Annas Schlag - Henrich Dörmer - E-Book

Annas Schlag E-Book

Henrich Dörmer

4,7

Beschreibung

Unfall-Ermittler Cervinus hat es endlich geschafft: Er wird in die Mordkommission versetzt. Doch einen letzten Unfall soll er noch ermitteln: Ein Mann ist im Licher Stadtturm in den Tod gestürzt. Das tragische Ereignis schlägt hohe Wellen, befindet sich die oberhessische Kleinstadt doch mitten in den Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten des fünfhundertsten Reformationsfestes. Martin Luther soll im Jahr 1521 sogar in Lich übernachtet haben. Zudem wird Cervinus von der Psychologin Eva Kieling begleitet, die seine Tauglichkeit für die Mordkommission überprüfen soll. Spätestens als der Oberkommissar selbst einen vermeintlichen Unfall nur knapp überlebt, wird ihm klar, dass er tief in die Geheimnisse der Stadtgeschichte eindringen muss, um den Fall aufzuklären. Die Recherchen führen die Ermittler nach Kloster-Arnsburg, Bettenhausen, Allendorf an der Lumda und Nordeck.

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Für

meine Eltern

meinen Bruder

meine Kinder

und Katharina

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

Über die Handlung

Manisch Wörterbuch

Turm-Querschnitt

Stadtplan

Danke

Über den Autor

Prolog

12. April 1521

«Ein feste Burg haben die Licher ihrem Herrn hier gebaut!», sagte der Mönch zu seinem Gegenüber, als der Kammerwagen auf seinen schweren Holzrädern unter dem steinernen Torbogen hindurch ratterte. Aus sämtlichen Schießscharten des Torhauses über dem Stadttor lugten neugierige Augenpaare auf die Reisegesellschaft, die gerade eben die Pforte der oberhessischen Residenzstadt an der Wetter erreicht hatte. Die Schlange vor dem Obertor, die aus Pferden, Reitern, zu Fuß Reisenden, Ochsenkarren und dem sechsspännigen Kammerwagen bestand, wollte scheinbar kein Ende nehmen.

«… fünfundachtzig, sechsundachtzig, siebenundachtzig, achtundachtzig, neunundachtzig Pferde zähle ich! Hast Du schon einmal eine solch gewaltige Reisegesellschaft gesehen?», fragte der siebzehn Jahre junge, sommersprossige Soldat der Stadtwache seinen fast dreimal so alten Kameraden, dessen strähnig graue Haare unter seinem glänzenden Helm hervortraten .

«Nein, Junge, hier noch nie. In Friedberg hatte ich die Ehre, zweimal oder dreimal eine solche Gesellschaft in die Stadt hineinlassen zu dürfen, aber selbst dort in der Festung war ein solcher Anblick gar selten und nicht gewöhnlich.» Von unten drangen nervöse Anweisungen und schrille Rufe zu den Wachen herauf:

«Weiter, weiter, fahrt hindurch! Ihr da vorne, macht Platz für die Karren und Pferde … Ihr Bürger, seid doch vernünftig und folgsam und machet den Weg frei! Die einzelnen Pferde kommen nach vorne, der Kammerwagen hier herüber …!» Herman Gulden hatte alle Hände voll zu tun, die schier unüberschaubare Menge an Menschen, Pferden und Fahrzeugen zu sortieren und halbwegs geordnet durch die schmale Gasse hinter dem Obertor zu schleusen. Zudem hatte der immer noch empfindlich kalte Aprilregen, der über die ganze Nacht bis kurz vor Ankunft der Reisenden angedauert hatte und nur mühsam ein paar Sonnenstrahlen Platz machte, die nicht gepflasterten Straßen zu morastigen Tümpeln verwandelt. Die Pferdekarren bahnten sich nur mit Mühe den Weg durch den Matsch und die Menschentrauben, die auf beiden Seiten der Straße vor den kleinen und gedrungenen Fachwerkhäusern standen, um die eben angekommenen Gäste zu beäugen. Kämmerer Gulden lief zwischen den Reitern, Fußgängern und Karren umher. Seine feinen Lederschuhe waren bereits komplett aufgeweicht, obwohl er Holzpantinen unter den Sohlen trug. Sein Festgewand aus blauem und leuchtend gelbem Samt, das er sich zur Ehre der eingetroffenen Gäste für einen Gulden und drei Turnosen hatte schneidern lassen, hing regendurchtränkt und schwer an ihm herunter. Die ehemals weißen Kniestrümpfe waren mittlerweile vom Schlamm dunkelbraun eingefärbt. Der lange, samtene Mantel und das mit Brokat besetzte Wams waren über und über mit unansehnlichen Flecken besprenkelt.

«Herr Wertorff und Herr Buchseck, wenn Ihr Vogts Mathis die Ehre erweisen möchtet, bei ihm mit Euren sieben Pferden Quartier zu beziehen … Mathis, bitte begleitet Eure Gäste zu Eurem Hof!», stellte Gulden Gäste und Gastgeber einander vor. Der Kämmerer watete weiter durch den Schlamm zu den nächsten Reisenden.

«Seid gegrüßet, edle Herren, mit wem habe ich mit Euch die Ehre?» Die angesprochenen beiden Männer, jeweils in dunklen, wetterfesten Reiseumhängen gewandet, beantworteten die Frage prompt:

«Ich bin Conratt Rucker.»

«Und ich heiße Johannes Heckman. Wir reisen zusammen mit sechs Pferden und weiterem Gesinde.»

«Das ist vortrefflich!», die vor Anspannung und vom Regen gezeichnete Miene Guldens hellte sich augenblicklich auf.

«Ich fühle mich geehrt, Euch beide in meinem bescheidenen Haus aufnehmen zu dürfen, auch für Eure Pferde und Gefolge werden wir genügend Herberge bieten können», strahlte der fünfunddreißig Jährige und nahm zum Gruß seine völlig durchnässte Barett-Mütze vom Kopf. Herman Gulden erblickte auf dem Wehrgang zum Torhaus die beiden Wachmänner und rief zu ihnen hinauf:

«Eitel, Hannes, kommt herunter und geleitet die beiden Herren und deren Begleitung zu meinem Hause, ich werde nachfolgen, sobald wir die Gesellschaft zum glücklichen Ende versorgt und verteilt haben! Nun gut, wo war ich? Ach ja, ist ein Herr von Wildenfels zugegen …?»

