Lahnbrand - Henrich Dörmer - E-Book

Lahnbrand E-Book

Henrich Dörmer

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Beschreibung

Am Abend des 8. April 1928 bescheinen Lampions und Fackeln das festlich geschmückte Lahnufer. Die Gießener Schiffs-Kameradschaft feiert die Einweihung ihres neuen Schulschiffs. Doch der Festredner, ein ehemaliger Marineoffizier, erscheint nicht. Erst am nächsten Morgen wird klar, warum. Jesper Matthies wird leblos auf einem Grün des erst kürzlich eröffneten Gießener Golfclubs am Lahnknie aufgefunden, nur wenige hundert Meter vom Vereinsheim der Schiffs-Kameradschaft entfernt. Kommissar Simon Rau übernimmt die Ermittlungen, zusammen mit der aus Hamburg angereisten Inspektorin Rieke Hansen und dem jungen Pathologen Karl Wiesenholder. Sowohl der Besuch einer Vorstellung im Stadttheater, als auch der dramatische Ausgang eines Box-Kampfes in der Volkshalle lassen Kommissar Rau bald daran zweifeln, wer auf der richtigen Seite steht und ob am Ende wirklich das Gute über das Böse triumphiert. Die Suche nach den Hintergründen führt die Ermittler unter anderem in den Seltersweg zum Hotel "Prinz Carl" und zu den Restaurationen "Lotzekasten" und "Concerthaus".

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Für unsere Kinder

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Am Lahnknie

Die Auchtermuchty-Fahne

Teufelslustgärtchen

Hotel Prinz Carl

Lahnbrand

Pfeifen und Lunten aus!

Tot am Stock

Satyr und Zorn

Großherzog von Hessen

Seltersweg und Selterstor

In der Volkshalle

Ins Lotze

Auf der Margaretenhütte

Von Humboldt zu Liebig

Y-Schnitt

Hof&Dorf Güll

Esmeralda

Zweier-ohne

Ursache und Wirkung

Epilog

Über die Handlung

Manisches Box-Lexikon

Danke

Stadtplan von Gießen in 1928

Die Chemie führt den Menschen ein in das Reich der stillen Kräfte, durch deren Macht alles Entstehen und Vergehen auf der Erde bedingt ist.

Justus von Liebig

Prolog

Bilbao, Spanien, 19. November 1921

Der Nebel war so dicht, dass der Lichtkegel des Leuchtfeuers wie durch Milchglas gedämpft das Fenster streifte. In klaren Nächten schien der steinerne, strahlend weiß getünchte Turm des Faro del Muelle von dem kleinen Balkon des Mansardenzimmers aus zum Greifen nah. An diesem frühen, kalten Novembermorgen aber war noch nicht einmal der Anfang der nur hundertfünfzig Meter entfernten Hafenmole zu erkennen, an deren Ende der Leuchtturm auf seinem kreisrunden, steinernen Sockel thronte. Hinter der beschlagenen Fensterscheibe der Balkontür beobachtete der junge Mann vom Bett aus, wie das Licht in immer gleichem Rhythmus über den nackten Rücken der Frau neben ihm huschte. Wieder und wieder streifte der kaltweiße Strahl seine Finger, während diese ihre warme und weiche Haut streichelten und die winzig kleinen Schweißperlen verwischten, glitzernde Spuren einer Nacht erfüllt von inniger Liebe. Er lauschte ihrem ruhigen, friedlichen Atem, sah, wie sich ihr Brustkorb dabei sanft hob und senkte und roch den Duft, den sie verströmte, als habe sie das am feinsten komponierte Parfüm aufgetragen, das man in Paris erstehen konnte. Er wünschte, dieser Moment würde nie vorüber gehen. Doch der Wecker auf dem Nachttisch riss ihn aus dem Augenblick und warf ihn ohne Rücksicht zurück in die Zeit, die zwei schnörkellose, schwarze Zeiger auf dem weißen Zifferblatt anzeigten, nur durch eine nüchterne Winkelstellung: Der kleine Zeiger stand zwischen drei und vier, der größere auf der sechs. Ohne Vorwarnung trommelte ein winziges Hämmerchen im Gehäuseinnern wie rasend auf eine Glocke ein und bewirkte, dass ein Rückenmuskel der noch Schlafenden beinah unmerklich zuckte. Ungläubig starrte der noch jugendlich wirkende, schmale Mann auf das wild vibrierende Gerät. Noch bevor er reagieren konnte, tastete ihre Hand nach dem Wecker, bis sie ihn endlich zu fassen bekam und ihn unter ihrem Kissen verschwinden ließ. Der Mann griff über ihre kupferfarbenen Locken, holte das noch immer schrill rasselnde Metallkästchen hervor und betätigte den kleinen Messingknopf auf der Oberseite, augenblicklich verstummte das Klingeln. Beruhigt ließ er sich wieder zurück auf die wohlig weiche Matratze fallen, um, die Augen schon wieder geschlossen, murmelnd festzustellen:

«Deutsches Fabrikat. Natürlich. So unerbittlich klingt nur ein Wecker aus der Heimat. Weißt du was, beim nächsten Mal bringe ich dir einen von Valparaiso mit. Das Uhrwerk geht von vornherein um eine Stunde nach, dafür funktioniert der Wecker so gut wie nie», erneut streckte er den Arm nach ihr aus, in der Hoffnung sogleich wieder seine Finger über ihre warme, geschmeidige Haut gleiten lassen zu können.

