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Sharon und Neriel können ihr Liebesglück nur kurz genießen - denn Lilith, Luzifers rechte Hand, will den Engel immer noch in ihrer Armee von Dämonen und dafür ist ihr jedes Mittel Recht. Neriel sieht keine andere Möglichkeit: er muss sich schweren Herzens von Sharon trennen. Beide halten den Liebeskummer nur schwer aus. Schließlich entscheidet sich Neriel, Lilith und Luzifer zu gehorchen, um Sharon zu beschützen. Auch, wenn er dafür den Frieden auf der Erde opfert. Doch er hat einen Plan...
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Angel of the Moon – Sacrifice
Originalausgabe
2. Auflage
© Sabrina Ruhland 2023
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: zeldidraws alias Julia Bittner Druck: epubli
ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Engel haben keinen eigenen Willen. Sie gehorchen bedingungslos. Sie
folgen jedem Befehl, sofort und absolut. Doch in den Chroniken der
Engel ist immer wieder von Himmelwesen die Rede gewesen, die
rebelliert haben. Engel, die ihrem eigenen Weg folgen wollten und
gefolgt sind. Einer von ihnen, Luzifer Morgenstern, einst der
strahlendste unter den Kriegern Gottes wurde deswegen vom Erzengel
Michael persönlich in die Hölle geworfen, weil er den Himmel
übernehmen und die Erde zerstören wollte. Er hasste die Menschen und
führte damit nicht nur den größten Krieg an, den die Sphären jemals
erlebt hatten. Neriel Mondregent jedoch, folgte seinem Herzen und
seiner Liebe zu einem Menschen.
Aus den Memoiren des Erzengels Uriel
Prolog
Neriels Flug startete in weniger als einer Stunde. Dann kehrten er, Mike und Dexter nach Chicago zurück. Sharon erinnerte sich an die vergangenen Wochen. Der Hölle und der Verfolgung durch die Engel war sie nur entkommen, weil Neriel so uneingeschränkt für sie gekämpft und sie gerettet hatte. Sollte sie wirklich auf Raphaels Versprechen vertrauen, dass sie nun in Sicherheit war? Neriel musterte sie fragend und in seine schwarzen Augen schlichen sich Sorge. Sharon schüttelte nur leicht den Kopf. Sie wollte nicht, dass er sich länger um ihre Probleme kümmerte. Er musste sein Leben als Sänger wiederaufnehmen. Ihretwegen hatte er zwar seine Kräfte zurückerhalten, jedoch waren ihm auch weitere Sanktionen auferlegt worden. Ihretwegen musste er nun zehn Jahre länger im Exil auf der Erde verweilen. Auch, wenn er ihr erklärt hatte, dass ihn dies nicht störte und es für ihn sogar eine Bereicherung sein würde, kämpfte sie häufig mit schlechtem Gewissen.
Nyree amüsierte sich mit Dexter, was Patrick etwas eifersüchtig beäugte.
Mike unterhielt sich mit Neriel und sie gingen bereits ihre Verpflichtungen direkt nach der Landung in Chicago durch. Deswegen blieb Sharon die Gelegenheit, über die letzten, drei Monate nachzudenken. Insbesondere fragte sie sich immer wieder, wie ein Engel sich ausgerechnet in eine Hexe verlieben konnte. Hexen waren nach den Dämonen der Erzfeind Nummer 2, waren sie in den Augen der Engel doch die Huren Luzifers. Für Sharon war es noch immer ein Rätsel, welche Vorzüge Neriel in ihr gefunden hatte, dass er sein Leben für sie riskierte. Sie bemerkte erst, dass die Zeit des Abschieds gekommen war, als Neriel sich sein Himmelsschwert um den Oberkörper schnallte und Dexter sich immer noch darüber wunderte, dass es für andere Menschen unsichtbar war.
Sharon umarmte Dexter und Mike, bevor sie sich Neriel in die Arme warf und nur zu gerne den Kuss erwiderte, den der Engel ihr schenkte. Seine Lippen knabberten sehnsüchtig an ihren, seine Finger streichelten ihre Wange und er presste sie eng an sich. Während seine Arme sie umschlossen, wünschte sich Sharon, dass die Zeit stehenbleiben sollte und er sie niemals verlassen würde.
„Nehmt euch ein Zimmer“, riss Dexter die beiden auseinander. Neriel lächelte jedoch nur und küsste Sharon erneut, dabei streichelte er ihr zärtlich über den Rücken. „Wir werden uns bald wiedersehen!“, versprach er wispernd an ihrem Mund.
Sharon war vom Abschiedsschmerz und dem Rausch der Küsse ganz benebelt und nickte nur.
Dann lösten sie sich voneinander und die Wege der beiden trennten sich. Sie blickte den Musikern nach, wie sie nach der Sicherheitskontrolle die Gangway betraten und im Flugzeug verschwanden.
Nyree und Patrick zogen ihre Freundin auf die Besucherplattform, von wo aus sie die Maschine genau beobachten konnten. Das Flugzeug rollte auf die Startbahn und Sharon umschloss ihren Körper. Eine düstere Vorahnung stieg in ihr auf und sie war sicher, dass es noch nicht vorbei war. Es würde etwas folgen, etwas Schlimmes. Luzifer und seine erste Stellvertreterin Lilith würden nicht kampflos aufgeben.
Engel träumten nicht, niemals und er hatte vorher nie geträumt. Erst seit einigen Wochen, anfangs war es nur von einer Frau gewesen, die ihm den Rücken zugedreht hatte und die er nicht kannte. Doch nun wusste er, wer es war. Neriel träumte von Lilith und es beunruhigte ihn sehr, zumal er bezweifelte, dass es nur ein Trugbild war. Vielmehr wusste er, dass sie ihn aufsuchte und dass sie es wirklich war. Luzifers Nummer 1 hatte sich bisher allerdings nicht hinreißen lassen, etwas zu ihm zu sagen. Sie blickte ihn nur an, verführerisch und auffordernd, aber dann verschwand der weibliche Dämon anschließend sofort. Er wusste nicht, welche Absichten sie verfolgte und das bereitete ihm das meiste Kopfzerbrechen. Er sollte es jedoch bald herausfinden. Er sprach mit niemandem darüber, nicht einmal mit Sharon und schon gar nicht mit Mike oder Dexter. Das war ganz allein sein Problem.
Er war schon froh, dass seine Herkunft und seine Rasse nicht übermäßig von seinen beiden Kumpeln thematisiert wurden und dass sie ihn damit in Ruhe ließen – meistens jedenfalls. Von seinen Geschwistern hatte der verbannte Himmelsbote seit dem Finalkampf nichts mehr gehört, weder von Raphael noch von Nahaliel, was ihm ganz recht war. Er hatte erst einmal die Nase voll von Engeln und Dämonen, was erstaunlicherweise schon sehr lange andauerte. Eigentlich war er ein Abenteurer und Krieger.
