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Die letzten Wochen haben Sharon und Neriel alles abverlangt und es war nur dem Erzengel Michael zu verdanken, dass Neriel wieder lebt. Lilith und ihre Dämonenarmee sind vorerst zurück in der Hölle und Frieden ist auf der Erde eingekehrt. Die Menschheit hat nichts von der Gefahr mitbekommen. Doch der Frieden ist trügerisch: Luzifer wird befreit und will nur eins: die Herrschaft über Himmel und Erde! Dafür ist ihm jedes Mittel recht und ohne, dass sie eine Wahl haben, müssen Sharon und Neriel erneut zusammen kämpfen. Denn nur die beiden können Luzifer zurück in seinen Käfig schicken. Neriel möchte Luzifer am liebsten tot sehen und geht auf aggressive Konfrontation! Doch der wahre Schlüssel ist Sharon...
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für meine Mutter, die mich in den letzten Jahren
immer unterstützt hat und für meine beste Freundin
Tina – die ich für immer vermissen werde!!!
Originalausgabe
1. Auflage
© Sabrina Ruhland 2025
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: © Julia Bittner alias Zeldidraws Druck: epubli
ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Engel können nicht lieben. Sie empfinden Zuneigung, aber eine starke
Liebe wie sie zwischen den Menschen existieren kann, gibt es unter den
himmlischen Wesen nicht. Somit kann unser Herz nicht brechen. Aber es
gibt einen Engel, der nicht nur gegen jegliche Regeln verstoßen hat, die
der Himmel jemals aufstellte. Er widerspricht auch in seinem Wesen allen gültigen Himmelsgesetzen. Dieser Engel hat sich unsterblich verliebt und
hat diese Liebe sogar über seinen Gehorsam gegenüber den Erzengeln
gestellt. Sein Name ist Neriel Mondregent. Ich konnte es anfangs nicht
verstehen, doch jetzt begreife ich so langsam, welcher Gewinn Neriel für
unsere Spezies ist.
Aus den Memoiren des Erzengels Michael
Prolog
Neriel lebte zwar momentan abgeschieden in seiner Mondkammer, doch auch die starken, magischen Mauern konnten Gerüchte nicht davon abhalten, zu ihm durchzudrKingen. Normalerweise interessierte ihn das Gerede der Himmlischen nicht. Es war nichts mehr als alberner Buschfunk, damit es nicht allzu langweilig wurde. Das Gerücht, welches nun zu ihm durchgesickert war, ließ ihn allerdings unruhig werden und beinahe zu Eis erstarren. Es hieß, dass nicht nur Luzifer vor seiner Befreiung stand, sondern auch, dass Neriel und Sharon dabei eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hätten. Konnte dies wahr sein? War der Pakt nichts weiter als eine Ablenkung und ein Täuschungsmanöver gewesen? Waren sie beide lediglich ein Mittel zum Zweck gewesen? Nur zu gerne würde er dem auf den Grund gehen, leider durfte er seinen Bereich noch immer nicht verlassen.
Er hoffte inständig, dass dies nichts weiter als eine reine Fehlinformation war, die die Runde durch den Himmel streifte. Ein übler Scherz. Nichts Anderes konnte es sein, nichts Anderes durfte es sein.
Warum sollten auch ein normaler, unbedeutender Engel und eine menschliche Hexe für die Befreiung des Teufels verantwortlich sein? Neriel erinnerte sich daran, dass Luzifer in seinem Käfig von 666 magischen Schlössern gehalten wurde und dass sie in einer bestimmten Reihenfolge zu einem bestimmten Zeitpunkt gebrochen werden mussten. Möglicherweise war die Liebe der beiden ein Schloss, das durfte er nicht ausschließen. Wie er sich an die Geschehnisse der letzten Monate erinnerte, fiel es ihm schwer zu glauben, dass dies der Fall sein konnte. Außerdem hätte es andere Hinweise gegeben, dass die Dämonen inklusive Lilith dabei waren, irgendwelche Schlösser zu brechen oder Rituale dafür durchzuführen. Zumal Lilith auch nicht gerade erfreut über den Ausgang der Schlacht gegen Michael gewesen war. Andererseits hatte er keine Ahnung, wie das mit dem Schlösser-brechen funktionierte.
Trotzdem wollte er es sich nicht vorstellen, dass die Gerüchte wahr sein könnten. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Er schüttelte sich über seine abgeschweiften Gedanken, viel lieber dachte er an Sharon. Hoffentlich durfte er seine grässliche Mondkammer bald verlassen und sie endlich besuchen. Er wusste nicht, wie viel Zeit, wie viele Wochen vergangen waren. Hier oben vergaß man sämtliches Zeitgefühl, auch weil hier keine Sonne auf- oder unterging. Und in seiner Mondkammer gab es keinen Tag und keine Nacht. Sie war sehr hoch und sehr dunkel, es wirkte wie der Turm von Rapunzel – nur, dass er unten lebte und nicht oben. Neben einer großen Säule, auf der er meditieren sollte, einer Chaiselongue in der Farbe seiner Flügel, einem kleinen Tisch, einer Vitrine mit einer Halterung für sein Schwert und einer Wand voller Runen gab es nichts in seiner Mondkammer. Alles andere wie Essen, Trinken oder ähnliches erschuf er mit seinen eigenen Gedanken.
Das Dach öffnete sich nur in der elften Mondnacht. Der Nacht, in der er seinen Dienst verrichtete. Zu diesem Zweck flog er auf seine Säule und … meditierte, was dazu führte, dass seine Energien freigesetzt wurden. Glücklicherweise konnte er das Dach auch manuell öffnen. Etwas, was er noch nie getan hatte. Wofür auch? Es hatte nie einen Grund gegeben.
Er flog ein paar Runden in seiner Kammer, um sich abzulenken und als er landete, leuchtete eine Botschaft in henochischen Buchstaben auf...