Indes, er griff ins Leere, die junge Frau hatte sich schon von der Bettkante gleiten lassen. Sie trat an den schlicht gearbeiteten Waschtisch heran, tauchte ihre Hände in das kalte Wasser der Emailleschüssel, formte dann mit den Handflächen ein kleines Bassin und benetzte damit ihre blassen Wangen. Der Spiegel über der Waschschüssel war fast blind, ihr Blick auf das eigene Ich war leer. Unverwandt ging sie zum Herd hinüber, öffnete die Klappe, nahm ein paar Fetzen der Zeitung von gestern, ummantelte damit zwei Briketteier und steckte sie in den Feuerschacht. Der Papierschnipsel mit der Schlagzeile lugte unter dem runden Brikett hervor:

BILBAO EN GUERRA — NUEVAS ATAQUES — CUATRO MUERTO1

Der Kadett lauschte den Geräuschen weniger als sechs Schritte vor ihm und hoffte für eine Weile, dass sie gleich wieder unter die gemeinsame Decke zurückkehrte. Der Geruch eines entzündeten Streichholzes, von verbranntem Papier und kurz darauf der einer brennenden Zigarette ließen ihn bald daran zweifeln: «Carla?», blinzelte er in ihre Richtung. Sie lehnte, noch immer unbekleidet, am Türrahmen zur Terrasse und blickte in die neblige Dunkelheit. Der Lichtstrahl des Leuchtfeuers streifte ihre schmale, im Gegenlicht in tiefes Schwarz getauchte Silhouette und verlieh dieser einen wunderschönen wie auch unwirklichen Halo, ähnlich dem Strahlenkranz einer totalen Sonnenfinsternis. Einer perfekten Sonnenfinsternis. Der Mann im Bett stemmte die Ellenbogen auf das Kissen in seinem Rücken. Sein Blick fixierte die dunkle, schemenhafte Gestalt und ihre nur im Rhythmus des Lichtstrahls aufleuchtenden und wieder vergehenden Umrisse. Und auch wenn er es für einen Moment nicht wahrhaben wollte, war ihm klar, der Wecker ging richtig.

Vor eineinhalb Jahren hatte er Carla kennen gelernt. Damals war er noch Leichtmatrose auf der Peking, dem Schwesterschiff der Perseus. Die Route war jedoch dieselbe. Beide Viermast-Segler bedienten die Salpeterfahrt. Ladehäfen für das Natriumnitrat waren Iquique in Peru und Taltal, Valparaiso oder Concepción in Chile, bevor die voll beladenen Rahsegler um das Kap Horn über den Atlantik zurück nach Europa fuhren und dort Häfen wie Santander, Bilbao, Rotterdam und letztlich den Heimathafen Hamburg anliefen. Es war bereits das dritte Mal, dass er auf einem der Segler in Bilbao eingelaufen war. Bereits auf seiner ersten Fahrt mit der Peking 1920 hatte er sich sofort morgens beim Einlaufen in Bilbao und in der darauffolgenden Nacht in der kleinen Hafen-Taverne drüben in Algorta in Carla verliebt. Doch schon bei dem ersten seiner jeweils rund einwöchigen Aufenthalte in der Stadt am Golf von Biskaya bemerkte er, dass Carla keine Frau war, die auf ihn als Mann gewartet hatte, um ihr Leben als ausgefüllt anzusehen. Auch wenn er den Vergleich nicht mochte, erinnerte sie ihn doch an eine einsame Wölfin, die mal hier, mal dort gesichtet wurde, ehe sie bald wieder verschwand, um an einem anderen Ort für kurze Zeit aufzutauchen. Aber genau das ließ sie ihm wohl so interessant erscheinen. Sie war keine Frau, die sich leicht erobern ließ. Wenn, dann entschied sie sich bewusst dazu es zuzulassen. Und sie bestimmte, wann es für sie wieder an der Zeit war, das Gefieder auszubreiten, um in Freiheit zu fliegen, gleich einem Kormoran oder einem Kranich. Und so wunderte er sich nicht, dass sie ausschließlich ihrem eigenen Koordinatensystem folgte, auch wenn die Kompassnadel noch nie so früh ausgeschlagen hatte wie heute Nacht, der Wecker zeigte kurz nach halb vier an. Dass sie einen Nachmittag lang nicht anzutreffen war oder nach zwei Tagen wieder von einem Ort zurückkehrte, den nur sie selbst kannte, war er gewohnt. Dabei war es für ihn alles andere als merkwürdig, dass ihm nicht eine Sekunde lang der Gedanke gekommen war, dass es sich nicht auch um einen anderen Mann handeln könnte, der sie in seinen Bann schlug. Er war gewiss, wenn es so gewesen wäre, hätte sie es ihm längst gesagt und die Beziehung sofort beendet. Zudem gab es für ihn noch einen weiteren Hinweis, warum er mit dieser Einschätzung richtig liegen konnte. Sie waren im Baskenland. Hier, wie auch in vielen anderen Regionen der iberischen Halbinsel, kämpften Männer wie Frauen seit Jahrhunderten für ihre Rechte, für ihre eigene heilige Sache, für ihre Wahrheit, die sie jeder anderen als überlegen ansahen, vor allem und zuvorderst aber für ihre Heimat, ihre Unabhängigkeit. Und so fühlte er es mehr, als dass er es wusste, dass auch Carla sich für eine der vielen Seiten engagierte. Doch nur die wenigsten sprachen darüber, was sie für ihre Sache taten, wie weit sie bereit waren zu gehen, wie viel dafür zu opfern. Eigentlich wusste er daher nicht, warum er die Frage, die schon so oft unbeantwortet geblieben war, nun doch wieder stellte:

