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Was scheinbar harmlos mit einem roten Ball beginnt, entpuppt sich für sieben Kinder sehr schnell zu einer langen Reise ins Ungewisse. Begleite unsere sieben Helden auf ihren langen Weg nach Anderswo, einer weit entfernten Welt, die von einer unheimlichen Macht bedroht wird. Doch der Weg dorthin ist weit und führt die Kinder, die sich erst nach und nach finden und kennen lernen werden, durch geheimnisvolle Welten. Aber dort lauern viele Gefahren und schwierige Rätsel auf sie, die sie nur gemeinsam meistern können. Doch schon bald kommen die zwei Mädchen und fünf Jungen an ihre Grenzen und drohen im Streit auseinander zu brechen. Werden die sieben Kinder, die unterschiedlicher kaum sein können, die geheimnisvolle Welt Anderswo finden und retten können?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Der Ball flog durch die Luft und landete dann platschend in einer großen Pfütze. „Tor!“, schrie Dennis laut auf und rannte zu der Pfütze hinüber. Er sprang hinein und verpasste seinem roten Plastikball einen weiteren Tritt. Doch er traf ihn nicht richtig und so löste sich sein Ball nur schwerfällig aus der Pfütze und rollte dann träge ein paar Meter weiter. Dennis trat erneut zu. Diesmal etwas fester und so flog sein Ball fast zwanzig Meter weit, bevor er auf die nasse Straße zurückfiel und dann mit nur wenigen Sprüngen unter einem geparkten Auto verschwand.
„Oh verdammt noch mal. Nicht schon wieder!“, schrie Dennis aufgebracht. Wütend stampfte er auf den mit zahllosen Schlaglöchern übersäten Straßenbelag.
Dennis, der eine Hellblaue Regenjacke trug, war jetzt wirklich sauer. Denn keine zehn Minuten zuvor war sein Ball auf einem Gartengrundstück gelandet, auf dem jemand sein Revier hatte, der Bälle überhaupt nicht leiden konnte. Dort herrschte nämlich Bestie, der völlig irre Hund von Theo. Dieser war bei den Kindern in der Straße ebenso unbeliebt, wie sein bissiger Hund. Eigentlich war Bestie eine lebende Kugel auf vier Pfoten, weil der Hund total überfressen war. Selbst für einen Mopps war der Hundeinfach nur unglaublich fett.
Zum Glück war Theo nicht zu Hause gewesen und obwohl auch von seinem Hund weit und breit nichts zu sehen war, hatte Dennis all seinen Mut aufbringen müssen, um über den Zaun zu klettern.
Mit seinen 11 Jahren war Dennis zwar kein Feigling, aber vor diesen völlig unberechenbaren Hund hatte er großen Respekt. Nicht zuletzt wegen den unheimlichen Gerüchten, die man sich so über Bestie erzählte. Eins davon war besonders widerlich. Demnach soll dieser nicht grade sehr große Hund einem Einbrecher sämtliche Finger einzeln abgebissen haben. Und zwar der Reihe nach. Er wusste zwar nicht ob das wirklich stimmte, aber diese Info alleine hatte schon ausgereicht, um in ihm ein beständiges Angstgefühl auszulösen. Zudem hatte sich Dennis auch noch unerlaubt auf einem fremden Grundstück aufgehalten.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen hatte er in dem verwilderten Garten nach seinem Ball gesucht und dabei sicherheitshalber seine Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. So waren seine Finger wenigstens geschützt, falls Bestie doch noch plötzlich auftauchen würde. Zum Glück tat er das aber nicht und schließlich hatte er dann seinen Ball unter einer verrosteten Schubkarre gefunden. Erleichtert war er schnell wieder auf die Straße zurückgekehrt.
Nun war sein Ball schon wieder verschwunden. Zwar nur unter einem geparkten Auto, aber es nervte ihn gewaltig. Lieber hätte er auf einem Bolzplatz gespielt, wo weder Autos noch Hunde sein Spiel stören könnten, aber in der Nähe gab es keinen solchen Platz. Auch gab es keine Wiese, wo er ungestört hätte spielen können.
Hinter dem Mietshaus, in dem Dennis zu Hause war, gab es zwar eine große Wiese, doch die Leute aus dem Haus meckerten immer nur herum, wenn er dort Ball spielen wollte. Allen voran Frau Specht aus dem zweiten Stock. Diese baute sich dann jedes Mal auf ihrem Balkon auf und fuchtelte wild mit ihrer Krücke herum, während sie mit keifender Stimme verkündete: „Mittagsruhe, es ist Mittagsruhe. – Geh weg, auf unserem Wäscheplatz darfst du nicht spielen. Die Wäsche wird schmutzig. Komm, verschwinde endlich, du Bengel!“
Dabei spielte es übrigens keine Rolle, ob nun grade Wäsche zum Trocknen auf den Leinen hing oder nicht. Auch gab es für Frau Specht, die schon weit über 70 Jahre alt war, nur eine Tageszeit. Egal ob morgens oder abends, für sie herrschte grundsätzlich immer Mittagsruhe.
Jetzt stand Dennis vor dem Auto, unter dem gerade sein Ball verschwunden war. Er bückte sich, um ihn darunter hervor zu holen, doch zu seinem Erstaunen lag sein Ball nicht unter dem Fahrzeug. Verwirrt erhob er sich wieder und schaute ratlos die Straße entlang. Vielleicht hatte er sich ja geirrt und sein Ball war unter ein anderes Auto gerollt. Doch gab es kein solches. In der ganzen Straße stand nur ein einziger Wagen. Nämlich der, vor dem er gerade stand.
Dennis kniete sich jetzt auf die nasse Straße hinunter und blickte ein zweites Mal unter das Fahrzeug. Doch sein Ball blieb verschwunden. Stattdessen wurde seine Hose nass. Aber das bemerkte er ebenso wenig, wie die Tatsache, dass der Regen wieder eingesetzt hatte.
Er erhob sich wieder und schlich dann langsam um das Auto herum. Dabei studierte er es nachdenklich. Es handelte sich um einen alten, dunkelblauen Audi 100, dessen Autoscheiben dunkel getönt waren. So dunkel, dass sie beinahe tiefschwarz aussahen.
Ihm lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als er erkannte, dass man nichts, aber auch gar nichts, durch die schwarzen Autoscheiben erkennen konnte. Doch plötzlich sah er auf der Fahrersitzseite ein dunkelrotes Glühen. Sofort musste er an eine glühende Zigarette denken, die jemand im inneren des Wagens rauchte. Aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder, weil der glühende Punkt sich schnell vergrößerte und an Leuchtkraft zunahm. Unbewusst wich er ein paar Schritte zurück. Dabei fiel sein Blick auf das leicht angerostete Nummernschild. Mit dicken roten Buchstaben stand dort etwas geschrieben, was ihm regelrecht Angst einjagte.
„Ball-DDK-4567“, las er sich leise flüsternd selbst vor.
Das Nummernschild für sich alleine gesehen hätte ihm niemals so einen Schrecken eingejagt. Doch im Zusammenhang mit den merkwürdigen Auto, dem rätselhaften glühen im inneren des Wagens, was jetzt noch stärker geworden war und seinem plötzlich spurlos verschwundenen Ball, sah das ganze schon etwas anders aus.
Dennis hatte genug gesehen und rannte nun voller Panik davon. Er lief noch schneller, als er hörte wie sich hinter ihm quietschend eine Autotür öffnete und mit einem dumpfen Schlag wieder schloss. Er glaubte fliegen zu können, als er dann das platschende Geräusch vernahm, was ihn offensichtlich verfolgte. Endlich kam er schnaufend vor seiner Haustüre zum stehen. Sie war verschlossen, wurde aber sofort von Frau Specht geöffnet.
„Du Ferkel. Jetzt sieh dir nur diese Sauerei hier an!“, schimpfte sie los. Dabei deutete sie auf die Eingangstüre, die überwiegend aus Glas bestand. Deutlich waren darauf die schlammigen Handabdrücke von Dennis Händen zu sehen.
Der Junge hatte aber jetzt ganz andere Sorgen. Das platschende Geräusch hinter ihm war schlagartig verstummt und deshalb drehte er sich langsam herum. Fassungslos sah er zu Boden und auf das, was dort lag. Es war sein verloren geglaubter Ball. Bewegungslos lag er vor seinen Füßen und rührte sich nicht mehr von der Stelle.
Dafür kam aber jetzt Bewegung in Frau Specht. Sie stieß ihn etwas unsanft zur Seite und keifte: „Du weißt schon, das wir Mittagsruhe haben und das spielen mit Bällen hier verboten ist. – Also heb gefälligst deinen verdammten Ball auf bevor ich noch darüber falle und mir den Hals breche!“
Dennis hatte gar nicht mit bekommen, was Frau Specht grade zu ihm gesagt hatte. Und deshalb stotterte nur: „Was, was wollen Sie eigentlich von mir?“
Seine Nachbarin, die inzwischen ihren Regenschirm aufgespannt hatte verzog wütend ihr faltiges Gesicht und schnappte dabei sichtlich nach Luft, bevor sie lauthals rief: „Ich sagte grade, das du deinen hässlichen Ball aufheben sollst. Sonst werde ich das wohl für dich erledigen müssen und zwar auf meine Art!“
Sie wartete erst gar nicht auf eine Reaktion von Dennis, sondern hob jetzt ihren Krückstock hoch und wollte damit den Ball beiseite schlagen. Sie traf ihn auch, doch dieser blieb wie angeklebt auf dem Boden liegen. Ihr Krückstock prallte einfach von der roten Plastikhülle ab und wurde so nach oben geschleudert.
