause im hintersten Winkel des Kellers versteckt, dort wo Bettina es nie finden würde, weil sie fürchterliche Angst vor Spinnen hat. Der Teufel muss mich damals geritten haben, jedenfalls saß ich eines Abends im Wohnzimmer - Bettina war über das Wochenende zu ihren Eltern gefahren - und drehte das Tütchen in meinen Händen. Nie, selbst als Jugendlicher nicht, habe ich auch nur einen Krümel Rauschgift konsumiert, und jetzt saß ich auf der Couch und dachte ernstlich darüber nach, ob ich mir einen Joint drehen soll. Verrückt, nicht wahr?“
„Das klingt sicher ein bisschen verrückt“, gab Renick ihm recht. „Aber du hast es getan.“
„Ja, das habe ich - leider. Ich habe das Zeug mit einem pechschwarzen Tabak, dessen Geruch mir schon die Tränen in die Augen getrieben hat, mühsam gedreht. Und“, er lächelte wie ein gemeiner Lausbub über einen gelungenen Streich, „als es endlich Nacht wurde, bin ich auf den Balkon geschlichen und habe das Ding angezündet. Zwei Züge, dann zwang mich ein hartnäckiger Hustenanfall beinahe in die Knie, aber ich behielt die Oberhand. ‘Jetzt erst recht!’, sagte ich im Befehlston zu mir selbst und zündete das Ding wieder an. Woran ich mich noch genau erinnern kann, ist der höllische Schmerz in den Lungen. Irgendwo dort drinnen brannte eine Lunte und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Kiste mit dem Dynamit erreichen würde. Hätte ich sie in diesem Augenblick weggeworfen“, sagte Anton und sah dabei traurig und seltsam verwaist aus, „dann wäre der ganze nachfolgende Schlamassel vermutlich woanders hingezogen.“
Renick nickte, er war voll Mitgefühl. Murr lag zusammengerollt auf seinen Beinen, schnurrte zufrieden und sah Anton geradewegs in die Augen.
‘Merkwürdig’, dachte Renick. ‘Er ist plötzlich zu gefasst und das bereitet mir Sorgen. Das führt zu nichts Gutem, nur zur Gefahr für uns und zu Schlimmerem für ihn.’
„Ich langweile dich doch nicht?“, fragte Anton, den Blick der Katze ignorierend.
„Nein, im Gegenteil.“
„Selbsterhaltung. Eine instinktive Reaktion, die an diesem Abend bei mir außer Kraft gesetzt war. Kein Alarmsignal schrillte - vielleicht, weil ich mich bewusst dafür entschieden hatte.“ Er saß ganz still, bewegungslos wie eine Wetterfahne bei Windstille. Seine Konturen waren schwächer geworden, leicht verschwommen.
„Der Mensch“, meinte Renick, „kommt im Laufe des Lebens auf jeden Gedanken, so wie du auf diesen mit dem Joint. Verrückt oder nicht, die Menschen sind so.“
„Ich hätte es aufschieben, ganz verwerfen können. Aber ich tat es nicht. Stattdessen habe ich mir das Ding buchstäblich bis zum Nabel hinunter in die Lungen gezogen, bei jedem Zug die Luft angehalten, bis ich glaubte, an einem Schlaganfall zu sterben. Mein Körper reagierte sofort. Eine wilde Übelkeit brachte mich an einen Ort des Schreckens. Ich schaffte es noch auf die Toilette, würgte mir den Magen aus dem Hals und dann - Standbild. Das Bild der Toilette eingefroren, als würde die Zeit stillstehen. Meine Hand lag vor mir wie ein Fremdkörper, der nichts mehr mit mir, dem restlichen Körper zu tun haben wollte. ‘Seltsam’, dachte ich noch, ehe der Expresszug Anton so richtig Fahrt aufnahm. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und trotz des angehaltenen Realitäts-Films nahm ich am oberen Gesichtsfeld die Geschwindigkeitsanzeige wahr. Der Zeiger näherte sich zitternd der 200er-Marke und ich fühlte mich wie ein Elektron, das im Speicherring auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wird. Die Symptome waren eindeutig. Ich schrumpfte, der Kopf wurde breiter und die Zeit hatte sich längst von mir verabschiedet. ‘Anton!’, sagte mein Körper. ‘Du hast es selbst so gewollt’, und mit dieser Drohung ging er zum Generalangriff über. Irgendwann musste er den Dimmer, der meinen Kreislauf regelte, in die Hände bekommen haben, denn er drehte ihn fröhlich hoch und runter, wie ein kleines Kind mit der tiefen Überzeugung, dass die heller und wieder dunkler strahlende Lampe von seinen magischen Fähigkeiten beeinflusst wird.