«Was hast du vor?»

«Ich muss etwas erledigen.»

«Jetzt?»

«Ich bin gleich zurück.» Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Noch immer stand sie schier regungslos da.

«Wer bist du?», fragte er. Carla zupfte sich eine Tabakfaser von der Zungenspitze und antwortete:

«Dimelo a mi.2» Doch damit gab er sich nicht mehr zufrieden.

«Das würde ich gerne. Aber auf welcher Seite stehst du?»

«Auch das würde ich gerne selbst wissen, Cholo», gab sie zurück und stieß dabei eine größere Rauchwolke aus, «selbst wenn ich dir sagte, dass, wenn es um die Freiheit geht, es gar keine Seite geben kann. Oder was würdest du sagen, wenn ich dir eine Boccia-Kugel reichen würde und du solltest dich für eine bestimmte Seite entscheiden?!», ergänzte sie nach einer Weile.

Der Seemann stieg aus dem Bett, zog sich seine lange Unterhose an und hob Carlas Morgenmantel vom Fußboden auf, wo sie ihn gestern Abend von ihren schmalen Schultern hatte gleiten lassen. Der hauchdünne, roséfarbene Stoff war das Geschenk, das er im teuersten Kurzwarengeschäft von Valparaiso für den allergrößten Teil seiner Heuer erstanden und ihr am Tag seiner Wiederkehr zum Geschenk gemacht hatte. Er stellte sich hinter sie, so wie an jenem Abend vor einer Woche, als er sie damit überraschen wollte und sie dazu gebeten hatte die Augen zu schließen. Doch ihre Reaktion damals war eine gänzlich andere, als er erwartet hatte. Denn als sie gespürt hatte, dass er sich ihr in ihrem Rücken nähern würde, hatte sie sich umgedreht, die Augen aufgerissen und ihn für einen Moment erschrocken angestarrt, als habe sie in ihm einen Geist gesehen oder einen Angreifer. Jetzt aber war er sicher, dass sie erkannte, dass er ihr den Morgenmantel über ihre schmalen Schultern legen würde, um sie vor der feuchten Kälte zu schützen. Und tatsächlich, diesmal rührte sie sich nicht von der Stelle.

«Du gehörst zu den Separatisten, nicht wahr?», setzte er, noch immer hinter ihr stehend, nach. Sanft umschlang er ihre Hüften und küsste sie auf die Schulter.