Frau Specht war so überrascht davon, dass ihr dabei die Krücke aus der Hand fiel und auf den nassen Boden krachte. Ungläubig schüttelte sie ihren Kopf. Sekundenlang war nur das prasseln des Regens zuhören, der inzwischen etwas stärker geworden war, bevor sie erbost zischte: „Du willst mir wohl einen Streich spielen und hast deinen Ball auf den Boden festgeklebt. Aber diese Flausen werde ich dir jetzt wohl austreiben müssen!“
Dennis war einfach nur sprachlos. Nicht nur wegen der irrsinnigen Behauptung seiner Nachbarin, sondern auch, weil er das grade erlebte einfach nicht verstehen konnte.
Was nun passierte war genauso unglaublich. Frau Specht, die sonst immer sehr gebrechlich auf ihn gewirkt hatte, warf achtlos ihren Regenschirm weg und sprang dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf ihrem noch immer auf dem Boden liegenden Krückstock zu. Sie packte ihn mit beiden Händen und hob ihn erneut über ihren Kopf. Dann fauchte sie böse: „Los du Bengel, mach gefälligst Platz, damit ich deine Plastikkugel endlich zerstören kann!“
Erst jetzt fand Dennis seine Sprache wieder und schrie entsetzt: „Was ist denn nur in Sie gefahren. Sind sie verrückt geworden?“
Am liebsten hätte Dennis seinen Ball aufgehoben und wäre davon gerannt. Doch die drohende Haltung seiner Nachbarin mahnte ihn zur Vorsicht. Glaubte er doch, dass sie einfach zuschlagen würde, wenn er sich jetzt bücken würde. So blieb er einfach vor seinen Ball stehen und hob abwehrend seine Hände.
„Das ist meine letzte Warnung, Dennis. Gehe endlich beiseite sonst…“
An dieser Stelle wurde Frau Specht unterbrochen, da hinter ihnen plötzlich die Haustür aufgerissen wurde und Dennis Mutter aus dem Haus heraus sprang. Sofort stellte sie sich schützend vor ihren Sohn und rief aufgebracht: „Wollten sie etwa grade mein Kind schlagen?“
Frau Specht, deren grauen, halblange Haare jetzt nass und wirr vor ihrem zornigen Gesicht herunter hingen fauchte wütend: „Ihr Sohn hat mir einen üblen Streich gespielt und dabei hätte ich mir fast die Hand gebrochen und…“
Weiter kam sie nicht mehr, denn Dennis schrie aufgebracht: „Sie sind eine gemeine Lügnerin, Sie Kinderhasserin!“
„Von was für einen Streich reden Sie überhaupt?“ fragte Dennis Mutter jetzt etwas ruhiger.
Frau Specht lies endlich ihren Krückstock sinken und keifte: „Er hat seinen Ball mit Absicht hier vor die Tür geklebt, damit ich über ihn stürze und mir alle Knochen breche. Und das ist für mich mehr als nur ein Streich!“
Dennis Mutter drehte sich zu ihrem Sohn um und sah ihn fragend an. Doch dieser schüttelte nur seinen Kopf, hob dann seinen Ball auf und ging Wortlos und mit Tränen in den Augen ins Haus hinein.
Er hörte noch wie Frau Specht laut zeterte: „Das ist ein übler Trick von ihrem Bengel. Ich schwöre, das dieser Ball sich nicht gerührt hat, als ich ihn geschlagen habe!“
„Sie verprügeln Bälle? – Sie sind ja nicht mehr ganz dicht. Ich werde diese Angelegenheit heute Abend mit meinen Mann besprechen. Gut möglich, dass wir sie Anzeigen werden. Und jetzt verschwinden sie endlich aus meinen Augen!“
Dennis, der jetzt leise vor sich hin heulte und im Treppenhaus auf seine Mutter gewartet hatte, viel schluchzend seiner Mutter in die Arme.
Später am Abend lag Dennis noch lange in seinem Bett wach und dachte über seine Erlebnisse nach. Zum einen war da die Sache mit dem unheimlichen Auto. Er glaubte das Quietschen der Autotür und das platschende Geräusch, das sein Ball dabei gemacht hatte, als dieser ihn verfolgte, noch einmal zu hören. Aber war das wirklich so passiert, oder hatte er sich das Ganze nur eingebildet. War sein unheimliches Erlebnis vielleicht nur so etwas wie ein Tagtraum gewesen? Er wusste es einfach nicht.
Dennis hatte seinen Eltern natürlich nichts von all dem erzählt, glaubte er doch zu wissen, dass diese sicher an seinen Verstand gezweifelt hätten. Er lächelte, als er sich vorstellte, wie er seiner Mutter diese Geschichte erzählte: „...Und dann verfolgte mich mein Ball und ich rannte um mein Leben. Mama, bitte glaub mir doch!“
Zum anderen konnte er sich das merkwürdige Verhalten von seiner Nachbarin einfach nicht erklären. Er hatte sie noch nie so wütend erlebt. Und dann fragte er sich noch, warum Frau Specht den Ball mit ihren Krückstock nicht weg stoßen konnte. Immerhin hatte sie ja kräftig zugeschlagen.
Und so grübelte Dennis noch eine Weile herum, bis er endlich eingeschlafen war. Unter seinem Bett lag bewegungslos sein Ball.
Drei Tage später beschloss Dennis mit seinem besten Freund Dirk, der nur einen Monat jünger war als er selbst, Fußball zu spielen. Jedoch nicht auf der Straße, sondern auf dem Sportplatz ihrer Schule, in der sie gemeinsam in die 6. Klasse gingen.
Es war Sonntag und der Regen der letzten Tage hatte endlich eine Pause gemacht. Die Sonne brannte gnädig vom Himmel herab und so machten sich beide mit ihren Rädern auf dem Weg.
Auf dem Sportplatz war es eigentlich verboten, außerhalb der Schulzeiten darauf zu spielen, was sie aber dennoch nicht davon abhalten konnte, trotzdem dort Fußball zu spielen. Die Wahrscheinlichkeit vom Schulhausmeister verjagt zu werden war ohnehin sonntags eher gering. Sie versteckten ihre Räder in einem Gebüsch und kletterten dann über den stabilen Maschendrahtzaun, der das ganze Sportplatzgelände umschloss. Schon bald waren die Jungen in ihr Spiel vertieft.
Dirk stand im Tor und schoss grade den Ball zu Dennis zurück, der etwa zehn Meter weiter entfernt auf ihn wartete. Er hatte einen guten Schuss hingelegt und so flog der Ball weit über Dennis’ Kopf hinweg und landete dann auf der roten Kunststoffbahn, die er noch überrollte, bevor er schließlich in einem Gebüsch verschwand. Gerade wollte Dennis hinüber laufen, als das Gebüsch den roten Ball wieder ausspuckte.
Er erschrak, musste er doch sofort wieder an sein unheimliches Erlebnis denken, das er erst kürzlich mit seinem Ball auf der Straße gehabt hatte. Doch diesmal folgte die Erklärung sofort. Denn jetzt trat ein blondes Mädchen, dessen Haare zu zwei Zöpfen geflochten waren, aus dem Gebüsch heraus. Es trug weiße Turnschuhen und eine ausgefranste Jeans. Darüber ein ganz offensichtlich nicht mehr sauberes gelbes T-Shirt. Überall war es mit matschigen braunen Flecken bedeckt. Ebenso ihre Hose und Schuhe. Wie es schien hatte es sich schon länger in diesem Gebüsch versteckt.
Es war Kesse, die eigentlich Lisa hieß. Sie war 11 Jahre alt und ging in die gleiche Schulklasse wie die beiden Jungen. Sie musterte ihre Schulkameraden und fragte dann in ihrer gewohnt überheblichen Art: „Darf ich mit euch spielen, ihr Coolen Boys?“ Dabei blitzten ihre strahlend blauen Augen sie nicht grade freundlich an.
Dirk, der inzwischen zu Dennis herüber gelaufen war schüttelt verächtlich seine langen dunkelblonden Haare und sagte: „Nein Kesse. Das kannst du mal knicken. Wir spielen doch nicht mit Mädchen Fußball!“
„Ach was, wo gibt’s denn so was.“, erwiderte Kesse schnippisch. „Dann wollt ihr sicher mit meinen Papa spielen. Ihr wisst doch sicherlich wer das ist, oder?“
Natürlich wussten die Freunde es. Ihr Vater war der Hausmeister der Schule und zudem auch noch ziemlich unbeliebt.
Dirk sah zu Dennis hinüber, der immer noch kein Wort gesprochen hatte. Dieser stand mit nur offenem Mund da, strich sich dabei mit seinen Händen durch sein nass geschwitztes braunes Haar und starrte auf Kesse, gerade so, als stände dort ein Geist vor ihn und nicht das Mädchen.
„Hallo Dennis, was ist los mit dir? – Sag doch auch mal etwas dazu.“, zischte Dirk ihm deshalb ungeduldig zu und stieß ihn dabei unsanft in die Rippen. Das wirkte.
