Hünenschlag - Henrich Dörmer - E-Book

Hünenschlag E-Book

Henrich Dörmer

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Beschreibung

Oberkommissar Cervinus ist am Boden zerstört: Seine Versetzung in die Mordkommission wurde abgelehnt. Begründet wird dies mit einem kritischen Gutachten der Psychologin Eva Kieling. Dabei hatte ausgerechnet sie Cervinus geholfen, den letzten Fall erfolgreich aufzuklären. Enttäuscht kehrt er ins Unfall-Dezernat zurück und nimmt den neuesten Fall auf: Ein Landwirt ist durch eine Heuballenpresse zu Tode gekommen. Der Unfallort in unmittelbarer Nähe zu den mystischen Hügelgräbern zwischen Bettenhausen und Muschenheim erscheint umso rätselhafter, je mehr Zeugen und Verdächtige sich in Widersprüche verstricken. Sogar Cervinus' Partner Kriminalobermeister Egon Hirschmann scheint als Nachbar des Opfers in den Fall verwickelt zu sein. Die Kontrolle über sich selbst als auch über die Geschehnisse scheinen Kommissar Cervinus vollends zu entgleiten, als Egons Bruder Emil spurlos verschwindet. Die Ermittlungen führen unter anderem zum Totenberg im Lumdatal, nach Rüddingshausen, Beuern und zum Oberhessischen Museum in Gießen.

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Für unsere Vorfahren,

die uns eine so lebhafte Geschichte hinterließen.

Für unsere Kinder,

denen wir eine lebenswerte Zukunft schulden.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

Über die Handlung

Manisch Wörterbuch

Basketball-Lexikon

Danke

Über den Autor

Prolog

Im Sommer des Jahres 1.482 vor Christi Geburt

«Mach schnell, Lana, Großvater erwartet uns bereits in seinem Haus!», mahnte Arto seine Schwester zur Eile. Die fixierte ihre feuerroten Haare mit einer goldenen Spange zu einem Dutt, nachdem sie ihr Gesicht mit dem kühlen Flusswasser benetzt hatte. Die Sonne hatte an dem strahlend blauen Himmel gerade den höchsten Stand des Tages erreicht. Dieser Tag war derjenige im Jahr, an dem sie am längsten schien.

«Sonst bist du immer derjenige, der anzutreiben ist!», entgegnete Lana verärgert, während sie sich die Hände an ihrem Kleid aus Lammwolle abstreifte.

«Wie oft vergnügst du dich sonst am Wasser, baust Dämme, während dir die Ziegen abhauen oder spielst mit den Jungen von der Sippe jenseits des Flusses, obwohl du schon längst zurück sein solltest! Soll ich denn mit unsauberem Antlitz vor Großvater treten?» Lana hob ihre kleine Tasche aus Hasenfell wieder auf und hängte sie sich um. Doch der Junge war seiner Schwester bereits zwanzig Schritte voraus und hörte ihr schon gar nicht mehr richtig zu.

«Ich spiele nicht, ich lerne viel von den Schmiede-Söhnen. Vor zwei Tagen hat ein Himmelsbeobachter bei ihnen genächtigt. Aber ich denke, es ist sinnlos, dir von ihm zu berichten, du würdest es doch nicht verstehen», antwortete er ohne sich zu Lana umzudrehen und beschleunigte nochmals seinen Gang. Barfüßig schritt er durch das hohe Gras. Mit Lana im Gefolge steuerte er das Hochplateau des insgesamt 600 Fuß hohen Hügels an, der im Tal an den Ufern der Auenlandschaft seinen Anfang nahm. Von dort unten bis zum höchsten Punkt lag der Höhenunterschied bei fast fünfzig Schritten.

«Du kannst mir ruhig von ihm erzählen, immerhin ist dies schon mein neunter Sommer und damit nur einer weniger als bei dir!», rief Lana ihm hinterher.

«Also, was hatte der Himmelsbeobachter zu erzählen?»

«Nun gut, auch wenn ich immer noch daran zweifle, dass du auch nur ein Wort begreifst, will ich dir von ihm berichten, aber dazu musst du schon zu mir aufschließen!» Das ließ sich Lana nicht zweimal sagen. Schon wenige Augenblicke später befand sie sich neben ihm. Nun sah Arto sie mit seinen dunklen Augen an und setzte einen wichtigtuerischen Gesichtsausdruck auf, blieb aber nicht stehen.

«Er kam aus dem Osten. Über dreißig Täler entfernt. Er berichtete von einer Sippe, die Kenntnisse über die Wege von Sonne, Mond und Sternen haben wie noch niemand zuvor. Die Menschen dort sähen und ernten, pflügen und pflanzen nach einer allwissenden Scheibe!» Verwundert starrte Lana ihn mit ihren blauen Augen an.

«Eine allwissende Scheibe, was ist denn das?»

«Siehst Du, ich wusste, du verstehst es nicht!», antwortete Arto achselzuckend und schüttelte seinen dunklen Haarschopf.

«Du sprichst in Rätseln, deshalb kann ich es nicht begreifen», entgegnete das Mädchen.

«Was ist daran so schwer zu verstehen? Bei allen Göttern: Es ist eine Scheibe aus Gold und Bronze, auf der genau gezeigt wird, wann der Mond und die Sterne, Mond und Sonne, Sterne und Sterne so beisammen stehen, dass jederzeit abzuschätzen ist, wann das Einkorn wächst, wann es zu dreschen ist und wann eben nicht mehr. Er hatte ein Abbild der Scheibe dabei. Die Sterne darauf bestanden aus purem Gold! Die Söhne des Schmieds haben wiederum davon ein Abbild aus Holz angefertigt.»

«Haben Sie es dir gezeigt?», fragte Lana interessiert nach.

«Nein, sie sagten, sie würden es nur Vater, Mutter oder unseren Onkeln und Tanten zeigen, wenn sie dafür drei unserer fettesten Ziegen bekämen – und drei Hühner.»

«Die sind ja nicht ganz bei Trost, die Schmiede-Söhne», ärgerte sich Lana.

«Nur um eine Holzscheibe betrachten zu dürfen, die einer Scheibe ähnelt, auf der der Mond und die Sonne abgebildet sind … typisch Schmiede-Sippe», schimpfte sie weiter. Mittlerweile hatten sie den halben Weg zum höchsten Punkt des Hügels erklommen.

«Der Himmelsbeobachter sagte wohl, dass die Scheibe mehr wert sei, als ein Dutzend Ziegenherden von einem Dutzend Sippen – wenn man versteht, was die Scheibe uns sagt!»