Der Erfolg von Unholy Ground hatte angehalten. Der Band hatte scheinbar tatsächlich nur einen Stoß in die richtige Richtung gefehlt und genügend Personen, die sich etwas Neues getraut hatten. Der Rest war von allein gekommen und war ihnen geblieben. Das zweite Album war eingeschlagen wie eine Bombe und die Jungs konnten sich jetzt auf ihre zweite Welttournee freuen. Mike hatte inzwischen eine feste Freundin gefunden und war nun ebenfalls glücklich verliebt.
Die Musikgruppe war im Augenblick bei einem Videodreh und sehr beschäftigt, so dass Neriel keine Zeit hatte, um sich mit seinen Alpträumen zu beschäftigen. Insgesamt war das Trio stark involviert und ihnen blieb keine Gelegenheit für andere Sachen. Das hieß bei Mike und Neriel, dass sie ihre Freundinnen nur sehr selten treffen oder kontaktieren konnten, obgleich es der Bandleader besser hatte, weil seine neue Liebe in Chicago lebte. Wogegen dem gefallenen Engel nur das Telefonat mit Sharon blieb und sie hatten sich mittlerweile seit mehreren Tagen nicht gesprochen, was ihn sehr belastete und auf seine Stimmung schlug. Ganz wie in jeder normalen Beziehung trug auch er ständig ein Foto von ihr herum, obwohl sie Fotos von sich hasste und es deswegen nur sehr wenige von ihr gab. Es befand sich in seiner Brusttasche, er trug meistens eine Weste – sein Markenzeichen.
Sie drehten die Einstellung gerade zum gefühlten, hundertsten Mal und sie waren müde, besonders Eagle jammerte, weil ihm seine Arme wehtaten. Aber es half nichts, sie mussten weiter durchhalten bis zum bitteren Ende, bis das Video fertig war. Es war kurz vor Weihnachten, in Chicago schneite es beinahe jeden Tag und es war bitterkalt. Aus diesem Grund war es auch dunkel, wie sie den Drehort verließen und sie waren wieder nicht dazu gekommen, Weihnachtsgeschenke für ihre Liebsten zu organisieren.
Ihre Wege trennten sich an diesem Abend noch nicht, sie fuhren noch zu Mike, der etwas Leckeres kochen wollte und erst anschließend verabschiedeten sie sich voneinander. Neriel war nicht müde und dennoch entschloss er sich, ins Bett zu gehen und zu schlafen. Er wollte seinem Traum mit Lilith auf den Grund gehen. Doch auch in dieser Nacht kam er keinen Schritt weiter. Sie stand vor ihm, lächelte und beantwortete keine seiner Fragen.
„Guten Morgen, Kumpel“, begrüßte Dexter seinen Bandkollegen Neriel am nächsten Tag, als sie zur Probe verabredet waren. „Hey.“ Er hatte schlechte Laune, weil er schon wieder nicht herausgefunden hatte, was der Dämon von ihm wollte. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, erwiderte er kopfschüttelnd.
„Mir kann keine Laus über die Leber laufen“, stellte Neriel klar. „Das ist logisch und anatomisch gar nicht möglich.“ Noch immer hatte es der Engel nicht mit Sprichwörtern. „Das sagt man nur so, wenn jemand schlechte Laune hat … hast du das noch nie gehört?“, fragte Mike verwundert.
„Schon … aber ich hab es nie verstanden.“ „Wundert mich nicht. Also mal raus mit der Sprache, hast du schlecht geträumt oder ist dir das Frühstück nicht bekommen?“ „Normalerweise können Engel nicht träumen und gefrühstückt hab ich gar nicht!“ Manchmal wünschte er sich wirklich, dass er lügen konnte.
Neriel hasste es, wenn er nur halbe Aussagen machen konnte. Mike und Dex wussten sofort, dass er nicht reden wollte, so gut kannten sie ihn inzwischen.
„Wollen wir dann?“ Mike blickte seine Freunde abwartend an, diese nickten nur.
„Sag mal, ist diese Blondine eigentlich noch mit dem Vampir zusammen?“, wollte Eagle neugierig wissen und erschreckte sich darüber, dass es so selbstverständlich klang. Nach ihrer Rückkehr nach Amerika hatte der Drummer schon überlegt, ob er sich nicht wirklich in psychiatrische Behandlung begeben sollte, aber er hatte sich sofort dagegen entschieden. Welcher Psychiater würde ihm schon glauben? Man hätte ihn nur in eine Anstalt eingewiesen und da wäre er vermutlich richtig aufgehoben gewesen. Auch Mike hatte mit dem Gedanken gespielt, ihn allerdings ebenso verworfen wie sein bester Freund. „Soweit ich weiß schon, ich rede nicht oft mit Nyree.“ „Es wäre ja auch merkwürdig, wenn es anders wäre“, grinste Dexter.
Dann begannen sie mit den mehrstündigen Proben, die immer damit begannen, dass der Schlagzeuger sich einspielte. Mike spielte als erster Sänger dazu ein paar Akkorde auf der Gitarre. Neriel konzentrierte sich auf das Keyboard. Erst wenn Dex sich warm gespielt hatte, fingen die Sänger mit ihren Übungen an. Früher hatte ihr Manager, Liam, sich die Gesangsproben angehört, doch nun hatte er wichtigeres zu erledigen. Er organisierte die Welttour und suchte gerade nach der passenden Vorband, die reihenweise Schlange standen und sich bewarben. Bisher stand ein Frauenduo hoch im Kurs. Das Trio bemerkte noch nichts davon, sie interessierten sich ohnehin nicht dafür, zumindest im Augenblick.
Sie probten den ganzen Vormittag, bevor sie sich Nachmittag einem Interview für eine Jugendzeitschrift stellen mussten. Inzwischen waren sie an den ganzen Medienrummel gewöhnt und sie waren beinahe auf jede Frage vorbereitet, egal wie furchtbar oder intim sie waren. Sie wussten, wie sie dem ausweichen und entgegentreten konnten. Wie sich Neriel in der Nacht wieder in sein Bett legte und einschlief, suchte ihn wie schon so oft der Traum heim. Doch dieses Mal war etwas anders. Lilith lächelte nicht, im Gegenteil sie hatte die Arme verschränkt und blickte ihn etwas grimmig an. „Welche Psychospielchen spielst du hier?“, wollte der Engel wissen.
