Angriff auf die Freiheit - Ilija Trojanow - E-Book

Angriff auf die Freiheit E-Book

Ilija Trojanow

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Beschreibung

Niemals würden Sie es anderen Menschen erlauben, in Ihren privaten Sachen zu schnüffeln, Sie zu bespitzeln oder zu belauschen. Was aber, wenn diese anderen Menschen den Staat oder die Wirtschaft repräsentieren? Ist Ihnen die totale Überwachung dann egal? Die Warnungen vor Terror und Kriminalität und die Annehmlichkeiten von Plastikkarten und Freundschaften im Internet lenken von einer Gefahr ab, die uns allen droht: dem transparenten Menschen. Bevor es so weit kommt, schlagen Juli Zeh und Ilija Trojanow mit einer engagierten Kampfschrift Alarm. Ihr Buch wird viele Menschen aufrütteln, die sich zu lange in falscher Sicherheit wiegten - denn unsere Bürgerrechte stehen auf dem Spiel.

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Ilija Trojanow und Juli Zeh

Angriff auf die Freiheit

Sicherheitswahn, Überwachungsstaat

und der Abbau bürgerlicher Rechte

Carl Hanser Verlag

Juli Zeh und Ilija Trojanow bedanken sich herzlich bei Kristina Hansen für die hervorragende Recherchearbeit.

eBook ISBN: 978-3-446-23463-5

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2009

Satz: Filmsatz Schröter, München

www.ilija-trojanow.de

www.hanser-literaturverlage.de

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhaltsverzeichnis

7Das Ende der Freiheit

11Erstes Kapitel: Raus aus dem Topf

19Zweites Kapitel: Der lange Weg zum Grundrecht

Drittes Kapitel: Von jenen, die auszogen,

31das Fürchten zu lehren

45Viertes Kapitel: Sind Sie sicher?

53Fünftes Kapitel: Gesetze ohne Sinn und Verstand

65Sechstes Kapitel: Wer kann in die Zukunft sehen?

73Siebtes Kapitel: Warum lassen wir uns das gefallen?

81Achtes Kapitel: Angst sells

91Neuntes Kapitel: Denn Sie wissen nicht, was sie tun

107Zehntes Kapitel: Vernichtet den Feind

Elftes Kapitel: Wozu das alles? Oder:

119Videoaufnahmen bestätigen die Regel

131Epilog: Unfreie Aussichten

143Anmerkungen

Das Ende der Freiheit

Früh raus. Der Wecker klingelt. Es ist noch dunkel. Nicht gleich Licht machen, eine Minute auf dem Bettrand sitzen bleiben. Die Morgenluft einatmen. Das Fenster ist gekippt, die Tür zum Flur offen. In der Küche wartet die Espressomaschine. Wo sind die Hausschuhe? Sich strecken, aufstehen, das Licht anknipsen.

Sie ziehen den Vorhang am Küchenfenster zu, damit der Nachbar von gegenüber nicht hereinschauen kann, für alle Fälle, denn eigentlich schläft der an Wochentagen so lange wie Sie am Wochenende. Sie kochen sich einen doppelten Espresso, in ihrer großen Lieblingstasse, damit Platz bleibt für die Milch. Sie führen die Tasse zum Mund, sie pusten ein wenig, dann nehmen Sie einen Schluck. Jetzt kann der Tag beginnen. Sie setzen die Tasse auf dem Tisch ab. Am Rand haben Sie zwei wunderschöne Fingerabdrücke hinterlassen. So scharf konturiert und vollständig wie die in Ihrem Reisepaß. Oder die in den Datenbanken der U.S.Customs and Border Protection, seit Ihrem letzten Sommerurlaub in Florida. Beruflich sind Sie viel unterwegs? Dann kennt man das Muster auf der Kaffeetasse, die Sie gerade ins Arbeitszimmer tragen, auch in Schweden, Georgien und im Jemen.

Wie jeden Morgen rufen Sie Ihre privaten E-Mails ab. Die sind schon überprüft worden – nicht nur von Ihrem Virenscanner. Sie haben noch ein paar Minuten Zeit, bevor Sie zur Arbeit müssen, also rufen Sie die eine oder andere Webseite auf – die Kripo weiß, welche, wenn sie möchte, und kann das auch in sechs Monaten noch überprüfen. Sie nehmen schnell noch eine Überweisung vor, die Ihnen gerade eingefallen ist – die zuständigen Behörden wissen, an wen.