„Tja, da haben wir wohl keine andere Wahl. Wir sollten sie lieber mitspielen lassen, denn mit ihrem Vater will ich bestimmt nicht spielen. – Du etwa?“
„Das ist doch glatte Erpressung von dir, Kesse. Ich weiß schon, warum ich euch Mädchen nicht leiden kann. Ihr seid allesamt kleine Petzen!“, schrie Dirk jetzt sichtlich aufgebracht.
„Du kannst es dir ja aussuchen. Entweder ich darf mit euch Fußball spielen oder mein Papa wird euch etwas Feuer unter euren Ärschen machen!“, rief Kesse überheblich.
Schließlich einigten sich die Kinder darauf, das Kesse im Tor stehen durfte. Dabei machten die Jungen eine erstaunliche Erfahrung. Kesse war nämlich wirklich gut im Tor. So gut, dass es keinen der beiden gelang, auch nur einen einzigen Treffer zu erzielen.
Etwa zur gleichen Zeit traf sich Theo mit seiner Bande am Spielplatz des Ortes. Zu seiner Clique gehörten noch Mike, Till und Max, der Bruder von Mike. Alle drei waren um die 14 Jahre alt und wie ihr 15-jähriger Anführer Theo auf ihren Mofas vorgefahren.
Ihre Mofas waren schneller als erlaubt und ausgerechnet heute wollten sie auf dem Sportplatzgelände der Schule ein Rennen veranstalten. Dieses sollte auf der roten Kunststoffbahn des Platzes ausgetragen werden.
Von Till, dem Sohn des Hausmeisters wussten sie, dass sein Vater auf Angeltour war und dieser deshalb erst am Abend wieder zurück erwartet wurde. Und das war auch gut so. Denn Zeugen konnten sie für ihr fragwürdiges Vorhaben natürlich nicht gebrauchen.
Nach einer kurzen Besprechung fuhren sie mit ihren laut knatternden Mofas Richtung Schulsportplatz davon und waren nur wenig später dort angelangt. Sie stellten ihre aufgemotzten Mofas ab. Da die Tore zum Platz verschlossen waren und es Till nicht gelungen war, die Schlüssel von seinem Vater zubekommen, hatte Theo eine Spezialzange dabei.
Wenn sie nur so auf den Platz gewollt hätten, wäre der Zaun kein Hindernis für sie gewesen. Aber ihre Mopeds mussten mit und grade wollte Theo damit beginnen, den Zaun zu zerschneiden, als er die Kinder erblickte, die auf der anderen Seite des Platzes Fußball spielten.
„Was zum Teufel haben denn diese Milchzwerge hier zu suchen?“, rief er seinen Freunden zu.
„Sieht so aus, als spielten sie Ball!“, stellte Till sachlich fest und lachte dabei etwas gehässig.
Theo drehte sich zu Till herum und fauchte wütend: „Deine Kröte von Schwester ist auch dabei. Findest du das etwa komisch? – Ausgerechnet jetzt, wo wir hier ein Rennen fahren wollen?“
„Kommt, lasst uns lieber verschwinden.“, sagte Max und sein Bruder Mike rülpste zustimmend.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage.“, rief Theo aufgebracht, „Wir klettern jetzt über diesen Zaun und verjagen sie einfach. Die laufen doch sicherlich gleich weg, wenn sie uns kommen sehen!“
„Das mag schon sein.“, wiedersprach ihm Till, „Aber wir sollten trotzdem besser verschwinden. – Ich meine du kennst doch meinen Vater. Wenn er das Loch im Zaun entdeckt, werden die da unten früher oder später von uns erzählen. Und das werden sie auf jeden Fall, wenn wir jetzt zu ihnen hinunter gehen. Und dann währen wir geliefert!“
Theo sah ihn böse an und fauchte: „Dann werden wir den dreien da unten mal gehörig die Köpfe waschen und ihnen mal so richtig Angst einjagen. Und zwar so sehr, dass keiner von ihnen uns jemals verraten wird. Erst recht nicht deine zickige Schwester. Die hat einfach keinen Respekt vor mir. Ich denke es wird Zeit, das sie endlich kapiert, wer hier das Sagen hat!“
Ohne eine Antwort von Till abzuwarten schwang sich Theo böse grinsend über den Zaun. Der Rest seiner Klicke folgte ihm nur wiederwillig.
Die beiden Jungen hatten es noch immer nicht geschafft ein Tor zu schießen, denn Kesse hielt einfach jeden Ball.
Beide schwitzten und grade war Dennis an der Reihe. Er schoss den Ball mit voller Wucht gegen das Tor, doch Kesse blockte ihn geschickt mit ihren Händen ab, so dass er geradewegs wieder zu Dennis zurück geflogen kam. Dieser konnte ihn jedoch nicht halten und so landete er weit hinter ihm im Gras. Sofort drehte er sich herum, um seinen Ball zu holen. Doch da sah er die vier Gestalten auf sich zu kommen in denen er sofort Theos Bande erkannte.
Er blieb stehen und zu Dirk gewandt, der inzwischen zu Dennis gelaufen war, raunte er: „Ich glaube nicht, dass die mit uns Ball spielen wollen.“
„Das glaub ich auch nicht. Komm lass uns lieber von hier verduften.“, antwortete sein Freund sichtlich nervös.
„Das geht aber nicht. Sie haben meinen Ball!“, widersprach ihm Dennis. Dabei drehte er sich zu Kesse um, die sich inzwischen vor dem Tor hingesetzt hatte. Es sah nicht so aus, als würde sie den Freunden zu Hilfe kommen wollen, was nicht verwunderte. Schließlich war ihr großer Bruder Till gerade mit Theos Bande im Anmarsch und das bedeutete in aller Regel Ärger.
Inzwischen waren die vier herangekommen. Theo hielt mit seiner linken Hand den Ball, während er mit seiner anderen eine Zigarette aus seiner schwarzen Lederjacke angelte und sie sich lässig in sein mit Pickeln überzogenes Gesicht steckte.
Selbst bei dieser Hitze zog er seine Jacke nicht aus und böse Zungen behaupteten sogar, dass er sie auch noch nachts in seinem Bett anbehielt. Jetzt schnippte er mit den Fingern seiner freien Hand und sofort eilte Till herbei und gab ihm Feuer.
Theo zog an seiner Zigarette und grinste gefährlich, bevor er sagte: „Na, ihr zwei Memmen. Das seid ihr doch, oder irre ich mich da?“
Seine Stimme klang dabei sehr piepsig, denn er befand sich seit langem in einen nie enden wollenden Stimmbruch. Sein Grinsen wurde noch etwas breiter und er sprach, ohne dabei seine Kippe aus seinem Mund zu nehmen, weiter: „Ihr müsst Memmen sein. Ganz sicher seid ihr das. Das hier ist nämlich ein Memmen Ball!“
Die Jungs schwiegen. Beide wussten, dass die Sache langsam brenzlig wurde und es sicher besser gewesen wäre, die Flucht anzutreten. Aber sie rührten sich nicht von der Stelle, sondern lauschten weiterhin angespannt Theos Vortrag über Memmen.
„Und wisst ihr auch warum dies hier ein Memmen Ball ist?“, wollte Theo jetzt von ihnen wissen. Doch er bekam wieder keine Antwort. Ungläubig schüttelte er seinen Kopf, wobei seine halblangen und tiefschwarzen Haare, die er streng nach hinten gekämmt getragen hatte, ihm jetzt nach vorne ins Gesicht fielen.
Er wischte sie sich zornig aus der Stirn und funkelte dabei die Kinder gefährlich mit seinen braunen Augen an. Dann schrie er: „Na schön. Dann werde ich es euch mal erklären müssen. – Es ist ein Memmen Ball, weil er nicht nur rot, sondern auch noch aus Plastik ist!“
Jetzt meldete sich Till zu Wort und rief: „He, Kesse, du kleine Kröte. – Verpiss dich lieber mal schnell. Was jetzt kommt ist nichts für kleine Mädchen. – Kapiert?“
Kesse, die die ganze Zeit über nur schweigend im Tor gesessen hatte, konnte es nicht leiden, wenn ihr Bruder sie Kröte nannte. Aber mehr noch missfiel ihr es, wenn vier große Jungen zwei kleinere verprügeln wollten. Und genau das schien Theos Bande grade im Sinn zu haben.
Deshalb sprang sie jetzt zornig auf und stellte sich demonstrativ neben Dennis und Dirk. Dabei rief sie wütend ihrem Bruder zu: „Weißte Till, verpiss dich lieber selber. Ich bleibe wo ich bin und damit basta!“
Till war sprachlos und deshalb ergriff Theo erneut das Wort: „Na schön, Kesse, wie du willst. Dann kniet ihr euch eben alle drei vor mir nieder und gebt zu, dass ihr Memmen seid. – Verstanden!“
Doch die drei rührten sich nicht von der Stelle und Theo wurde zusehends etwas unsicher. Seine piepsige Stimme bebte als er schrie: „Ach, so ist das? – Ihr wollt nicht. Na dann muss ich wohl in euern Ball ein kleines Loch hinein brennen müssen. Was haltet ihr drei Memmen denn davon?“
Theo nahm jetzt seine glimmende Zigarette aus seinem Mund und näherte die glühende Spitze langsam der roten Plastikhülle des Balls.