„Wir haben noch eine Rechnung offen, immerhin bist du einfach mit deiner Hexe geflüchtet, obwohl wir einen Deal hatten.“ „Wir hatten einen Deal? Dass ich nicht lache! Verschwinde endlich aus meinen Träumen!“
„Tut mir Leid, das kann ich leider nicht … noch nicht.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Was zur Hölle willst du von mir?“
„Weißt du das wirklich nicht?“
Er sagte nichts.
„Du wirst es früh genug von mir erfahren, das garantiere ich dir. Bis dahin …“ Sie hob ihre Arme und wedelte damit vor ihm herum. „ … spiele ich einfach ein bisschen mit deinem Verstand.“ Sie lachte, verschwand danach sofort und Neriel wachte auf. Er schreckte regelrecht hoch und fuhr sich durch sein Gesicht. Er blickte sich um und entdeckte auf seinem Wecker, dass es erst drei Uhr nachts war. Er entschied, sich in dieser Nacht definitiv nicht mehr hinzulegen und stattdessen die Zeit irgendwie totzuschlagen. Er grübelte natürlich darüber, was die Dämonin von ihm wollte. Für ihn kam im Grunde genommen nur eines infrage: er sollte sich noch immer mit Luzifer gegen seine Artgenossen und Geschwister verbünden. Aber sie wusste, dass er dies nie tun würde, also musste Lilith einen Plan haben wie sie ihn trotzdem überzeugen konnte. Nur wie? Schon wieder bekam er Bauchschmerzen. Er wollte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was in ihrem Kopf vorging. Welche Schandtaten sie sich ausdenken konnte und was sie vielleicht sogar schon getan hatte. Er zuckte zusammen: Sharon! War etwas mit ihr geschehen? Er hatte den ganzen Tag noch nicht mit ihr gesprochen, geschweige denn mit ihr geschrieben. Sofort rief er sie an. Er brauchte sich wegen der Uhrzeit keine Gedanken zu machen, da es bei ihr ohnehin erst 20 Uhr abends war. Wie er mit ihr sprach, konnte er sich innerlich beruhigen. Er fragte sich allerdings sofort, welche Pläne Lilith dann geschmiedet hatte. Er telefonierte beinahe zwei Stunden mit Sharon und überzeugte sich, dass es auch Nyree gutging. Das Einzige, was weiterhin für Beunruhigung sorgte, war die Tatsache, dass Eric Winchester wie vom Erdboden verschluckt war und nicht auftauchte. Melissa, seine Ehefrau, glaubte schon gar nicht mehr daran, dass er lebend zurückkam, eher vielmehr, dass er tot war. Der Engel schwieg sich darüber aus, er wollte weder Hoffnungen noch die Ängste der Frauen schüren. Er war sich nicht sicher, wie es dem Hexer ging oder wo er sich befand.
Die Dunkelheit war noch nicht gewichen, da war er wieder mit seinen Gedanken allein. Die verbliebene Zeit nutzte er damit ein Buch zu lesen. Es war jedoch nicht die Bibel, wie man vielleicht vermuten wollte. Er erinnerte sich noch gut an die Anfangszeit, da hatte er nicht nur die Bibel gelesen, sondern auch massenhaft Lexika um sich überhaupt zurecht zu finden und viele Bedienungsanleitungen. Angefangen von einem simplen Toaster bis hin zum komplizierten Computer. Er hatte sich wirklich große Mühe gegeben, in der Welt der Menschen zurecht zu kommen. Leise seufzte er, manchmal konnte er gar nicht fassen, dass es schon 98 Jahre, beinahe 99 Jahre waren und es lagen noch 11 Jahre vor ihm. Normalerweise würde er darüber fluchen, aber er wusste, solange er seine Freunde Mike und Dexter und seine geliebte Sharon bei sich hatte, würde es ihm nicht schwer fallen.
Er hoffte nur, dass es so blieb, weil er sich dieses Exil allein nicht vorstellen wollte. Er schüttelte sich, daran mochte er nicht denken und kaum, dass er aus seinen Tagträumen erwachte, war die Sonne aufgegangen und es war beinahe Zeit sich fertig zu machen. Der Tag sollte wieder sehr anstrengend und arbeitsreich werden. Sie mussten sehr früh morgens in einer Morgenshow auftreten, erst ein Interview und danach mussten sie ihre aktuelle Single aufführen.
Neriel traf sich mit seinen Jungs direkt in der Garderobe des Studios und der Engel war der Erste, der eintraf. Dabei hatte er sich Zeit gelassen und war gar nicht so pünktlich, er erfuhr direkt wieso seine Bandkollegen noch nicht da waren. „Mike und Dexter stecken im Schnee fest, sie haben gerade angerufen“, rauschte Liam in die Garderobe und war sofort wieder weg, ohne dass der Sänger etwas sagen konnte. „Na ganz toll“, dachte er wenig begeistert. „Soll ich jetzt allein zum Interview?“, rief er seinem Manager hinterher. „Nein, die Show wird ja nur aufgezeichnet und erst in drei Stunden ausgestrahlt, so dass wir noch auf die beiden warten können“, hörte er ihn rufen.
„In Ordnung.“ Wenigstens etwas. Es war Eagle, der zuerst von den beiden schlecht gelaunt in die Garderobe gerannt kam und der sich prompt an der Tür stieß. „Was ist das denn für ein Mist? Wer hat die Tür dahin gemacht?“, fluchte er und rieb sich seinen schmerzenden Kopf.
„Wo ist Mike?“ Er trat auf ihn zu und wollte ihm die Hand auflegen.
„Mike? … Äh … Der muss noch was einsammeln.“ Er hüpfte einen Schritt zurück. „Was hast du vor? Willst du mich küssen? Sorry Alter, falsches Lager! Außerdem hast du doch ne Freundin!“
„So einen Unsinn, ich will dir deine Kopfschmerzen nehmen.“ „Lass mal Kumpel, ich lebe ganz gut mit Kopfschmerzen. Wer weiß, was mit mir passiert, wenn du mich anfasst.“ Neriel schüttelte nur den Kopf und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, der Drummer nahm den Platz neben ihm ein. Er beschäftigte sich mit seinen langen Haaren und versuchte die Mähne in Form zu bringen, was gar nicht so leicht war. Schnee verklebte alles.
„Ätzend … hast du dagegen ein Heilmittel?“, wollte Dexter wissen.
Der Engel wollte Humor beweisen und hielt ihm seinen Kamm hin, obwohl er es durchaus ernst meinte. „Witzbold!“, murrte er nur.
„So ein Kamm hilft wirklich oder die andere Alternative wäre, dass du dir deine Haare abschneidest.“ „Blasphemie!“
„Du übertreibst …“
„Nein, finde ich nicht.“
„Hast du was von Mike gehört?“ Liam stand plötzlich in der Tür. „Er sammelt noch was ein“, antwortete Dex.