«Ach, Tolito», nur sie nannte ihn so, «Ihr Deutschen versucht immerzu, die Welt in Schubladen zu stecken. Ihr denkt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Links und Rechts. Aber das funktioniert hier nicht, nicht bei uns Basken, nicht bei den Katalanen, nicht bei den Asturiern, von Murcia oder Navarra ganz zu schweigen. Nehmen wir die Carlisten, sie haben sich immer für die Einheit von König, heiliger katholischer Kirche und einem starken Baskenland eingesetzt», gab sie ruhig, fast flüsternd zurück. «Was ist falsch daran, für seine Rechte einzutreten? So wie deine Kameraden, die im letzten Jahr auf einem deiner Schiffe gegen die Bedingungen an Bord aufbegehrten.» Sie erinnerte ihn damit an das, was er ihr von den Aufständen auf der Priwall berichtet hatte. Allerdings hatte er Carla auch erzählt, dass die meisten der an den Protesten an Bord Beteiligten zum allerersten Mal als Matrose angeheuert worden waren, ohne ernsthaft zu wissen, auf was sie sich einließen. Er selbst hatte sich bewusst für einen Dienst auf einem dieser Schiffe entschieden. Sowohl seine Eltern, als auch er sahen diese Zeit als Möglichkeit, sich selbst zu beweisen, sich geistig wie körperlich an Grenzen zu bringen und sich damit freiwillig einer Prüfung zu unterziehen, die für alles, was darauf folgen würde, schulen und prägen würde. Eine Schule fürs Leben, in jeglicher Hinsicht. Carla aber schien andere Pläne zu verfolgen. Und er wollte endlich erfahren, welche Herausforderung sie antrieb:

«Also bist du eine Liberale?» Carla befreite sich aus seiner Umarmung, schlug den Morgenmantel eng um sich und drehte sich zu ihm um. Ihre grünen Augen funkelten:

«Bist du verrückt? Die Liberalen treten seit Jahrzehnten die Rechte der Basken mit Füßen. Fehlt nur noch, dass du mich mit den Kommunisten oder am Ende noch mit den Faschisten in Verbindung bringst, diesen ungläubigen Ketzern!» Verärgert schnickte sie die aufgerauchte Zigarette im hohen Bogen über die Balkonbrüstung, sodass die Kippe auf dem Pfad vor dem Hafenbecken landete.

Carla schloss die Terrassentür und machte sich zügig daran, den Morgenmantel abzustreifen, um ihn durch schlichte Alltagskleidung zu ersetzen: eine dunkelblaue Bluse, wärmende Strümpfe, eine schwarze Ballonhose und grobe Stiefeletten, die eher an die Schuhe eines Hafenarbeiters erinnerten als an die einer spanischen Señorita, auch und erst recht nicht einer baskischen. Die Lederhandschuhe würde sie erst später anziehen.

«Dann unterstützt du König Alfons XIII.?» Carla setzte sich einen schlicht schwarzen, haubenförmigen Hut auf:

«Der einzig rechtmäßige Prätendent sitzt jedenfalls nicht auf dem Thron! Auch wenn derjenige schon geboren ist, der die heiligen fueros, die ehedem zugesicherten Vorrechte unserer baskischen Heimat, durchsetzen wird!»

«Also gehörst du doch zu den Carlisten?»

«Wie ich schon sagte, du würdest es nicht verstehen! Du als germano schon gar nicht.»

Indem Carla ihren Mantel anzog, bedeutete sie ihm, dass es Zeit für sie war aufzubrechen, wohin auch immer. Er würde es heute nicht mehr herausbekommen, das war ihm mittlerweile klar. Sie trat nah an ihn heran, sah ihm in die Augen, legte ihre Hände an seine Wagen und schob sie dann in seinen dunklen Haarschopf:

«Tolito, alles, was du wissen musst, ist, dass ich dich liebe!» Darauf nahm er ihre Hände und küsste sie zärtlich:

«Dann komm mit mir. Du bist viel zu wertvoll und teuer, um dich hier in diesem Land für irgendeine Seite …», er suchte ein anderes Wort für "verheizen", «… vereinnahmen zu lassen!» Carla erwiderte seine Küsse auf ihre Handrücken, schob die seinen dann aber wieder zu ihm zurück und antwortete:

«Ich liebe dich zwar, aufrichtig und mit jeder Faser meines Herzens. Aber meine Seele gehört meiner Heimat, und die braucht mich. Mehr, als ich dir heute zu erklären vermag!» Dann wandte sie sich zum Gehen:

«Ich bin gleich zurück, Tolito. Maria begleitet mich», damit meinte sie ihre Cousine, die er bereits kennengelernt hatte. Eine ebenso hübsche junge Frau wie Carla mit einem ähnlich starken Charakter, wenngleich nicht ganz so impulsiv. Das beruhigte ihn ein wenig, wenn auch nicht vollends. «Sorge dich nicht, wir werden noch genug Zeit haben, um uns voneinander zu verabschieden.» Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen.

Zwei Stunden später lag der Nebel zwar noch immer wie Mehltau in der Bucht von Bilbao. Immerhin sorgte eine schwache Brise aus Nordwest dafür, dass sich aus der milchigen Suppe Schwaden aus ihrer Umgebung herauslösten und dann und wann einen flüchtigen Blick auf die Perseus freigaben. Wenn dies geschah, dann wirkten die in Goldgelb gehaltenen, mächtigen und majestätisch anmutenden Masten und Rahen wie ein aztekisches, filigranes Kunstwerk aus purem Gold. Der Viermaster mit seinem unvergleichlich elegant geformten Schiffsrumpf, das Überwasserschiff schwarz, die Wasserlinie weiß und darunter rot, hatte seinen Liegeplatz an der Mole, an deren Ende sich der Leuchtturm befand, noch nicht verlassen. Auch wenn der im Vergleich zu dem über neunzig Meter langen Schiffsrumpf des Viermasters geradezu winzig erscheinende Schlepper bereits die Schleppseile gerefft hatte.