Zum Glück heißen Sie Müller, das schützt ein wenig. Bei Ihrem Kollegen Tarik al-Sultan, der neulich zum Bergsteigen in Kaschmir war, verschickt der Computer gerade den gesamten Inhalt der Festplatte an den Verfassungsschutz. Greifen Sie etwa gerade nach dem Telephon, um mit Tarik etwas Vertrauliches zu besprechen, das nicht ins Büro gehört? Lassen Sie es lieber sein. Besuchen Sie ihn zu Hause, wenn Sie ungestört reden wollen. Es sei denn, Tarik wurde als Gefährder eingestuft, weil er regelmäßig Geld an seinen arbeitslosen Cousin in Pakistan schickt. Dann ist seine Wohnung ohnehin verwanzt.

Sie eilen zur Haustür hinaus. Die Überwachungskamera Ihres Wohnkomplexes beobachtet jeden Ihrer Schritte. Auch beim Betreten der U-Bahn-Station werden Sie gefilmt, ebenso auf dem Bahnsteig und in der Einkaufspassage, wo Sie eine Zeitung kaufen. Haben Sie schon mal versucht, vor einer Überwachungskamera unschuldig zu wirken? Das ist noch schwieriger, als auf einem gestellten Photo natürlich zu lächeln. Warum wandert Ihr Blick ständig nach oben? Zweimal haben Sie direkt in die Kamera geschaut. Und jetzt greifen Sie sich schon wieder ins Haar. Wenn das noch einmal passiert, wird die biometrische Verhaltensanalyse den Alarm auslösen. Warum sind Sie so nervös? Laut Ihrer Patientenkarte bekommen Sie seit neuestem Beruhigungsmittel verschrieben. Und die Paybackkarte verzeichnet einen erhöhten Alkoholkonsum. Sie haben am Bankautomaten wieder 1000 Euro abgehoben. Wozu brauchen Sie so viel Bargeld? Außerdem ist Ihr Stromverbrauch im letzten Monat um 12,4 Prozent gestiegen. Verstecken Sie jemanden? In der Stadtbibliothek leihen Sie sich in letzter Zeit merkwürdige Bücher aus, über zivilen Ungehorsam und die Pariser Kommune. Reichen Ihnen die historischen Schmöker nicht? Und diese regelmäßigen Zahlungstransfers nach Südfrankreich? Wofür? Warum sind Sie letzte Nacht eigentlich so lange um den Block gelaufen? Sie hatten Ihr Handy nicht ausgeschaltet – da weiß man genau, wo Sie sind.

Nach der Arbeit steigen Sie ins Auto, um etwas Persönliches zu erledigen. Verzichten Sie auf die Verwendung Ihres Navigationssystems. Andernfalls läßt sich leicht herausfinden, wohin Sie fahren. Machen Sie einen Umweg, meiden Sie die Autobahn mit den ganzen Mautstationen. Sie fragen sich bestimmt schon, warum Ihnen so hartnäckig aufgelauert wird? Warum gerade Ihnen? Es gibt doch keinen Grund, aus dem sich irgend jemand für Sie interessieren könnte.

Sind Sie sicher?

Sind Sie absolut sicher?

Haben Sie nicht neulich gegen den G-8-Gipfel demonstriert? Dann verfügt die Polizei sogar über Ihre Geruchsprobe. Haben Sie nicht bis vor kurzem in jenem Studentenwohnheim gelebt, in dem auch ein gewisser Abu Mehsud untergekommen war? Das waren gar nicht Sie, das muß ein anderer Müller gewesen sein? Na, wenn man so heißt, liegt eine Verwechslung nahe, selber schuld. Und wie steht es mit Ihrer Lebensgefährtin, die kauft jede Menge Haarfärber, Fleckenlöser und Batterien. Das bedeutet: Wasserstoffperoxid, Azeton, Schwefelsäure! Halten Sie uns für blöd? Daraus kann jeder Idiot eine Bombe bauen. Natürlich behaupten Sie, Ihre Lebensgefährtin habe nicht vor, eine Bombe zu bauen. Das würde jeder antworten. Sollten Sie allerdings die Wahrheit sagen – wo liegt dann das Problem? Wir helfen Ihnen doch nur, diesen leidigen Verdacht aus der Welt zu schaffen, indem wir genau hinschauen. Das muß doch auch für Sie eine Erleichterung sein.