„Was oder wen?“
„Keine Ahnung.“ Er schüttelte den Kopf. Nach einer weiteren halben Stunde tauchte schließlich auch der Bandleader selbst auf und er war auch nicht allein. „Und?“, erkundigte sich der Drummer. „Neriel, geh mal …“ Mike deutete hinter sich in den Flur. „Da hat jemand ein Wörtchen mit dir zu reden.“ Dieser zögerte nicht und erhob sich sofort, trat an seinem Kollegen vorbei und wollte anfangs nicht glauben, was er erblickte.
„Du?“, stotterte er und trat sofort auf die junge Frau zu, die dort in einem Wintermantel lächelnd stand: es war Sharon. Ihr Lächeln wurde breiter und strahlender, sie überbrückte den letzten Zentimeter zwischen ihnen und fiel ihm um den Hals. Ohne zu zögern, küssten sich die Liebenden, die sich mehrere Wochen nicht gesehen hatten.
„Mit dir hätte ich niemals gerechnet … wie …“ „Zwei Wochen Weihnachtsurlaub!“, grinste sie und strich eine verirrte Haarsträhne aus seinem Gesicht. „Klingt riesig!“
„Ja, ihr zwei Turteltauben das ist wirklich riesig. Können wir dann?“, störte Mike peinlich berührt.
„Ich bin soweit.“ Neriel lächelte, hatte er heute Morgen noch schlechte Laune gehabt, war er nun wieder glücklich.
Er nahm seiner Freundin den Mantel ab, den brauchte sie hier nicht, weil es hier wohlig warm war und legte ihn über seinen Stuhl.
Sharon durfte das Trio bis in das Studio begleiten, musste aber an der Seite Platz nehmen und leise sein. Sie brachten den Vormittag hinter sich und nach ein paar Fotos konnten sie den Fernsehsender endlich verlassen, eine Pause einlegen und ein ausgiebiges Mittagessen zu sich nehmen. Dennoch dauerte es bis in den späten Abend hinein, ehe das übernatürliche Paar ungestört war.
„Was hältst du jetzt von einem Training?“, lachte der Engel und machte Anstalten sein Schwert zu holen. „Willst du mich ärgern? Du schuldest mir immer noch den versprochenen Urlaub nach dem Kampf gegen Nahaliel!“ Sie sprang ihm in die Arme und drückte ihn zurück auf seine Couch. Sie versanken in einen langen und zärtlichen Kuss. „Oh Gott, wie hab ich das vermisst!“, flüsterte sie atemlos. „ER hat damit gar nichts zu tun.“
„Ich weiß.“
Noch einmal küssten sie sich und er kostete den Geschmack ihrer weichen Lippen voll aus.
„Du hast mir so gefehlt!“
„Du mir auch.“ Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Also erzähl: was ist los?“, fragte sie und kraulte seinen Nacken, ließ ihren Kopf allerdings dort, wo er war.
„Was meinst du?“
„Mike meinte, du wärst in letzter Zeit … naja … nicht gut drauf, als würde dich etwas beschäftigen.“
In diesem Moment verfluchte er seinen besten Freund, er ärgerte sich, dass er ihr davon erzählt hatte. Er musste sich nun etwas überlegen, wie er es geschickt formulieren konnte, ohne dass er etwas verriet. Am liebsten wollte er ja sagen, dass nichts war aber er brachte diese Worte nicht über seine Lippen, geschweige denn über seine Zunge. Das Problem an der Sache war, nicht nur dass er sie nicht belügen wollte, sondern so wie sie seinen Hals berührte, wurde er total schwach. Ihm als starker und eigentlich mächtiger Engel zitterten die Knie und wurden weich wie Butter. „Mike bildet sich sehr viel ein!“ Das war keine Lüge. „Findest du? Also gibt es nichts, was dich irgendwie belastet?“ Sie durchschaute ihn.
„Ich möchte nicht darüber reden.“ Es klang härter, als er es beabsichtigt hatte.
„Wieso nicht? Vielleicht kann ich dir helfen?“ „Nein, wirklich nicht. Das ist eine Sache, die ich mit mir ausmachen muss.“
„Du kannst mit mir darüber reden, ich hoffe das weißt du.“ „Wenn ich herausgefunden habe, was genau alles zu bedeuten hat, bist du die Erste, die es erfährt.“ Er lächelte. „Ich liebe dich!“ Sie sah ihn mit großen Augen an, fragend denn sie konnte ja nicht wissen, was er damit meinte und dass Lilith ihn in seinen Träumen heimsuchte.
„Ich liebe dich auch!“
Auch in dieser Nacht, der ersten in der Sharon in seinen Armen schlief, träumte er wieder und Lilith empfing ihn höhnisch grinsend.
„Hast du deine geliebte Sharon bei dir?“, kicherte sie. „Lass sie in Ruhe! Wehe, wenn du sie auch nur anrührst!“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Was zur Hölle willst du von mir?“
„Ich sagte doch, dass du es früh genug von mir erfahren würdest.“
„Wie wäre es mit gleich?“
„Sonst was? Schlägst du mir meinen Kopf ab? Tauchst du mich in siedendes Öl?“ Sie lachte.
Sie lief vor ihm auf und ab.
„Na gut, ich sage es dir! Ich will, dass du dich uns anschließt.“ „Ich hab dir schon das letzte Mal gesagt, dass du das vergessen kannst.“
„Jetzt lass mich doch mal ausreden!“ Sie hob ihre Hand und das sorgte dafür, dass er auf seinen Hintern fiel. „Ich dachte mir schon, dass du diese Antwort geben würdest, aber ich möchte noch etwas hinzufügen: du sollst die Dämonen als Anführer aus der Hölle direkt zu Michael führen und natürlich gegen ihn kämpfen. Als Gegenleistung bekommst du deine Flügel zurück und Luzifer verleiht dir eine unfassbare Macht. Wenn du es nicht tust, werde ich allen, die dir wichtig sind und allen, die du liebst persönlich wehtun und deine ganze kleine Welt, in der du lebst ins Chaos stürzen. Ich kann gerne mit deiner Hexe anfangen!“ „Du bist irre, geradezu wahnsinnig!“ Neriel konnte nur flüstern, so entsetzt war er.
„Vielen Dank! Du musst dich nicht sofort entscheiden, ich werde dich in drei Tagen noch einmal fragen und du solltest es dir gut überlegen, wirklich gut.“
Dann verschwand sie und der Engel wachte schweißgebadet auf, er schreckte hoch und saß in seinem Bett. Sharon erwachte mit ihm und setzte sich ebenfalls auf, besorgt berührte sie ihn an der Schulter und begann ihn vorsichtig zu massieren. „Alles in Ordnung?“, fragte sie.