Sharon schlug gerade die letzte Akte zu, ihr Enthusiasmus für die Arbeit war gegen Null gefallen. Sie würde gleich Nyree anrufen und ihr vorschlagen, irgendwo essen zu gehen. Ihr sehnsüchtiger Blick fiel auf das Foto von Neriel und ihr, sie hatte ihn jetzt schon seit sieben Wochen nicht mehr gesehen. Sie fragte sich, wann er sich wieder einmal blicken lassen würde. Aber sie hatte es sich so ausgesucht, seit Neriel in den Himmel zurückgekehrt war und seine alte Position wieder eingenommen hatte. Sharon war vor die Wahl gestellt worden, entweder sah sie ihren Engel selten oder gar nicht. Schnell hatte sie sich für selten entschieden, denn sie wollte Neriel auf keinen Fall verlieren. Er hatte sie vor dem Dämon Kyle gerettet, sie geküsst und ihr danach versprochen, sich zu melden. Daran klammerte sie sich und hoffte darauf, bald wieder bei ihm sein zu können. Nyree hatte es da leichter, ihr Freund, der Vampir Patrick, wohnte in Berlin und sie konnte ihn dank eines Tageslichtzaubers sehen, wann immer sie wollte. Die Gruppe Unholy Ground existierte weiterhin, allerdings ohne Neriel, der ohnehin keine Zeit mehr dafür erübrigen konnte. Mike und Dexter hatten sich inzwischen zwei neue Bandmitglieder gesucht, so dass sie nun als Quartett unterwegs waren. Rick und Sam ergänzten die Musikgruppe jetzt. Das dritte Album der Vier war vor knapp einer Woche veröffentlicht worden. Sharon und Nyree hatten das Interesse an der Band verloren. Ohne Neriel war es nicht mehr dasselbe.
Sharon hatte ein einziges Mal mit Mike telefoniert, um ihm mitzuteilen, dass Neriel lebte und nun wieder in den himmlischen Gefilden, in seiner Mondkammer lebte. Mike war zwar glücklich darüber gewesen, dass ihr Kumpel lebte, aber auch deprimiert darüber, dass er nicht mehr auf der Erde weilte. Die beiden wollten zwar in Kontakt bleiben und Sharon wollte Mike und Dexter über alles auf dem Laufenden halten, doch Sharon zweifelte. Sie glaubte, dass die Verbindung bald abbrechen würde. Sharon räumte ihren Arbeitsplatz auf, sie hatte die Kanzlei gewechselt, nachdem Dr. Weilensteins Kanzlei geschlossen worden war und der Anwalt offiziell als vermisst galt. Sharon würde sich hüten, zu dieser Angelegenheit die Wahrheit zu sagen. Sie würden zwar die Leiche nie finden, dafür jedoch nach einem Mörder suchen.
Sie arbeitete jetzt seit einer Woche bei einem Anwalt für Mietrecht, ihr Büro teilte sie sich mit einem netten Familienvater namens Stefan.
Ihr Handy riss sie aus ihren Gedanken, beinahe wünschte sie sich, dass es Neriel war. Sie wusste, er war es nicht, denn im Himmel gab es keine Handys, nicht einmal Telefone. „Hi Vati“, sagte sie.
„Hallo Kleines, wie geht es dir?“, erwiderte Eric. Das Verhältnis zu ihrem Vater war besser als je zuvor und sie fuhr fast jedes Wochenende zu ihren Eltern, nachdem Nyree ihr Wochenende meist mit Patrick verbrachte. In eine Disco oder eine Bar ging Sharon nicht, schon gar nicht allein. „Müde, aber sonst okay.“
„Hast du ihn schon gesehen?“, wollte er wissen. „Nein.“ Der Gedanke daran ließ ihr Herz sprichwörtlich bluten. Sie verging sprichwörtlich vor Sehnsucht nach Neriel. Ihre Gedanken kreisten nur um ihn und sie konnte fast nur an den Engel denken.
„Solltest du nicht langsam nach vorn blicken und dein Leben neu sortieren?“
„Neriel ist mein Leben. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Er wird sich zeigen, er wird zu mir zurückkommen. Daran glaube ich fest“, sagte sie.
„Schätzchen, ich hoffe, du hast Recht … ich bete nur, du wartest nicht vergebens und stirbst eines Tages verbittert und allein.“ „Keine Sorge, das wird nicht passieren.“ Sie lächelte, indessen sie ihre Sachen endgültig zusammenpackte und das Gebäude verließ. „Wenigstens ein kleines Lebenszeichen könnte er von sich geben“, murmelte Eric und Sharon musste zustimmen. Sie wollte sich nicht dem Gedanken hingeben, dass ihm etwas zugestoßen war. Hatte Raphael ihn womöglich bestraft? „Er ist Regent einer Mondkammer … möglicherweise kann er da nicht weg …“, vermutete sie.
Mit ihrer Handtasche unter dem Arm bahnte sie sich den Weg zur U-Bahn-Station.
„ Wo bist du gerade?“, wechselte ihr Vater das Thema. „Auf dem Heimweg.“
„Möchtest du nicht zum Abendessen vorbeischauen? Deine Mutter würde sich sehr freuen, sie kocht dir sogar dein Lieblingsessen.“ „Ich geh gleich mit Nyree was essen, wahrscheinlich mexikanisch. Ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt“, schlug Sharon vor. Sie hörte, wie ihr Vater sich entfernte und im Hintergrund leise mit ihrer Mutter sprach. Wenig später war er wieder am Apparat. „Okay, Schätzchen … wie immer im “Arman“? Du kannst ja Nyree anrufen und ich reserviere uns inzwischen einen Tisch. 19 Uhr dort, in Ordnung?“ Dann legte er auf. Das passte ihr ganz gut, denn das Restaurant war sehr gut mit der U-Bahn erreichbar.