«Hast du das gehört? Müssen wir uns nun schon von so einem Stifts-Kanoniker herumkommandieren lassen?!», fragte der rothaarige junge Wachmann Hannes. Er hatte den Satz noch nicht beendet, da hatte Eitel ihm schon eine so heftige Ohrfeige verpasst, dass seine Sommersprossen wie rote Sterne auf seiner linken Wange zu leuchten schienen.

«Was erlaubst du dir, Bursche?! Du weißt genau um die hohe Stellung Guldens bei unserer Herrschaft und dass sein Amte im Marienstift nur eines von vielen ist, das er inne hat. Wenn ein Befehl von Herman Gulden kommt, dann hat der denselben Wert, wie eine Anweisung direkt von unserem erlauchten Grafen Philipp! Merke er sich dies für immer!», polterte Eitel auf den einen Kopf kleineren Hannes herunter und verpasste ihm eine weitere Ohrfeige auf die andere Wange. Während die beiden den Wehrgang über die Treppe zum Stadttor hinunter verließen, fuhr Eitel mit der Belehrung des jungen Wachmannes fort.

«Was glaubst du wohl, wer der Baumeister der herrlichen und so vortrefflich konstruierten Häuser hier in der Oberstadt und an der Burg ist, die gerade im Entstehen sind?» Und leise raunte er Hannes zu, kurz bevor sie Herman Gulden und dessen Gäste erreichten:

«… und was glaubst du, von wem sich unsere durchlauchte Herrschaft das ganze Geld besorgt, um unseren stolzen, großen Wehrturm zu renovieren? Und zuvorderst Geld und baumeisterlich' Hilf' beim Bau der neuen Stiftskirch' ermöglicht, der schon so weit fortgeschritten ist?»

Sobald die beiden Wachen Conratt Rucker und Johannes Heckman erreicht hatten, begrüßten sie die beiden höflich. Neben den berittenen Reisenden herlaufend wiesen sie Guldens Gästen den Weg durch die Stadt. Währenddessen war der wieder damit beschäftigt, die auf seiner Liste vermerkten Mitglieder der Reisegesellschaft aufzurufen und dem vorgesehenen Quartier zuzuweisen.

«Herr von Schönburg und Herr von Lystneck, wenn Ihr unserem verehrten Bürger Georg Holle die Ehre erweisen wollt, seine Gäste zu sein, so werden auch Eure fünfzehn Pferde vortrefflich versorgt!» Er wies die Edelmänner auf einen großen hageren Mann mit grau meliertem, schütteren Haar und lebhaften Augen hin, der sich ihnen in diesem Moment näherte.

«Es ist mir eine wahrlich große Freude, Euch willkommen heißen zu dürfen. Wenn Ihr mir folgen wollt, wir haben es nicht weit. Der Weg zu unserem Hofe führt gleich hier an der Mühle linker Hand vorbei in Richtung Untertor!», erläuterte Holle und ging mit großen, schlaksigen Schritten voraus.

Die vor dem Karren eingespannten sechs Pferde schnaubten unruhig. Sie standen mittlerweile eine knappe Stunde im Schlamm direkt an der Stadtmauer und sehnten sich nach Wasser, Futter und nach dem Kutscher, der sie hoffentlich bald ausspannen würde.

«Gut, Ehr, Kind und Weib / Lass fahren dahin / Sie haben ´s kein Gewinn / Das Reich muß uns doch bleiben. Was haltet Ihr davon, mein lieber Kaspar?», fragte der Mann im Kammerwagen in der schlichten, aber wetterfesten Mönchskutte seinen ihm gegenüber sitzenden Begleiter, ließ die Feder in seiner Hand sinken und reichte ihm das Papier, das er gerade eben fertiggestellt hatte.

«Ihr wisst, dass ich mich mehr darauf verstehe, die mir Anvertrauten sicher und wohlbehalten durch Wald, Feld und Flur zu geleiten, als auf die Dichtkunst. Da seid Ihr, wie in so vielem, mir deutlich überlegen. Aber ich erkenn' die Kraft und Macht, die aus Euren Worten und Noten zu uns allen spricht – und uns berührt.»

«Mein treuer Herr Sturm, da sprecht Ihr Wahres aus. Musik ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so sie die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer und vernünftiger macht.»

«Wie wahr, wie wahr, mein lieber Doctor. Aber entschuldigt mich für einen Moment, ich will sehen, ob wir nun doch Geleit zu Eurem Quartier erhalten», erwiderte Kaspar Sturm und machte sich daran, aus dem Kammerwagen auszusteigen. Doch der Präsenzmeister Herman Gulden stand bereits vor der hölzernen Tür.

«Erspart Euch den Ausstieg an dieser Stelle, werte Herren! Wenn Ihr erlaubt, lasst mich lieber hinein zu Euch. So können wir gemeinsam und auf direktem Wege zum Pfarrhofe fahren. Es ist gewiss nicht weit», sagte der Kämmerer und stieg durch die schmale Luke in den hölzernen Kasten.

«Ihr teilt die Ansicht, dass der Aufschub das der Eile entgegengesetzte Laster sei? Wohlan, so lasst uns fahren», begrüßte der Gelehrte den einsteigenden Herman Gulden.

«Es ist mir wohl die allergrößte Ehr' zuteil, Euch hier in Lich Willkommen heißen zu dürfen, werter Herr», erwiderte der Kanoniker. Der Theologe lächelte ihm freundlich zu.