«Was, die Schreibe spricht auch noch? In unserer Sprache?», fragte Lana ungläubig.

«Vergebens, du Dummerchen, es ist vergebens mit dir! Natürlich spricht sie nicht, aber wer sie lesen kann, vermag sehr wohl zu erkennen, wie und wann das Land zu bestellen ist und wann genau Frühling, Sommer, Herbst und Winter einkehren. Du weißt doch, was Vater immer erzählt: Er meint, bereits die Ahnen klagten darüber, dass die Sommer immer früher einsetzen und gar nicht richtig abzuschätzen sei, wann der Tag der Aussaat gekommen wäre. Und dass er manchmal das Gefühl habe, der Mond würde immer schneller auf- und untergehen. Aber auch da scheinst du nicht richtig hingehört zu haben.»

«Aber die Götter bestimmen doch über Mond und Sonne und Sterne – und über uns!», stellte Lana fest. Mittlerweile spielte der Wind viel wilder mit ihrem Haar als noch unten im Tal.

«Das bestreite ich auch nicht, aber … ach, ganz gleich, ich gebe es auf», stöhnte Arto entnervt.

Wenig später hatten die Geschwister den Scheitelpunkt des Hügels, dem spätere Generationen den Namen "Wetterkopf" geben würden, erreicht. Von hier oben hatten die beiden einen hervorragenden Überblick über die gesamte Umgebung. Weit unten im Tal, von Norden kommend und westlich von ihnen verlaufend, glitzerten die Gewässer der Feuchtauen in der Mittagssonne. Die Ahnen hatten den Fluss, der dem höchsten Berg im Osten entsprang, "Wetar" genannt. Südlich des Hochplateaus lag der große Wald, deren Bären, Auerochsen, Wildschweine und Rehe von allen drei Sippen in dieser Gegend bejagt wurden. Weder Arto oder Lana, noch ihre Eltern oder Vorfahren hatten hier Hunger zu leiden. Das bewaldete Gebiet, das sich dem Hügel anschloss, war so groß, dass es noch weitere drei Sippen mit Fleisch, Sehnen und Fellen hätte versorgen können – neben den Feldfrüchten, die der fruchtbare Lössboden hier hervorbrachte. Lana und Arto ließen ihre Blicke gen Norden schweifen. In dieser Richtung im Tal befanden sich die von hier oben winzig klein erscheinenden Unterkünfte ihrer Sippe. Die aus Lehm errichteten und mit Stroh gedeckten Hütten lagen in einer Wiesen- und Ackerlandschaft, deren reiche Erde bereits seit vielen Generationen ertragreiche Ernten ermöglichten. Aus dieser Entfernung waren Menschen oder Tiere nur schwer zu erkennen. Noch weniger mit bloßem Auge sichtbar waren die Behausungen der im Osten benachbarten Sippe. Allerdings war eine gut tausend Schritte breite Wiesenfläche zwischen den beiden Siedlungen von der Bewirtschaftung mit Ackerbau oder Viehzucht ausgespart worden. Hier befanden sich die Wohnstätten der Ahnen. Doch die mit Abstand bedeutendste hatten die Väter, Mütter und Geschwister der Vorfahren nicht im Tal errichtet, sondern hier oben. Nachdem die Kinder eine Wiese überquert hatten, deren Blütenpracht an Blumen und Kräutern schier unendlich schien und alle Farben des Regenbogens zeigte, hatten sie ihr Ziel erreicht. Es war eine wunderbare ewige Heimstatt. Wände und Dach bestanden aus mächtigen Felsblöcken, wobei einige mehr wogen als ein Dutzend ausgewachsener Wildschweine. Vor langer, langer Zeit hatten die Vorfahren sie aus dem Tal bis hier nach oben auf die Spitze des Hügels geschleppt. Etliche Ochsen wie auch Männer waren wohl notwendig gewesen, um die Felsblöcke in kalten Wintern wie einen überdimensionalen Schlitten auf dem vereisten Untergrund zu ziehen, zu hieven und zu schieben. Doch die Mühe hatte sich gelohnt. Würde doch diese Unterkunft, die für hunderte Sommer keinen Bewohner mehr beherbergt hatte, nun eine würdige Heimstatt für Menard, Lanas und Artos Großvater, Gründer ihrer Sippe und weit über die Grenzen ihres Tales angesehener Stammesherr. Ehrfürchtig blieben die beiden Enkelkinder vor dem Eingang der Ruhestätte ihres Ahnen stehen. Der Weg hinein war durch einen mit Basaltstein gepflasterten Boden geebnet, die Wände rechts und links des Eingangs waren ebenso aus Vulkangestein errichtet worden. Links des Eingangs erhob sich der über vier Schritte hohe und mächtige Menhir. Durch den kunstvoll bearbeiteten Megalith war das Haus Menards schon von weitem zu sehen und zu bestaunen. Die Sippe erwartete die Kinder bereits. Lanas und Artos Eltern, ihr Vater war Menards Erstgeborener, standen vor dem Eingang, der sich auf der Nordseite befand. Die weiteren Mitglieder des Stammes hatten sich rund um den ringförmigen Steinbau mit Blick auf das Innere des Kreises verteilt und hielten sich an den Händen. Fast alle waren in Kleider gewandet, die speziell für diesen Tag gewoben worden waren. Die Männer hatten Mützen aus Tierhäuten aufgesetzt, vornehmlich aus Fuchs- oder Bärenfell. Die Frauen hatten ihren wertvollsten Schmuck angelegt, vor allem aus Bronze, zuweilen auch aus Gold gefertigt, so wie Lanas Haarschmuck. Mit bedächtigen Schritten näherten sie und ihr Bruder sich ihren Eltern. Niemand sprach. Doch gerade jetzt, in dieser absoluten Stille, war die Bedeutung und Feierlichkeit dieses Ereignisses schier mit Händen greifbar. Nur "Wetar", der Wind, der noch einmal deutlich aufgefrischt war, fauchte und blies in Böen um die Hosen und Kleider. Vater blickte die beiden ernst und zugleich feierlich an. Mutter nickte fast unmerklich. Arto wusste, was zu tun war. Er ergriff Lanas Hand und betrat mit ihr gemeinsam, vorbei an Vater und Mutter, das Innere des steinernen Gebäudes. Die beiden schritten die drei Stufen hinunter, die sie auf ein Niveau führten, das mehr als drei Fuß unterhalb des außenliegenden Bereichs lag. Sie befanden sich nun in einem dunklen, gut drei Schritte breiten und fünf Schritte tiefen Raum. In beiden Ecken der Stirnwand brannten kleine Feuer in Tongefäßen, die von Tierfett und Reisern gespeist wurden. In der Mitte der Felskammer lag Menard auf einem steinernen Bett, er schien friedlich zu schlafen. Sein grauweißes, schulterlanges Haupthaar schimmerte wie silberne Seide im Licht des Feuers. Das edle, helle Gewand verlieh seiner Gestalt einen friedlichen und doch mächtigen Ausdruck. Seine Arme ruhten, übereinander gekreuzt, auf seinem Brustkorb und bedeckten so sein bronzenes Schwert, das er über seinem Herzen trug. Arto nahm die Pfeilspitze, die er bereits die ganze Zeit über in seiner Hand gehalten hatte, und legte sie seinem Großvater zur Seite. Lana nahm aus ihrer Tasche einen tönernen Trinkbecher und stellte ihn auf der gegenüberliegenden Seite des steinernen Bettes ab, auf dem Menard ruhte. Dann begaben sich die beiden zum Fußende und verharrten dort für einen Moment in Stille. Leise aber deutlich vernehmbar erhob Arto plötzlich seine Stimme:

«Mögen dir diese Dinge in deinem neuen Leben im Haus und in den Gefilden der Ahnen hilfreiche und nützliche Dienste leisten!» Lana fuhr fort: «Dich auf ewig mit erquickendem Wasser und geistreichem Met versorgen», worauf Arto wiederum ergänzte:

«Und dir eine immerwährende, prächtige und reiche Beute gewähren, so wie es die Götter in deinem diesseitigen, so ruhmreichen und gesegneten Leben vermochten. Mögen deinem so langen Leben mit deinen einundvierzig Sommern in dieser Welt hunderte Sommer in der nächsten folgen.» Daraufhin verbeugten sich Menards Enkelkinder gleichzeitig vor ihrem Großvater und überkreuzten für einen andächtigen Moment ihre Arme auf der Brust, so wie auch Menards Arme und Hände auf dessen ehemals so starkem und lebendigem Oberkörper ruhten.

1. Kapitel

3.500 Jahre später

«Wo haben die denn hier den den Apfelwein versteckt?», murmelte Martin Benedikt Cervinus vor sich hin und lief dabei die Schluchten mit den Getränkekästen ab. Doch eigentlich konzentrierte er sich nicht auf die Suche nach dem "Original Wetterauer", sondern war in Gedanken immer noch bei dem Seminar, das nach drei intensiven Tagen eben gerade zu Ende gegangen war: "Bewältigung von Gefahrenlagen mit extrem gewalttätigen Einzeltätern". Auch wenn dem Oberkommissar viele Vorgehensweisen und Verhaltensroutinen bereits geläufig und selbstverständlich erschienen, war es doch immer wieder etwas ganz anderes, solche Extrem-Situationen in Echtzeit und unter Anleitung eines Spezialisten des LKA zu trainieren. Natürlich konnte der in echten Lagen typische Adrenalin-Einschuss und das Hochkochen der Angst-Hormone nicht simuliert werden, dafür aber die Routine zur Lösung solcher Extremkonflikte, betonte der Trainer, ein ehemaliges Mitglied einer Sondereinheit. Und deshalb schmerzten Cervinus sowohl Knie als auch Ellenbogen. Erstens da bei einer unmittelbaren Bedrohung den Anweisungen des Täters unbedingt Folge zu leisten wäre und Entführer als auch Bankräuber oft das Kommando gäben, sich auf den Boden zu legen. Zweitens, und noch überlebenswichtiger, um bei einem Zugriff durch eine Sondereinheit das Schussfeld nach dem entsprechenden Kommando in Richtung des Täters frei zu machen und nicht durch den eigenen Kopf zu blockieren. Gerade diese Situationen bildeten den Abschluss des Lehrgangs, weshalb der Unfallermittler das Gefühl hatte, er hätte 200 Liegestützen und 300 Sit-ups hinter sich gebracht. Cervinus war zwar in den letzten Tagen sowohl körperlich als auch hinsichtlich der mentalen Anstrengung an seine Grenzen geführt worden, aber dennoch war er mit sich zufrieden. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, den Aufgaben und Herausforderungen, die ihn nach der Versetzung in die Mordkommission erwarten würden, vollständig gewachsen zu sein. Zudem stellte er fest, dass seine inneren Dämonen, die ihm jahrelang zu Schaffen gemacht hatten, seine Leistungsfähigkeit nicht mehr beeinträchtigten. Sogar das Beifahren im Fahrsimulator der Autobahnpolizei mit 240 km/h oder das Balancieren auf einem nur 80 Zentimeter breiten Brett in sechs Metern Höhe und nur einem Halteseil machte ihm nichts mehr aus. Doch die größte Bestätigung erhielt er direkt vom Seminarleiter: Der Kriminalhauptkommissar erkundigte sich gegen Ende des Seminars bei ihm, warum er nicht schon längst in der "Mord" angekommen sei, schließlich habe er doch alle notwendigen Voraussetzungen. Insbesondere seine mentale Stabilität und eine schnelle Auffassungsgabe hatten überzeugt. Zumindest während der Trainingstage hätte Martin Cervinus unter Beweis gestellt, dass er absolut das Zeug zum Einsatz in Gefahrenlagen habe.

«Bingo, da ist er ja!», stellte er fest, entnahm der gesuchten Kunststoffkiste die zwei Flaschen Äppler und machte sich auf in Richtung Kasse. Während er in der Schlange wartete, die sich wieder einmal bis zum Hüttenberger Handkäse hinzog, schaute er auf seine Armbanduhr. Es war schon viertel nach sechs. Um halb sieben wollte er sich mit Ernst Wiesenholder und Egon Hirschmann vor der Gießener Sporthalle Ost treffen. Cervinus kratzte sich an seinem blonden Haarschopf. «Das wird echt knapp», seufzte er in sich hinein, obwohl er wusste, dass es vom Supermarkt bis zur Arena nur drei Straßenzüge waren. Fünf Minuten später spürte er erstmals eine gewisse Ungeduld in sich aufsteigen, denn er war erst auf Höhe des "Original Rüddingshäuser Solberfleischs" angelangt. Die Blechdosen erschienen ihm wie eine Mahnung zur Eile. Denn Rüddingshausen war der Wohnort des Gerichtsmediziners Professor Doktor Wiesenholder. Und was der liebe Ernst überhaupt nicht ausstehen konnte, war Unpünktlichkeit. Doch ansonsten war der Pathologe mittlerweile für Cervinus mehr als ein Kollege oder der Arzt im Kühlraum geworden. Da dies so war und Martin ihm noch ein Geburtstagsgeschenk schuldete, neben dem mittlerweile obligatorischen Äppler, hatten sich die drei zu einem Besuch des Heimspiels der Gießener Basketballer verabredet.