„Nur geträumt … irgendwelchen Unsinn“, wehrte er ab. „Hast du das öfters in letzter Zeit? Du träumst doch nie, zumindest kann ich mich nicht erinnern.“ Sie massierte ihn weiter.
Er antwortete nicht, er stand auf und ging zum Fenster. Dabei fuhr er sich durch sein Gesicht. Sharon folgte ihm und küsste ihn auf den nackten Rücken. Neriel reagierte so, wie die junge Frau es niemals erwartet hätte: ungewohnt aggressiv. Er stieß sie unsanft von sich.
„Lass mich in Ruhe!“ Er suchte in der Dunkelheit eine Hose und ein T-Shirt zusammen, zog es sich hastig an und verschwand hinaus ins Freie. Dabei knallte er die Tür, dass es krachte. „Neriel!“, rief sie ihm nach und war aufgewühlt. „Was ist nur los mit dir?“
Der Engel rannte durch die Straßen Chicagos ohne Ziel und mit dem Schrecken der letzten Minuten seines Traumes. Er wollte nur noch weg, als könnte er vor Lilith und ihren wahnwitzigen Plänen weglaufen, ihnen entkommen.
Irgendwann kam er an einer Brücke an und erst jetzt merkte er, dass er Tränen in den Augen hatte. Warum passierte ihm so etwas? Warum konnte Lilith nicht einen anderen Engel erpressen und terrorisieren? Er wusste nicht, was er tun konnte und sollte. Ein richtiger und starker Diener Gottes würde der Dämonin die eiskalte Schulter zeigen und sie sprichwörtlich zur Hölle schicken, weil er sich nicht erpressen ließ. Es gab nichts, womit man einen echten Engel erpressen konnte. Bei ihm war es etwas Anderes, er hatte soviel, was ihm wichtig war und was man ihm nehmen konnte. Er dachte an Sharon. Sie war das Wichtigste in seinem Leben und er wollte sie nicht verlieren. Seine Reaktion vorhin ihr gegenüber tat ihm schrecklich leid, aber er hoffte, dass Lilith ihr nichts tun würde, wenn er das Gefühl erweckte, dass er sie nicht liebte. Eine Entscheidung hatte er bereits in den Anfangsminuten nach seinem Aufwachen getroffen: er musste die Liebesbeziehung mit ihr beenden und sie verlassen. Das war das Beste für sie, selbst wenn es ihm das Herz brach und ihr höchstwahrscheinlich noch mehr. Ihm blieb keine Wahl, wenn er sie wirklich liebte – und das tat er, mehr als sie ahnte – und sie schützen wollte, mussten sie sich trennen. Sie musste zurück nach Berlin, zu ihrer Familie und ihren Freunden. Eines Tages würde sie über ihn hinwegkommen und sich neu verlieben. Er sank an dem Geländer herunter, schlang seine Arme um seine Knie und blieb eine ganze Weile so verharren.
Er kehrte nach einer gefühlten Ewigkeit zu seiner Freundin zurück, die auf ihn gewartet hatte und im Flur stand, wie er seine Haustür aufschloss.
„Da bist du ja wieder!“ Sie klang erleichtert und das zerriss ihm noch mehr das Herz, denn er musste kalt sein und sie nun zurückweisen.
„Ja und?“
„Ich habe mir Sorgen gemacht!“ Sie ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen, aber erneut stieß er sie von sich. „Fass mich nicht an!“, herrschte er sie an. „Leg dich wieder schlafen, du kannst in meinem Bett schlafen und ich schlaf auf der Couch.“
„Was ist nur los mit dir?“ So leicht wollte sie offenbar nicht nachgeben. „Vorhin sagst du mir noch, dass ich dir gefehlt habe und dass du mich liebst und jetzt? Ich verstehe es nicht.“ „Musst du ja auch nicht. Ist dir schon mal aufgefallen, dass du mir vielleicht auf die Nerven gehen könntest?“ „Ich nerve dich?“
Er biss sich auf seine Lippen und wunderte sich, dass sie nicht anfing zu bluten.
„Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist“, forderte sie ihn auf. „Ich werde mich jetzt hinlegen und das solltest du auch tun. Wird morgen ein langer Tag, ich muss früh weg und du kannst tun und lassen, was immer du willst.“ Es sollte gleichgültig klingen.
Er verkroch sich auf die Couch und zog sich die Decke über die Nase. Er wusste, dass er seiner Geliebten sehr wehgetan hatte und er hörte sie wenig später in seinem Schlafzimmer tatsächlich schluchzen.
„Es tut mir Leid! So Leid!“, flüsterte er, so dass sie es unmöglich hören konnte.
Der nächste Morgen kam und wie Neriel aufstand, schlief Sharon noch tief und fest. Sie war irgendwann schließlich eingeschlafen, nachdem sie mindestens eine Stunde geweint hatte. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen sich zu ihr auf das Bett zu setzen, ihr über das Gesicht zu streicheln und ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn zu hauchen. In der Hoffnung, dass sie nicht aufwachte. Es würde sie völlig irritieren und er wollte sie an diesem frühen Tag nicht noch einmal verletzen. Das musste er später tun, wenn er ihr erklärte, dass er sich von ihr trennte und sie nach Hause schickte.
Er kam im Tonstudio an und war in sehr schlechter Gemütsverfassung, so wie sonst noch nie und das merkten seine Freunde auch.
„Streit im Paradies?“, fragte Dexter.
„Was?“
„Hast du Streit mit Sharon?“
„Ist doch egal.“
„Nicht, wenn du deine schlechte Laune an uns auslässt. Da hab ich nämlich keinen Bock drauf.“ „Tut mir Leid!“
„Was ist denn passiert?“, wollte nun Mike wissen. „Ich kann nicht darüber reden, aber … ich werde mich von Sharon trennen!“
„WAS? NICHT DEIN ERNST?“, sagten sie synchron. „Sie ist doch deine Traumfrau!“, fügte der Drummer an. „Ist sie auch!“
„Ja aber … hä?“ Dex zuckte verständnislos mit den Schultern, er war hoffnungslos verwirrt.