Tolito schaute von der Laufbrücke an Deck der Perseus hinüber zu dem kleinen Balkon der gedrungenen Mansardenwohnung, zumindest versuchte er durch die Nebelschwaden einen Blick auf das sandsteinerne Haus an der Uferstraße zu erhaschen. Wenn im Dachgeschoss Licht gemacht worden wäre, hätte er es sehen können. Doch Carlas Zimmer lag im Dunkeln. Um ihn herum war geschäftiges Treiben. Letzte Kisten, Säcke und Fässer mit Proviant wurden über die schmale Gangway an Bord geschleppt oder mittels Handwinden über die Reling gefiert. Darunter, in kleineren Kisten in Holzwolle verpackt, befanden sich einige Flaschen von trockenem Txakoli und tiefrotem Rioja, die den Offizieren der Handelsmarine beim Abendessen gereicht werden sollten. Immerhin würde der Smutje für die Mannschaften frischen Kabeljau und den berühmten Biskaya-Thunfisch zubereiten, vielleicht auch die köstlichen Pintxos, kleine Spieße gespickt mit allerlei Köstlichkeiten. Matrosen holten Taue ein, fierten über die giftgrüne, wagenradgroße Brasswinde vor dem Kartenhaus die Rahen am Großmast oder schlängelten sich auf der über das Brückendeck verlaufenden, schmalen Laufbrücke aneinander vorbei, wenn sie sich eiligen Schrittes begegneten. Es schien unwahrscheinlich, dass es in diesem Gewusel von Männern in dunklen Hosen und blauen Hemden aufgefallen wäre, wenn ein einzelner Seemann für einen kurzen Moment nicht der Erfüllung seines Auftrages nachgekommen wäre. Doch die Offiziere, durch die weißen Mützen klar von den Mannschaften zu unterscheiden, hatten ein geschultes Auge:

«Herr Kadett, wenn Sie wohl die Güte hätten und die überarbeiteten Seekarten dem Navigator dedizieren würden», rief der 2. Offizier ihm vom Eingang des Kartenhauses aus in honigsüßem Ton zu, «und wenn nicht, dann hast du heute die erste, zweite und im Überfluss meiner Güte gleich noch die dritte Wache auf der Mars! Odel, maok gau!», schrie er ihn übergangslos an, zeigte auf die höchste Rah am Großmast und machte ihm damit klar, dass sein Kosename an Bord der Perseus ein anderer war als der von Carla zugeeignete. Notiz von dieser für die meisten Seemänner in gängigem Ton übermittelten Bitte nahmen allerdings nur die wenigsten Umstehenden.

Ein dumpfer Knall, gefolgt von einem diffusen Grollen, sorgte für deutlich größeres Aufsehen. Die Männer an der Brasswinde schauten auf, als ein schwaches aber doch spürbares Beben die Planken des Steuerdecks erzittern ließ.

«To Düvel, wat'n dat för'n Schiet?», entfuhr es einem der Matrosen, der durch die Erschütterung für einen Moment das Gleichgewicht verlor, stolperte und die Kiste, die er auf seiner Schulter an Bord getragen hatte, fallen ließ. Die Holzkiste sprang auf, sobald sie auf dem Pechkiefern-Holz des Oberdecks aufgekommen war, worauf zwei Dutzend Marmeladengläser zerbarsten, deren klebrig süßer Inhalt sich auf die Umgebung ergoss, direkt vor die Füße von Carlas Geliebtem. Ungläubig tippte der eine Fingerspitze in einen der blutroten Spritzer, die sein Hemd übersäten. Die meisten Seeleute taten die Erschütterung als leichtes Erdbeben ab. Nach kurzem Kopfschütteln nahmen sie wieder ihre Arbeit auf, der 1. Offizier im Kartenhaus hob nur für einen Augenblick die Augenbraue, während er die Seekarte, über die er sich gebeugt hatte, wieder an die richtige Stelle zurückschob. Nur Tolito blieb stehen, leckte den Tropfen Erdbeermarmelade von seiner Fingerspitze und schaute mit seltsam ausdruckslosen Augen in die Richtung, von wo er den Ursprung des Knalls verortet hatte: nach Südosten, der Ortsmitte der Hafenstadt. Von dort wanderte sein Blick zurück zum Hafen, zur Uferstraße, zu dem kleinen Balkon von Carlas Wohnung, noch immer in Dunkelheit gehüllt.