Kurz darauf setzte sich das Pferdegespann in Bewegung. Gulden, Kaspar Sturm und der Gelehrte lugten durch die kleinen Fenster des Kastenwagens. Die Kaltblüter bahnten sich ihren Weg durch die schmale Oberstadt, eine Straße, die zu dieser Zeit vorzugsweise von kleinen, spitzgiebeligen Häusern einfacher Fachwerk-Architektur geprägt war. Dazwischen lagen kleine Höfe, die ein wenig Raum für Hühner und Schweine boten. Die Fenster der höchstens zweistöckigen Häuser waren hier lediglich mit Stroh ausgekleidet, um Wind und Wetter so gut es ging fern zu halten. Schmiede, Weber, Sattler oder Bäcker gingen in überdachten, hölzernen Vorbauten, halb in den Fachwerkhäuschen, halb auf der Straße ihrem Handwerk nach. Der Sechsspänner war bald beim Rathaus angekommen, einem ebenfalls nicht besonders edlen Fachwerkbau mit einem kleinen Dachreiter. Hier lenkte der Kutscher das Gefährt nach rechts eine Anhöhe hinauf, wo nach nur wenigen Metern der eingerüstete Rohbau der Stiftskirche in das Blickfeld des Kammerwagens trat. Die Außenwände waren nach Beginn der Arbeiten im Jahr 1511 und dem Abriss des Vorgängerbaus bereits fertig gestellt. Zwar waren die rund zehn Meter hohen Bruchsteinmauern aus Basalt noch nicht verputzt. Auch fehlten noch die erst einige Jahre später hinzugefügten Strebepfeiler. Die Zimmerleute hatten allerdings schon im vergangenen Jahr das die Seitenschiffe überdeckende Dach fertig gestellt und die mächtige Hallen-Konstruktion durch einen Dachreiter mit seiner charakteristischen, achteckigen welschen Haube gekrönt. Der Kirchenbau war bis zum Dachfirst rund zwanzig Meter hoch, wobei die Dachfläche an den Seiten mit über zehn Metern genauso hoch erschien wie die steinernen Seitenwände. Allerdings war ein Kirchturm nicht zu erkennen. Dafür überragte der circa zweiunddreißig Meter hohe Stadtturm, in direkter Nachbarschaft nördlich gelegen und nur durch eine schmale Gasse von ihr getrennt, die Stiftskirche deutlich.

«Lasst mich Eure Gedanken erraten, mein hochverehrter Herr Doctor: Wo der Herrgott eine Kapelle errichtet, da baut der Teufel daneben eine …», schmunzelte Kaspar Sturm. Der Mann in dem Mönchsgewand sah versonnen durch die Öffnung der Kammer auf den Kirchenbau, schwieg einen Moment und sprach dann zu dem Licher Bürger, der ihm nun gemeinsam mit Sturm gegenüber saß:

«Euer edler Herr Graf Philipp zählt Euch zu seinen treuesten Untergebenen. Oder steht er nicht sogar in Eurer … Schuld, Herr Gulden?! Euer Name sei bei ihm sprichwörtlich Verpflichtung, höre ich.» Der Kanoniker Gulden lächelte verlegen.

«Nun, verehrter Herr, ich verdanke unserer Herrschaft so unendlich viel, ohne ihn wäre ich nichts!»

«Das glaub' ich Euch gern, in jeglicher Richtung. Doch hörte ich auch bereits, dass Ihr Euch als Kanoniker ungemein für die im ganzen Land wohl bekannte und hervorragende Stiftschule einsetzt, was mich sehr fröhlich stimmt. Immerhin habe ich mit den beiden Lyndenboltz-Brüdern zwei Licher Söhne aus Eurer Schule unter meinen fleißigen Studenten. Es ist wohl wahr: Wenn die Schulen zunehmen, da steht's wohl im Land.» Gulden lief rot an vor Stolz.

«Oh ja, Johannes und Konrad gereichen unserer Schule zur Ehr'. Gerade der junge Konrad ist mir schon früh mit seinem ungemeinen theologischen Talent ins Aug' gesprungen», antwortete er. Der Augustiner hob kurz darauf an, etwas zu erwidern, schwieg dann aber doch.

Das Gespann fuhr längs zu dem Kirchenschiff die schmale Gasse hinauf, bevor der Kutscher angesichts des darauf folgenden deutlichen Gefälles die Zügel wieder anzog.

«Durch diese Gasse noch, dann sind wir schon beim Pfarrhof angelangt. Und zwei Häuser weiter auch bei meiner Heimstatt», versicherte Gulden, mit dem eingerollten Pergament des Einquartierungsplans in der Hand nach draußen deutend. Nach nur wenigen Umdrehungen der Wagenräder kam der Kammerwagen vor dem Pfarrhof zum Stehen. Das Nachtquartier der eben angekommenen Reisenden war ein wesentlich erhabenerer Bau als die kleinen Häuser der Straßen direkt hinter dem Rödertor, dem dritten Zugang zur Stadt. Das Fachwerk dieses immerhin zehn Meter breiten und acht Meter tiefen Gebäudes waren in tiefem Rot gestrichen. Die Gefache strahlten in hellem Weiß. Das Erdgeschoss bestand aus Bruchstein und hielt die Wärme im Haus dadurch viel besser als einfaches Fachwerk. Das Erdgeschoss war an der der Straßenkreuzung zugewandten Ecke in einem 45-Grad-Winkel abgeschrägt. Zwei fein bemalte, freistehende Stützbalken trugen die mit großen Fenstern versehene Ecke des Obergeschosses darüber. Die sah so wie ein Erker aus und gewährte den Bewohnern einen guten Überblick auf die Braugasse und die Gasse, die zur gräflichen Burg führte. Die Fenster dieses Hauses, wie auch die der benachbarten Anwesen, die größtenteils von Edelmännern oder Beamten des gräflichen Hofes bewohnt wurden, bestanden aus Bleiglas.

Die drei Männer stiegen aus und Gulden gab den beiden Gästen die Hand, um sich zu verabschieden. Sein prächtiges Wohnhaus befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Pfarrhof.

«Ich wünsche Euch einen erholsamen Aufenthalt und eine geruhsame Nacht. Ihr brecht bereits morgen in der Frühe wieder gen Friedberg auf?», fragte er die Reisenden.

«So Gott will, ja, verehrter Gulden. Ihr habt Eure Sache sehr, sehr gut gemacht, ich danke Euch», entgegnete der Professor mit der Tonsur, die von dem durch die Reise noch mehr als üblich verwirbelten Haarschopf umkränzt wurde.

«Aber nicht doch, Ihr ehrt mit Eurer Anwesenheit Stadt und Herrschaft. Nun denn, habt eine behütete Nacht und eine gute Weiterreise, mein verehrter Doctor Luther!»

1. Kapitel

496 Jahre später

«Herrgottnochmal, warum habe ich denn hier schon wieder kein Netz?», dachte Sebastian Wildenfels und wischte nervös auf dem Display seines Mobiltelefons herum. Nach einigen Sekunden fiel ihm der Grund ein, worauf er das Nobel-Handy wieder in der Innentasche seines maßgeschneiderten Jacketts verschwinden ließ.

«Willkommen im vierzehnten Jahrhundert, meine Damen und Herren! Falls auch Sie ein Problem mit dem Mobilfunknetz haben, wundern Sie sich nicht, die Mauern, die uns umgeben, sind hier vier Meter dick!», sagte er zu der Gruppe, die sich in dem nur rund fünf Meter im Quadrat messenden Raum versammelt hatte.