Dennis kochte innerlich vor Wut. Er war keine Memme, würde es aber sicher werden, wenn er tat, was dieser Spinner von ihm verlangte. Deshalb wünschte er sich insgeheim, er könnte mit seinem Ball Theos dämliches Grinsen einfach mit einem kräftigen Schuss aus dessen pickligen Gesicht heraus schießen.
Was nun geschah war unglaublich. Der Ball in Theos Händen machte sich selbständig und dopte dann einmal kurz auf dem Rasen auf, bevor er mit voller Wucht in Theos verdutztes Gesicht knallte.
Theo wurde dabei aus seinen Schuhen gehoben und zwei Meter nach hinten geschleudert. Nur gut, dass seine Kumpanen dort standen. Sonst hätte er einen noch weiteren Flug vor sich gehabt. Doch so bremsten sie ihn ab und fielen dann gemeinsam mit ihren Anführer auf den Rasen.
Dennis wollte nicht abwarten, bis sich die Bande wieder aufgerappelt hatte, sondern trat rasch die Flucht an. Dirk und Kesse folgten ihm. Schnell waren sie über den Zaun geklettert und wagten erst dann einen Blick zurück.
Theo saß noch immer auf seinem Hosenboden und starrte fassungslos auf den Ball, der ihn gerade so unsanft aus seinen Stiefeln befördert hatte. Unschuldig lag dieser in der prallen Sonne und rührte sich nicht mehr von der Stelle.
Einer Eingebung folgend rief Dennis laut: „Komm Ball, komm zu Herrchen!“
Kesse lachte hysterisch auf, verstummte aber sogleich wieder, als sie sah wie der Ball tatsächlich Dennis’ Ruf folgte. Er rollte bis zu dem Zaun und sprang dann einfach auf die andere Seite herüber. Erst vor Dennis’ Füßen blieb er schließlich regungslos liegen.
Dirk fand als erster seine Sprache wieder. „Das glaub’ ich jetzt einfach nicht!“
„Ich auch nicht. Es ist mir irgendwie ziemlich unheimlich.“, gab Dennis zu.
Theos Bande hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und als die Mitglieder sahen, wie der Ball Dennis’ Ruf gefolgt war, gerade so, als sei dieser ein Hund, machten sie sich hastig aus dem Staub.
Dennis erzählte nun den beiden, was er vor ein paar Tagen mit seinem Ball alles erlebt hatte. Natürlich verschwieg er auch nicht den unschönen Zwischenfall vor seinem Haus.
Schließlich endete er mit den Worten: „Glaubt mir, die Frau war völlig irre. Es war fast so als wäre der Teufel in sie gefahren. – Wisst ihr, eigentlich ist Frau Specht ziemlich gebrechlich. Ohne ihre Krücke kann sie sich eigentlich gar nicht vorwärts bewegen. Doch an diesem Tag war sie Fit wie ein Turnschuh. Ihr Verhalten war einfach nur unheimlich für mich.“
Dirk, der die Nachbarin seines Freundes schon selbst in Aktion gesehen hatte stimmte ihm zu und sagte: „Das passt wirklich nicht zu ihr. Eigentlich kann sie nur herummeckern und mit ihre Krücke wedeln. – Hat sie sich dann wenigstens später noch bei dir entschuldigt?“
Dennis schüttelte seinen Kopf und sagte: „Nein, hat sie nicht. Jedenfalls werde ich dieser Frau nicht mehr dabei helfen ihre schweren Einkäufe nach oben zu tragen. Na ja, vielleicht wieder, wenn sie sich doch noch bei mir entschuldigt.“
Für eine Weile schwiegen alle und schließlich sagte Kesse: „Schmeiß diesen Ball doch einfach weg!“
„Sehr witzig, passt mal gut auf.“
Dennis schwang sich auf sein Rad und fuhr los. Zunächst passierte überhaupt nichts, doch dann rollte der Ball langsam los und folgte seinem Besitzer.
„Irre!“ Mehr konnte Kesse nicht sagen. Dennis drehte und kam wieder zurück. Der Ball folgte ihm.
„Seht ihr, was für einen treuen Ball ich habe?“
Jetzt mussten alle lachen. Dann sagte Dirk: „Und wenn du ihn zurück bringst? Ich meine zu dem Auto mit den schwarzen Scheiben, dann...“
Dennis unterbrach ihn. „Das geht leider nicht mehr. Der Wagen ist schon längst wieder verschwunden.“
„Was haltet ihr davon, wenn ich euch zu einem Eis einlade? Dann können wir uns in aller Ruhe über Dennis’ Wunderball unterhalten.“, schlug Kesse den Jungen vor.
„Klar doch, gute Idee von dir!“, rief Dennis begeistert. Dirk nickte nur mürrisch.
„Ok, wartet hier einen Augenblick. Ich hole nur noch schnell mein Rad.“
Als Kesse weg war, rief Dirk etwas eifersüchtig: „Sag nur, du hast dich in Kesse verknallt!“
Sofort wurde Dennis rot und meinte: „Ich? – Spinnst du. Oh man Dirk, ich hasse Mädchen. Das weißt du doch genau.“
„Aber du kriechst ihr ja förmlich in den Hintern. Merkst du das denn nicht? Und überhaupt, wie du sie anhimmelst!“, stänkerte Dirk weiter.
Bevor die beiden Freunde ernstlich in Streit geraten konnten, kam Kesse wieder mit ihrem Rad zurück.
„Habe ich irgendwas verpasst?“, erkundigte sie sich neugierig.
„Ne, haste nicht!“, erwiderte Dirk ihr unfreundlich.
Kesse ignorierte ihn und fragte dann stattdessen Dennis: „Wenn dein Ball deine Gedanken lesen kann, meinst du er könnte uns dann auch den kürzesten Weg zur Eisdiele zeigen?“
„Bestimmt kann er das. Prima Idee von dir.“
Mehr sagte er nicht, dachte aber an die Eisdiele und daran, dass der Ball sie führen sollte. Sofort setzte sich der Ball in Bewegung und rollte die Straße hinunter.
„Ihm nach!“, schrie Dirk und die Kinder nahmen sofort die Verfolgung auf.
Die Jagd endete zunächst an einem Zebrastreifen. Dort stand gerade grade ein älterer Mann, der sich soeben anschickte, die Straße zu überqueren. Er sah den Ball kommen, sah die Kinder auf ihren Rädern und nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass Ball und Kinder auch vor dem Zebrastreifen anhielten. Er begriff allerdings nicht, wie es möglich war, dass ein ganz normaler Ball eine hörbare Vollbremsung machen konnte. Kopfschüttelnd ging er über die Straße.
Der Ball setzte sich wieder in Bewegung und die Kinder folgten ihm bis zu der Eisdiele. Dort suchten sie sich einen Tisch im Freien. Ein großer Sonnenschirm spendete kühlen Schatten.
„Was für ein Eis möchtet ihr denn haben?“, wollte Kesse wissen.
Wie aus der Pistole geschossen, kam die Antwort von beiden gleichzeitig: „Wir essen alle Sorten mit Sahne!“
Kesse grinste breit bis über ihre Ohren und trottete dann in die Eisdiele, um ihre Bestellung zu machen.
„Hast du dir was gewünscht?“, wollte Dennis von seinem Freund wissen.
Beiden war nämlich bekannt, dass wenn zwei Menschen zur gleichen Zeit dasselbe sagten, sie sich etwas wünschen durften. Niemals durfte dieser Wunsch aber laut ausgesprochen werden, da er sonst verfiel und nichts mehr wert war.
Dirk war nicht abergläubisch, aber liebend gerne hätte er Kesse sonst wo hin gewünscht. Doch wenn dieser Wunschglaube tatsächlich funktionierte, wäre ihm so ein leckeres Eis durch die Lappen gegangen. Deshalb wünschte er sich lieber einen echt großen Eisbecher mit viel Sahne oben drauf.
Kesse kam zu ihrem Tisch zurück geschlendert und teilte ihnen mit, dass ihre Eisbecher gleich gebracht würden. Dann fragte sie Dennis: „Woher hast du eigentlich deinen Ball?“
Dennis tat so, als könnte er sich nicht so recht erinnern. Unsicher blickte er zu seinem Freund hinüber und als dieser zögernd nickte, sagte er: „Ich habe ihn im Wald in einer Höhle gefunden. Das war letztes Jahr in den Sommerferien. – Weißt du noch, Dirk, unsere geheime Radtour und dann dieses schreckliche Gewitter auf dem Rückweg. Ich sag dir, Kesse...“
Hier wurde er von Dirk unterbrochen: „Ja, Kesse, du hättest dir sicher vor Angst in die Hosen gemacht. Überall Bäume, das mögen die Blitze ja und dann dieser Wind. Wir fuhren damals den Berg hinunter. Aber glaubst du, wir wären von der Stelle gekommen?“
Dirk war nun sehr aufgeregt und spielte mit seinen Fingern an seinem goldenen Ohrring herum, den er im linken Ohrläppchen trug.