Kurz wählte sie die Nummer von Nyree und gab ihr Bescheid, bevor sie sich mit ihrem MP3-Player in den nächsten Zug setzte. Sie resümierte die letzten Wochen, die wirklich sehr ruhig gewesen waren. Zu ruhig, fast gespenstisch. Kein Dämon war ihr mehr begegnet, dabei rechnete sie täglich damit. Lilith hatte nach wie vor eine Rechnung mit Neriel und ihr offen. War es vielleicht das, was ihr Engel gerade tat? Jagte er Lilith? Oder hockte er wirklich nur in seiner Mondkammer? Ihre Augen wanderten in den Himmel, es war Halbmond. Ob er sie jetzt sehen konnte? Stumm sandte sie einen Kuss in den Sternenhimmel und lächelte. Irgendwo dort war Neriel und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie wieder vereint waren. Nyree nannte dies eine Art von intergalaktischer Fernbeziehung. Ihre Freundin hatte ihr bereits vorgeschlagen, ob sie nicht zu ihrem persönlichen Engel beten könnte, womöglich erhörte er sie und tauchte auf. Sharon musste zugeben, dass sie mit diesem Gedanken gespielt hatte. Bisher hatte sie ihm nicht nachgegeben. Stattdessen hatte sie versucht, die Engel, die hier auf der Erde als Schutzengel wandelten, zu erkennen. Nur mit Hilfe von Patrick gelang ihr das, er erkannte die Flügelwesen an ihrem starken Geruch und ihrer Essenz.
Ihre Finger glitten in die Handtasche und fischten nach der Feder ihres vermissten Engels, die er ihr bei ihrem letzten Abschied überreicht hatte. Sie war immer noch so seidig wie vor sieben Wochen. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie unter seinen Flügeln geschlafen hatte und ihr Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Wie gerne würde sie das wieder erleben. „Neriel, komm schnell zurück zu mir. Du fehlst mir!“, sandte sie stumm in den sternenklaren Himmel. Sie realisierte nur nebenbei, dass sie ihre Zielhaltestelle erreicht hatte.
Die Bahn fuhr in die Station ein und sie entdeckte Nyree, die mit einem strahlenden Lächeln auf sie wartete. Als sie ihre Freundin entdeckte, winkte sie ihr und ihre blonden Strähnen wackelten fröhlich. Nyree war ohnehin sehr ausgeflippt und unbeschwert, sie sah in jeder Situation ständig das Gute. Außerdem schien sie ohne Angst zu sein, wenn es um die Dämonen ging. Bei jeder ihrer Begegnungen mit diesen Schatten war Sharon beinahe vor Angst gestorben, wogegen Nyree immer noch Sprüche hatte klopfen können. Manchmal fragte sie sich, was Nyrees Geheimnis war. Woher kam ihr Wagemut? Sie hatte ihre Hexenkollegin schon danach gefragt, aber jedes Mal hatte Nyree nur gelacht und mit den Schultern gezuckt.
„Hey Süße!“, begrüßte Nyree ihre beste Freundin und umarmte sie stürmisch. „Und? Was von unserem Flügelgott gehört?“ Auch sie fragte ständig nach ihm. Sharon schüttelte nur den Kopf. „ Wäre ich an deiner Stelle, hätte ich dermaßen Entzugserscheinungen. Ich würde nur noch Typen sehen, die das Gesicht von meinem Freund haben. Wie hältst du das nur aus?“ Jetzt war sie es, die mit den Schultern zuckte. „Das ist wahre Liebe! Ganz ehrlich, wenn er dich nicht bald heiratet...“ Nyree zog Sharon die Treppen hinauf. „Er wird mich nicht heiraten. Das darf er nicht“, widersprach Sharon.
„Muss ja nichts Offizielles sein. Was hältst du davon, wenn ich euch traue.“ Nyree lachte.
„Du?“
„Ja, warum nicht? So schwer ist das schließlich nicht. Ein bisschen blabla und ich erkläre euch zu Mann und Frau.“ Jetzt war Nyree wirklich verrückt geworden. „Ich für meinen Teil wäre schon froh, wenn ich nur ein einziges Mal Weihnachten mit ihm verbringen könnte.“ Sie seufzte. Sie kamen jetzt an dem Restaurant an, wo Sharons Eltern bereits Platz genommen hatten. Der Abend verging ereignislos und sie trennten sich sehr spät. Wenigstens musste Sharon am nächsten Tag nicht arbeiten, weil Samstag war. Die Müdigkeit übermannte sie bald und die junge Hexe überließ sich nur zu gerne dem Schlaf.
*
Michael hatte eine Besprechung angesetzt und hierzu auch Neriel aus seiner Mondkammer zitiert. Er wartete nun zusammen mit Gabriel und Uriel auf den Erzengel Raphael und Neriel. Schon, wie sich die Tore des Amtszimmers von Michael öffneten, spürte man die feindselige und eisige Stimmung zwischen dem Mondregenten und seinem Vorgesetzten. Raphael lächelte kein bisschen und auch Neriels Lächeln war nur aufgesetzt.
„Der Friede und die Gnade des Herrn sei mit euch und auch mit uns. Herzlich Willkommen zu unserer Besprechung, Regent der Sonne und Regent der 11.Mondkammer“, begrüßte Michael die beiden förmlich.
„Der Friede des Herrn sei mit dir, mein Bruder“, erklärte Raphael ohne jegliche Regung.
„Der Friede des Herrn sei mit dir, hoher Erzengel“, erwiderte Neriel.
„Setzt euch beide, bitte“, sagte Michael. „Ich möchte ohne Umschweife beginnen.“
„Warum hast du uns gerufen?“, wollte nun Uriel wissen. Gabriel nickte.
Michael wartete, bis Raphael und Neriel sich einen Platz auf den Bänken gesucht hatten – dabei weit voneinander entfernt. „Schlimme Kunde sind mir zugetragen worden. Luzifer hat von dem Ritual erfahren.“
„ WAS? Wie konnte dies geschehen?“, rief Uriel entsetzt. Nur die vier Erzengel hatten von den Bändern wissen können. „Welches Ritual? Welchem Zweck dient es?“, fragte Neriel leise. „Das erkläre ich dir später!“, zischte Raphael. „Das bedeutet also, dass der Teufel bald aus seinem Gefängnis entfliehen kann! Wie konnte das passieren?“
„ Wie er davon erfahren konnte, muss noch erörtert werden. Aber ja, er wird bald frei sein“, antwortete Michael ruhig. „Das ist ein Scherz!“, meinte Neriel. „Das ist nur deine Schuld … du und deine Hexe“, schimpfte Raphael sofort.