«Falls Sie es noch nicht wissen, wir befinden uns hier im Turmverlies. Die Tür, durch die Sie gerade eben herein gekommen sind, wurde erst hundert Jahre nach der Erbauung des Wehrturmes im Jahre 1306 eingebaut. Davor gelangten die Bewohner dieser beliebten Herberge …», Wildenfels formte mit seinen Fingern Anführungszeichen,

«… also natürlich die Delinquenten nur durch die hier in der Decke noch sichtbare kleine Öffnung, das sogenannte Angstloch, in das Verlies. Ein kleiner Schubs, und schon war man hier unten angekommen!» Der städtische Beamte grinste schelmisch und deutete auf ein zugemauertes Loch in dem rund vier Meter sich über den Köpfen der Betrachter spannenden Gewölbe. Liane Wickler schaute wie die übrigen um sie herum zur Decke. Für einen Moment überkam die 64-Jährige ein fröstelnder Schauder. Sie strich sich eine Strähne ihrer glatten und schulterlangen weißlich-blonden Haare aus dem Gesicht. Der beleibte und fast einen Kopf kleinere Mann neben ihr legte einen seiner auffällig kurzen Arme um Liane Wicklers Hüften und schnarrte:

«Mein Gott, Wildenfels, wir sind hier doch keine Schüler auf Klassenfahrt, machen Sie mal hin!»

«Natürlich, Herr Lindenlaub, Sie haben völlig Recht», antwortete der Getadelte.

«Herr Professor Doktor, soviel Zeit muss sein!», entgegnete der wiederum. Sebastian Wildenfels rollte mit den Augen. Dabei achtete er darauf, dass der promovierte Hochschullehrer dies nicht sah.

«Natürlich, Herr Professor Doktor Lindenlaub. Wenn Sie mir also folgen wollen, dann gehen wir jetzt nach oben», sagte er mit einem leichten Seufzen und trat durch die nur einen Meter siebzig niedrige Tür zurück ins Freie. Die übrigen Teilnehmer der Besuchergruppe, neben Ulrich Lindenlaub und Liane Wickler zwei Männer und eine junge Frau, folgten ihm.

«Ulrich, mir ist das zu hoch, geh du allein. Clarissa begleitet dich sicherlich», sagte die schlanke und elegante Liane Wickler zu Lindenlaub. Der wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die Stirn. Sein schütteres rötliches Haupthaar glänzte feucht, in seinem Sechstagebart glitzerten feine Schweißperlen.

«Na gut. Ich hätte dich allerdings gerne dabei gehabt.»

«Ich weiß, aber wir sehen uns ja gleich wieder», antwortete sie und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

«Clarissa, komm, ich will hier keine Wurzeln schlagen!», rief Lindenlaub der jungen Frau zu, die sich gerade in den Schatten gestellt hatte, den die nahegelegene Marienstiftskirche auf den kleinen Platz zwischen Turm und Kirche warf. Es war ungewöhnlich heiß für September. Die Temperaturen hatten bereits um neun Uhr die fünfundzwanzig-Grad-Marke überschritten. Jetzt, um Zehn, konnten es durchaus schon dreißig sein. Ein milchiger Schleier überzog den Himmel, ein Wärme-Gewitter schien unausweichlich, zumindest in ein paar Stunden. Demgegenüber war es in dem dunklen und muffigen Turmverlies angenehm kühl gewesen.

Eine Windböe ergriff das knöchellange Sommerkleid von Clarissa Lindenlaub und wirbelte es um ihre sehr schmale Figur, während sie sich mit einem jungen Mann mit markanten Geheimratsecken und einem auffallend elegant geformten Mund unterhielt. Sie redete leise, aber bestimmt auf ihn ein und sah ihm dabei direkt in seine grünen Augen. Sebastian Wildenfels näherte sich den beiden und hielt ihnen zwei Bauhelme hin.

«Wenn ich auch Sie bitten dürfte, Safety first! Schließlich haben die Treppenstufen einige hundert Jahre hinter sich! Herr Hallenberg, Sie kennen das sicherlich schon zu Genüge …»

«Ja, natürlich. Du willst sicherlich den roten Helm, Liebling», sagte er leise zu der jungen Frau.

«Ach, Florian, du ahnst ja gar nicht, wie egal mir das ist», antwortete Clarissa lustlos.

«Meine Güte, haben wir die Modenschau beendet? Sind Sie deshalb mitgekommen, Hallenberg, damit Sie meiner Tochter auch noch eine Farb- und Stilberatung verpassen? Jetzt weiß ich auch, was Sie den ganzen Tag in Ihrem Amt machen», rief Ulrich Lindenlaub, der bereits seinen Helm aufgezogen hatte und auf der ersten Stufe des Turmaufgangs stand, zu Hallenberg herüber. Wildenfels schaute mit peinlich berührtem Blick zur Seite und beeilte sich, zu Professor Lindenlaub zurück zu gehen.

Vor der Steintreppe angelangt, die an der Außenseite des Turms zum ersten Obergeschoss hinauf führte, übergab Wildenfels einem weiteren Besichtigungsteilnehmer den Kopfschutz.

«Bitteschön, Herr Bach.»

«Danke verbindlichst, Herr Wildenfels», sagte ein Mann mit schmaler Gestalt in einem braunen Kord-Sakko, blauem Freizeithemd und Blue Jeans. Er setzte den Helm auf und las die Uhrzeit von seiner goldenen Armbanduhr ab.

«Dann sind wir komplett. Folgen Sie mir bitte, Frau Lindenlaub, die Herren …», sagte der Amtsleiter und stieg als Erster die überdachte Treppe hinauf bis zum eigentlichen Turmeingang. Auf dem Treppenabsatz und vor dem gotischen Türrahmen angekommen drehte er sich zu den Teilnehmern der Besichtigung um.

«Als der Turm 1306 als Teil der Befestigungsanlage errichtet wurde, führte der Wehrgang auf der Stadtmauer genau hier durch den Turm hindurch und weiter auf die gegenüberliegende Seite.»

«Zunächst war der Turm ja nur zweiunddreißig Meter hoch und umfasste lediglich fünf Geschosse. Der heute geschieferte und rund zwanzig Meter hohe Fachwerkaufbau kam erst ab 1537 in mehreren Abschnitten dazu, als man auch einen Glockenstuhl einbaute», ergänzte der jugendlich wirkende Florian Hallenberg.