„Wir konnten die Räder damals nur noch schieben, sonst hätte uns der Sturm sicher wie welkes Laub aus unseren Sätteln gehoben und einfach nur weg gepustet. Es war ein richtiger Kampf und dann dieser Regen. – Der Himmel war schwarz wie die Nacht. Badewannenweise ergoss sich eiskalter und irgendwie nach faulen Eiern riechender Regen über uns.“
Während Dirk erzählte, hatte die Bedienung drei gigantische Eisbecher mit viel Sahne oben drauf auf ihren Tisch gestellt. Aber Dirk bekam das gar nicht mit. Zu sehr war er in seine Erzählung vertieft.
Er beschrieb, wie das viele Regenwasser den Waldweg binnen Sekunden überflutete und ihn so in einen matschigen Sturzbach verwandelte. Beide konnten sich kaum noch auf dem glitschigen Boden halten und stürzten mehrmals in die braune Brühe, die ihrer Kleidung sofort jegliche Farbe entnahm und durch ein einheitliches Matschbraun ersetzte.
Hier machte Dirk eine kurze Pause und sah nachdenklich zu seinem Freund hinüber, bevor er weiter sprach. „Aber das tollste wirst du uns wahrscheinlich eh nicht glauben wollen, Kesse!“
Das Mädchen hatte gebannt zugehört und wusste nicht so recht, wie ihr geschah. Mit offenem Mund starte sie ihre Klassenkameraden an. Es war nicht die Geschichte selbst, welche ihr eine Gänsehaut bescherte, sondern vielmehr etwas, das sie selbst betraf. Es war ihr so, als erzählte Dirk von einem Film, den sie selbst gesehen hatte. Langsam verschwand die von der Mai-Sonne leicht angesetzte Bräune aus ihrem Gesicht und selbst ihre blauen Augen schienen zu erblassen.
Dennis ergriff nun das Wort: „Versprich uns, dass du niemandem von dieser Geschichte erzählen wirst. Du bist die Erste, die sie hört!“
Kesse hatte immer noch nichts gesagt. Ihre frühsommerliche Bräune war jetzt völlig aus ihrem Gesicht verschwunden und mit zittriger Stimme sagte sie leise: „Ich verspreche es euch.“
Sie fühlte sich fast so hilflos wie an ihrem 9. Geburtstag vor zwei Jahren. Jenem Tag, an dem sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatte.
„Schwöre es uns!“, befahl Dirk gebieterisch, dem nicht entgangen war, dass Kesse offensichtlich Angst bekommen hatte.
Kesse schwieg und aß schnell einen Löffel von ihrem Eis. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und sagte mit leiser und ernster Stimme: „Du brauchst es mir nicht zu erzählen. Ich kenne die ganze Geschichte, denn irgendwie war ich dabei und...“
„Du warst dabei?“, unterbrach Dennis Kesse ungläubig und Dirk rief aufgebracht: „Willst du uns verarschen?“
Dirk hatte inzwischen auch sein Eis entdeckt, das sich anschickte, stumm vor sich hin zu schmelzen. Rasch ergriff er seinen Löffel, um zu retten, was noch zu retten war, während Dennis Kesse aufforderte, ihre Geschichte fertig zu erzählen, wenn sie schon dabei gewesen war, wie sie grade behauptet hatte.
„Genau, mache das. Dann werden wir ja sehen.“, stimmte Dirk seinem Freund zu.
Und Kesse erzählte: „Ihr beiden habt ausgesehen wie Zombies auf der Flucht und als ein Blitz vor euch in eine mächtige Kiefer einschlug und den ganzen Baum in zwei Hälften spaltete, habt ihr euch ängstlich umklammert und geheult wie kleine Babys.“
Jetzt waren es die Jungen, die blass wurden.
Kesse fuhr fort: „Die eine Hälfte des Baumes fiel brennend direkt vor euch auf den Weg und so konntet ihr nicht mehr weiter. Und dann, von einer Sekunde zur anderen...“
Hier wurde Kesse von Dirk unterbrochen: „...war der Sturm auch schon wieder vorbei!“ Und Dennis fügte noch hinzu: „Der Himmel war so blau wie zuvor, das viele Wasser lief rasch ab und die Flammen des Baumes waren erloschen.“
„Aber woher, um alles in der Welt, weißt du das alles?“, wollte Dirk ungläubig von Kesse wissen.
„Ich habe es geträumt.“, kam die knappe Antwort. Dann fügte sie noch rasch hinzu: „Erst letzte Nacht!“
Die drei schwiegen eine Weile. Es war irgendwie zu viel auf einmal. Erst die Sache mit Theo, dann der Ball, der auf Gedanken reagieren konnte und nun diese abgefahrene Geschichte mit Kesses‘ Traum. Wie konnte jemand etwas träumen, was andere ein knappes Jahr zuvor erlebt hatten?
Warum dieser Sturm, der ganz offensichtlich nur für die Jungen seinen Auftritt gehabt hatte und vor allem, was hatte diesen Sturm so plötzlich wieder beendet?
Die Kinder hatten irgendwie alle die gleichen Gedanken und Kesse unterbrach nun das unheimliche Schweigen.
„Der Ball. Es war der Ball!“, rief sie aufgeregt. „Woran hast du damals gedacht, als der Baum auf den Waldweg fiel?“, wollte sie von Dennis wissen.
„Ich wollte nur, dass es endlich aufhört. Ich hatte einfach nur Angst.“, gab Dennis zu.
„Verständlich, als ich das letzte Nacht von euch geträumt habe, hatte ich auch Angst. Jedenfalls muss ich ganz schön geschwitzt haben. Nur komisch, ich habe den Traum schon kurz nach dem Aufstehen wieder vergessen.“, meinte Kesse.
„Das ist halt so mit Träumen. Jedenfalls haben wir nun eine Erklärung für das plötzliche Ende des Sturms.“, sagte Dirk, „Der Ball hat ihn beendet, weil Dennis daran gedacht hat. Ganz klare Sache.“
Trotz der Wärme lief es allen drei eiskalt den Rücken herunter und das lag sicher nicht an ihren Eisbechern.
Kesse ergriff nun wieder das Wort und sagte: „Nun, Freunde, es scheint fast so, als hat irgendetwas oder jemand uns zusammen geführt, um dieses Rätsel zu lösen. Was meint ihr?“
Dirk missfiel es zwar, wie Kesse eben das Wort Freunde betont hatte, dennoch musste er ihr recht geben. Sie saßen im selben Boot und nur gemeinsam würden sie dieses Abenteuer überstehen. Dennis war der gleichen Meinung und so reichten sie sich ihre Hände und schlossen so ein Bündnis, was anderswo überhaupt nicht gern gesehen wurde.
Dann trennten sich die drei, denn inzwischen war es schon spät geworden.
Dennis hatte seinen Ball wieder auf dem Gepäckträger seines Rades untergebracht und fuhr rasch nach Hause.
Er stellte fest, dass niemand zuhause war und so verzog er sich in sein Zimmer. Seinen Ball legte er diesmal nicht unter sein Bett, sondern in eines seiner vielen Regale. Es war sicher besser, ihn im Auge zu behalten.
Nachdenklich legte er sich auf sein Bett und dachte über die letzten Ereignisse nach. Ihn beschäftigte eine Frage ganz besonders. Warum hatte sein Ball erst jetzt seine Fähigkeiten gezeigt und nicht schon viel früher? Schließlich besaß er den Ball schon fast ein ganzes Jahr.
Er stand auf und holte seinen Ball wieder aus dem Regal. Er drehte ihn von allen Seiten und konnte keine merklichen Veränderungen an ihm feststellen. Die rote Farbe des Balles war überall angekratzt, was nicht verwunderlich war. Gerade wenn er auf der Straße damit bolzte, blieben solche Spuren nicht aus.
Dennis sah nun genauer hin und glaubte dann noch eine weitere Farbe zu erkennen. Er war sich aber nicht ganz sicher. Deshalb ging er zum Fenster und da sah er es wieder. Der Ball hatte tatsächlich eine Art Muster, was nur deshalb kaum zu erkennen war, weil die zweite Farbe aus einem nur unwesentlich dunkleren Rot bestand, als das übrige Rot, das den Ball umgab.
Dennis hatte eine Idee. Er kramte in einer seiner Schreibtischschubladen herum und fand dort einen schwarzen Edding. Mit ihm wollte er die kaum sichtbaren Linien wieder sichtbar machen, indem er versuchte, das Muster so weit wie möglich nachzumalen. Er zögerte einen Augenblick und begann dann entschlossen mit der Arbeit. Nach und nach erschien ein erstes Bild, welches ihn zunächst etwas enttäuschte. Doch beim zweiten Hinsehen erkannte er etwas Außergewöhnliches.
Es war ein Siebeneck. Soweit er wusste, hatten Bälle jedoch, wenn überhaupt, nur Sechsecke und Fünfeckige Muster. Wenigstens war das bei genähten Fußbällen so. Sein Ball war aber aus einem Guss und zudem aus Plastik, wie Stunden zuvor Theo festgestellt hatte.
„Kluger Junge dieser Theo.“, flüsterte Dennis leise vor sich hin. Er lächelte, als er an Theos dummes Gesicht dachte, was dieser gmachte, als sein Ball ihn im Gesicht getroffen hatte.
Inzwischen hatte Dennis weitere Siebenecke nachgezeichnet. Sie waren äquatormäßig um den Ball herum angeordnet und alle zeigten mit der spitzen Seite in eine Richtung. Der Abstand war immer gleich und zum Schluss zählte er genau 7 Siebenecke.