Allmählich leerte sich das Deck. Der Großteil der 31 Mann starken Besatzung war damit beschäftigt, Proviant und die anderen an Bord verbrachten Güter in den Laderäumen des Zwischendecks zu verstauen. Nur diejenigen, die die Leinen von der Mole zu lösen hatten und die Offiziere, die das Auslaufmanöver überwachten, blieben auf dem Brückendeck, zusammen mit den beiden Steuermännern hinter dem mannshohen Doppelsteuerrad, das sich direkt vor dem Kartenhaus befand. Bald begann die Schraube des dreißig Meter vor dem Bug der Perseus liegenden Kutters das Wasser weiß schäumend aufzuwirbeln, um die richtige Position für den Beginn des Schleppmanövers einzunehmen. Der Kadett mit dem Kosenamen Tolito hatte gerade die Laufbrücke verlassen, um einem seiner Kameraden dabei zu helfen, die Gangway längsseits auf das Schiff zu fieren, als er hastige, auf dem Kopfsteinpflaster der Mole klackende Schritte vernahm. Das merkwürdig ungleichmäßige Geräusch kam schnell näher. Bis er sie sah: Carlas Mantelseiten wehten in ihrem Rücken, sie stöhnte außer Atem, ihr Blick war angsterfüllt. Mehr noch, ihre geweiteten Augen zeugten von Panik. Sie hatte die schmale Gangway schon passiert, als sie ihren Geliebten erkannte.

«Carla! Carla!», platzte es aus ihm heraus. Abrupt stoppte sie und sah ihn nur keuchend an. Sofort nahm Tolito die Hand von der Winde und rief dem Bootsmann an der Kurbel ihm gegenüber zu:

«Zurück, Fiete, zurück fieren! Sie muss an Bord!» Der Matroser sah ihn verständnislos an:

«Wat? Odel, wese düll? Ne Dern op'm Schiff?!», und fuhr mit der Drehbewegung unbeirrt fort, im Gegenteil, er beschleunigte diese noch, sodass das Ende der Gangway einen halben Meter vom Boden der Hafenmole abhob.

«Sag mal, Fiete, siehst du das nicht? Sie braucht Hilfe! Wir können sie nicht einfach hier zurücklassen!» Der Bootsmann kurbelte weiter.

«Ücker dat dem Käpt'n, vööl Glück!», gab der kleine, stämmige Seemann mit dem grau melierten Schnauzer kopfschüttelnd zurück.

Währenddessen hielt ein in die Jahre gekommener, mit Staub und Schmutz überzogener Renault 12 CV direkt am Übergang der Hafenstraße zur Mole. Zwei Männer stiegen aus, gefolgt von zwei Frauen, die dem Fond des Wagens entstiegen. Das Pflaster des Kais betraten sie nebeneinander aufgereiht, der Frontlinie einer Römer-Kohorte gleich. Sie schienen es nicht eilig zu haben, gemächlichen Schrittes näherten sie sich dem Heck der Perseus. Die Frauen trugen die nach eben dieser Region benannten, typischen schwarzen Baretts. Die Baskenmütze war hier die traditionelle Kopfbedeckung eines Mannes. Die Köpfe der Männer waren dagegen mit jeweils einer dunkelblauen Wollmütze bedeckt, die der eines Seemannes ähnelte. Auch in der Körperhaltung glichen sich die beiden, die Hände hatten sie in den Taschen ihrer auffällig staubigen Mäntel vergraben, die jeweils rechte Manteltasche war ausgebeulter als die linke. Und auch wenn die beiden Matrosen, die sich am Schiffsheck aufhielten, die Gesichter der sich Nähernden im Nebel nicht genau erkennen konnten, die dunkel funkelnden Augen stachen selbst durch das trübe Milchweiß des Nebels heraus, vor allem die der Frauen. Fiete entdeckte die Gestalten zuerst. Er war ein erfahrener Bootsmann, der nicht nur eine Sturmfront aufkommen fühlte, noch bevor das Barometer einen Tiefdruck anzeigte. Es genügte ihm ein Blick auf eine Möwe und ihre Flughöhe, um auszumachen, ob eine Flaute oder ein Orkan drohte. Genauso unterschätzten manche seine Fähigkeiten, auch menschliches Ungemach vorausahnen zu können. Und so flog sein Blick von der vierköpfigen Gruppe hin zu der Frau unten vor der Gangway und dann zu Odel. Der kämpfte mit den Tränen:

«Fiete, bitte, ich flehe dich an!», keuchte er. Der Bootsmann lockerte darauf den Griff um die Kurbel.

«He, was ist da unten los? Der Schlepper zieht jeden Moment an! Macht schon», fiel der 2. Offizier in Fietes widerstreitende Gedanken ein. Jetzt erkannte auch Carlas Geliebter, dass sie in wenigen Augenblicken nicht mehr allein auf der Mole stehen würde.