„Wieso bitteschön?“
„Weil es das Beste ist.“
„Mal was ganz Neues … entweder man hat ne Neue oder man geht sich auf den Geist … aber eine Trennung, weil es das Beste ist? Klingt nach einem Kitsch-Roman.“ „Sei nicht unfair, Dex.“
„Hey, du liebst die Kleine und trotzdem schickst du sie in die Wüste.“
Sie diskutierten noch eine ganze Weile darüber, ehe sie sich ihren Pflichten widmeten. Neriel musste sich eine Menge Vorwürfe anhören, ließ sich aber weder beirren noch dazu hinreißen, den wahren Grund zu verraten, weshalb er so handelte. Sharon rief mehrere Male auf seinem Handy an, doch er ignorierte ihre Anrufe jedes Mal und drückte sie sogar weg, was für noch mehr Unverständnis unter seinen Bandkollegen sorgte. Mike, der sehr einfühlsam war, entschloss sich dazu, die Hexe zu trösten und zu unterstützen, wenn der Engel ihr Herz später brach. Es war ihm dabei egal, wie dieser das fand. Neriel war ihm dafür sogar dankbar, was Mike zeigte, dass sein himmlischer Freund noch sehr viel für die junge Frau empfand und er konnte noch weniger nachvollziehen, was er vorhatte.
Die Hexe ahnte noch nicht, was ihr bevorstand, obwohl sie schon vage Befürchtungen hegte, wie sie ihn nicht erreichte und sie merkte, dass eindeutig etwas nicht stimmte. Sie fragte sich die ganze Zeit, was nur mit ihrem Freund los war und aus welchen Gründen er sich so verhielt. Es musste etwas mit seinen Träumen zu tun haben, da war sie sich beinahe sicher. Sie ging nach dem Frühstück in die Innenstadt und kam auch an dem Laden vorbei, der einst Tyler Sheridan gehört hatte und aus dem jetzt eine kleine Modeboutique geworden war. Sie schaute nicht hinein und ihr Weg führte sie bis zu dem Friedhof, wo ihre Hexenkollegin begraben war. Dort legte sie einen Blumenstrauß ab und entzündete eine Kerze, dann verabschiedete sie sich für immer von Tyler.
Sie verließ gerade den Friedhof wieder, da klingelte ihr Telefon und aufgeregt kramte sie danach. Irgendwie hoffte sie, dass es Neriel war, allerdings war es jemand völlig anderes. „Hey du Nuss!“, tönte es fröhlich.
„Hi Nyree …“, flüsterte sie.
„Ist … alles in Ordnung?“
Nun sank die Hexe an dem Zaun herunter und berichtete ihrer besten Freundin kurz, weshalb sie so niedergeschlagen war und von dem seltsamen Verhalten des Engels.
„Der kriegt sich schon wieder ein. Warte es ab, wenn er nachher kommt, ist alles wieder wie immer.“
„Bist du sicher?“
„Du bist eine Pessimistin.“
„Eher Realistin.“
Nyree versuchte ihre Mitbewohnerin so gut sie konnte aufzuheitern, indem sie ihr von ihrem Alltag erzählte und von ihrer merkwürdigen Beziehung zu Patrick. Die Blondine hatte inzwischen das Museum gewechselt und leitete nun das rein ägyptische Museum auf der Museumsinsel Berlins. Außerdem kam es nun immer öfters vor, dass der Vampir den Tageslicht-Zauber der Hexen in Anspruch nahm, weil er einige Dinge tagsüber erleben wollte und so war er mindestens einmal die Woche auch im Sonnenlicht unterwegs. Dabei hatte er versprechen müssen, dass er wenigstens in dieser Zeit nicht auf die Jagd nach Menschenblut ging.
„Liegt bei euch Schnee?“, fragte Nyree schließlich. Sharon betrachtete den Himmel und zählte die Schneeflocken auf ihren schwarzen Haaren.
„Ja und wie … du kommst hier mit einem Schlitten besser voran als mit einem Auto oder sonst was. Wie ist es bei uns?“ „Regen … immer nur Regen …“, seufzte sie. „Kein weißes Weihnachten.“
„Fährst du Weihnachten zu deinen Eltern?“
„Ja und ich will ihnen Patrick vorstellen. Drück die Daumen, dass sie ihn mögen und mein alter Herr ihm nicht einen Pfahl ins Herz rammt.“
„Nachdem, was du so erzählt hast … brauchst du mehr als meine Daumen.“
„Ich bin froh, dass Patrick schon tot ist oder … untot.“ Sie wechselte ungeschickt das Thema und wollte nun wissen. „Gibt’s was neues von deinem Vater?“
„Nein.“ Noch ein Thema, was sie unglücklich machte. „Wahrscheinlich hat meine Mutter Recht, er ist tot.“ „Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf.“ „Wir schon.“ Sie seufzte. „Ich sollte weg vom Friedhof, das macht mich so depressiv.“
„Was machst du denn auf einem Friedhof? Du gräbst doch hoffentlich nicht eine Leiche aus?“
„Nein, ich hab nur Tyler besucht.“
„Achso.“
Sie lief durch den Schnee und schlug den Weg in die Innenstadt wieder ein, währenddessen überlegte sie, was sie nun mit ihrer freien Zeit anstellen konnte. Sie blickte auf die Uhr und bemerkte, dass es fast Mittag war.
Sie könnte ihren Freund besuchen, hatte aber das starke Gefühl, dass er sie nicht sehen wollte und ließ es daher.
Der Engel saß in einer Pause sehr einsam in einer Ecke und starrte auf das Foto von Sharon. Er haderte mit sich und überlegte hin und her, ob er ihnen beiden wirklich das antun konnte, was er in der Nacht so resigniert entschieden hatte. Mike und Dexter hatten auf ihn eingeredet, ihn versucht zu überzeugen lieber mit Sharon zu reden, die Beziehung zu retten anstatt sie zu beenden, was er ohnehin nicht wollte. Immer wieder fuhr er sich durch sein Haar und blickte hilfesuchend in den Himmel, als könnte Gott oder einer seiner Brüder ihm eine Antwort liefern, was er tun sollte. Er wusste nur eines: er konnte und durfte auf keinen Fall auf Liliths Forderung eingehen und sich gegen seine Familie stellen, weil es gleichbedeutend mit dem Ende der Menschheit einherging. Zumindest glaubte er das, denn wenn der Himmel fiel, fiel auch die Welt der Menschen. Aber wenn er nicht auf die Forderung der Dämonin einstieg, starb Sharon und das wollte er genauso wenig. Ganz gleich wie er sich entschied, es war schlecht und er verlor. Deswegen war es das Beste für Sharon, wenn sie getrennte Wege gingen. Nur für seine Bandkollegen musste er sich etwas einfallen lassen. Sie waren ebenfalls in Gefahr und ihm blieb beinahe nur, die Rockgruppe zu verlassen. Er stellte bei seinen Gedanken fest, dass er entweder auf die andere Seite überwechselte oder sein eigenes Leben auf der Erde zerstörte. Neriel glaubte, dass er völlig allein mit diesem Problem war. Letztlich stand seine Entscheidung unumstritten fest: er würde sich von Sharon Winchester trennen, um sie vor Lilith zu schützen und davon würde er sich nicht mehr abbringen lassen. „Hey Alter, bist soweit?“, holte ihn Dex in die Realität zurück, er stand in der Tür. „Wofür?“
„Fotoshooting.“
„In Ordnung.“
Sie gingen zusammen aus dem Tonstudio, wo sie nicht nur geprobt hatten, sondern auch wieder einmal Autogrammkarten unterschrieben hatten, zu dem wartenden Taxi. „Kommst du nachher mit?“, sprach der Engel seinen Freund Mike an.