Weitere zehn Minuten später wurde Martin tatsächlich unruhig. Einige andere Kunden hatten bereits an den hierfür vorgesehenen herunterhängenden Tastern ohne irgendeinen Erfolg Sturm für eine weitere Kasse geklingelt. Cervinus war allerdings schon seit längerem klar, welchem Zweck die Klingeln eigentlich dienten: zur Aggressionsbewältigung. So wurden die Kunden davon abgehalten, aus Frust den Marktleiter mit Mehlpäckchen oder Brühwürfeln zu bewerfen. Stattdessen sollten sie sich an den vermeintlich niemals wirklich angeschlossenen Knöpfen abreagieren, wie bei automatisch geschalteten Ampelanlagen. Zur Ablenkung spielte er gedanklich nochmals die Seminar-Inhalte durch: ruhig bleiben, mit Bedacht agieren, den Anweisungen der Spezialkräfte unverzüglich Folge leisten, falls möglich bei Verletzten Erste Hilfe leisten. Dennoch blickte er konsterniert auf den letzten Aufsteller vor dem Kassenband: "Echt Rabertshäuser Quitten-Schnaps". Unweigerlich musste er an Kriminalobermeister Egon Hirschmann denken, seinen Kollegen, mit dem er seit dem letzten vermeintlichen "Unfall", der sich später als perfekt geplanter Mord heraus gestellt hatte, zusammenarbeitete. Auch der Anfang mit Egon war nicht einfach, doch nun verstanden sich die beiden recht gut. Und wenn einmal ein Konflikt zwischen ihnen aufzuziehen drohte, bekam Martin von Egon regelmäßig wahlweise selbst gemachten Presskopf oder Quitten-Schnaps mitgebracht.

Endlich konnte er die Flaschen auf das Kassenband stellen. Kaum hatte er das getan, übertönte ein dröhnendes und hysterisch anmutendes Gebrüll die Musik der Supermarkthitparade:

«Hinlegen, sofort!» Cervinus leistete den Anweisungen der weiblichen Stimme unverzüglich Folge und warf sich zu Boden. Im Fallen überholte er sogar die beiden Apfelwein-Flaschen, die Sekundenbruchteile nach ihm auf den Marmorfliesen aufschlugen und mit einem lauten Klirren zerschellten. Der apfel-süße Inhalt spritzte heraus und verteilte sich über den gesamten Kassenbereich. Cervinus verharrte in seiner Deckung, bis sich nach einer gefühlten Ewigkeit Brigitte Angelmüller besorgt über ihr Kassenband zu ihm herunterbeugte und mit ängstlichem Blick fragte:

«Ist alles okay mit Ihnen? Sind Sie ausgerutscht? Soll ich Ihnen einen Arzt holen? Aber sehn Se', das bassiert halt, wann me' die Flasche' net hinlegt!»

«Was'n Rebound! Jawoll, so wird das gemacht! Basst uff, 'etz drehe mir de' Spieß um!» Ernst Wiesenholder war begeistert und riss die Fäuste in die Höhe. Dabei hatte das Spiel in der restlos ausverkauften und mit 3.700 Fans besetzten "gutt' Stubb' des Hallensports" der Lahnstädter gar nicht gut begonnen. Zwar hatte Martin Cervinus es gerade noch rechtzeitig geschafft, trotz seines Faux-pas im Discounter. Es blieb ihm sogar noch etwas Zeit, der kopfschüttelnden Kassiererin beim Aufwischen des guten Stöffchens zu helfen und zwei neue Flaschen zu holen. Dafür kam Ernst Wiesenholder eine halbe Stunde zu spät, was extrem ungewöhnlich für ihn war. Allerdings blieb ihm so der klassische Fehlstart der Heimmannschaft erspart: Das erste Viertel ging mit 22:12 an die Gäste vom Main. Nun aber, kurz vor der Halbzeitpause, hatten sich die Gießener wieder herangekämpft.

«Aber doch nicht so», kommentierte Cervinus den nächsten fehlgeschlagenen Angriffsversuch.

«So einen simplen Steal darfst du doch nicht zulassen!»

«Steal? Soll ich die Kollegen vom Raubdezernat anfordern?», fragte Egon Hirschmann, jedoch ohne die geringste Andeutung eines Lächelns. Es war der allererste Besuch eines Basketballspiels für den Kriminalobermeister. Allerdings fiel es schwer, irgendeine Verbindung von dem nur einen Meter fünfundsechzig kleinen, aber stämmigen Mann mit dem rötlichen Schnauzbart zu den scheinbar doppelt so großen Spielern auf dem Feld zu ziehen. Die einzige Disziplin, in der Egon locker mithalten konnte, war das Gewicht. Cervinus und Wiesenholder wagten es daher nicht zu fragen, ob er die Bemerkung tatsächlich ernst meinte. Stattdessen ignorierten sie ihn und konzentrieren sich auf den Spielverlauf, der immer mehr eine ungewollte Richtung einschlug.

«Kerle, Kerle, Kerle, entweder verteidigsde' die Zone oder am Mann, awwer halb in' halb, doas git nejt!», echauffierte sich der Pathologe. Egon Hirschmann dagegen blickte teilnahmslos auf das Spielgeschehen.

«Doch, beim Hackfleisch geht das, sogar sehr gut … mit e bissi Ei un' nem aale Weck machste dann e prima Frikadell' draus!», bemerkte er gelangweilt, «dann noch en' schöne' süß gespritzte Äppler dazu, dann passt das … Übrigens, Chef, hast du vor dem Spiel schon ein' gehowe', irgendwie riechst du so danach, zumindest dein Sakko?!», sah er Cervinus wie aus heiterem Himmel an und grinste zum ersten Mal an dem heutigen Abend. Martin tat ahnungslos, fühlte sich aber gleichzeitig peinlich berührt, als sei er von seinem Kollegen auf frischer Tat ertappt worden. Natürlich hatte er den süßlichen Geruch schon die ganze Zeit selbst wahrgenommen.