«Ich bin beeindruckt, Hallenberg, schön auswendig gelernt!», keuchte Ulrich Lindenlaub und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. Der mit spöttischem Lob Bedachte presste die Lippen zusammen und schwieg. Clarissa strich ihm leicht und unauffällig über den Rücken. Der Eingang in das Turminnere führte durch die meterdicke Außenmauer. Als die Gruppe in der Mitte des Bauwerks angekommen war, räusperte sich Wildenfels und warf Lindenlaub einen unsicheren Blick zu.

«Nur zur Orientierung: Wir befinden uns jetzt genau oberhalb des Verlieses, hier können Sie im Boden das verschlossene Angstloch erkennen, durch das man die Gefangenen herunter ließ.» Wildenfels beeilte sich, dem genervten Blick Lindenlaubs zu entgehen und deutete auf die schmale Holztreppe an der Innenwand.

«Hier hinauf, bitte.» Hallenbergs Augen begannen zu leuchten.

«Das ist sie: die älteste komplett erhaltene Innentreppe Hessens, wirklich einzigartig!», freute er sich.

«Ich halte Ihren Plan, die Treppe komplett zu erhalten und mit einer neuen Konstruktion zu überbauen, wirklich für unterstützenswert. Architektonisch zwar herausfordernd, aber hinsichtlich der Erhaltung der Altsubstanz absolut alternativlos», fuhr Hallenberg fort.

«Architektonisch schwierig? Es ist unmöglich! Absolut unmöglich! Ich bin entsetzt, was Sie da von sich geben. Gerade Ihr macht Euch doch sonst bei solchen Planungen regelmäßig in die Hose! Wie wollen Sie denn ernsthaft den Altbestand überbauen, ohne in die Substanz einzugreifen? Absolut lächerlich», plärrte Lindenlaub hinter Hallenberg und Clarissa stehend und fuchtelte wild mit seinen kurzen, dicken Armen in der Luft herum. Vierzig Meter oberhalb seines Kopfes schlug der Hammer an der kleinsten der drei Glocken zum "Viertel nach zehn". Dennoch bahnte sich der Schall deutlich wahrnehmbar seinen Weg durch den Turmschaft.

«Mit Verlaub, lieber Herr Lindenlaub, das von der Stadt in Auftrag gegebene Gutachten unterstützt die Meinung des Landesamtes für Denkmalpflege, dessen Vertreter Herr Hallenberg nun mal ist.»

«Und wer ist der wichtigste Gutachter hinsichtlich des Gesamtprojektes,mein lieber Herr Wildenfels?», bohrte Lindenlaub nach.

«Natürlich Sie, Herr Professor Lindenlaub», bekannte der städtische Beamte kleinlaut.

«Ich habe eine Frage, Herr Wildenfels: Wenn die Treppe durch die neue Konstruktion überbaut wurde, wird dann der Turm für Besucher regulär geöffnet?», schaltete sich der bisher stille Teilhaber mit einem freundlichen und neugierigen Blick in die Diskussion ein.

«Das ist der grundsätzliche Plan, Herr Bach», antwortete der Beamte der Stadtverwaltung.

«Wir beabsichtigen, ein historisches Mitmach-Museum in der alten Türmerwohnung einzurichten, mit einem Raum, der als Klassen- oder auch Konferenzraum genutzt werden kann. Der gesamte Weg über die neue Treppenkonstruktion soll von unten bis ganz nach oben multimedial begleitet werden», geriet Wildenfels ins Schwärmen. Lindenlaub winkte ab.

«Absolut lächerlich …», raunte Lindenlaub und stapfte weiter in Richtung des Treppenfußes, der zum nächsten Geschoss hinauf führte.

Die Besuchergruppe folgte ihm und erklomm die nächste Treppe, die spiralförmig an den Innenwänden des Turmes entlangführte. Die Stufen zeigten tiefe Abnutzungsspuren, bei manchen waren bis zu fünf Zentimeter des Holzes durch die jahrhundertelange Benutzung abgeschliffen. Ulrich Lindenlaub blieb auf jeder der fünf ersten Ebenen kurz stehen und wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von seiner knollenförmigen Nase.

«Wunderbar! Herrlich! Von hier oben ist der Ausblick noch prächtiger, als ich es mir vorgestellt hatte. Bis zu dieser Etage, wo wir jetzt stehen, war der Turm doch bis zum Jahr 1405 zur Stadt hin offen, die komplette südliche Seite wurde erst danach zugemauert, nicht wahr?»

«Richtig, Herr Bach, Sie sind gut informiert», antwortete Wildenfels.

«Alles andere wäre meinen aufmerksamen Schülern auch schnell aufgefallen», scherzte der für seine vierundsechzig Jahre sehr durchtrainiert wirkenden Mann mit dem kantigen Kurzhaarschnitt.

Wenig später waren die drei Männer auf der fünften Etage angekommen. Auf dieser Ebene war in der Südwand ein fast mannshohes Fenster mit Blick auf die Altstadt eingebaut.

«Erstaunlich. Wir sind jetzt auf Höhe des Dachreiters der Kirche, aber über uns liegen immer noch rund zwanzig Meter Turm!»

«In der Tat, lieber Herr Bach. Es beeindruckt mich auch immer wieder aufs Neue. Dieses war das letzte Geschoss der ursprünglichen Turmhöhe von 1306. Darüber befand sich nur noch ein offener Wehrgang und in der Mitte eine kegelförmige, steinerne Spitze», erläuterte der Amtsleiter.

«Das heißt, als beispielsweise Luther auf seiner Reise zum Reichstag nach Worms 1521 hier in Lich Halt machte, gab es den Fachwerkaufbau von heute noch gar nicht …?»

«Richtig, die Balkenkonstruktion im Turmschaft stammt zwar bis zur alten Spitze aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aber ob der Glockenstuhl schon vor 1540 eingebaut wurde, ist umstritten. Wenn Sie herüber schauen zu dem kleinen Glockentürmchen auf der Marienstiftskirche, und dann gleich die riesigen Glocken hier oben bewundern werden, dann wissen Sie, warum eine größere Konstruktion notwendig war.» Mittlerweile hatten sich auch Clarissa Lindenlaub und Florian Hallenberg zu den beiden Männern gesellt. Clarissas Vater stand etwas abseits und blickte leer vor sich hin. Er atmete schwer. Dennoch sah er ungeduldig auf seine Armbanduhr.

«Können wir jetzt endlich weiter? Ich wollte zum Mittagessen gerne wieder unten sein!» Florian Hallenberg reichte es mittlerweile. Ruckartig drehte er sich zu dem Ingenieur um.