Kein Grund zur Beunruhigung also. Alles geschieht zu Ihrem Besten. Der Staat paßt auf Sie auf. Der Staat ist Ihr Vater und Ihr Beschützer. Er muß wissen, was seine Kinder treiben. Wenn Sie nichts Schlimmes verbergen, haben Sie auch nichts zu befürchten. Die Entscheidung aber, was schlimm ist, überlassen Sie bitte den Spezialisten. Bedenken Sie, daß Sie sich verdächtig machen, wenn Sie nicht alles offenlegen. Wenn Sie mitspielen, müssen Sie keine Angst haben. Wir sind nicht die Stasi oder das FBI. Sie leben in einer gesunden Demokratie. Da kann man schon ein bißchen Vertrauen von Ihnen erwarten.

Was? Der Staat soll Ihnen vertrauen? Wo kämen wir da hin! Schon das Grundgesetz sagt, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht. Und Gewalt gilt es einzudämmen. Da sind Sie ja wohl einer Meinung mit dem Innenministerium.

Gehen Sie nur, Ihr Schatten bleibt hier. Man hört, sieht und liest von Ihnen.

Achtung bitte, wir unterbrechen diesen Text für eine wichtige Durchsage: Dies ist keine Science-fiction. Wir wiederholen: Keine Science-fiction. Dies ist nicht 1984 in Ozeanien, sondern das Jahr 2009 in der Bundesrepublik. Falls Sie sich immer noch nicht verdächtig fühlen – herzlichen Glückwunsch. Sie sind ein unbeugsamer Optimist. Wollen wir hoffen, daß Sie nicht soeben durch den Kauf dieses Buchs zu einem verdächtigen Optimisten geworden sind.

Anmerkungen zu diesem Kapitel

Erstes Kapitel: Raus aus dem Topf

Nehmen wir einmal an, Sie, lieber Leser, sind im Westen der Republik geboren, irgendwann zwischen – sagen wir – 1950 und 1990. Sie wurden hineingeboren in eine Gesellschaft, die sich für freiheitlich und demokratisch hält. In der Schule haben Sie in allen Fächern außer in Mathematik das »Dritte Reich« durchgenommen, und wenn es überhaupt ein universelles Gesetz gab, dann lautete es: So etwas soll bei uns nie wieder geschehen. Nie wieder wollen wir Menschen zu Nummern machen. Nie wieder wollen wir per Kategorisierung zwischen wertvollen Bürgern und Feinden der Gesellschaft unterscheiden. Wir wollen keine Geheimpolizei, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Wir wollen nie vergessen, was es bedeutet, wenn Menschen zu Objekten totalitärer Machtausübung werden. Deshalb, so hat man es Ihnen beigebracht, müssen die demokratischen Freiheiten, die wir genießen, jetzt und für alle Zukunft vom kritischen Bewußtsein der Bürger geschützt werden. Jeder ist berufen, sich für Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen und das Grundgesetz nicht nur als geltendes Recht, sondern als Wertordnung zu begreifen. Diese Lektion, meinen Sie, wurde in unserem Land gründlich gelernt.

Sind Sie sicher?

Nehmen wir an, Sie, lieber Leser, sind im Osten Deutschlands geboren. In einem System, das sich ebenfalls freiheitlich und demokratisch nannte. Doch Sie haben staatliche Repressalien selbst erlebt. Sie haben sich gewünscht, in Ihrer Wohnung ein offenes Gespräch führen zu können, ohne die Musik bis zum Anschlag aufzudrehen. Sie haben davon geträumt, nicht an fahnenschwenkenden Manifestationen teilnehmen zu müssen.Sie hätten viel dafür gegeben, unabhängig von unfähigen Parteibonzen Karriere zu machen. Sie wollten nicht auf schwarzen Listen geführt werden, Sie hatten die Nase voll von einem Staat, der Sie als Feind behandelte und Politik als Krieg gegen den Bürger verstand. Sie träumten von einer Gesellschaft ohne Überwachung und Verdächtigung, von einem Miteinander ohne Bespitzelung und Verrat. Wahrscheinlich haben Sie besser als manch einer aus dem Westen begriffen, was mit freiheitlichen Werten gemeint ist. Vielleicht haben Sie sich auch »Nie wieder!« geschworen. Mit der Wende hat sich für Sie ein Traum erfüllt.

Sind Sie sicher?