«Wer, ich? Warum? Du weißt doch, ich trinke fast nie Alkohol», und versuchte, die Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel zu lenken:

«Da, jetzt haben wir das System umgestellt …»

«Ja, mit dem Ergebnis, dass der Frankfurter Guard from coast to coast dribbeln irn' in aller Seeleruh sei' Korbleger durchzeijeh kann!»

«Kerle, Ernst, was haste dann für Wutzereie im Kopf?», fragte Egon verwundert, als einziger immer noch sitzend. Wieder wusste Ernst nicht, ob Hirschmann ihn nun vergackeierte oder einfach nur kein einziges Wort der Basketball-Sprache verstand. Cervinus schüttelte verärgert den Kopf, blieb aber dennoch gespannt stehen. Auch Wiesenholder verzog für einen Moment das Gesicht, teilweise aus Ungläubigkeit ob der spielerischen Darbietung der Heimmannschaft, teilweise aus Verwunderung über Egons Verhalten.

«Na ja, aber wenn du so einen Schiedsrichter hast, der kein einziges Goaltending sieht und dafür nur die Fouls bei uns, brauchst du keinen Gegner, um ein Spiel zu verlieren», merkte Cervinus an.

«Da hast du Recht, Maddin», bestätigte der Gerichtsmediziner.

«Schad', dass ich mir sowas net öfter angucke muss, sonst wüsst' ich wenigstens, warum mei Haarn so grau sind!», ergänzte er, nachdem die Gäste den nächsten Dunk in den Gießener Korb gepresst hatten. Egon Hirschmann neben ihm ließ seinen eher teilnahmslosen Blick lieber durch die Halle schweifen.

«Sagt mal, der eine Spieler, der Zwerg da unten, der so e bissi aussieht wie unser Tom Keller, wird der auch ema ingewechselt?», stellte er die nächste, für seine Begleiter wiederum eher ungewöhnliche Frage. Cervinus sah Wiesenholder an und hob dabei die Augenbrauen:

«Willst du es ihm erklären, oder soll ich ...?»

«Kerle, Mensch, Egon, das kann doch net dein voller Ernst sein! Erstens sieht der nur von hier owwe so klein aus, der ist gut eins achtzig groß irn verspeist dich zum Froistück. Zwotens, wenn das n' Zwerg sei soll, was meenste, wej dou aussejst newe so 'em Zwo-Meter-Brocke': wej'n' Gnom?! Irn drittens is' das der Co-Trainer, deshalb hat der auch kein Trikot an!», rief Ernst ihm nun sichtlich genervt und wild gestikulierend zu. Währenddessen ertönte das Pausensignal. Es rettete nicht nur die Gießener vor einem noch demütigenderen zweiten Viertel, der Abstand betrug mittlerweile 18 Punkte, sondern auch Cervinus und Wiesenholder vor weiteren eigentümlichen Fragen oder Feststellungen durch ihren Kollegen. Immerhin erklärte sich Hirschmann dazu bereit, Bratwürste und Bier zu organisieren.

«Sag mal, der Egon ist heute schon wirklich eigenartig drauf, oder?!», stellte Martin fest und schloss die Gürtelschnalle seiner Hose, nachdem er sich am Pissoir erleichtert hatte. Dr. Ernst Wiesenholder stand daneben und blickte noch etwas länger auf die weiß gekachelte Toilettenwand vor ihm.

«Schon, aber andererseits: So isser halt. Bei jedem anderen hier in der Halle hätte ich gesagt, dass er uns ganz schön veräppelt. Aber beim Egon weißte halt nie: Seine Witze versteht ja auch sonst nur er, seine Sport-Kenntnisse endeten kurz vor der Teilnahme-Urkunde bei den Bundesjugendspielen und sein Taktgefühl konkurriert mit dem Rhythmus eines Vierzylinders, der nur noch auf drei Töpfen läuft!»

«Nein, Ernst, ich meine etwas anderes: seine Teilnahmslosigkeit, diese Lustlosigkeit. Sonst lacht er sich selbst am meisten über seine eigenen Zoten schippelig, aber er hat ja noch nicht einmal geschmunzelt heute Abend! Dass er keine Ahnung vom Basketball hat, das nehme ich ihm schon absolut ab. In seiner Worschtküche daheim in Bettenhausen hat er sicherlich keinen Basketballkorb hängen, und wenn, dann um im Korbnetz die Räuchersalami zu trocknen!», frotzelte Martin.

«Na ja, für das allererste Mal in der Osthalle hat er aber auch wirklich das falsche Spiel erwischt, so ein Rumgegurke … ich schäme mich schon fast nicht mehr, dass ich mich verspätete habe, trotzdem, Martin: Entschuldige bitte! Ich erzähle euch gleich mal, was der Grund dafür war. Vielleicht wacht der Egon dabei auch ein bisschen auf», entgegnete Wiesenholder und machte sich mit Martin dazu auf, Egon Hirschmann das kühle Blonde und die Rostbratwurst abzunehmen. Doch als Martin ihm die Toilettentür zum Hallen-Foyer aufhielt, hielt der Professor für Forensik kurz Inne und roch an Martins Sakko:

«Awwer mit einer Sache hat de' Egon Recht: Dei Joppe riecht wirklich nach Original Wetterauer Äppler!»

Während die Cheerleader-Gruppe Drei-Mädel-Haus-hohe Formationen vorführte, schilderte Wiesenholder seinen Kollegen, wie es dazu kommen konnte, dass er sich verspätetet hatte, erstmals seit etlichen Jahren.

«Ich war doch vom Gemeinderat gebeten worden, in einem Nachbarort von Rüddingshausen als Moderator für eine Bürgerversammlung zu fungieren. Das Thema war dem Bürgermeister zu heiß …»

«Na, um was für ein heißes Eisen ging es denn, an dem sich sonst keiner die Finger verbrennen will?», fragte Martin interessiert.

«Ach, um neue Windräder», antwortete Wiesenholder beiläufig. Egon Hirschmann machte ein Gesicht, als ob er sich auf die Zunge gebissen hätte, schluckte aber dann doch ein Stück der Rostbratwurst im Brötchen herunter.