«Herr Leutnant, diese Frau braucht Hilfe, sie ist in Gefahr! Ich ersuche, die Dame an Bord und damit in Sicherheit bringen zu dürfen!», rief Tolito dem Offizier auf dem Brückendeck zu und machte sich bereit, die Winde aufzunehmen, um die Gangway zurück zu fieren.

«Sag mal, Odel, haben sie dir in de Bregen gepisst? Oder schölt dir de Deern noch een Nacht, weil du ihr die ganze Heuer schon gleich am ersten Avend in de Vörbau gesteckt hast?», dann an Fiete gewandt: «Bootsmann, hoch föhren, komm in die Puschern!»

«Aye, aye, Herr Leutnant, aber ich glaube wirklich, dass mit der Lütten da unten etwas nicht stimmt, vielleicht sollten wir …», doch sofort unterbrach ihn der Mann mit der Offiziersmütze:

«Eben drum, Fiete, natürlich stimmt mit der was nicht! Fängst du jetzt auch noch an mit dem Schietkram?! Muss ich dir wirklich erklären, dass wir die Perseus erst letztes Jahr teuer von den Alliierten freikaufen mussten, mit unserem eigenen Salpeter!? Das Baskenland ist ein Pulverfass. Nur verträgt sich das leider nicht besonders gut mit unserer Ladung. Wollt ihr hier einen Krieg auslösen, nur wegen einer baskischen Deern? Odel, entweder du nimmst jetzt die Kurbel in die Hand oder ich setz dich bis Hamburg ins Kabelgatt!»

Der Matrose, den sie an Bord Odel nannten, sah besorgt zur Mole hinunter. Die vier Unbekannten waren jetzt nur noch sieben, acht Meter von Carla entfernt. Tolito bebte innerlich. Der Schweiß strömte ihm über die mittlerweile feuerrote Stirn, hilflos schaute er zu Carla hinüber, die seinen Blick ohne jede Regung erwiderte.

«Fiete, komm, bitte!», flüsterte er ihm flehentlich zu und begann, die Kurbel in die für ihn richtige Richtung zu bewegen. Doch der ältere und kleinere Mann war noch immer unschlüssig, gefangen im Zwiespalt zwischen Gehorsam und dem Drang, seinem menschlichen Instinkt zu folgen. Für einen Moment stand er einfach nur da, die Hand an der Winsch, ohne sich für eine Drehrichtung entscheiden zu können. Die Entscheidung nahm ihm der Zwei-O ab. Keiner der beiden hatte ihn heranstürmen sehen. Mit voller Wucht stieß er Tolito um, sodass der mit dem Kopf auf dem Schiffsboden aufschlug. Die Platzwunde an der Stirn bemerkte er nicht einmal. Zwischen den Tauen und Kokosmatten auf dem Schiffsboden liegend bedachte er den 2. Offizier mit einem verachtenden Blick. Er hatte noch nie einen solchen Hass gegenüber einem anderen Menschen verspürt. Der drohte Bootsmann Fiete derweil mit dem Zeigefinger:

«Hoch föhren, aver gau!» Fiete tat, wie ihm geheißen war, so schnell wie selten ließ er mit seinen Fäusten die Kurbel rotieren. Im selben Moment spürte Tolito einen Ruck durchs Schiff gehen, kurz darauf nahm die Perseus im Kielwasser des Schleppers Fahrt auf.

Als Tolito sich aufgerappelt hatte, stürzte er zur Bordwand. Von dort sah er, wie Carla neben dem Schiff herlief, erst langsam, dann immer schneller. Für eine gefühlte Ewigkeit blieben sie auf diese Weise auf gleicher Höhe. Hinter ihr lauerten noch immer die vier Gestalten. Sie blieben bei ihrer gemächlichen Gangart, unschwer war zu folgern, weshalb: Sowohl der Viermaster als auch Carla steuerten auf das einzige Ziel zu, das die Mole Punta Begona an ihrem Ende zu bieten hatte, den Leuchtturm del Muelle. Allerdings würde das Schiff an der kreisrunden Plattform, in deren Mitte sich der Turm befand, vorbei gleiten, während für Carla genau dort das Ende des Weges erreicht sein würde.