Die Anschläge vom 11. September 2001 waren spektakulär in ihrer Scheußlichkeit. Sie versetzten manche Staaten in einen Schockzustand, der seitdem für immer weitere schockierende Folgen sorgt: Der Wertekanon, den man in Deutschland und erst recht in älteren Demokratien wie Großbritannien oder Frankreich für verfestigt gehalten hatte, erwies sich mit einemmal als flüchtig. Grundlegende Auffassungen von bürgerlicher Freiheit wurden wie Ballast über Bord geworfen. Ein Grundrechtsstandard, den wir als eine unserer größten Stärken betrachtet hatten, erschien plötzlich als Sicherheitslücke. Zivilisatorische Errungenschaften, die über Jahrhunderte erkämpft und erstritten worden sind, wurden im Handumdrehen entsorgt. Zur Bekämpfung der »terroristischen Bedrohung«, die seit langem bekannt, nur niemals zuvor so medial sichtbar gewesen war, ergingen grundrechtsbeschränkende Maßnahmen, deren Durchsetzung kurz zuvor niemand für möglich gehalten hätte.

In den ersten Jahren nach dem 11. September 2001 waren die Zeitungen voll mit Warnungen vor dem Terrorismus, doch es gab kaum eine nennenswerte öffentliche Debatte über die Erweiterung der staatlichen Machtbefugnisse. Noch in den Achtzigern hatte eine geplante Volkszählung in Deutschland Massenproteste ausgelöst, weil viele Menschen eine Aktualisierung der Meldedaten als unerträglichen Eingriff in ihre persönliche Freiheit empfanden. Zwei Jahrzehnte später protestierte so gut wie niemand dagegen, daß jeder Bürger dem Staat seine Fingerabdrücke überlassen soll, obwohl es dabei offensichtlich nicht um die Fälschungssicherheit von Pässen, sondern um die Errichtung einer europaweiten Datenbank geht.

Was ist passiert? Wirkt eine Verteidigung der individuellen Freiheit seit den schrecklichen Bildern aus New York wie kleinliches Beharren auf einer zu großzügigen Verfassung, wenn nicht gar als Angriff auf die staatliche Sicherheit? Sind prognostizierte Schreckensszenarien für die Massenmedien so viel interessanter und glaubhafter als die realen Einschränkungen unserer Grundrechte? So oder so liegt der traurige Verdacht nahe, daß es mit der Verinnerlichung freiheitlicher Ideale nie so weit her war, wie wir dachten. Die Erfolgsbilanz politischer Aufklärung nach dem Ende eines Jahrhunderts der Totalitarismen sieht trist aus.

Obwohl das Bundesverfassungsgericht in einmaliger Weise einem Gesetz nach dem anderen den grundrechtlichen Riegel vorschiebt und dadurch die kritische Auseinandersetzung mit dem demokratischen Selbstverständnis befördert, hat sich am Tempo der sicherheitspolitischen Entwicklungen nichts geändert. Während in den Schulen immer noch die Idee vom alten Rechtsstaat gelehrt wird, findet draußen der große Umbau statt. Dieser Vorgang umgibt sich mit einer Aura der Unvermeidlichkeit. Gutmütig wie eine Kuh schaut der Bürger den angeblich zwingend notwendigen Entwicklungen zu und käut die dazugehörigen Argumentationen wieder: Anders als durch Freiheitsbeschränkung sei »Sicherheit« nicht zu gewährleisten, und der »unschuldige Bürger« sei von den Veränderungen doch ohnehin nicht betroffen. Unaufgelöst bleibt ein grundlegendes Dilemma, das bei ruhigem Abwägen der Sachverhalte unweigerlich zutage tritt: Kann man ein Wertesystem verteidigen, indem man es abschafft?