«Bei allem Respekt, Herr Lindenlaub, aber Sie sind nun wirklich der Letzte, der aufs Tempo drücken sollte!» Clarissa unterbrach ihn und hielt ihn mit einer Hand zurück.

«Flo, bitte, lass es gut sein … », flüsterte sie ihm ins Ohr, wobei der Glockenschlag zur halben Stunde aus dem direkt oberhalb befindlichen Geschoss ihre Stimme für alle anderen ohnehin unhörbar machte:

«Reiß dich zusammen, zumindest für einen Moment …» Professor Doktor Lindenlaub war währenddessen schon wieder auf dem Weg zum nächsten Stockwerk, der Etage mit dem Glockenstuhl. Seine linke Hand begann, leicht zu zittern. Bevor er die nächsten, immer weniger Vertrauen erweckenden Treppenstufen nahm, sah er sich suchend nach seiner Tochter um.

«Clarissa? Verdammt nochmal, Clarissa?!», rief er in Richtung der unteren Stockwerke. Zu seiner Verwunderung kam die Antwort jedoch von oben.

«Papa?! Wir sind hier!», hörte er seine Tochter über ihm rufen. Kurz darauf konnte er sie auf einer der nächsthöheren Ebene stehen sehen. Die Etagen waren in der Mitte des Turmes offen, sodass man fast ungehindert vom vierten Geschoss bis hoch in das Stockwerk mit dem Glockenstuhl sehen konnte, nur durch die quer durch den Turm verlaufenden Balken unterbrochen, auf denen die Treppenkonstruktion ruhte. Die schmalen Gänge entlang der Wände bestanden aus teilweise Jahrhunderte alten Bohlen.

«Ach, ich Narr. Natürlich …»

«Jetzt enttäuschen Sie mich aber, Herr Professor», schmunzelte Wildenfels, bereute die Bemerkung aber sofort.

«Ich hatte einen Moment lang nicht an die Wendeltreppe zwischen vierter Etage und ehemaligem Wehrgang innerhalb der nordöstlichen Außenmauer gedacht, Sie Schlauberger. So ein Kindergarten …», murmelte er und schleppte sich die nächste schmale und nur notdürftig abgesicherte Treppe empor. Dort angekommen stütze er sich auf dem Treppengeländer ab.

«Hey, Wildenfels, Sie hatten doch unten im Verlies solche Schoko-Türmchen, haben Sie auch ein paar hier oben?» Der städtische Beamte sah den Professor verständnislos an.

«Ich verstehe nicht ganz?!», gab er zu.

«Das ist nichts Neues, aber ist ja auch egal», keuchte Lindenlaub und sah sich angestrengt um. Inzwischen hatten sich auch Clarissa und Hallenberg zu dem Rest der Besuchergruppe gesellt.

«Wie auch immer, meine Dame und Herren, wir befinden uns nun vor dem Glockenstuhl. Die älteste der drei Glocken hier, sie heißt "Anna", stammt aus dem Jahr 1400 und hat einen Durchmesser von einem Meter achtunddreißig. Die Drittälteste namens "Maria" datiert auf das Jahr 1517, feiert also dieses Jahr ihren fünfhundertsten Geburtstag!», erläuterte der Direktor für Stadtmarketing und Touristik und deutete auf die Glocken, die in einem Balkengestell in der Turmmitte eingehängt waren.

«Sagten Sie nicht, dass der Glockenstuhl erst zwischen 1517 und 1540 eingebaut wurde? Wie kann es dann sein, dass eine Glocke aus dem Jahr 1400 hier zu finden ist?», fragte der Mann mit der Armeefrisur.

«Gute Frage, Herr Bach. Die Glocke "Anna" stammt aus dem Kloster Arnsburg und tat dort ihren Dienst, bis sie nach Lich gebracht wurde. Demgegenüber wurde "Maria", die Elf-Uhr-Glocke, die Sie in ein paar Minuten in voller Lautstärke hören werden, wohl anlässlich des Kirchenneubaus von einem gewissen Nikolaus von Lothringen 1517 direkt hier in Lich gegossen und gefertigt», antwortete Wildenfels.

Clarissa Lindenlaub lugte währenddessen durch eines der ovalen, mit Lamellen versehenen Schalllöcher und genoss die Aussicht.

«Herrlich, der Ausblick ist ja phantastisch. Sieh mal, Flo, man kann von hier aus bis nach Friedberg, zum Hoherodskopf und fast bis nach Marburg gucken, oder sicherlich zumindest dann, wenn die Gewitterwolken nicht wären und die Luft klar ist.» Wildenfels hatte sich mittlerweile zu Florian Hallenberg und der jungen Frau an seiner Seite gesellt und sah nachdenklich aus dem benachbarten Schallloch auf der anderen Seite des fast drei Meter hohen und breiten Zifferblatts der Turmuhr.

«Fänden Sie es nicht auch romantisch, hier getraut werden zu können? Wenn wir die Genehmigung zum Ausbau des Turms erhalten, werden wir Hessens höchstgelegenes Standesamt hier verwirklichen», sagte der Beamte und lächelte Clarissa dabei an.

«Das wäre wirklich einzigartig!», antwortete sie und drehte ihren Kopf zu dem jungen Mann an ihrer Seite.

«Ja, das wäre es wirklich», lächelte Hallenberg versonnen.

«Das, was ich bisher an Planungen gesehen habe, macht tatsächlich einen soliden Eindruck. Ich denke, Sie haben grundsätzlich meine Zustimmung und die meiner Behörde, wenn wir uns bei der Bewahrung und dem Schutz der historischen Treppe einig werden. Dass die Glockenaufhängung komplett erneuert werden muss, ist natürlich angesichts des gefährlich alten Tragwerks klar, allein schon aus Sicherheitsgründen», versicherte er dem städtischen Beamten und ließ ihn damit triumphierend strahlen.

«Da wäre nur noch ein klitzekleines Problem: Meine Zustimmung haben Sie weder erfragt, noch werden Sie sie jemals erhalten!», schnarrte Professor Lindenlaub zu den dreien herüber.

«Ja, aber warum denn nicht um Himmels Willen?», fragte Wildenfels. Die Freude in seinem Gesicht hatte sich in Sekundenbruchteilen in Bestürzung und Verzweiflung verwandelt.