„Gib nicht ihm die Schuld, Bruder. Alles geschah ohne sein Wissen. Wie hätte er ahnen können, welche Rolle er wirklich spielte. Ich selbst habe es auch erst kürzlich erfahren, dass Luzifer ausgerechnet Neriel und seiner Hexe diese Aufgabe übertragen hat.“
„Ich verstehe kein einziges Wort!“ „Hör mir nun gut zu, Neriel. Denn du und deine Liebe sind unsere einzige Hoffnung. Es gibt ein Ritual, welches alle Schlösser mit einem Mal öffnet oder schließt. Das Ritual ist eine Art Notausstieg, von denen nur wir Vier …“ Michael deutete auf sich und die anderen Erzengel. „… etwas wussten. Irgendwie hat er nun davon erfahren. Ein Aspekt oder eine Zutat, wenn wir es so nennen wollen, ist das Opfer eines Engels aus starker und reiner Liebe. Eine Liebe, wie du … Sharon und du füreinander empfindet … ich hätte niemals gedacht, dass er ausgerechnet den Engel dafür aussucht, der genauso rebellisch ist wie er. Den Engel, der gegen alle Regeln lieben kann, wie wir anderen es niemals könnten. Den besonderen Engel. Aber er muss es bei dir gespürt haben, als du Sharon aus der Hölle gerettet hast.“
Raphael schnaubte während Michaels Erklärung, indessen Neriel ihn wie ein Weltwunder anstarrte.
„Und nur ihr beide könnt Luzifer zurück in den Käfig schicken. Das bedeutet, dass sowohl Lilith als auch Luzifer später versuchen werden, dich und deine Hexe umzubringen.“ „Das kannst du …“ Neriel war aufgesprungen, aber er schwankte gefährlich. „… nicht … Michael, das kannst du nicht zulassen! Sharon und ich?“
Michael nickte. Raphael grinste spöttisch und Michael konnte spüren, wie recht ihm der Tod von Sharon Winchester war. „Deswegen folgende Anordnungen: Neriel wird nun direkt mir unterstellt und seiner Pflicht über seine Mondkammer vorerst entbunden. Ich werde dich darauf vorbereiten, wie ihr Luzifer bezwingen könnt. Uriel wird auf die Erde beordert, um Sharon zu beschützen und die Anzeichen dafür zu erkennen, sobald Luzifer die Hölle verlassen hat.“ Uriel nickte und Raphaels Gesicht rötete sich vor Zorn. Doch Michael war noch nicht fertig. „Sobald dies der Fall sein wird, werden wir Sharon in Neriels Mondkammer verstecken.“
„Es wird so geschehen.“ Uriel nickte erneut. „Raphael, Uriel und Gabriel. Möge die Liebe unseres Schöpfers uns beiseite stehen und uns helfen.“ Damit entließ er die anderen Erzengel. „Neriel, auf ein Wort.“
Der Angesprochene nickte und trat auf seinen neuen Kommandanten zu.
„Es tut mir Leid, Bruder … hätte ich es eher erfahren, wäre ich sofort eingeschritten. Wir haben dir viel zu verdanken.“ Neriel schwieg.
„Ich wünschte, ich könnte euch dieses Schicksal ersparen. Aber jetzt kommt es auf euch an.“
„Sag mir, was wir tun müssen.“ Neriel war beängstigend ruhig geworden. „Wird sie es wenigstens überleben?“ „Das wird die Zukunft zeigen.“
„Ich werde nicht Sharons Leben riskieren!“ „Das wirst du müssen. Euch bleibt keine Wahl. Entweder der Teufel übernimmt die Herrschaft über die Licht- und die Erdwelt oder ihr beide kämpft.“
„Warum wir? Warum ich?“
„ Weil du etwas Besonderes bist. Du und deine Liebe zu der Hexe.“ Michael lächelte sanft. „Du hast sicher Sehnsucht nach ihr. Statte deiner Hexe ruhig einen Besuch ab. Wir sprechen später weiter.“ Neriel nickte und verließ das Arbeitszimmer des Erzengels Michael.
*
Neriel hatte so sehr gehofft, dass das Schlimmste überstanden war und er nun mit Sharon in Frieden leben und glücklich werden konnte. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Apokalypse stand kurz bevor und nun sollten sie beide – ein junger Engel und eine Hexe – den Weltuntergang verhindern? Zumal sie ihn scheinbar auch noch irgendwie mit ausgelöst hatten? Wie hätte er es wissen sollen, dass Luzifer ihn auf diese Weise benutzt hatte? Wie sollte er es ihr beibringen?
Neriel lehnte an der Wand in seiner Mondkammer und seufzte resigniert. Wenigstens war er dem Einfluss und den bösen Absichten Raphaels vorläufig entkommen. Was würde geschehen, wenn alles vorbei war? Würden die Erzengel Sharon danach auslöschen? Oder würden sie sie aus Dankbarkeit leben lassen? Eigentlich wäre er am liebsten sofort auf die Erde gereist und hätte Sharon fest an sich gepresst, sie geküsst und sie nie wieder losgelassen. Doch er wollte sich erst fangen, so konnte er ihr nicht unter die Augen treten. Wenigstens ein bisschen wollte er die Zeit mit ihr zusammen genießen, bevor er ihr erklären musste, dass sie gegen den Teufel selbst kämpfen musste. Mit ihm an seiner Seite. Tief ging er in sich und atmete noch einmal tief ein. So lange sie zusammen waren, konnten sie alles schaffen! So lange sie bei ihm war, fürchtete er keine Schlacht, keine Gefahr und erst recht nicht Luzifer. Endlich gelang ihm ein Lächeln. Dann begann er zu packen. Nachdem man ihn von seiner Mondkammer bis auf weiteres entbunden hatte, durfte er in einen Bereich umziehen, in denen auch Michaels Generäle ihre Wohnquartiere bezogen hatten. Neriel würde dicht bei dem obersten Erzengel leben. Er lächelte noch mehr, wie er an Raphaels zorniges Gesicht dachte. Der Erzengel wäre beinahe vor Wut geplatzt, eine für ihn witzige Vorstellung. Außer seinem Schwert, seinem Goldbesitz und ein paar persönlichen Utensilien nahm er keine weiteren Sachen mit. Mehr benötigte er nicht. Ein Engel in den himmlischen Gefilden hatte sowieso keinen großen, privaten Besitz. Nicht nur, weil Engel nichts benötigten, es war ihnen verboten.