Wer jetzt aufsteht und sagt: »Es reicht! Ihr schlagt etwas kaputt, das sich nicht mehr reparieren läßt!«, wer jetzt mit kindlicher Unschuld ausruft: »Der Innenminister ist nackt!«, der wird mundtot gemacht. Grundrechtsalarmist! Rechtsstaatshysteriker! Es sei doch lächerlich zu glauben, die paar Veränderungen der letzten Jahre gefährdeten schon die Demokratie! Manchmal wird sogar behauptet, jene Stimmen, die vor der Überwachungsgesellschaft warnen, seien von der typischen deutschen Krankheit der Staatsverächtung gezeichnet – was die letzten fünf Jahrhunderte deutscher Untertanengeschichte auf den Kopf stellt. Oder man wirft ihnen eine Art Wehrkraftzersetzung vor, weil sie die Fähigkeit des Staates schwächten, sich gegen den Terrorismus zu wehren. Ausgerechnet den Skeptikern des gesteigerten staatlichen Kontrollbedürfnisses wird ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber den Behörden unterstellt – dabei zeigen vielmehr die Forderungen der Behörden nach immer mehr Eingriffsmitteln ein tiefsitzendes Mißtrauen. Der Bürger soll auf die guten Absichten des Staates vertrauen, während der Staat den Bürger auf Schritt und Tritt überwacht. Wenn aber der Staat glaubt, sich gegen seine eigenen Bürger verteidigen zu müssen, ist manches in Schieflage geraten.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann eine Demokratie untergeht, wann ein Rechtsstaat zur leeren Hülle verkommt. Es gibt kein Maßband, keine Stoppuhr, keinen Lackmustest. Nirgendwo warnt ein Schild: »Vorsicht! Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor!«

Im historischen Rückblick mag es im jeweiligen Fall offensichtlich scheinen, ab welchem Punkt die Freiheit irreversibel beschädigt wurde – im Falle des Nationalsozialismus etwa durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Dann wird in die Vergangenheit hineingefragt: »Wie konntet ihr das drohende Unheil nicht erkennen? Das mußtet ihr doch kommen sehen! Warum habt ihr euch nicht gewehrt?« Und als Antwort hören wir nur das schwindelerregende Schweigen angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Laufs der Dinge.

Eine treffende Selbstdiagnose aus der Mitte des unmittelbaren Geschehens heraus ist ein Ding der Unmöglichkeit. Uns Zeitgenossen fehlt es am notwendigen Abstand; es fehlt schlicht an Kenntnissen über den zukünftigen Verlauf der Ereignisse. Die Folgen politischer Entwicklungen treten mal langsamer, mal schneller ein, stets aber aufeinander aufbauend, sich gegenseitig beeinflussend und daher vielschichtig.

Weil sich die Freiheit eben nicht mit einem Paukenschlag verabschiedet, krankt jedes gut funktionierende System daran, daß sich seine wohlmeinenden Anhänger in (falscher) Sicherheit wiegen. Sie vergessen, daß sie ihre Freiheit nicht etwa vom Staat erhalten, sondern daß sie, im Gegenteil, einen Teil ihrer Rechte an den Staat abgeben. Freiheit ist kein Geschenk der Obrigkeit, sondern ein Grundzustand der Natur oder eine Gabe Gottes, je nachdem, welche Schöpfungsgeschichte Sie bevorzugen. Freiheit ist kein Bonus, keine Prämie, kein dreizehntes Monatsgehalt. Sie geht unserem Staatsverständnis voraus.

Wären die Streiter für Gerechtigkeit und Freiheit so gut organisiert wie die Gegenkräfte, sähe die Menschheitsgeschichte anders aus. Wenn Millionen von Menschen auf die Straße gegangen wären, um ihre Grundrechte zu verteidigen, wäre es zu keinem der Überwachungs- und Kontrollgesetze der letzten Jahre gekommen. Es ist die Aufgabe eines jeden Bürgers, regelmäßig auszuloten, ob da, wo Freiheit draufsteht, tatsächlich noch Freiheit drin ist.

Wir können uns gegen alles wehren, was uns der Staat zumuten will. Das ist die Essenz freiheitlicher Gesellschaften. Alle Rechte, die wir heute – etwa im Umgang mit Gerichten, mit der Polizei und anderen Behörden – genießen, sind Folge von individueller Skepsis und gemeinschaftlichem Widerstand, seit Jahrhunderten. Sie wurden erfochten von Menschen, deren Namen wir auf Straßenschildern wiederfinden und an die wir, wenn überhaupt, in Sonntagsreden beiläufig erinnert werden. Diese Menschen haben für die Überwindung entrechteter Versklavung oft genug mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrem Glück gezahlt. Als Nutznießer dieser Opfer tragen wir eine Verpflichtung gegenüber dem Erkämpften. Wir dürfen uns nicht leichtfertig die Butter vom Brot nehmen lassen, nur weil sie ein Geschenk unserer Vorfahren ist. Das Erreichte stellt keine Konstante dar; das einmal Errungene kann schnell wieder verschwinden. Freiheit ist ein Wert, der von jeder Generation, von jedem Einzelnen neu erkämpft und verteidigt werden muß. Auch von uns.