«Weil Sie unmöglich den Glockenstuhl so umbauen können, dass hier eine dem modernen Brandschutz und der Fluchtwege-Verordnung entsprechende Wegführung zu der Etage hier und der alten Türmerwohnung darüber verwirklicht werden kann. Wo wollen Sie denn bitteschön die Anker für die neue Treppenkonstruktion setzen?» Auch Florian Hallenberg konnte sein Unverständnis und seine mittlerweile schier überschäumende Wut kaum noch im Zaum halten.

«Ja, aber wer ist denn hier der Bauingenieur? Dann müssen Sie sich halt einmal etwas einfallen lassen! Ich habe das Gefühl, dass Sie einfach keine Lösung finden wollen!»

«Tja, das ist das Problem mit Ihnen, Hallenberg. Sie haben einfach nicht mal einen Hauch an Wissen darüber, was geht und was nicht geht. Sie zeigen mir heute nur, dass ich mit meiner Bewertung Ihrer Examensarbeit Recht hatte. Clarissa, ich hoffe nur, dass du später einen Mann findest, der etwas mehr auf dem Kasten hat als so ein eindimensionaler Möchtegern-Ingenieur», antwortete Lindenlaub. Florian Hallenberg erhob daraufhin den Zeigefinger in Lindenlaubs Richtung. Clarissa umfasste Florians Hand und blickte ihren Vater scharf an.

«Papa, jetzt reicht's! Hör auf, hör bitte auf!» Der Lehrer mit der Bürstenfrisur stand auf der anderen Seite des Glockenstuhls und hatte die Diskussion stillschweigend mit angehört. Nur kurz schüttelte er, mit dem Gesichtsausdruck eines peinlich Berührten, den Kopf. Wortlos bewegte er sich in Richtung der schmalen Stiege, die eher einer Hühnerleiter ähnelte und hinauf zu der dort befindlichen ehemaligen Türmerwohnung führte.

«Okay, gut, ich schlage vor, dass wir uns jetzt erst einmal alle etwas beruhigen. Lassen Sie uns bitte zunächst die Begehung in Ruhe beenden», schlug Wildenfels vor, eher zu sich selbst als zu den anderen gewandt. Die kleinste der drei Glocken wurde von der Mechanik nur dreimal, aber direkt vor ihren Betrachtern, zum Viertel-Vor-Elf angeschlagen. Doch es reichte aus, dass Clarissa erschrak.

«Herr Professor, möchten Sie noch mitkommen, oder …?», fragte der städtische Beamte resigniert.

«Ich bleibe noch einen Moment hier, ich will mich einen kurzen Moment ausruhen, gehen Sie ruhig schon einmal hoch, ich komme nach», antwortete der mittlerweile sehr verschwitzte Lindenlaub müde.

«Wie Sie wünschen … Die anderen Herrschaften folgen mir bitte. Doch seien Sie bei dieser schmalen Leiter besonders vorsichtig, auch diese Stiege ist über dreihundert Jahre alt!» Hallenberg und Clarissa waren bereits durch das enge Treppenloch nach oben verschwunden, da drehte sich Wildenfels zu dem weiteren Besucher um.

«… Herr Bach, möchten wenigstens auch Sie sich die Türmerwohnung ansehen?»

«Ach, ja, natürlich, ich komme», antwortete er und folgte den anderen hinauf in das nächste Stockwerk..

Gelangweilt und lustlos erläuterte Wildenfels der dezimierten Besuchergruppe, was es zu den beiden höchsten Etagen zu erzählen gab. Er berichtete über den Umbau im siebzehnten Jahrhundert, demzufolge das Geschoss mit dem Glockenstuhl und darüber die Türmerwohnung mit der charakteristischen oktogonalen, geschieferten Dachkonstruktion und der abschließenden Haube gekrönt wurde. Die zweieinhalb Meter hohe Wetterfahne mit dem Habsburger Doppeladler stammte aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts.

«Der letzte Türmer Johann Adam Schmidt lebte mit Frau und elf Kindern bis zum Jahr 1912 hier oben. Sollte es also doch noch zu einer positiven Entscheidung hinsichtlich der Renovierung kommen, würde hier passenderweise ein Museum mit dem Nachbau der historischen Türmer-Wohnung eingerichtet werden.»

«Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – oder betrauern», antwortete Hallenberg und schaute mit leerem Blick durch eines der kleinen Fenster auf die historische Licher Altstadt. Clarissa stand neben ihm und sah durch dasselbe Fenster, dabei erfühlte sie mit ihren Fingern seine rechte Hand und drückte sie so fest, dass es ihn beinah schmerzte. Sie schaute ihm tief in seine braunen Augen, dann sagte sie unvermittelt:

«Können wir dann wieder hinuntergehen, Herr Wildenfels? Ich habe genug gesehen.»

«Schon? Wollten Sie nicht noch etwas über die Umbaumaßnahmen des Turms im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert erzählen?», fragte der dritte Besucher mit dem Militär-Haarschnitt.

«Frau Lindenlaub hat Recht, für heute ist es wohl genug, aber …», Wildenfels' Stimme hörte sich schlagartig wieder kräftig und voluminös an,

«Wenn die offenen Fragen gelöst wurden, können wir Ihnen sicherlich das nächste Mal Ihre Fragen im dann neu eröffneten Türmermuseum beantworten!» Daraufhin ging er mit schnellen Schritten auf die Treppe zu, die nach unten führte und verschwand kurz darauf im Treppenauge. Die anderen drei Besucher folgten ihm.

Sie trafen Professor Ulrich Lindenlaub an derselben Stelle an, an der sie ihn verlassen hatten: in der Etage des Glockenstuhls. Er schien geradezu zerfließen vor Schweiß. Der Tremor seiner linken Hand war nun deutlich sichtbar. Er wirkte, als habe er den Frankfurter Treppenlauf im Messeturm bestritten, während der Rest der Gruppe die Turmspitze besichtigt hatte. Seine Tochter beachtete ihn allerdings mit keinem Blick und sprach zu ihm nur im Vorbeigehen.

«Wir gehen runter, Papa.»

«Okay. Lasst mich noch einen Moment hier oben bleiben», antwortete er schnaufend.

Wenig später war die kleine Gruppe in der fünften Etage angelangt, dem Stockwerk mit dem mannshohen Panoramafenster. Eine Etage darunter befand sich der Eingang zu der sehr schmalen steinernen Wendeltreppe, die alternativ zur Treppe hoch in das Stockwerk mit dem Geläut führte. Von draußen war ein lautes Donnergrollen zu vernehmen, das innerhalb der Bruchsteinmauern widerhallte.