„Du ziehst es also durch?“
„Ja.“
„In Ordnung, obwohl ich immer noch finde, dass du einen riesigen Fehler begehst.“
„Das ist meine Sache.“
„Das stimmt.“
Sie beendeten ihren Tag und Mike fuhr mit seinem Kumpel zu seiner Wohnung, wo Sharon hoffentlich wartete. Neriel brauchte eine ganze Weile, ehe er aussteigen konnte und er blickte auf den Boden.
„Ich sehe doch, dass dir dieser Schritt schwerfällt. Warum tust du es dann?“, hakte er nach.
„Du verstehst das nicht, es ist das Beste so!“ „Dann hilf mir es doch zu verstehen.“
„Wenn ich mit ihr zusammenbleibe, wird sie sterben!“ „Schon wieder?“
Er nickte nur, weitere Auskünfte wollte er nicht geben und nun stieg er mit schweren Herzen aus.
„Sei so rücksichtsvoll wie du nur kannst, okay? … Wenn du ihr schon das Herz brechen musst …“ Es passte ihm nicht, aber was sollte er tun?
Mike konnte nichts mehr ausrichten.
Die beiden Sänger standen vor der Tür und der Engel schloss sie vorsichtig auf, blickte sich suchend um und legte sich innerlich seine Worte zurecht, die er ihr gleich sagen wollte. Er hatte es die ganze Zeit nicht über sich gebracht. Sie hörten die Hexe im Wohnzimmer, der Fernseher lief leise und Neriel konnte seine Liebste atmen hören.
„Sharon?“, rief Mike.
Sie liefen in den Raum und setzten sich gemeinsam auf die Couch. Sie sahen in das Gesicht der jungen Frau und sie hatte große Augen.
„Hi“, flüsterte sie ängstlich.
Sie spürte ganz offensichtlich die gedrückte Stimmung der Männer.
„Hey.“ „Hallo.“ Neriels Hals kratzte extrem. „Ich muss mit dir reden!“, sagte er und der Kloß in seinem Hals, der Riss in seinem Herzen wurden immer größer. Sie nickte und faltete ihre Hände. Er fand, dass sie wunderschön aussah. Neriel musste sich ziemlich unter Kontrolle halten, sie nicht in seine Arme zu schließen und ihre Lippen mit seinen zu berühren. Innerlich schüttelte er sich.
„Ich will, dass du diese Wohnung und Amerika verlässt! Ich will dich nie wiedersehen!“, brachte er nur mühevoll hervor. „Was? Ist das dein Ernst?“, fragte sie ungläubig.
„Ja, du kannst nicht mehr bei mir bleiben und es ist besser, wenn du mich aus deinem Leben streichst … für immer!“ Sie sprang auf und ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie hielt sie so gut sie konnte zurück.
„Du machst Schluss mit mir?“
Er sah sie an und am liebsten wollte er sich die Kehle durchschneiden für diese Ungeheuerlichkeit, die er ihnen zumutete.
„Genau das!“
„Und hast du mal einen Gedanken daran verschwendet, ob es nicht eine Chance gibt, diese Beziehung zu retten?“ „Es gibt nichts zu retten.“ Es war die reine Wahrheit. „Und das hast du einfach so beschlossen … ohne mit mir zu reden? Weshalb sagst du mir nicht, was dich an mir stört? Dann kann ich es ändern!“ Die erste Träne lief an ihrer Wange entlang. „Du kannst nichts ändern, gar nichts und du kannst auch nichts tun, um mich umzustimmen. Bitte geh jetzt! Mike bringt dich sofort zum Flughafen, wenn du willst oder du verbringst diese Nacht in einem Hotel und du nimmst morgen ein Flugzeug. Das ist mir egal.“ Er flüsterte nur noch.
„Du willst, dass ich gehe? Dann sag mir ins Gesicht, dass du mich nicht mehr liebst! Wenn du das tust, bin ich für immer aus deiner Welt verschwunden.“
„Wir sollten es dabei belassen.“
„Vergiss es! Sag mir ins Gesicht, dass du mich nicht mehr liebst!“ Sie fasste ihn an den Schultern.
„Das kann ich nicht.“
„Du liebst mich also noch … ich wusste es!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie besser an seinen Mund herankam. Sie gab ihm einen Abschiedskuss, der nach reiner Verzweiflung schmeckte und Neriel konnte sich nicht dagegen wehren, er wollte es auch gar nicht. Dafür fühlte es sich trotz allem viel zu herrlich an.
„Falls du es dir anders überlegst … ich warte nicht ewig auf dich, aber ich werde warten. Denn ich weiß, dass du das hier nur tust, weil du mich vor irgendetwas schützen willst. Ich weiß es, ich kenne dich“, wisperte sie an sein Ohr. Dann holte sie ihre Sachen, packte sie schnell zusammen und ging zusammen mit Mike aus der Wohnung des Engels. Als sie verschwunden waren und er sie weder hören noch sehen konnte, sank er zu Boden und schlug die Fäuste auf den Teppich. Er verfluchte Lilith, er verfluchte die Engel und er verfluchte Sharon, weil sie großartig, geradezu fantastisch reagierte. Sie akzeptierte es und sie ermöglichte ihm sogar noch zu ihr zurückzukehren. Sie ließ eine Tür offen, die er ihr und sich selbst zugeschlagen hatte. Aber wenigstens konnte er Lilith nun guten Gewissens und leichteren Herzens erklären, dass sie bleiben konnte, wo sprichwörtlich der Pfeffer wuchs und dass er niemals ihre Forderung erfüllen würde.
Sharon saß im Auto des Sängers und erst jetzt liefen ihr die Tränen in Strömen über die Wange. Sie konnte sie nicht mehr länger unter Kontrolle halten und Mike legte mitfühlend eine Hand auf ihren Arm.