Wenn ich den Kopf hob, raste der Zug auf eine Warteschleife und holperte dort so lange im Kreis, bis sich heitere Ausgelassenheit in heulendes Elend wandelte und mein Magen rebellierte ... Aber ich will dir die näheren Einzelheiten ersparen.“ Anton räusperte sich und verschränkte die Arme über der Brust, weil er nicht recht wusste, wohin mit ihnen.
„Als du gesehen hast, wie dein Körper reagiert und dass es unter Umständen gefährlich werden könnte, weshalb hast du nicht versucht, den Notarzt zu verständigen?“
Anton schüttelte in Zeitlupe den Kopf. „Ich dachte an Bettina. Was sie wohl sagen würde. Einen Dummkopf würde sie mich schelten und - ich hoffte nur, dass ich diese Übelkeit, das fürchterliche Herzrasen und den galoppierenden Kreislauf irgendwie überstehen würde, ohne größere Komplikationen. Wenn Kinder mit Flugzeugen spielen, dann drehen sie sich im Kreis und die Hand mit dem Flugzeug folgt einer Sinuskurve - so fühlte ich mich. Stunden später, ich muss eingeschlafen sein, wachte ich auf. Mein Körper fühlte sich steif an, und als ich aufzustehen versuchte, spürte ich erst, wie kraftlos ich war. Die Beine zitterten wie Espenlaub beim kleinsten Luftzug und so krabbelte ich wie ein Baby auf Händen und Füßen aus der Toilette, zur Couch hinüber. Ich dankte Gott - obwohl ich kein frommer Mensch bin - für die Rettung aus der Umklammerung des Todes. Aber er hat meine Worte nicht gehört, oder sie geflissentlich überhört.“
Anton hielt in seinem Bericht inne und schöpfte aus Gewohnheit Atem. „Mein Mund fühlte sich so trocken an, als ob ich drei Tage ohne Wasser in der Wüste gelegen hätte. Ich zwang mich zum Aufstehen, und wie an Drähten gezogen, mit taumelnden Schritten ging ich ins Bad. Das Gesicht war weiß und feucht wie frischer Quark und der Geruch des Marihuanas strömte aus jeder meiner Poren. Plötzlich wurde mir schwindelig! Der Raum drehte sich um seine eigene Achse, und bevor ich mich auf seine Bewegung einstellen konnte, brach ich zusammen und - das Letzte, worauf ich mich entsinne, ist ein dumpfer Schlag und ein kurzer, stechender Schmerz über dem rechten Ohr.“
„Wirklich kurios“, bestätigte Renick Antons eigene Bezeichnung für sein unerwartetes Ableben, als Murr plötzlich aufsprang, sich an seinen Hals presste und die Krallen hinein bohrte. Sie bleckte die Zähne, plusterte sich auf, bis sie dreimal so groß wirkte.
Stimmen wehten von der angrenzenden Halle zu ihnen herüber, wurden allmählich lauter; hie und da begannen einige der Gruppe ausgelassen zu lachen.
„Sie suchen wahrscheinlich nach dir“, flüsterte Renick.
„Nach mir? Aber weshalb? Was habe ich ihnen getan?“
„Deine Begrüßungsfeier - wie soll ich es ausdrücken, durch deine Nicht-Anwesenheit hast du ihnen den Abend verdorben. Keine Sorge, sie sind nicht nachtragend.“
„Der Tod meint es nicht gut mit mir“, stöhnte Anton. „Wo kann ich mich verstecken? Oder gibt es einen Trick, um hinüberzugehen?“ In Gedanken ging er wie in Panik unentwegt auf und ab. Das Lachen nahm zu, trommelte schmerzvoll gegen seine Ohren, wie das Läuten von Kirchenglocken.
„Es gibt von hier kein Entkommen, Anton. Früher - die Ersten, aber das ist lange vorbei ...“
„Danke, dass du mir zugehört hast“, rief Anton bereits vom anderen Ende des Außenganges, der die Hallen sechs bis neun miteinander verband.
Mit einem Geräusch, das Renick an das Knistern eines Kometen erinnerte, der in der Erdatmosphäre verglühte, brannte die letzte Glühbirne der Notbeleuchtung durch und hüllte ihn in Dunkelheit.