«Ist es in Ordnung, wenn ich noch ein wenig hier bleibe und noch ein paar Fotos von hier mache, wer weiß, wann man wieder hier herauf kommt?», fragte der Schullehrer mit dem für einen Pensionär bemerkenswert gut trainierten Körper.

«Ähm, das passt mir eigentlich nicht so recht, Herr Bach … aber gut, wenn es sein muss», antwortete Sebastian Wildenfels und rieb sich dabei das Kinn. Er überlegte kurz, dann sagte er:

«Wenn Sie beide dann bitte weitergehen wollen, mir ist eingefallen, dass ich mein Handy in der Türmerwohnung liegen gelassen habe. Ich komme sofort nach.» Sogleich war er wieder auf der Treppe nach oben verschwunden. Clarissa sah Florian Hallenberg fragend an. Über ihren Köpfen hörten sie Schritte und Geräusche, die wohl von Ulrich Lindenlaub verursacht wurden.

«Da braut sich ja ganz schön was zusammen», dachte Liane Wickler beim Blick an der Turmspitze vorbei in den mittlerweile bleigrauen, schweren Himmel darüber und zog nervös an ihrer Zigarette. Ein kleines Steinchen schlug nur drei Meter von ihr entfernt auf das Kopfsteinpflaster des kleinen Platzes zwischen Turm und Kirche auf.

«Wo kommt der denn her?», sagte sie zu sich und ging ein paar Schritte näher in Richtung des Turmeingangs, um dort die bis zum Filter herunter gerauchte Zigarette auf dem Boden auszutreten. Am Horizont zuckten Blitze am fast schon lilafarbenen Himmel.

Fast lautlos begann Anna, sich in Bewegung zu setzen. Nur ein leises Klacken der fast hundert Jahre alten Mechanik war zu hören. Langsam und ruhig schwang sie einmal, zweimal, dreimal, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Dann erfüllte ihr erster Klang den kleinen Raum des Glockenstuhls mit einem solch brachialen und doch wunderbaren Schalldruck, dass es allen, wo auch immer sie im Turm waren, in den Magen fuhr. Von dem anschließenden Geläut vibrierte das Gebälk, feiner Staub rieselte von der Decke herab. Professor Doktor Ulrich Lindenlaub stand schwer atmend auf einem der Querbalken, die den Glockenstuhl trugen. Alles drehte sich um ihn herum. Er zitterte am ganzen Leib. Er schaffte es kaum, den Reißverschluss seiner Jackentasche zu öffnen.

«Wo sind denn diese beschissenen …? Ich hatte doch heute morgen noch welche?!», murmelte er in sich hinein. Nur Augenblicke später schrie er auf vor Freude.

«Nun danket alle Gott, hier ist es!», sagte er mit belegter Stimme. Er verstaute das Fundstück mit zitternder Hand in der Innentasche seiner Jacke und versuchte, den Reißverschluss zuzuziehen, doch es gelang ihm nicht. Er setzte einen unsicheren, kleinen Schritt zurück in Richtung der Holzbohlen am Treppenabsatz, dann noch einen. Plötzlich fühlte er einen leichten Druck im Rücken. Sein nächster Schritt fand keinen Untergrund mehr. Erst auf dem Boden des vierten Stockwerks des siebenhundert Jahre alten Wehrturms kam sein lebloser Körper zur Ruhe. Drei Minuten später übertönte Maria mit dem Elf-Uhr-Läuten die schrillen Schreie des Schreckens.

2. Kapitel

Der Augustiner und der Herold stapften mit schweren Schritten durch die aufgeweichte Gasse, die vom Pfarrhof zur Burg führte. Sie gingen an den gräflichen Wirtschaftshöfen vorbei, ließen den an diesem Abend menschenleeren Marktplatz links liegen, der sich direkt vor dem Sitz des Solmser Grafen befand und erreichten nach nur wenig mehr als hundert Schritten den Wassergraben, der die Burg umgab. Kaspar Sturm klopfte an die Eichen-Pforte. Doch das war eigentlich nicht notwendig. Sie wurden schon erwartet und ihr Eintreffen war durch die aufmerksamen Blicke der Wachen durch die Bleiglasfenster bereits bekannt. Sofort öffnete sich der große Türflügel.

«Seid willkommen, verehrte Herren! Seine Herrschaft erwartet Euch bereits», begrüßte der gräfliche Diener die Gäste.

Einen Augenblick später standen die beiden Reisenden im großen Saal der Burg. Durch die schmalen Fenster drang kein Licht. Der regenverhangene Himmel ließ um diese sechste Stunde des Abends keinen Sonnenstrahl hindurch. Von der massiven Holzbalkendecke hingen Seile herunter, an der jeweils zwei mit Wasser gefüllte Glaskugeln hingen. Das Licht der Kerze, die zwischen den Kugeln angebracht war, wurde durch sie in alle Richtungen gestreut und füllte den Saal mit unzähligen Lichtpunkten. An der Stirnseite der Halle loderte ein prasselndes und wärmendes Feuer in einem mächtigen Kamin. Der Diener kündigte die beiden Gäste an:

«Ihro Gnaden, ich darf Euch die Ankunft seiner Exzellenz, den Herold des Reiches Germania und Teutschland, Kaspar Sturm und des Herrn Professor Dr. Martinus Luther offerieren!» Vor ihnen stand Graf Philipp zu Solms-Lich und strahlte. Der Mann mit der mächtigen Gestalt und braunem, frisch frisiertem Vollbart trug ein weißes Spitzenhemd und darüber einen dunklen, edlen Samt-Rock mit fein ziselierten Falten.

«Herzlich willkommen in unserem Haus, es ist uns eine große Ehre, Euch hier begrüßen zu dürfen!»

«Die liegt ganz auf meiner Seite, Ihro Gnaden, verbunden mit vielfältigem Dank, uns Unterkunft und Verpflegung in Eurer Stadt zuteil werden zu lassen», antwortete Luther. Sein Begleiter Kaspar Sturm zog seine lederne Kappe zum Gruß.

«Doch macht es Euch sogleich bequem, Ihr seid bestimmt durstig und hungrig! Waldemar, bringt Essen und Trunk!», befahl der Graf mit fröhlicher Stimme. Bevor sie sich setzten, betrachteten die Besucher die an den Wänden angebrachten prächtigen Gemälde und Stiche. Darunter waren auch Portraits des Burgherren, die von Lucas Cranach, Hans Döring und von Albrecht Dürer gemalt wurden.