«Gewitter, hab' ich mich verschluckt! Die is' viel gröber als die, die ich mach'. Und dann noch so e' asiatische Gewürzsuaß, die krie' ich ja bald gar net runner!», merkte er an, als er den Mund geleert hatte. Wiesenholder nickte:

«Tja, der neue fernöstliche Caterer ist nicht jedermanns Geschmack. Aber zurück zum Thema: Es gab wieder einmal die bekannten drei Fraktionen: die Gemeinde, die Investoren und somit Gewerbesteuer 'ranholen will, dann die Leute, die zwar Grünstrom beim Versorger bestellen, aber die Dinger auf keinen Fall vor der eigenen Haustür stehen haben wollen und letztlich die Investoren, die Grundstücke kaufen möchten, um genau das zu tun. Ganz abgesehen von den Grundstückseigentümern, die sich über die Wertsteigerung ihrer Grundstücke freuen.»

Mittlerweile waren die Spieler schon wieder auf dem Feld, die Gäste hatten bereits die nächsten beiden Punkte geworfen. Zurück auf den Tribünenplätzen bot sich das gleiche Bild wie vor der Pause: Egon Hirschmann hatte sich in die Sitzschale gekauert und verfolgte weiterhin eher teilnahmslos das Geschehen, während Wiesenholder mit seinem Bericht von der Bürgerversammlung immer dann fortfuhr, wenn die eine oder die andere Mannschaft eine Auszeit nahm. Dabei zeigte der Pathologe eine Eigenheit, die Cervinus als typisch für Wiesenholder betrachtete: Wenn er eine sachliche Unterhaltung führte, tat er dies in akzentfreiem Hochdeutsch. Kam allerdings nur ein Schuss Emotion dazu, verfiel er ins tiefste Rüddingshäuser Platt, erstaunlicherweise auch jetzt, als er auf seine Moderatoren-Rolle zu sprechen kam:

«Irgendwann schickt's einem ja: Ech hu' ern all' irschtemoal die Levite' gelese … und Euch auch, Ihr Schnarchnase'! Spiele mir hier etz' Basketball owwer Mikado? Kerle, Kerle, Kerle, etz' lasse se sich aach noch mit so em simple Cut verarsche!», rief er in Richtung seiner Mannschaft, nachdem der gegnerische Guard durch eine elegante Täuschungsbewegung die Gießener Kontrahenten abschüttelte und den Spielzug mit einem Korbleger abschloss.

«So, wenn nach der Auszeit nicht endlich mal was von uns kommt, wird's ganz bitter», stellte Cervinus lapidar fest. Wiesenholder dagegen kam während dieser Pause auf sein zweites Aufreger-Thema zurück:

«Zu de' Windkraftgegner horn ech gesaad: Keiner von Euch will die Folgen des Klimawandels erlewe, so wie es heute schon die Amerikaner tun, wenn die Niagara-Fälle zufrier'n oder die Australier, die bei siebenundvierzig Grad im Schatten schwitze'. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich der Golfstrom im Atlantik, der das warme Meerwasser bis zu uns führt, schon jetzt um fünfzehn Prozent abgeschwächt hat. Die Auswirkungen sind schon heute messbar! Auch für Hessen gibt es sehr genaue Klimasimulationen, die vorhersagen, dass es in Frankfurt im Jahr 2050 so heiß sein wird wie heute auf Mallorca im Hochsommer, um die vierzig Grad regelmäßig! Mir selbst könnte das ja egal sein, dann bleib ich halt im August bei meine Patiende im Kühlraum sitze … Awwer im Ernst: Die Wetter wird im Sommer austrocknen, im Herbst und Winter gibt's dafür Sturzbäche wie sonst nur in den Alpen, die Lumda-Angler könne im Juni inpacke, auch weil die ganzen Ökosysteme in Gewässernähe ins Schleudern kommen … die Versicherungsprämien gegen Überschwemmungen gehen durch die Decke in' de Tom Keller vom Ruderclub kann im Herbst sei Regatta für Achter mit Steuermann bei uus zwische' Allendorf und Treis durchführen, oder steigt besser weje' de Stromschnellen in de' Lahn auf Kajak um!» Während er das sagte, hatten die Gastgeber eine kleine Aufholjagd gestartet und ohne Gegentreffer neun Punkte in Serie geholt. Sogar Egon Hirschmann hatte sich zwischenzeitlich von seinem Platz erhoben und stand nun neben Ernst und Martin. Gesprochen hatte er seit seiner Würstchen-Beurteilung in der Pause aber noch kein Wort. Cervinus fühlte indes Hoffnung aufkeimen.

«Yes, weiter, immer weiter! Der Drops ist noch nicht gelutscht. Guck, die ersten fünf von den anderen sind platt, die können nicht mehr!»

«… So richtig glaub ich noch net dran … Na ja und zu dene Kabbeliste hab ich gesacht, se solle desdeweje nejd denke, se hätte en Freifahrtschein, auf jedem Hüchel so e Nadel uffzustelle. Mittlerweile gehen die ja schon in die Täler, auch wenn die Kommunen selbst nicht so weit unten investieren, da der Windfaktor dort fast immer unter dem kritischen Wert von zwei Komma fünf liegt. Aber die Privat-Investoren machen das trotzdem, wenn se genug zusammenhängende Flächen bekommen und dann diese 200-Meter-Trümmer darauf setzen können … Uff jetz, kommt!», feuerte er wieder die Gießener an:

«Bass uff, Egon, etz siehste Basketball, etz is Crunchtime!», rief der Pathologe seinem Nebenmann zu, bei dem jedoch weder eine Veränderung der Gefühlslage, noch ein deutlicheres Interesse an dem Spiel festzustellen war.

«Wenn Ihr meint …», war seine tonlose Antwort. Martin und Ernst bemerkten jedoch, wie der Fanblock langsam aber sicher zu beben begann und die großen Trommeln jeden der donnernden "Gießen! Gießen!"-Rufe mit einem solchen Druck verstärkten, dass man meinen konnte, man erlebt eine bronzezeitliche Schlacht zwischen Kelten und Burgundern.

«Und zu guter Letzt hab ich dene Investoren aach noch was ins Stammbuch geschriwwe: Wer uff die Idee kommt, e' Windrad zu plane, dass aach nur een Zentimeter höher is als unser schie Rüddingshäuser Kirchturm, dem steig ich persönlich uff de Mast irn schraub die Rotorblätter ab … übrigens, Egon, da war auch einer aus einem Ort in deiner Nachbarschaft dabei, hatte mir bis dahin schön applaudiert, bis ich das mit'm Kirchturm gesacht hatt, da hat er dann uffgehört zu klatsche … Jawoll, irn widder drei Punkte von downtown!», rief Wiesenholder entzückt.

«Weißt du, wie der hieß, der aus unserer Gegend kam?», war Egons erste Frage im dritten Viertel.