Ein Frosch, der in einen Topf mit heißem Wasser geworfen wird, springt sofort wieder heraus, wenn er kann. Doch setzt man ihn in kaltes Wasser und erwärmt den Topf gleichmäßig, bleibt er ruhig sitzen, bis er stirbt.

Wir haben in unserer Geschichte genügend Frösche als warnende Beispiele vor Augen. Wenn wir uns jetzt nicht wehren, werden wir späteren Generationen nur schwer erklären können, warum wir nicht in der Lage waren, ihnen eine Freiheit zu vererben, die wir einst selbst genossen. Seit acht Jahren schauen wir wie gelähmt zu, was in und mit unserem Land passiert, während man uns einzureden versucht, die Lehren des 20. Jahrhunderts hätten im 21. Jahrhundert nichts mehr zu bedeuten. Raus aus dem Topf!

Anmerkungen zu diesem Kapitel

Zweites Kapitel: Der lange Weg zum Grundrecht

Während der längsten Zeit in unserer Geschichte war ein Großteil der Menschen zu Knechtschaft und Unterdrückung verdammt. Diesen Mißstand zumindest in manchen Regionen der Welt überwunden zu haben ist eine der größten Leistungen der Menschheit. Die Idee der universellen, unveräußerlichen und unteilbaren Rechte ist nicht nur eines der wertvollsten Geschenke früherer Generationen an uns, sondern eine wichtige Grundlage, um in Zukunft immer wieder für eine freiheitliche und gerechte Welt zu streiten.

Auch wenn Philosophen die Vorstellung von der natürlichen Freiheit des Einzelnen schon in der Antike formulierten, sind die Rechte des Einzelnen, ob Menschen-, Bürger- oder Grundrechte, nicht vom Himmel gefallen. Während die meisten Religionen der Überzeugung Ausdruck gaben, vor Gott seien alle Menschen gleich, waren die Unterschiede zu Lebzeiten um so größer: Als König oder Tagelöhner kam man zur Welt, ohne Chance, durch persönliche Anstrengung etwas an der eigenen Situation zu ändern.

In der christlich-römischen Antike war die Freiheit des Individuums kein Allgemeingut, sondern ein Privileg der Oberschichten. Der Freiheitsbegriff wurde philosophisch untersucht, ohne zum politischen Ideal erhoben zu werden. Einen ersten Schritt in Richtung eines politischen Grundrechts erfuhr die Freiheit im Glauben des Judentums, das mit dem Auszug aus Ägypten eine grundsätzliche Anerkennung der persönlichen Freiheit für jedes Mitglied des Volkes Israel verband. Das frühe Christentum hingegen verlagerte die Idee von Freiheit im wesentlichen in eine jenseitige Welt, während der Mensch auf Erden vor allem »innerlich« frei werden konnte von den Zwängen des Lebens.

Unter Nomaden und in Stammesgesellschaften gab es immer wieder herrschaftsfreie Gemeinschaften, in denen der Einzelne allen anderen gleichgestellt war und Entscheidungen im Verbund getroffen wurden. Nachdem sich aber Seßhaftigkeit und Agrarwirtschaft etablierten und staatliche Strukturen entstanden, konzentrierte sich die Macht in den Händen einiger weniger, die über das Recht selbst richteten, während die große Mehrheit der Bevölkerung entrechtet blieb. Quod licet Iovi, non licet bovi – was Jupiter darf, darf ein Rindvieh noch lange nicht, lautete die römische Maxime. Die Herrschenden konnten über Leben, Freiheit und Eigentum der Untertanen nach Belieben verfügen, sie mußten ihre Entscheidungen nicht rechtfertigen. Die Leidtragenden konnten weder Einspruch einlegen noch eine Rücknahme erwirken. Sklaverei, Fronarbeit, Zwangsdienst waren selbstverständlich. Selbst wer zum Hofstaat gehörte, also zu den Privilegierten zählte, war seines Lebens nicht sicher, wie die berühmten Beispiele von Petronius und Seneca, Thomas Morus und Walter Raleigh beweisen. Aus der generellen Unfreiheit resultierte eine tägliche existentielle Unsicherheit, die das Leben fast aller bestimmte.