Und da er kein tieferes Verhältnis zu den weiteren Mondengeln besaß, verabschiedete er sich auch nicht. Er schritt durch die Tür und betrat den Kreis mit den Sigillen, der eine Art Portal darstellte. Neriel betrachtete noch einmal die obige, kreisrunde Öffnung, die den Sternenhimmel darstellte und rotierte. Dann sprach er die magische Formel, um sich in den Bereich des Anführers der himmlischen Heerscharen zu teleportieren. Ein Sekretär von Michael empfing ihn bereits und führte ihn durch die verschlungenen Gänge des Palastes, bevor sie bei den kleinen Häusern ankamen, die Neriel sehr stark an Ferienhäuser auf der Erde erinnerte. In der Ferne entdeckte er eine Kathedrale und er fragte sich, welchen Zweck sie erfüllte. Ob es der Ort war, an dem Michael meditierte? Es war das erste Mal, dass Neriel dieses Areal betrat.
Neriel trat durch die Tür seiner neuen Zuflucht und staunte. Dieses Apartment war genauso eingerichtet wie seine Wohnung, die er sich auf der Erde in Chicago gemietet hatte. Wie er das Schlafzimmer betrachtete, fragte er sich, ob Michael nicht vielleicht sogar seine gesamte Einrichtung hierher hatte bringen lassen, nachdem Neriel aus der Band ausgestiegen war. Zuzutrauen wäre es ihm.
Schnell stellte er jedoch fest, dass die elektrischen Geräte und auch das Bad fehlten. Beides brauchte er hier nicht. Außerdem schienen die Wände höher und auch die Zimmer breiter. Vermutlich für die Flügel des Engels. Flügel, die er liebte, aber meistens inzwischen ohnehin entmaterialisiert hatte. Nur bei förmlichen Anlässen wie Besprechungen mit anderen Engeln schmückten sie seinen Rücken. Doch er schwor sich, dass er sie benutzen würde, um mit Sharon zu fliegen.
Er trat an das Fenster des Wohnzimmers und blickte auf den Palast, in dem Michael lebte. Er war auch der einzige Engel der unteren Stufe, der überhaupt in einem Palast lebte. Warum das so war, wusste er nicht. Uriel hatte ihn einst gelehrt, dass die oberen Engel wie die Cherubim, die Seraphim und die Throne alle in einem Palast leben durften. Michael war auch der Einzige der Engel, dem der Kontakt zu den Engeln der oberen Hierarchie erlaubt war. Allerdings hatte er auch sonst selten Kontakt zu anderen Engeln in anderen Abteilungen und Neriel resümierte, dass das Engel-Dasein doch ein sehr einsamer Job war. Oder empfand er nur so, weil er mehrere Jahrtausende als einsamer Regent der Mondkammer gelebt hatte?
Es klopfte an der Tür und Neriel spürte, dass es Michael war. Ohne darauf zu warten, eingelassen oder hereingebeten zu werden, trat der Erzengel ein.
„Eigentlich hatte ich erwartet, dass du bei deiner Geliebten weilen würdest.“ Er lächelte mild.
Innerlich schmunzelte Neriel, denn wie oft hatte er ein Treffen mit ihm gewollt und war so oft abgewiesen worden. „Ich werde sie auch aufsuchen, sobald ich die Nachricht von dir so weit verdaut habe, dass ich ihr unter die Augen treten kann.“ „Das verstehe ich.“ Er setzte sich auf die Couchgarnitur, auf der Neriel so häufig mit Sharon gekuschelt hatte. „Zugegeben, mir fällt es auch noch sehr schwer. Luzifer hat seine Absichten sehr lange geheim halten können. Anfangs dachte ich, er würde versuchen, die Schlösser einzeln zu brechen.“
„Weißt du inzwischen, wie er von dem Ritual erfahren hat?“ Michael schüttelte nur den Kopf.
„Eigentlich nur ein Verräter … aber, wenn nur die Erzengel davon gewusst haben … glaubst du Uriel, Gabriel … oder Raphael würden …“
„Nein, aber jeder von uns hat Berater und Sekretäre … denen er vertraut. Außerdem haben Spione mehrere Möglichkeiten hier Nachforschungen anzustellen. Deswegen stimme ich dir zu, dass wir hier einen Doppelagenten haben.“ „Und wie … können wir Luzifer … besiegen? Warum tötest du ihn nicht?“
„Das habe ich schon damals nicht vollbringen können. Außerdem möchte ich einen weiteren Krieg vermeiden.“ Neriel schloss die Augen und seufzte. „Ich weiß, was ich von dir verlange und dass du sich selbst als zu schwach ansiehst. Aber ich versichere dir, du bist zu größerem fähig als du selbst glaubst. Du bist stark und du bist unerschütterlich. Wusstest du, dass Lilith bisher jeden Engel verführen konnte? Jeden außer … dir! Niemand sonst hätte Luzifer zweimal trotzen können.“
„Nur wegen ihr!“
„Das wird mir nun auch klar.“ Michael faltete seine Hände über seinen verschränkten Knien. „Früher dachte ich, dass es ein Frevel ist, wenn einer der Unseren aus der Reihe tanzt. Sich nicht an die Regeln hält. So wie du. Inzwischen weiß ich, dass ich wohl durch Luzifer einen falschen Schluss gezogen habe.“ Wollte sich Michael etwa gerade entschuldigen? Neriel zog es vor lediglich zu nicken.
Schließlich klärte ihn Michael über die Schlösser und das Ritual auf, deren Bedeutung und dass es keine festgelegten Personen waren, sondern lediglich Personen, bei denen das Gefühl besonders ausgeprägt war. Neriels Rolle war also auch nicht vorherbestimmt gewesen und Luzifer hatte ihn wohl nur anhand der Kriterien für diese Rolle ausgewählt. Eine Tatsache, die ihn sehr erleichterte. Er überlegte, ob er Sharon überhaupt von dem Ritual erzählen sollte oder ob er ihr nicht nur klarmachte, dass sie beide Luzifer aufhalten mussten.