«Nein, ich hatte mich nur mit jemandem unterhalten, der wusste, dass der von dort kommt», antwortete Ernst nach kurzer Bedenkzeit.

«Ah, okay», war die einzige Reaktion des Polizeiobermeisters. Mit der Sirene zum Ende des vorletzten Viertels verwandelte der Gießener Point Guard einen weiteren Wurf von der Mittellinie für Drei. Die Halle tobte. Nur Egon Hirschmann verabschiedete sich ruhig und desinteressiert zur Toilette.

Das letzte Viertel war eine einzige Gala-Vorstellung des Gießener Basketballclubs. Plötzlich gelang den Spielern alles: Die Blocks saßen, die Rebounds funktionierten und gegen Spielende trafen die Gastgeber sogar reihenweise mit Fade-Away-Jumper und Alley-oop. Die Anzeigetafel bestätigte dreißig Sekunden vor Spielende ein unglaubliches Ergebnis von 98:79. Prof. Dr. Ernst Wiesenholder jubelte wie ein Schuljunge:

«So, Martin, so wird das gemacht! Lass dir das von einem Pathologen sagen: Wer in solchen Momenten nicht spürt, dass er lebt, der ist tot!» Martin Benedikt Cervinus grinste und klopfte Ernst auf die Schulter.

«Das ist das Beste an dem Sport: Du weißt bis zum Schluss nie, wie's ausgeht, es ist eben nie vorbei, solang's nicht vorbei ist! Verstehst du Egon?! Egon? Wo ist der denn? Hast du den überhaupt vom Klo zurückkommen sehen?», fragte er seinen im Freudentaumel befindlichen Nebenmann. Doch auch der konnte sich nicht erinnern, wann er Egon zum letzten Mal gesehen hatte. Keiner der beiden hatte bemerkt, dass Kriminalobermeister Egon Hirschmann mit hängenden Schultern und einem gegen die ungewohnt scharfe Currysauce rebellierenden Darm bereits nach seinem Toilettenbesuch den direkten Weg zum Ausgang gewählt hatte, ohne auch nur zu ahnen, was für ein Tollhaus aus der Sporthalle Gießen-Ost nach der Schluss-Sirene werden würde.

2. Kapitel

Über dem Vorderwald ging ein prachtvoller Goldregen hernieder, gefolgt von einer Wand von Bronzeschauern und silbernen Fontänen, die sich schließlich in riesigen, glitzernden Kreisen über den Feldern vor Augarten und Bettenhausen ergossen und, kurz bevor sie den Boden erreichten, verglühten. Den Rhythmus des im dunkelblauen Abendhimmel aufsteigenden und im wolkenlosen Dunkel aufblühenden Feuerwerks begleitete dabei Ludwig van Beethovens "Ode an die Freude". Die finalen Takte seiner neunten Sinfonie erklangen synchron zu einer Wand strahlend weißer Lichtfontänen, die einer Dominokette gleich im Süden über dem Himmel von Bellersheim startete, dann links des Vorderwaldes direkt über Augarten und darauf folgend nach rechts über das benachbarte Bettenhausen zu wandern schien, bis schließlich der letzte Funkenschauer im Norden hoch über Birklar verglimmte. Doch der verdiente Applaus fiel eher spärlich aus. Die Produzenten des Feuerwerks, die Einsatzkräfte der Freiwilligen Feuerwehr, waren noch zu sehr damit beschäftigt, die pyrotechnischen Konstruktionen wieder abzubauen, als sich selbst Beifall spenden zu können. Andere waren noch auf den ausgetrockneten Feldern rund um den Vorderwald postiert, um eventuelle durch von herabgestürzten Raketenresten verursachte Brandnester im Keim zu ersticken. Wiederum andere bewachten das Sonnenwendfeuer, das fröhlich prasselnd im weitläufigen Garten des Ausflugslokals "Herren-Tisch" loderte. Die Flammen züngelten dabei bis auf Höhe der Aussichtsterrasse des Restaurants, die sich im offenen Bereich des Dachstuhls der ehemaligen Scheune befand. Die Dachziegel hatte man auf der westlichen Gebäudeseite entfernt und nur das Gerüst der Giebelbalken beibehalten, um einen ungehinderten Blick auf das Tal zu ermöglichen, das am südlichen Horizont von der bewaldeten Anhöhe des Wetterkopfes, im Westen von der dahinfließenden Wetter und im Norden von den Hügeln, auf denen in römischer Zeit der Limes verlief, begrenzt wurde.

«So, das reicht jetzt, Georg. Wir lassen das jetzt runterbrennen, es ist ja sowieso fast keiner mehr da!», wies der Einsatzleiter der Freiwilligen Feuerwehr Augarten seinen Kameraden an, die Versorgung des Sonnenwendfeuers mit Brennstoff einzustellen. Er nahm die blaue Schirmmütze der Paradeuniform ab und klopfte sie an seiner Hose ab.

«Mal sehen, ob die Moosbach in diesem Jahr ein bisschen mehr springen lässt als im letzten. Das furchtbare Schnitzel mit dem Chili-Geschmack und die zwanzig Euro Spende konnte man ja nicht ernst nehmen», raunte er, um dann wieder lauter zu werden:

«Wenn Ihr zusammengeräumt habt, kommt Ihr dann hoch auf die Terrasse, Abschluss-Besprechung und Essen-Fassen!», kommandierte Kurt Wiesamer und verschwand auf der anderen Seite des Feuers in Richtung Restaurant. Ferdinand Lind öffnete zur selben Zeit das Küchenfenster im Erdgeschoss des Bruchstein-Gebäudes, um acht jeweils mit einer Vanille-Blüte garnierte Pudding-Gläschen zum Abkühlen herauszustellen. Der Duft der frisch zubereiteten Rhabarber-Vanille-Kreation und auch ein Hauch von Zimt umwehte die Nase des Wehrführers, während er das Fenster passieren wollte, kurz davor inne hielt und dann durch die rustikale Hintertür das Restaurant betrat.