Die sprachliche Wendung im Deutschen, daß Willkür »herrsche«, bringt die inhärente Gewalt solcher Machtverhältnisse auf den Punkt: Wo sich Herrschaft entfaltet, droht schrankenlose Willkür. Dieser Willkür einen Riegel vorzuschieben war das zentrale Anliegen einer Reihe fortschrittlicher Denker, von Aristoteles über Avicenna, Spinoza, Locke, de Montesquieu, Rousseau bis Kant. Die Aufklärung wollte den Menschen nicht nur aus seiner geistigen, sondern auch aus der staatlich erzwungenen Unmündigkeit herausführen. Parallel zu den Stürmen im Studierzimmer forderten unzählige revolutionäre Aufstände und Reformbemühungen (darunter die Bauernkriege, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 sowie die »Federalist Papers« von 1787/88, die Französische Revolution und die Revolutionen des Jahres 1848) immer wieder die Staatsgewalt heraus und banden sie schließlich an Prinzipien, die kurz zuvor unvorstellbar gewesen waren: an Grundrechte, an die Gewaltenteilung und an Legitimation durch demokratische Mitwirkung statt Gottesgnadentum.

Mit diesem kurzen Abriß wollen wir keinen Nachhilfeunterricht in Geschichte geben, sondern daran erinnern, daß unsere Grundrechte, die heute gemeinhin als eine Selbstverständlichkeit gelten, einen jahrhundertelangen Weg hinter sich haben. Vergangene Generationen haben für eine bessere Zukunft gekämpft. Wir sind diese bessere Zukunft und stehen in der Verantwortung, uns an die Ursprünge unserer Privilegien zu erinnern, um sich ihrer würdig zu erweisen. Daß dies in der heutigen Zeit bisweilen schlecht gelingt, zeigt sich in erschreckender Deutlichkeit am Beispiel des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung. Dieses Grundrecht hat eine besonders eindrucksvolle Genese.

Als im England des 13. Jahrhunderts wieder einmal der Adel gegen die Krone rebellierte, ging es wie so oft um Geld. Im Kampf gegen überhöhte Abgaben trotzten die Adligen dem englischen König Johann ein Dokument ab, das als »Magna Charta« von 1215 in die europäische Verfassungsgeschichte einging. Unter den 63 Artikeln der Charta liest sich besonders einer erstaunlich modern. In Artikel 39 heißt es: »Kein freier Mann soll verhaftet, gefangengesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden; noch werden wir ihm etwas zufügen oder ihn ins Gefängnis werfen lassen, es sei denn durch das gesetzliche Urteil von seinesgleichen oder durch das Landesgesetz.«

Die ungerechtfertigte Verhaftung demonstriert seit jeher am eindrücklichsten die Ohnmacht Einzelner gegenüber dem Staat. Noch rund vierhundert Jahre später mißbrauchte der englische König Karl I. seine sogenannten Habeas-corpus-Befugnisse (»Du sollst den Körper haben«), nämlich das Recht zur Ausstellung von Haftbefehlen, um von wohlhabenden Bürgern Geldzahlungen zu erpressen. Im Jahr 1679 erzielte der Kampf um die allmähliche Befreiung des Individuums in Großbritannien einen historischen Erfolg, nämlich durch den Erlaß des Habeas Corpus Amendment Act. Inhaftierte mußten nun binnen drei Tagen einem Richter vorgeführt werden und durften keinesfalls außer Landes gebracht werden.

Kein freier Mann sollte jemals wieder jenes Schicksal erleiden, das später literarisch Kafkas Josef K. widerfuhr, der eines Morgens verhaftet wurde, »ohne daß er etwas Böses getan hätte«. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich den Alptraum auszumalen, willkürlich aus seinem normalen Leben herausgerissen und ins Gefängnis geworfen zu werden. Dementsprechend hat der Schutz vor willkürlicher Verhaftung Eingang in die wichtigsten Menschenrechtsdokumente gefunden. Die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«, welche 1789 im Zuge der Französischen Revolution verkündet wurde, enthält ihn in Artikel 7. Einen Monat später machte die amerikanische »Bill of Rights« ihn zu einem einklagbaren Recht. Weitere zwei Jahrhunderte später sind moderne Rechtssysteme ohne den Schutz vor willkürlicher Verhaftung nicht mehr vorstellbar. Die Europäische Menschenrechtskonvention verankert dieses Recht in Artikel 5, das deutsche Grundgesetz in Artikel 104, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO in Artikel 9.