Sharon. Er hatte das Gefühl, als würde er nur mit einem Lungenflügel atmen, als fehlte ihm die Hälfte seines Herzens. Er musste zu ihr, er musste sie sehen.
Ihm fiel erst auf, dass Michael noch immer in seiner Wohnung war, als dieser sich erhob und zum Fenster lief. Der Erzengel schwieg, genauso wie Neriel.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Neriel nach einigen Minuten des Schweigens.
„Es bleibt noch Zeit. Wir können im Moment ohnehin noch nicht viel ausrichten. Genieße die Zeit der Ruhe und verbring ein paar schöne Tage mit Sharon Winchester.“ „Ich habe so etwas wie … Urlaub?“ „Nicht ganz. Da du neu unter meinem Kommando stehst, wäre es sehr hilfreich, wenn du dich mit den Gepflogenheiten und Regeln hier vertraut machst.“
„ Was passiert eigentlich, wenn alles vorbei ist? Muss ich …“ „Ich denke ehrlich gesprochen darüber nach, jemanden anderes für die Mondkammer zu bestimmen und dich Uriels Kommando zu unterstellen. Er kann jeden guten General und Krieger gebrauchen.“ Michael lächelte geradezu verschmitzt. „Wie ich bereits sagte, wir haben uns in dir völlig getäuscht.“ Langsam lief er zur Tür und winkte zum Abschied, bevor er sich entmaterialisierte und verschwand. Neriel war nun mit seinen Gedanken allein.
Noch länger konnte er unmöglich warten, die Sehnsucht quälte ihn wie tausend Messer in seiner Seele. Er öffnete ein Fenster zur Erde und überprüfte, wo seine geliebte Sharon gerade steckte. Schnell erkannte er, dass sie unglücklich auf ihrer Arbeitsstelle hockte, kaum fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen und ihn genauso vermisste wie er sie.
Neriel nahm sein Schwert – ohne seine Waffe würde er niemals zur Erde reisen – und schnallte es sich um seinen Körper, dann endlich ließ er den Himmel hinter sich und war endlich wieder auf der Erde, bei IHR.
Sharon glaubte beinahe nicht mehr daran, dass Neriel zu ihr zurückkehrte. Fast 10 Wochen waren vergangen und noch immer kein Lebenszeichen von ihrem Engel. Entweder durfte er nicht weg oder ihm war etwas Schlimmes zugestoßen. Er hatte versprochen, dass er sich melden würde. Sie seufzte und verabschiedete sich in den Feierabend. In ihr keimte so etwas wie Liebeskummer. Sie war müde, die letzten Nächte waren sehr unheilvoll gewesen. Viele böse Träume hatten sie heimgesucht und es war ihr schwergefallen, überhaupt einzuschlafen.
Gedankenverloren verließ sie das Büro und steckte ihren Schlüssel in die Handtasche.
„Wo willst du denn so schnell hin?“, hielt eine Stimme sie auf. Sharon hielt in ihrer Bewegung inne. War das möglich? Konnte er es sein? Sie wandte sich der Stimme zu. Dort stand er, als gehörte er zum Inventar. Seine fast schwarzen Augen blickten sie verliebt und amüsiert an. Sein braunes Haar hing in unruhigen Strähnen an ihm herab. Er war genauso, wie sie in ihrer Erinnerung behalten hatte. Neriel. Sharon ließ ihre Tasche fallen und überbrückte die wenigen Meter, die sie voneinander trennten. Tränen vernebelten ihr die Sicht. Sie warf sich ihm an den Hals und umschlang ihn wie einen Anker.
„Ich hab dich so vermisst!“, erklärte er. „ Wo warst du nur solange?“ Sie drückte ihn von sich. „Wie konntest du mich solange warten lassen? Ich …“ Mehr konnte sie nicht sagen, denn er schenkte ihr einen stürmischen, leidenschaftlichen und gleichermaßen sanften Kuss.
Der Geschmack seines Mundes verzauberte sie auf´s Neue, seine Lippen fingen sie ein und sie schmeckte zuckersüßen Honig. Er vertiefte den Kuss und seine Zunge drang in ihren Mund ein, um mit ihrer Zunge zu spielen. Wo hatte er das gelernt? Seine Hand umfing ihr Gesicht und er streichelte es wie eine seltene Perle. Ihre Hände wanderten über sein Gesicht in seine Haare und sie zog ihn noch weiter zu sich herunter. Viel zu schnell beendete er den Kuss und sie blickte ihn vorwurfsvoll an. Doch nach nur einem Atemzug lagen seine Lippen wieder auf ihren, sie mussten die verlorene Zeit aufholen. Sharon klammerte sich an seine Schultern. So richtig glaubte sie es noch nicht. Sie fühlte, wie er sie hochhob und sein klopfendes Herz.
„Hallo“, krächzte sie.
„Hi!“ Er grinste und strich ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.
Ihr Herz vollführte einen Luftsprung. Sie waren zusammen, endlich wieder vereint.
„Ich hoffe, du kannst eine Weile bleiben!“, sagte Sharon. „Nicht so lange, wie ich gerne würde. Aber keine Sorge, ich lasse mir nicht noch einmal mehr als zwei Monate Zeit, um die Liebe meines Lebens zu sehen.“
Sharon lächelte zufrieden.
„Gehen wir essen? Ich hab einen Bärenhunger!“ „Ich sterbe ebenfalls vor Hunger, jedoch nicht nach einer Mahlzeit, sondern einzig und allein nach dir. Ich will auf dir und in dir sein und das am besten eine ganze Nacht und einen ganzen Tag!“, raunte er ihr zu.
Sharons Gesicht fühlte sich erhitzt an. Hatte Neriel gerade offen gestanden, dass er mit ihr schlafen wollte? „Aber wir warten noch. Erst will ich wissen, was meine wunderbare Sharon in den letzten Wochen erlebt hat.“ Er ließ sie los, sammelte ihre Tasche auf und brachte sie ihr. Schließlich nahm er ihre Hand und führte sie vom Gelände herunter.