„Es tut mir Leid, ich hab wirklich getan, was ich konnte um es ihm auszureden“, sagte er und startete den Motor. „Wenn du willst, ich hab eine ausziehbare Couch im Wohnzimmer oder das Angebot mit dem Hotel steht auch noch, wenn du heute nicht mehr fliegen willst.“
„Nein … nein … kannst du mich zum Flughafen bringen? Ich will nur nach Hause!“
„Klar, verstehe ich!“
Sie brauchten etwa eine Stunde bis zum Airport und die Hexe hatte großes Glück. Sie erwischte einen Flug, der in nicht mal zwei Stunden ging. Solange wollte sie allein sein und über alles nachdenken, deswegen schickte sie Mike sofort weg. Sie dachte an ihre letzten Worte an ihn und musste zugeben, dass sie zwar nicht gelogen hatte, aber nicht sicher war ob er sich wirklich von ihr getrennt hatte, weil er sie schützen wollte. Was, wenn es nicht so war? Wahrscheinlich hatte er wirklich die Nase voll von ihr oder er hatte eine andere Frau kennengelernt, womöglich einen weiblichen Engel. Sie schüttelte sich, er hatte ihr nicht ins Gesicht sagen können, dass er nicht länger Gefühle für sie empfand. Also musste das genaue Gegenteil der Fall sein und sie irrte sich nicht. Er wollte sie nicht in Gefahr bringen. Sie fragte sich nur, welche Gefahr das war. Ein weiterer Engel, der auf die Jagd nach ihr ging? Ein Dämon? Oder etwas ganz Anderes? Sie wusste nur, dass sie ihn nun in Ruhe lassen musste und nur darauf hoffen konnte, dass er es sich entweder anders überlegte und mit ihr sprach. Oder dass er das, was sie gefährdete eliminierte und danach zu ihr zurückkehrte. Immer noch mit Tränen in den Augen, stieg sie in das Flugzeug und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Nyree wusste noch nicht Bescheid, war aber darüber informiert worden, dass sie bereits am nächsten Vormittag zurückkehrte und sammelte sie deswegen am Flughafen ein. Natürlich erkundigte sich verwundert darüber und wollte sofort wissen, was los war. „Er hat Schluss gemacht“, erklärte sie nur zögerlich. „Was? Wieso?“
„Das weiß ich nicht, zumindest nicht genau.“ „Wie meinst du das? … Nein warte, wir reden bei einem schönen, heißen Kaffee darüber und du erzählst mir alles ganz genau! Dann kriegst du von mir das Liebeskummer-Spezial und ich besorge dir einen neuen Typen. Was hältst du von einem Geist? Oder einem Werwolf? Da hast du bei Vollmond immer deine Ruhe und du hast einen Hund, der weder Hundesteuer kostet noch mit dem du Gassi gehen musst.“ „Ja zu den ersten beiden Sachen und nein zu dem letzten … ich hab erst mal die Nase voll, außerdem … bitte schlag mich nicht aber: ich will auf ihn warten! Ich glaube fest daran, dass er zu mir zurückkommt!“ Sie musste es, sonst würde sie wahnsinnig werden.
„Wow, von der Pessimistin und Realistin zur wahren Romantikerin. Wie hast du das geschafft?“ Sie hakte sich bei ihr ein und ihre blonde Mähne wackelte fröhlich. Sie antwortete nicht darauf, war jedoch froh, dass Nyree versuchte sie aufzumuntern. Nyree schob sie in ihr Auto und deutete nach hinten.
„Wir fahren jetzt in den nächsten Supermarkt und füllen den gesamten Kofferraum mit Taschentüchern.“ „Glaubst du nicht, dass das etwas überfürsorglich ist?“ „Nicht, wenn wir einen Marathon an Herzschmerz-Filmen anschauen!“
„Nein, bitte quäl mich nicht mit Titanic oder ähnlichen Schnulzen. Bitte!“
„Willst du lieber The Ring oder The Grudge sehen?“ Sie lenkte in eine Seitenstraße. „Na wenn dich das aufmuntert …“ Sie zuckte mit den Schultern.
Nyree blickte ihre Freundin an, die verdächtig schniefte. „Was ist?“
„Ich versteh das alles nicht, er hätte doch mit mir reden können und er fehlt mir so schrecklich! Wenn es jetzt schon so schlimm ist … ich dreh bestimmt nach einer Woche durch!“, heulte sie und kramte in ihrem Rucksack nach einem Taschentuch. „Weshalb hat er sich nun getrennt?“
„Er hat es nicht gesagt, es war nur so seltsam alles.“ „Wie meinst du das?“, wiederholte sie ihre Frage. „Er hatte letzte Nacht einen Traum … er ist hochgeschreckt.“
„Was hat er denn geträumt?“ „Keine Ahnung. Er wollte es nicht verraten, aber er ist total aggressiv geworden und hat in Windeseile die Wohnung verlassen, so als wollte er flüchten.“
„Du meinst also, die Trennung hat etwas mit dem Traum zu tun?“ „Könnte sein. Vielleicht haben Engel Vorhersehungen und können in die Zukunft blicken, möglicherweise …“ „… hat er deinen Tod vorhergesehen. Klingt logisch.“ Sie waren daheim angekommen.
„Er wollte dich also wahrscheinlich nur schützen, es ist nur die Frage wovor?“ Sie stieg aus. „Das kriegen wir raus und dann reden wir mit ihm“, sagte sie unternehmungslustig. „Gute Idee!“ Sharon konnte ein wenig lächeln. In der Küche brühte Nyree den beiden erst einmal einen Kaffee auf und sie überlegte, wie sie am besten vorgehen konnten. Sie dachte anfangs an einen Beschwörungszauber, dass sie das Wesen herbei riefen, dass Sharon an ihr Leben wollte. Sie verwarf es allerdings wieder, es war zu gefährlich für die Hexe.
Am anderen Ende des Atlantiks saß Neriel immer noch in seiner Wohnung und er war mittlerweile betrunken. Früher hatte er nie sehr viel Alkohol angerührt und es brauchte nur wenig, dass diese Flüssigkeit ihn umhaute. Er hatte eine Flasche Wein und eine Flasche Wodka geleert, das reichte um ihn beinahe bewegungsunfähig zu machen. Mike war, nachdem er Sharon am Flughafen abgesetzt hatte, nicht noch einmal in die Wohnung seines Freundes gefahren. Er fand, selbst wenn es schadenfroh war, dass er sich seinen unnötigen Liebeskummer und seinen Frust selbst zuzuschreiben hatte. Er sollte ruhig ein bisschen leiden, vielleicht erkannte er dann, dass er einen ziemlich dummen Fehler begangen hatte und korrigierte ihn. Wenn der Sänger gewusst hätte, wie nahe Neriel tatsächlich dran war, alles rückgängig zu machen.