„7 Siebenecke.“, murmelte er mehrmals vor sich hin. „Was hat das nur zu bedeuten?“, fragte er dann laut seinen Ball. Doch dieser blieb ihm eine Antwort schuldig und so legte er ihn wieder in das Regal zurück. Dabei achtete er darauf, dass er die Siebenecke gut von seinem Bett aus sehen konnte.
Kesse hatte es nicht besonders eilig nach Hause zu kommen. Schließlich war ihr Bruder Till ein Mitglied von Theos Bande und irgendwie war sie sich sicher, dass Till nicht gerade gut auf sie zu sprechen war. Deshalb hoffte sie nur, dass ihr Vater schon von seiner Angeltour zurück sein würde.
Eine Mutter hatte Kesse nicht mehr. Sie starb vor zwei Jahren bei einem tragischen Autounfall.
Kesse war von ihrem Rad abgestiegen und schob es nun langsam den Berg hinauf. Immer, wenn sie in der Stadt gewesen war, tat sie dies und stets führte sie ihr Weg an dem Friedhof vorbei, auf dem ihre Mutter beerdigt war.
Sie beschloss, das Grab ihrer Mutter zu besuchen und lehnte ihr Rad an die mit Moos überwachsene Friedhofsmauer. Wie immer quietschte das eiserne Friedhofstor, als sie dieses öffnete. Langsam schlenderte sie den mit braunem Kies bedeckten Hauptweg entlang und dachte an den Tag zurück, an dem ihre Mutter verunglückt war.
Es war ihr 9. Geburtstag gewesen, als es passierte. Ihre Mutter hatte am Abend ihre Freundinnen, die sie eingeladen hatte, ins Auto geladen, um sie nach Hause zu bringen. Kesse wäre gerne mitgefahren, doch es war kein Platz mehr im Wagen und so winkte sie dem Auto nach, welches nie mehr zurück kehren sollte.
Das Unglück geschah, nachdem sie das letzte Kind im 4 Kilometer entfernten Nachbardorf abgeliefert hatte und wieder zurück fuhr.
Die Straße war ein unregelmäßiges Auf und Ab mit vielen unübersichtlichen Kurven. Links und rechts standen die Rapsfelder gelb leuchtend zur Ernte bereit und so konnte Kesses Mutter das Unheil gar nicht erkennen, welches sich in Form von zwei getunten VW Golfs schnell auf sie zu bewegte.
Die Fahrer der beiden Golfs lieferten sich ein Rennen und auch sie konnten das Auto, welches ihnen entgegen kam, nicht sehen. Nicht nur, dass die Rapsfelder in der Unglückskurve jegliche Sicht auf die Strecke nahmen und alleine schon diese Tatsache zum umsichtigen Fahren mahnte, so kam auch noch hinzu, dass beide Fahrer einiges getrunken hatten, wie sich später heraus gestellt hatte.
Kesses‘ Mutter war auf der Stelle tot gewesen, als es krachte. Ebenso der Fahrer des Wagens, der ihr auf ihrer Fahrspur entgegen gekommen war. Der zweite Golf war ins Schleudern geraten und dann im hohen Bogen gut 30 Meter weit in ein Rapsfeld geflogen.
Die Rettungskräfte dachten bei ihrer Ankunft zunächst, dass es sich nur um zwei verunglückte Autos handelte und erst, als 15 Minuten später das im Feld auf dem Dach liegende Auto in Flammen aufgegangen war, wurde es entdeckt. Doch da war es für den Fahrer schon zu spät gewesen. Auch er verstarb, erst 16-jährig und ohne gültige Fahrerlaubnis, noch in den Trümmern seines Wagens, den er nur Stunden zuvor von einem Parkplatz eines Kinos gestohlen hatte.
Das alles erfuhr Kesse aber erst sehr viel später von ihrem Vater. Damals hatte er nur gesagt: „Mama hatte einen Autounfall und ist jetzt im Himmel.“
Völlig in ihre Gedanken versunken kam Kesse am Grab ihrer Mutter an und erst jetzt sah sie ihren Bruder Till, der vor dem Grab kniete und hemmungslos vor sich hin weinte.
So hatte sie ihn schon lange nicht mehr gesehen und sie dachte bei sich, dass es wohl besser wäre, ihn alleine zulassen. Doch dann überlegte sie es sich anders und kauerte sich neben ihm nieder.
Till blickte sie aus geröteten Augen an und wischte sich dann schnell die Tränen weg. Schweigend saßen sie dann vor dem Grab ihrer Mutter und schließlich schniefte Till leise: „Papa ist mal wieder betrunken. Wir bleiben besser hier, bis er eingeschlafen ist.“
Kesse nickte nur. Wenn sich die Geschwister auch sonst nicht vertragen konnten, hier waren sie sich einig und mussten zusammen halten. Denn wenn ihr Vater betrunken war, hatten beide nichts mehr zu lachen.
Als ihre Mutter noch lebte, waren sie eine glückliche Familie. Ihr Vater war bei den Kindern in der Schule sehr beliebt gewesen. Er war freundlich, hilfsbereit und nicht, wie so oft in anderen Schulen, der böse und ungerechte Handlanger des Rektors, vor dem man sich tuschelnd in den Pausen warnen musste. Doch dann, nach der Beerdigung seiner Frau, änderte er sich. Zwar nicht von heute auf morgen, doch unaufhaltsam und stets zum Schlechteren.
Alle bekamen dies zu spüren. Allen voran aber seine eigenen Kinder. Dabei hätten gerade sie seinen Zuspruch gebraucht, in einer Zeit, wo die Trauer um den Verlust der Mutter ihre kleine kindliche Welt zu zerbrechen drohte. Doch ihr Vater blieb unerreichbar für sie.
Wenn er zu Hause war, schloss er sich im Wohnzimmer ein, setzte sich seine Kopfhörer auf und lauschte seiner Musik. Dabei trank er Rotwein. Anfangs nur wenig, später aber immer größere Mengen. Und jetzt trank er schon morgens, bevor er zur Arbeit ging, zwei Flaschen Bier.
Till, der grade erst 12 Jahre alt geworden war, litt sehr darunter. Seine bisherigen Freunde mieden ihn umso mehr, je unbeliebter sein Vater in der Schule wurde. Deshalb schloss er sich schließlich Theos Bande an.
Anfangs hasste er seine Schwester, weil er glaubte, ihr die Schuld an diesen Unfall geben zu können. Denn hätte sie keinen Geburtstag gehabt, wäre seine Mutter niemals mit dem Auto gefahren und alles wäre nicht passiert. Später aber erkannte er die wahren Schuldigen. Es waren diese Jungs, die ihm ohne Führerschein und betrunken mit gestohlenen Autos seine Mutter genommen hatten.
Zugern hätte er sie angespuckt, sie irgendwie einer gerechten Strafe zugeführt, doch sie lebten nicht mehr. Sie waren unerreichbar und für immer ausgelöscht, genau wie seine Mutter für Till immer unerreichbar bleiben würde.
Kesse erging es nur wenig anders. Mit ihren 9 Jahren kam auch sie kaum über den Verlust ihrer Mutter hinweg. Auch sie verlor ihre Freunde und wurde zu einer Einzelgängerin, die immer mehr die Unbeliebtheit ihres Vaters zu nutzen wusste und mit ihm drohte, wenn sie mit anderen Kindern in einen Streit geriet. Sie verwandelte sich von der lieben Lisa zur immer coolen Kesse.
Doch das war nur äußerlich so. Innerlich blieb sie die kleine Lisa, die oft heulend mit ihrem Teddy, dem letzten Geschenk ihrer Mutter, im Bett lag und sich nichts sehnlichster wünschte, als jemanden zu haben, mit dem sie ihr Leid teilen konnte. Aber ihr Vater lebte in seiner eigenen Welt und Till fing an, sie zu hassen, was sie nicht verstand.
Jetzt saß sie in stiller Eintracht mit ihrem Bruder vor dem Grab ihrer Mutter und genoss innerlich die Nähe ihres großen Bruders, der sie jetzt nicht als Kröte beschimpfte, wie er es sonst zu tun pflegte. Ein Bruder, der auch Gefühle zeigen konnte und nun für kurze Zeit so war, wie sie ihn von früher her kannte.
Sie standen beide auf und gingen, Kesse ihr Fahrrad schiebend, langsam und schweigend nach Hause.
„Warte hier. Ich schaue lieber erst mal nach, ob Papa schon eingeschlafen ist.“, sagte Till vor der Haustür.
Zum Glück war er das und so verzogen sich beide leise in ihre Zimmer.
Kesse wusste, dass Till morgen wieder in ihr die kleine Kröte sehen würde, die sie nicht war und das machte sie traurig.
Am nächsten Morgen war Dirk schon zeitig aufgestanden. Er wollte Dennis abholen und mit ihm gemeinsam zur Schule gehen. Es gab vieles zu bereden und das konnten sie ja schlecht im Unterricht machen.
Er hatte gestern lange wach gelegen und über den Verlauf der Ereignisse nachgedacht. Immer wieder hatte er sich gefragt, wieso Kesse von ihrem Sturmerlebnis träumen konnte. Ausgerechnet Kesse.
Erst vor ein paar Wochen hatte Dirk ihren Vater von einer ziemlich unangenehmen Seite kennen gelernt und das trug nicht gerade zu einer Verbesserung ihres jetzigen Verhältnisses bei.