„Gab es einen dämonischen Angriff?“, wollte er wissen. „Nein, zum Glück gar nicht. Es war alles ruhig und … normal. Fast hätte ich den Krieg vergessen, Lilith und alles …“ „Mich?“
„Nein, du bist das Einzige, was ich nie vergessen konnte und nie vergessen werde.“
„Ich könnte dich auch nie vergessen! Niemals. Es tut mir leid, dass du solange warten musstest!“
„ Wichtig ist allein, dass du jetzt hier bist! Das ist alles, was für mich zählt! Ich liebe dich!“
„Ich liebe dich auch!“ Er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich, ehe Sharon ein vertrautes Drehen spürte. Sie schloss die Augen und wie sie die Lider öffnete, standen sie inmitten ihres Wohnzimmers. Neriel hatte sie beide teleportiert. „Das glaube ich ja nicht! Träum ich?“ Nyree blickte das Paar ungläubig an.
„Es freut mich dich zu sehen, Nyree“, sagte Neriel und lächelte nochmals. „Wie geht es dir? Bist du noch mit dem Blutsauger zusammen?“
Neriel ließ Sharon nicht los, das wollte sie auch gar nicht. „Rein zufällig, ja.“ Nyree strahlte wie gewohnt. „Und du? Was hast du so auf deiner Wolke getrieben? Harfe gespielt?“
„Kein Engel spielt Harfe!“
„Auch gut. Wie lange beehrst du uns denn?“, fragte Nyree. „Ein paar Stunden.“ Er sah Sharon an. „Und die will ich gut nutzen.“
„Keine Unzucht bitte in diesen vier Wänden!“, erwiderte Nyree und grinste zweideutig.
„Wollen wir was essen gehen?“, sagte Sharon und hoffte, dass er seine Aussage von vorhin nicht wiederholte. „Klar, ich hol nur schnell meine Handtasche. Stört es euch, wenn ich Patrick mitnehme?“, erklärte Nyree. „Vielleicht können wir ja Sharons Eltern auch fragen. Die glauben nämlich, dass du Sharon im Stich gelassen hast.“
„Im Ernst?“ Noch einmal bedachte er Sharon mit einem Blick, dieses Mal verwirrt und amüsiert.
„Ja, sie denken, ich würde vergebens auf dich warten! Aber du hast ihnen ja jetzt das Gegenteil bewiesen.“ Sie lächelte zurück. „Ruf sie an und frag sie, ob sie uns begleiten möchten. Ich werde ihnen zeigen, dass du mich nicht so schnell loswirst.“ Er lachte. „Okay.“ Sharon freute sich über diesen perfekten Abend. Keine Dämonen, kein Ärger, sondern Frieden und ein schöner Tagesausklang mit ihren Eltern, ihrer besten Freundin und ihrer großen Liebe.
Es dauerte keine halbe Stunde, da hockten sie zu sechst in einem italienischen Restaurant. Eric war wahrhaftig sehr überrascht, den Engel zu treffen. Doch Erleichterung spiegelte sich in seinen Augen, als er Neriel und seine Tochter betrachtete, wie sie miteinander turtelten. Sharon fühlte sich im Moment wie auf einer Wolke, als erlebte sie gerade ihr erstes Date mit ihrem Traummann. Sie spürte tausende von Schmetterlingen in ihrem Bauch, die immer sehr schnell durcheinander flatterten, wenn Neriel ihr einen Kuss auf Wange oder Mund hauchte. Kurz vor dem Essen zog der Engel seine geliebte Hexe in die Toilettenräume des Restaurants und bevor Sharon fragen konnte, was passiert war, lagen seine Lippen schon auf ihren. Er küsste sie leidenschaftlich und sehnsüchtig, trotzdem war er vorsichtig und er achtete sehr darauf, dass er ihr keine Verletzungen zufügte. Sie kostete den Geschmack seines Mundes voll aus und schlang ihre Arme um ihn. Sein Mund schmeckte süßer als jeder Honig, sein Kuss schöner als jeder Sommertag. Sie fühlte sich, als flößte man ihr Nektar ein. Ihr Atem gehorchte nicht mehr, aber sie hatte auch das Gefühl, dass sie nicht mehr atmen musste. Sie konnte gar nicht glauben, wie er sich nach kurzer Zeit von ihr löste. Neriel legte seine Stirn an ihre und küsste sie auf ihre Nasenspitze. Dann sah er sie an und Sharon versank in den mitternachtsschwarzen Augen, die sie schon seit ihrer ersten Begegnung faszinierten.
„Bleibst du über Nacht?“ Sie wunderte sich, dass ihre Stimme nicht den Dienst versagt hatte.
Seine Hände umfassten ihr Gesicht, aber er schüttelte den Kopf. „ Tut mir leid. Ich kann nicht“, flüsterte er bedauernd. „Wie lange wird es dann dauern, bis wir uns wiedersehen?“ Sie fürchtete sich vor der Antwort.
„Keine Sorge, ich werde für nächstes Wochenende eine Insel für uns herrichten, wo wir zwei ganze Tage ungestört verbringen können. Also nimm dir nichts vor.“
„Klingt traumhaft. Wo ist der Haken?“ Sharon strich über seine Wange.
„ Wir werden fast ausschließlich nackt sein und ich habe nicht vor, anständig zu bleiben.“ Neriel grinste.
„Damit kann ich leben.“ Sie zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen verspielten Kuss.
Schließlich kehrten sie zu ihren Freunden zurück und genossen das Essen.
Neriel begleitete die Hexen nach dem Treffen bis nach Hause und wollte sich dann verabschieden, Sharon hielt ihn zurück. „Können wir nicht noch einen Film zusammen schauen?“, sagte sie, kaum, dass sich Nyree mit ihrem Freund in ihr Schlafzimmer verdrückt hatte.