„Würde ich ihn als komischen Kauz bezeichnen“, sagte Renick zu der Katze, die sich wieder beruhigt hatte, „wäre das eine Untertreibung. Er hatte Furcht in den Augen, nachdem er zurück war, lieber Murr. Aber es war nicht der gewohnte Gesichtsausdruck, wenn sie endlich begreifen, was mit ihnen geschehen ist.“
Eine fröhliche Gruppe Geister enterte den Außengang. Zoe führte den Zug singend und tanzend an. Die Musiker spielten nur in ihrem Kopf, und sie zehrten die Stunden der Suche nach dem Neuankömmling so langsam auf, wie die Brandung eine Klippe auswäscht.
Renick und Murr waren ebenso vor den Schandtaten des Begrüßungskomitees geflohen, wie Anton, der in aller Stille seine Statue näher in Augenschein nahm.
Käthe Himmelstoß stemmte ihren Körper gegen die Eingangstür. Als der Spalt groß genug war, zwängte sie sich hindurch und betrat etwas außer Atem die Empfangshalle von Friedpark.
‘Du bist zu früh!’, hörte sie die Stimme von Franz, ihrem verstorbenen Mann, im Hinterkopf. Sie klang vorwurfsvoll und glich, wenn er sich aufregte, einem pfeifenden Wasserkessel. ‘Du bist immer zu früh.’
Käthe sah auf ihre Uhr und verglich sie mit der über dem Empfang.
‘Zwanzig Minuten. Ich bin gerne pünktlich.’ Ihr Mund spannte und kräuselte sich in stetem Rhythmus wie ein Bogen und schoss die Worte einzeln auf ihn ab.
‘Schon gut. Ich meine ja nur’, kam es beschwichtigend von oberhalb des linken Ohres.
„Wo habe ich es denn?“ Käthe durchwühlte ihre Handtasche nach dem Bestätigungsschreiben ihres Termins. Alles hatte sie eingesteckt - Taschentücher, Pfefferminzbonbons für den frischen Atem, selbst dieses neumodische Telefon ihres Sohnes, für den Notfall, nur den Brief offensichtlich nicht.
‘In der Seitentasche, du Dummchen.’
„Ach ja!“ Sie seufzte erleichtert und rollte das Pfefferminzbonbon mit der Zunge im Mund von links nach rechts.
„Herr Zimmermann.“ Käthe behielt das Schreiben in der Hand und sah sich um. Linker Hand, zehn Schritte von ihr entfernt, gruppierten sich drei dunkle Sessel um einen Glastisch mit Zeitschriften.
‘Wie beim Friseur’, kam es ihr in den Sinn. Dass Käthe hier in Friedpark eine Gemeinsamkeit mit ihrem gewöhnlichen Leben entdeckte, schuf ein Gefühl von Vertrautheit und hielt ihre Unruhe im Zaum. Hinter der Sitzgruppe standen drei verwaiste Schreibtische, sauber aufgeräumt. Nur die Computer deuteten darauf hin, dass hier gearbeitet wurde. Vor ihr befand sich der Empfang, ein halbkreisförmiges Gebilde aus Glas, Metall und Bildschirmen, über die tonlos das breit gefächerte Angebot von Friedpark flimmerte.
Das junge Fräulein am Empfang hob den Kopf, taxierte Käthe und ordnete sie der Schublade mit den Sonderangeboten zu. ‘Ein Leben lang haben sie gespart, jeden Cent, den sie erübrigen konnten, und jetzt soll das Kapital endlich Zinsen tragen - bis in alle Ewigkeit.’ Ihre knochige Gestalt knirschte, als sie sich ein Stück weit aufrichtete. ‘Biederes Kostüm, seit dreißig Jahren aus der Mode, dazu die üblichen Gesundheitsschuhe, breit wie Lastkähne, damit ihre Fracht sicher ans Ziel gelangt. Und die Handtasche - echt antik. Die Griffe, aus Angst vor Dieben stets fest umklammert, hat sie in dieser Zeit so abgewetzt, dass sie wie Paketschnüre aussehen.’
‘Hell und sauber’, gestand Käthe dem Unternehmen zu. ‘So ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.’ Sie rückte ihre Frisur zurecht, überprüfte den Sitz ihrer Kleidung, deren Farbe Erinnerungen an Nebel über ausgedehnten Moorgebieten wachrief, der das Land unter sich begräbt wie Erde die Verstorbenen. ‘Wenn Franz wüsste ...’, flüsterte ihre innere Stimme, die der moralischen Erziehung ihrer Kindheit verpflichtet war, die Käthe als rückständig, nicht mehr zeitgemäß, betrachtete und deshalb geflissentlich überhörte.
Die Dame am Empfang hob eine ihrer knochigen, unbeholfenen Hände und beorderte Käthe mehr oder weniger zu sich.