Es passierte in der zweiten großen Pause. Dirk hatte auf der Tischtennisplatte gesessen und einen Apfel gegessen. Als er versuchte, den Apfelkrätz in einen Mülleimer zu werfen, der sich vier Meter weit von ihm entfernt befand, hatte er sein Ziel verfehlt. Und so landeten die Reste seines Apfels weit hinter dem Mülleimer auf dem Schulhof. Noch bevor er aufstehen konnte, um den Krätz aufzuheben, hatte Kesses Vater ihn von hinten gepackt und ihn von der Tischtennisplatte herunter gerissen.
„Seit wann setzen wir uns auf Tischtennisplatten?“, hatte er ihn angeherrscht. Dabei schüttelte er ihn am Kragen und deutete dann auf den Apfelkrätz am Boden.
„Und das hier? Sieht so unser Mülleimer aus? Warte, du Bengel, ich werde dir zeigen, wie unser Mülleimer aussieht!“
Er hatte Dirk losgelassen und war zügig zum Mülleimer gegangen. Dort hatte er ihn aus seiner Verankerung gerissen und dann den ganzen Inhalt auf den Boden geschüttet. Mit dem Eimer in der Hand war er zu Dirk zurück gekehrt und hatte gebrüllt: „In Nullkommanichts hast du diese Sauerei hier wieder aufgesammelt!“
Dabei hatte er auf den am Boden verstreuten Müll gedeutet. „Und wenn nicht, werden wir noch eine Sitzung beim Rektor haben. Verstanden?“
Dirk hatte keine andere Wahl gehabt, als zu tun, was Kesses‘ Vater von ihm gefordert hatte.
Jetzt verabschiedete Dirk sich von seinem Vater, schnappte sich seinen Schulranzen und eilte rasch aus der Wohnung. Als er die Haustüre öffnete, staunte er nicht schlecht, als Dennis plötzlich vor ihm stand.
„Das nenne ich aber mal ein gutes Timing!“, rief er freudig.
Jetzt folgte ein geheimes Begrüßungsritual, das Außenstehende nicht so schnell nachmachen konnten. Es bestand aus einer raschen Abfolge von sich gegenseitigem Abklatschen ihrer Hände in einem ganz bestimmten Rhythmus und Reihenfolge. Stets wurde diese Prozedur mit den gleichzeitig gesprochenen Worten begleitet:
„Hi, Bruder. Wo, Bruder. Hier Bruder ist er nicht! Wo, Bruder ist er denn?Ich weiß es nicht, Bruder, aber gut Bruder, dass es dich gibt. Also hi, Bruder!“
In der Schule gab es immer welche, die versuchten, solche Begrüßungen zu knacken, indem sie versuchten, diese nachzumachen. Schaffte dies jemand, musste man sich eine neue Begrüßungsformel ausdenken, doch bisher hatte niemand es geschafft ihren Code zu knacken.
Nun marschierten sie Richtung Schule und Dennis erzählte seinem Freund von den geheimnisvollen Siebenecken, die er gestern auf seinem Ball entdeckt hatte.
„Hast du den Ball dabei?“, wollte Dirk neugierig wissen.
„Nein, natürlich nicht. Ich habe ihn heute Morgen sicherheitshalber in meinem Kleiderschrank eingeschlossen. Ich meine, schließlich könnte es meinem Ball in den Sinn kommen, einen Ausflug ohne mich zumachen und ich glaube nicht, dass wir das Rätsel lösen können, wenn er plötzlich verschwunden ist!“
Dennis griff in seine Hosentasche und zog einen Zettel heraus.
„Hier, ich habe das Muster mal aufgezeichnet.“, sagte er und übereichte Dirk seine Zeichnung.
Dieser studierte sie eingehend und sagte schließlich: „Sieben Siebenecke, sieben Siebenecke, komisch ist das. Was hat das nur zu bedeuten. Glaubst du, dass das ein Hinweis für uns ist?“
„Also ich glaube schon. Mal sehen, was Kesse dazu zu sagen hat.“, meinte Dennis.
Dirk blieb abrupt stehen, baute sich vor Dennis auf und fauchte: „Kesse, Kesse, Kesse. – Immer wieder diese Kesse. Du schwörst mir jetzt auf der Stelle, dass du nicht in Kesse verknallt bist!“
Dieser war sehr überrascht über Dirks Auftreten und kniff leicht seine grünen Augen zusammen, was er immer tat, wenn er etwas nicht verstehen konnte. Dann sagte er etwas ratlos: „Sag mal, spinnst du jetzt total oder was ist mit dir los?“
„Ich spinne nicht und blind bin ich auch nicht. Gestern auf dem Sportplatz, wie du sie da angegafft hast. Ich bin sicher, wenn ich dich nicht in die Rippen gestoßen hätte, würdest du immer noch da stehen und sie anstarren!“
Dirk holte tief Luft, denn er war noch nicht fertig.
„Und dann in der Eisdiele. Wie du ihr da nachgeschaut hast, als sie das Eis bestellen ging und überhaupt!“, schnaubte er wütend und stampfte dabei kräftig auf den Boden.
Dennis überlegte kurz und dachte an das schöne Gefühl, welches er gestern verspürt hatte, als Kesse auf dem Sportplatz aus dem Gebüsch getreten war. Er hatte ein wohliges kribbeln in seiner Magengegend verspürt und irgendwie war es sehr angenehm für ihn gewesen. Aber hieß das jetzt, dass er sich in Kesse verliebt hatte? Er wusste es einfach nicht. Deshalb erzählte er wahrheitsgemäß, was er empfunden hatte, als er das Mädchen gestern erblickt hatte.
Dann sagte er: „Ich habe noch nie so ein solches Gefühl gehabt, du etwa?“
„Nö, leider noch nicht.“, maulte Dirk, der sich jetzt wieder etwas beruhigt hatte.
Beide Jungen waren nun weitergegangen und Dennis sagte: „Es gehören immer noch zwei dazu. Hast du vielleicht gesehen, dass mich Kesse auch so angesehen hat?“
Dirk schüttelte dann nach kurzer Überlegung seinen Kopf.
„Na siehst du. – Ich werde immer dein bester Freund sein, egal ob ich mich nun in Kesse oder sonst wen verknalle. Das schwöre ich dir!“, sagte Dennis und legte bekräftigend seinen Arm um die Schulter seines Freundes.
Dirk erwiderte: „Aber versprich mir, dass du sie niemals küssen wirst.“
„Warum denn das?“
„Na ja, du weißt ja, wie Till seine Schwester genannt hat. Er sagte zu ihr Kröte und wenn du sie küsst, dann wird sie sich in eine dicke, fette, mit Warzen überzogene, schleimige Kröte verwandeln und du wirst sie heiraten müssen. Und später musst du mit ihr in einem Bett schlafen und...“
Dennis war in lautes Gelächter ausgebrochen und Dirk konnte auch nicht mehr weiter erzählen, weil er ebenfalls lauthals lachen musste. Beide lachten immer noch, als sie auf den Schulhof einbogen.
Kesse saß im Schneidersitz auf der Tischtennisplatte und schien sie bereits zu erwarten.
„Worüber lacht ihr denn so?“, begrüßte Kesse die beiden und es dauerte noch eine ganze Weile bis die Jungs sich wieder beruhigt hatten.
Dennis hatte, anders als Dirk, ein schlechtes Gewissen Kesse gegenüber und deshalb sagte er zu ihr: „Bitte nicht böse sein. Aber ich glaube, es ist jetzt nicht die richtige Zeit, dir das zu erzählen. Ich schwöre dir, dass ich es dir irgendwann verraten werde. Aber bitte nicht jetzt.“
Kesse nickte nur. Dirk übergab ihr dann den Zettel mit Dennis’ Zeichnung, während dieser ihr dazu erzählte, was er entdeckt hatte. Sie betrachtete die Siebenecke und war genauso ratlos wie die Jungen.
Langsam füllte sich der Schulhof mit Schülern und zwei Jungen aus der 7b waren an die Tischtennisplatte herangetreten. Kai, ein Junge mit dicken Brillengläsern fragte vorsichtig: „Äh, Kesse könntest du von der Platte runter gehen? Ich würde gerne spielen wollen und...“
Weiter kam er nicht mehr, denn Kesse hatte den Kopf zu Kai herumgedreht und schnitt ihm giftig das Wort ab. „Zisch ab, Kai oder möchtest du mit mir ein Spielchen machen?“
Und obwohl Kai größer und kräftiger war als Kesse, trollte er sich schnell und verschwand. Zu ihren neuen Freunden gewandt sagte sie im freundlichen Plauderton: „Ich glaube, es gibt nur einen Ort, an dem wir das Rätsel lösen können.“
„Und das wäre wo?“, fragte Dennis.
„Wir müssen alle zur Höhle in den Wald. Zu jenem Ort, an dem ihr den Ball damals gefunden habt. Ich bin sicher, dass wir dort einen Hinweis finden werden, der uns weiter helfen kann.“, erklärte Kesse mit ernsthafter Stimme.