Eine Träne suchte sich ihren Weg ins Freie und rollte über ihre Wange. Neriel wischte sie mit seinem Zeigefinger beiseite. „Eigentlich werde ich zurück erwartet … aber ich kann dich nicht so zurücklassen“, flüsterte er an ihre Lippen. „In Ordnung. Such dir einen Film aus. Ich warte, bis du eingeschlafen bist und bringe dich ins Bett. Erst dann werde ich gehen.“
„Danke! Tut mir leid, dass ich dich …“ Sharon lächelte. „Psst“ Er legte einen Finger auf ihre Lippen, bevor seine Lippen diese Geste wiederholten. „Sag nie, dass du mich nervst! Niemals! Ich würde alles für dich tun.“
„Das weiß ich, immerhin hast du mich aus der Hölle gerettet und für mich einen Pakt mit Lilith geschlossen.“ „Und ich würde es jederzeit wieder machen.“ Er lächelte und küsste sie.
Dieses Mal nicht wild und leidenschaftlich, sondern so sanft wie bei ihrem ersten Kuss im Kino. Sharon erinnerte sich daran und schwebte förmlich davon. Er löste sich von ihr und nahm sie auf die Arme, um sie ins Wohnzimmer zu tragen. „ Wo sind eigentlich deine Flügel und dein Schwert?“, fragte sie. „Mein Schwert ist für das menschliche Auge unsichtbar und meine Flügel habe ich sozusagen abgelegt. Im Augenblick brauche ich sie ja nicht. Oder möchtest du fliegen?“
„Nein, nicht heute. Ich dachte nur, Raphael hätte sie dir wieder abgenommen.“
Sie setzten sich zusammen auf die Couch. „Also, was für einen Film willst du schauen?“, fragte Neriel. „Mir egal, such du was aus. Mir ging´s ja nur darum, dass du bleibst und ich ein bisschen auf Tuchfühlung gehen kann.“ Sie grinste ihn an. Dann lehnte sie sich kurz an ihn und sog seine Wärme und den Geruch seiner Haut in sich auf. Bereits jetzt wurde sie müde. Nur nebenbei folgte sie mit ihren Augen, wie ihr Freund einen DVD herausfischte, sie einlegte und anschließend wieder neben Sharon Platz nahm. Sie kuschelte sich an seine Brust, doch Neriel zog sie auf seine Knie und streichelte ihr durch die Haare. Ihr Kopf blieb, wo er war und deshalb bekam sie nur akustisch etwas vom Film mit. Das war ihr gleichgültig, denn sie kostete lieber die Nähe zu Neriel aus und schmiegte sich dicht an ihn. Der Engel ließ seine Finger unter ihr Oberteil gleiten und fuhr ihren nackten Rücken entlang. Ihre Hand klammerte sich sanft an seine Brust. Sie dämmerte langsam weg und war wenige Minuten später im Land der Träume.
*
Natürlich merkte Neriel, dass Sharon tief und fest schlummerte. Er wusste auch, dass er zurück in die Gefilde musste. Michael hatte viel mit ihm zu erörtern und vorzubereiten. Es fühlte sich so fantastisch an, ihre Haut, ihre Haare und ihr Duft nach Wildblumen und Rosen. Ein Duft, der schon immer an ihr haftete und der ihn wahnsinnig machte. Er liebte es, ihren Körper so nahe an seinem. Wie hatte ihm das gefehlt, wie hatte sie ihm gefehlt! Seine freie Hand kraulte ihren Nacken und er hatte keine Ambitionen, sich auf den Film zu konzentrieren. Nur auf sie. Er drehte sie, sie hockte nun quer über seinem ganzen Schoss. Ihr Gesicht lag an seiner rechten Schulter, ihre Hände um seinen Hals und ihre Beine waren angewinkelt. So konnte er mühelos mit ihr aufstehen und sie ins Bett transportieren. Gerne hätte er noch mehr Zeit mit ihr verbracht, aber er war ohnehin schon spät dran und Sharon spürte nicht einmal, dass er anwesend war – höchstens unterbewusst. Mit seinen Gedanken öffnete er ihre Zimmertür und ließ sie vorsichtig in ihr Bett sinken, bevor er sie mit der Bettdecke zudeckte. Außerdem schloss er die dunklen Vorhänge, damit das Mondlicht sie nicht beim Schlafen störte. Anixiel hatte heute Dienst und er schickte ein stummes Gebet nach oben, dass der Engel über seine Liebste wachen sollte.
Neriel schlich zur Tür zurück und beobachtete seine Hexe eine ganze Weile, weil es ihm schlicht unmöglich war, seine Blicke von ihr zu lösen.
Er hatte ihr noch nicht die schreckliche Wahrheit erzählen können, sie noch nicht in die Pläne von Michael einweihen können. Michael, den sie nur als Feind kannte. Wenigstens hatte er mit dem Wochenende nicht lügen müssen. Dieses Urlaubsgesuch hatte er sich bereits von Raphael genehmigen lassen und auch Michael hatte keine Einsprüche eingelegt, ihm diese Zeit mit Sharon zugestanden. Als er sich gerade wieder in die himmlischen Gefilde versetzen wollte, spürte er eine warme und vertraute Aura, die Anwesenheit eines Engels: Uriel. Offensichtlich hatte der Erzengel die Entscheidung getroffen, seine materielle Form abzulegen und seinen Auftrag in der überirdischen Form auszuführen. Er war nur noch als Schwingung in der Raumebene zu erkennen, ansonsten war Uriel unsichtbar für das normale Auge. Neriel flüsterte ihm zu, dass er gut auf Sharon achten und jedoch auch ihre Privatsphäre respektieren sollte. Uriel versprach es. Der zweite Engel kehrte in sein Zuhause zurück und wartete nun darauf, dass Michael ihn zu sich rief oder die Nachricht zu ihm drang, dass Luzifer tatsächlich die Befreiung gelungen war. Neriel überlegte, wie er die Zeit totschlagen konnte, denn abwarten und stillsitzen lagen ihm noch nie. Er grübelte über die Zukunft, die Schlacht, die auf ihn wartete. Überrascht blickte er auf, als es zaghaft an der Tür klopfte. Neriel erhob sich und öffnete die Tür, bevor er einen Boten von Michael erkannte, der eine Schriftrolle in den Händen hielt.
Ohne Gruß oder sich vorzustellen, überreichte er ihm das Schriftstück.
„Ich habe dir die Offenbarung über Luzifer aus der heiligen Bibliothek kopiert“, erklärte er nur, verbeugte sich und flog mit einem einzigen Flügelschlag davon.