„Guten Morgen.“ Ihre Stimme klang gleichmütig und ein wenig erschöpft, als sei eine Erkältung im Anzug. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fügten die schmalen, blutleeren Lippen hinzu, nachdem sie sich von ihrem Stuhl erhoben hatte und zum Tresen getrippelt war.
„Danke ... Äh ... Guten Morgen“, stotterte Käthe vor Aufregung, die so plötzlich ausbrach wie ein Vulkan oder die Aufforderung des Lehrers in der Grundschule, die Aufgabe, für alle Mitschüler sichtbar, an der Tafel auszuführen, anstatt im hintersten Winkel des Klassenzimmers, die Nase tief im Heft verborgen, still vor sich hinzuträumen.
Sie wischte mit dem Brief durch die Luft, als wollte sie Spinnweben wegfegen. „Ich habe einen Termin bei Herrn Zimmermann. Um neun Uhr.“
„Einen Moment bitte“, sagte das junge Ding so leise, dass Käthe glaubte, die Batterie in ihrem Hörgerät ließe nach. Sie klapperte mit der Tastatur. „Frau Himmelstoß. Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen würden. Ich sage Herrn Zimmermann Bescheid, dass Sie hier sind.“
„Danke, Frau ...?“, antwortete Käthe und suchte vergeblich nach dem Namen. „Ich ...“, der Gedanke entzog sich ihrem Zugriff, verhedderte sich mit dem nächsten und nur aus diesem Grund verharrte sie sprachlos auf der Stelle.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte das Fräulein höflich und ihr aufgesetztes Lächeln zog ihr Gesicht schief.
„Nein ... Alles in Ordnung.“ Käthe flüchtete verwirrt zu der Sitzgruppe, und als sie sich in einen der neumodischen, engen Sessel quetschte, zitterte sie am ganzen Körper. Schon einmal in ihrem Leben hatte sie ein vergleichbares Martyrium erlebt. Feuer, Blut, schwitzende Männer, und sie musste hilflos zusehen, wie die Flammen sich zu der Ecke durchfraßen, in der sie hustend und nach Atem ringend kauerte. Die Rettung, buchstäblich in letzter Sekunde. „Doch das Gefühl der Verlorenheit“, murmelte sie tonlos, „zwingt mich in ähnlichen Situationen noch heute in die Knie, nach so vielen Jahren, und das Entsetzen über den unausweichlich erscheinenden Tod, lässt mich - wie damals oder bei Franz` Tod - weder klar denken, noch atmen.“
‘Und dein Retter?’, fühlte sich ihr Mann, mit kratziger Stimme, als sei seine Kehle trocken und durch die heiße Luft wie zugeschnürt, bemüßigt anzumerken. ‘Groß wie ein Hochhaus und er roch nach Milch und frischem Brot.’
„Frau Himmelstoß?“, näselte der Berater von Friedpark und schob ihr seine Hand entgegen. „Zimmermann. Darf ich bitten?“
Käthe wurde es abwechselnd brennend heiß und eiskalt. Sie ergriff dankbar die dargebotene Hand, klammerte sich daran fest wie an einem Rettungsring und kämpfte tapfer gegen das aufgewühlte Meer, das sie nicht nur auf und ab, sondern gleichzeitig hin und her schleuderte, die ganze Bandbreite der Klaviatur ihrer Gefühle ausnutzend.
‘Käthe! Wenn du auch nur einen Schritt weitergehst, dann rede ich drei Tage kein Wort mehr mit dir’, stieß Franz knurrend und im denkbar ungeeignetsten Augenblick aus, wobei der Tonfall seiner Stimme entsetzlicher klang als jede Grabesleere. ‘Unser schönes Erspartes.’ Seine Besorgnis erinnerte Käthe an die langen Abende im Hospiz, die Stunden zwischen Bangen und Hoffen, seinem letztem Atemzug ohne ein weiteres Wort. ‘Wie viele Wünsche wollten wir uns in den vergangenen Jahren damit erfüllen ...?’
‘Hätten wir nur’, unterbrach Käthe ihren Mann und lenkte ihre gesamte Konzentration auf Herrn Zimmermann, der sie sicher durch die sturmgepeitschte See zu seinem Schreibtisch lotste.
„Einen kleinen Moment, bitte. Möchten Sie einen Kaffee?“
„Nein, danke.“
„Frau Himmelstoß - wie ich gerade sehe, haben Sie einen Vorvertrag mit uns abgeschlossen und ... Mein herzliches Beileid, Frau Himmelstoß“, sagte Zimmermann mit monoton klingender Stimme.
„Danke, Herr Zimmermann. Gott habe ihn selig.“
„Ja, natürlich.“