Die Jungen stimmten ihr zu. Doch die Aussicht, jenes Waldstück wieder durchqueren zu müssen, in dem sie beide fast von einem Baum erschlagen worden wären, lies sie unweigerlich etwas frösteln. Und hätten sie gewusst, dass anderswo in diesem Augenblick ein mit unbändigem tiefem Hass beseeltes Wesen beschlossen hatte, dass diese drei Kinder niemals zusammen mit ihrem Ball zur Höhle gelangen durften, so wären sie bestimmt nicht zu ihrer geheimen Mission aufgebrochen.
Aber davon konnten die drei natürlich nichts wissen und so beschlossen sie, schon am kommenden Wochenende ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Sie hatten sich auf dem Hindenburg-Spielplatz verabredet und Dirk war der erste, der am vereinbarten Treffpunkt eintraf.
Beinahe hätten alle drei ihren Ausflug verschieben müssen, weil der heutige Samstag eigentlich Dirks Mama-Tag war. Doch durch eine glückliche Fügung konnte seine Mutter, die nach der Scheidung von Dirks Vater in einer fast 100 Kilometer weit entfernten Stadt wohnte, nicht kommen. So hatte sie am Freitag angerufen und ihm abgesagt. Normalerweise wäre er darüber traurig gewesen, liebte er doch seine Mutter genauso, wie er seinen Vater liebte. Doch diesmal lockte ihn ein Abenteuer, das stärker war, als die Sehnsucht nach seiner Mutter.
Dirk hatte sein Fahrrad inzwischen an einem Baum abgestellt und sich auf einen großen Traktorreifen geschwungen, der mit vier langen Ketten versehen, nun als Schaukel fungierte.
Er liebte diese Schaukel, weil man sie drehen konnte und wenn er alleine auf dem Platz war, packte er zwei der Halteketten, lief mit viel Schwung ein zwei Runden und schwang sich dann auf den Reifen hinauf. Dann legte er sich quer über den sich drehenden Reifen und bog den Kopf weit nach hinten, so dass für ihn die Welt auf dem Kopf stand.
Manchmal schloss er dabei seine Augen und öffnete sie erst wieder, wenn er glaubte, der Reifen sei völlig zum Stillstand gekommen. Doch fast immer befand sich dieser noch in Bewegung.
Auch jetzt hatte er diesen Versuch gestartet und mit geschlossenen Augen genoss er den noch kühlen Wind, der ihm durch sein langes, dunkelblondes Haar wehte. Er drehte den Kopf leicht hin und her, weil er versuchen wollte, seinem Ohrring dieses pfeifende Geräusch zu entlocken, was immer dann entstand, wenn ein ausreichender Windstrom diesen durchwehte. Gerade, als er das geschafft hatte, ging ein mächtiger Ruck durch seinen Körper und Dirk riss entsetzt die Augen auf.
Irgendwie war es Kesse gelungen, sich anzuschleichen. Sie hatte die Ketten gepackt und die Schaukel angehalten.
„Spinnst du?“, schnaubte Dirk wütend, „Ich hätte herunter fallen können!“
„Und? – Bist du heruntergefallen?“, entgegnete Kesse in einem Tonfall, den Dirk nicht leiden konnte. Doch dann sagte sie: „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Und diesmal klang ihre Stimme etwas versöhnlicher.
Dirk musterte das Mädchen argwöhnisch und fragte sich dabei, was sein Freund an ihr nur finden konnte.
Kesse trug lange Jeans und einen mit einem gelben Smiley bedruckten schwarzen Pulli. Ihre blonden Haare waren wie immer zu zwei Zöpfen geflochten und an den Füßen trug sie weiße, mit schwarzen Streifen versehene, halbhohe Turnschuhe. Schließlich blieb Dirks Blick auf ihrem Rucksack hängen, den Kesse vor sich auf den Boden gestellt hatte.
Er war dunkelbraun und schien vollkommen aus Leder zu bestehen. Auf der Vorderseite konnte er sieben aufgenähte Taschen zählen, die unregelmäßig angeordnet und zudem noch von unterschiedlicher Größe waren.
Ihm fiel auf, dass es am ganzen Rucksack keine Reißverschlüsse gab. Stattdessen war der Hauptbeutel mit einem Lederriemen verschlossen, der durch goldfarbig schimmernde Ösen gezogen worden war. Das gleich galt auch für die sieben kleineren Seitentaschen.
Irgendwie passte dieser Rucksack überhaupt nicht zu Kesse und ohne dass Dirk es wirklich wollte, sagte er in einem abfällig wirkenden Tonfall zu ihr: „Das Ding da hast du sicher auf dem Sperrmüll gefunden.“
Zu seiner Überraschung antwortete Kesse: „Genau so ist es.“
Hier wurden sie unterbrochen, denn Dennis kam mit seinem Fahrrad auf den Spielplatz gebraust. Kurz vor dem Sandkasten machte er eine Vollbremsung, so dass er sich mitsamt seinem Rad um 90 Grad drehte. Dabei wurde eine Menge feiner Sand aufgewirbelt, der heftig auseinander spritzte und bis zu seinen Freunden hinüber flog.
Er stieg ab und ließ achtlos sein Fahrrad liegen, während Dirk ihm entgegen kam. Dann folgte, wie immer, wenn sie sich das erste Mal am Tag trafen, ihre Begrüßungsformel.
Kesse war hinzu getreten und sah ihnen fasziniert zu. Dabei lächelte sie, etwas zu spöttisch, wie Dirk zu sehen glaubte und sagte deshalb etwas boshaft: „Unsere Kesse war auf Müllsuche und hat das dort gefunden!“ Dabei deutete er auf Kesses‘ Rucksack, der immer noch neben der sich leicht drehenden Reifenschaukel stand.
„Aha.“, sagte Dennis nur gedehnt und ging dann zu ihrem Rucksack hinüber. Er studierte ausgiebig das seltsames Fundstück und fragte dann: „Wann hast du ihn denn gefunden?“
„Das war, warte mal. Ja, das war erst letzten Mittwochabend.“, gab Kesse ihm zur Antwort.
Dennis schwieg und nahm seinen eigenen Rucksack von seinen Schultern. Dieser war mit einer Unzahl von bunten Raumschiffen bedruckt, die zwischen etlichen Planeten und Sternen ihre Bahnen zu ziehen schienen. Die Grundfarbe war völlig schwarz und an der Vorderseite befand sich ein weiteres Fach, das durch einen gelben Reißverschluss verschlossen war. Rasch öffnete Dennis diesen und zog nach kurzem Kramen ein kleines, blaues Vokabelheftchen heraus. Er drehte es nun so, dass seine Freunde, die sich zu ihm gesetzt hatten, lesen konnten, was er vorne auf das weiße Beschriftungsfeld geschrieben hatte.
„Unser Rätselbuch.“, las Dirk laut vor.
„So ist es. Ich habe alles, was wir bis jetzt wissen hier in Kurzform hinein geschrieben.“, erklärte Dennis.
Er schlug die erste Seite auf, auf der jedoch noch nichts stand. Auf der ersten Doppelseite jedoch stand oben links sein Name. Darunter stand ein Datum: 05.05.2001. Gleich daneben hatte er ein Nummernschild gemalt, auf dem er mit roter Farbe folgendes geschrieben hatte: BALL-DDK-4567
Dirk sah fasziniert auf die Aufzeichnungen seines Freundes. Nicht zuletzt deswegen, weil er Rätsel gerne mochte. Hier hatten sie nun ihr eigenes Rätselbuch. Er tippte auf das Nummernschild und sagte dabei: „Ein noch ungelöstes Rätsel. Meint ihr, diese Buchstaben und Zahlen sind wichtig für uns?“
„Bestimmt. Wir werden es schon noch erfahren.“, meinte Kesse.
Dennis hatte weitergeblättert und dort stand nun Dirks Name. In Klammern dahinter stand: (siehe auch Gemeinsames) Ansonsten war diese Seite noch völlig leer.
Wieder blätterte er weiter und Kesse bemerkte, dass Dennis zwischen ihren Namen noch eine weitere Doppelseite freigelassen hatte. Auch die Seite, auf der Kesses Namen stand, war noch nicht beschrieben.
Schließlich schlug Dennis die Seite Gemeinsames auf. Hier hatte er schon etliche Notizen eingetragen. Doch bevor die anderen lesen konnten, was dort schon alles geschrieben stand, hatte Dennis wieder bis zu Kesses‘ Seite zurück geblättert.
Er tippte auf ihren Namen und sagte dann: „Ich glaube, hier sollte ich jetzt die nächste Eintragung machen.“
Kesse und Dirk sahen sich fragend an und Dennis fingerte aus seinem Rucksack einen schwarzen Filzschreiber heraus. Er klappte das Heft zu, drehte es herum und zeichnete zwei Figuren auf die Rückseite.
Dann erklärte er: „Das hier ist unser Siebeneck, wie wir es ja schon kennen. Nur in senkrechter Position.“
Schnell schrieb er eine 1 neben dieser Zeichnung. „Und das hier ist der Umriss, die alle sieben kleinen Taschen an Kesses Rucksack haben.“ Dabei deutete er auf die zweite Zeichnung neben der er nun eine 2 schrieb. Dann öffnete er die Schleife von der größten an Kesses‘ Rucksack angebrachten Tasche und klappte die spitze Lasche nach oben und sagte: „Könnt ihr es sehen? – Jetzt sieht der Umriss genauso aus, wie auf dem ersten Bild.“