Zeitgleich öffnete sich auf der gegenüberliegenden Seite die schwere, dunkel gebeizte Eichentür des Vordereingangs. Egon Hirschmann trat ein, strich sich dabei mit der Hand über das Brustbein und ließ seinen Blick über den Gastraum schweifen. Er sah, dass keiner der aus feinem Akazienholz gearbeiteten Stühle besetzt war. Die Gasttische waren entweder noch frisch eingedeckt oder schon jetzt für den nächsten Tag vorbereitet worden. Sogar die Kuckucksuhr an der Wand schien unbewohnt, doch ihr Untermieter würde sich in drei Minuten zehnmal hintereinander flüchtig zeigen, begleitet von einem schrillen Piepen. Hirschmann begab sich zu der modern gestalteten Biertheke gleich neben dem Treppenaufgang zum Obergeschoss. Ein stilisierter, hintergrundbeleuchteter Hügel zierte die Vorderseite des Schanktisches. Auch der war verwaist, ebenso wie die vier Barhocker davor. Doch von der oberen Etage des zweigeschossigen Restaurants hörte er Stimmen. Eine davon dröhnte so laut, dass sie auch noch im Parterre gut zu hören war.

«Na, die Ariane is' wohl widder allein», dachte Egon laut nach.

Ariane Moosbach stand dem Mann mit der auch im Parterre vernehmbaren Stimme gegenüber und servierte ihm ein großes Glas Bier. Der saß alleine an einem Tisch in einer Ecke nahe der Treppe zum Erdgeschoss und schob ein großes Stück Kochfleisch hinter seinen Walrossbart. In nur zwei Zügen spülte er das frische Pilsener herunter.

«Herrgottnochmal, kann der Ferdi nicht einmal ganz normales Solberfleisch machen? Ohne diesen ganzen Firlefanz, nur ein einziges mal ohne den Ingwer-Scheiß oder diese furchtbare Gewürz-Mischung, von der man eh nur Sodbrennen kriegt?!»

«Wenn es dir nicht passt, brauchst du ja nicht hierher zu kommen, Papa!», antwortete die junge Frau mit der braunen Servier-Schürze und nahm in einer schnellen, aber eleganten Bewegung das schmutzige Geschirr auf.

«Soweit kommt's noch. Willst du mich aus meinem eigenen Schweinestall schmeißen?», entgegnete der Mann, sah seiner Tochter mit einem bohrenden Blick in die Augen und ergriff ihren Arm, mit dem sie das Geschirr hielt. Prompt fiel das Porzellan zu Boden und zersprang auf dem Parkett in tausend Stücke. Einige Scherben fielen die Treppe hinunter und schlugen direkt neben Egon Hirschmann auf dem Boden des Erdgeschosses auf. Ariane Moosbach riss sich von ihrem Vater los, hob hastig die größten Scherben auf und rannte die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz kam ihr Feuerwehrhauptmann Kurt Wiesamer entgegen. Er sah sie an und erkannte, dass sie den Tränen nahe war, versuchte aber, die Situation diplomatisch zu überspielen.

«Ach, liebe Frau Moosbach, da sind Sie ja. Wir sind jetzt soweit fertig. Hat's Ihnen und Ihren Gästen denn gefallen?», fragte er, bemerkte jedoch schnell, dass jetzt wohl nicht der richtige Moment für eine Manöver-Kritik mit der jungen Restaurant-Besitzerin war.

«Ähm, wir sammeln uns jetzt auf der Aussichtsterrasse und machen dort den Einsatz-Abschluss …»

«Ach ja, gut, vielen Dank! Der Schnaps und das Essen für Ihre fleißigen Kameraden kommt sofort – für die Männer hat sich Ferdi heute etwas ganz Besonderes einfallen lassen!», tat Ariane so gewöhnlich wie möglich und rang sich ein gequältes Lächeln ab. Dann stürmte sie die Treppe hinunter. Die Reaktion des Wehrführers entging ihr bereits.

«Das ist mir klar», brummelte Wiesamer in sich hinein. Im Obergeschoss angekommen, passierte er den Tisch von Odo Moosbach, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

Am unteren Treppenabsatz zwängte sich Löschzugführer Georg Lisberg mit seiner schweren Einsatz-Montur an der jungen Restaurant-Chefin vorbei und stapfte die Treppe empor. Der altweiße Helm mit den deutlichen Gebrauchsspuren baumelte lebhaft am Gürtel. Lisberg roch nach dem Rauch des verbrannten Buchenholzes, das für das Sonnenwendfeuer verwendet worden war und lief ebenfalls an Moosbach vorbei. Der begrüßte ihn freundlich, während er sich eine Zigarre anzündete. Das emaillierte Schild "Rauchen Verboten!" über dem Treppenabgang, das aus einem alten Eisenbahnwaggon zu stammen schien, störte ihn nicht im Geringsten.

«N'abend Georg! Und, fertig?»

«Ja, fix und fertig. Scheiß-heiß, wenn du den ganzen Abend vorm Feuer stehst. N' vernünftige Schwelbrand ist mir lieber», sagte er mit einem angedeuteten Lächeln und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Odo Moosbach zog an seiner "Isla-Libre", fingerte eine weitere aus der Brusttasche seines karierten Hemdes heraus und hielt sie ihm hin. Georg Lisberg blickte kurz hinter sich, dann nahm er die Zigarre und nickte ihm wortlos dankend zu.

«Ich komm' morgen mal bei dir vorbei, es gibt da noch etwas zu besprechen, wir müssen das nochmal ändern …», sagte Moosbach leise zu Lisberg, so dass nur er ihn hören konnte und sah ihn dabei mit seinen dunklen Augen eindringlich an. Der junge Feuerwehrmann mit den schwarzen Locken war überrascht.

«Ja, aber … wir hatten doch schon alles geklärt?!», antwortete Georg unsicher.

«Schon, aber ich habe meine Meinung eben nochmal geändert.» Dabei zog Odo abermals an seiner Zigarre, deren Qualm sich mittlerweile in einer großen, wabernden Wolke auf den gesamten überdachten Bereich des Obergeschosses verteilt hatte, obwohl die Giebeldecke recht hoch war und nach oben hin bis zum First reichte. Die einzigen noch verbliebenen Gäste, ein Ehepaar, das eben gerade von Ariane zwei kleine Törtchen als Aufmerksamkeit des Hauses zur Eisernen Hochzeit serviert bekam, erlitten gleichzeitig einen Hustenanfall. Beide keuchten so stark, dass eine eben gerade hinzugestoßene Feuerwehrfrau es als notwendig erachtete, sich nach dem Befinden der Dame in einem Kleid aus den Vierziger Jahren und des Mannes mit bunter Fliege und beigem Karo-Jackett zu erkundigen. Doch der 89-jährige winkte ab: er habe den Volkssturm und fünfundsechzig Ehejahre überlebt, da brächte ihn so eine billige Zigarre auch nicht um.