«Carla, Carla …», rief Tolito der größten Liebe seines noch jungen Lebens zu, in dem Wissen, dass er ihr nichts mehr sagen konnte, was ihr helfen würde, nichts, was ihr einen Ausweg aus dieser Lage bieten konnte. Carla aber blieb stumm. Auch konnte oder wollte sie Tolitos Blick nicht länger erwidern. Bis sie die Plattform mit dem Rundgang um den Leuchtturm erreicht hatte, hatte sie sich kerzengerade aufgerichtet, ihre Schritte setzte sie nun ruhig und bestimmt. Tolito hatte noch nie zuvor einen Menschen gesehen, der soviel Würde und Stärke ausgestrahlt hatte wie sie. Ihre Verfolger hielten aus einem unbestimmten Grund den immer gleichen Abstand zu Carla ein, war es ein gewisser Respekt vor der jungen Frau, war es die Gewissheit, dass sie sowieso nicht entkommen konnte. Und so erreichten sie gemeinsam den äußersten Punkt der Mole, der von der Mauerbrüstung des zehn Meter hohen Turmsockels begrenzt wurde. Finis terrae. Das Ende der Welt.

Tolito stürmte, Ohnmacht und Hilflosigkeit ließen ihn immer wieder stolpern, über die Laufbrücke. Bald hatte er den hintersten Bereich des Achterdecks erreicht, dort, wo sich das Notsteuerrad befand. Hastig fingerte er aus dem dahinter befindlichen Kasten mit dem Navigationsgerät ein Fernglas. Tränen in seinen Augen und zitternde Hände verhinderten, dass er die Optik schnell auf die richtige Entfernung zum mittlerweile gut hundert Meter entfernten Leuchtturm einstellen konnte. Als er es endlich geschafft hatte, sah er, wie Carla sich ihren Häschern stellte. Ruhig und kontrolliert drehte sie sich zu ihnen um. So stand sie da, weniger als fünf Meter lagen zwischen ihr und ihren Verfolgern. Ihre Arme hatte sie leicht ausgebreitet, die linke Handfläche zeigte zu ihren Verfolgern. Für Tolito schien es, dass ihre kupferroten Haare in diesem Moment stärker leuchteten als das Leuchtfeuer direkt über ihren Köpfen. Die Männer ihr gegenüber zogen nahezu gleichzeitig einen Revolver aus ihren Manteltaschen. Im selben Moment ließ Carla etwas aus ihrer rechten Hand fallen. Ein olivgrüner, unscheinbarer Stab, dessen leises Klicken auf dem Schiff nicht zu hören war. Sekundenbruchteile später wurde der Schaft des Faro del Muelle in gleißend helles Licht getaucht, der Nebel durch die unerbittliche Druckwelle hinfort geweht, Körper ins dunkle Nichts geschleudert. Schließlich begruben die kalten Fluten des Golfs von Biskaya den rotblonden Schopf der jungen Frau, als ob sie niemals vorgehabt hätten, sie ziehen zu lassen. Als wenn es Carlas unausweichliches Schicksal gewesen wäre, ihre Heimat niemals zu verlassen.

1 BÜRGERKRIEG IN BILBAO – NEUE ANSCHLÄGE – VIER TOTE

2 Sag du es mir.

1. Am Lahnknie

Ostersonntag, 8. April 1928

Der Duft des Frühlings lag in der Luft. Vom Lahnknie, der Schleife des mittelhessischen Flusses, die den Golfplatz von Südwesten bis nach Osten in einem fast perfekten Halbkreis umschloss, drang ein zwar frischer, aber nicht unangenehmer Wind über die Aue. Die Sonne hatte die Luft immerhin auf 15 Grad erwärmt und über die letzten Tage dafür gesorgt, dass silbrig schimmernde Weidenkätzchen bereits in großer Zahl das Lahnufer säumten. Erst jetzt am frühen Abend, das Gestirn war auf seiner Bahn bereits nahe an die Burg auf dem Gleiberg herangerückt, tauschten die Besucher der Restauration ihren Platz auf der Terrasse gegen den eines näher am wärmenden Kamin liegenden im Clubhaus ein. Zudem zeigte sich das neunte Grün vis-a-vis immer weniger unterhaltsam. In der letzten Stunde hatte die Anzahl der Golfer stetig abgenommen, die hier mit dem letzten Schlag auf dem Grün, vielleicht auch einem allerletzten ihre Runde beendet hatten.

Paul McKinley prüfte die letzten beiden Einträge des Tages auf der Startliste. Eine Bommel thronte in der Mitte der kreisrunden, blauen Mütze auf dem Kopf des Starters, des Mannes, der dafür verantwortlich war, die Golfer am ersten Abschlag zu begrüßen, bei Nichtmitgliedern die Spielgebühr zu kassieren und mit ein paar launigen Bemerkungen die Mitspieler, auch Flightpartner genannt, miteinander bekannt zu machen, um sie dann auf die gemeinsame Runde zu verabschieden. Er drehte sich noch einmal zu dem Zettel auf dem kleinen Pult um. Dann verwischte er mit dem Handballen die Namen der vor einer halben Stunde gestarteten Zweier-Gruppe auf der an dem achteckigen Starterhäuschen angebrachten Tafel, um in geschwungenen Kreide-Lettern die Startzeit der letzten Golfer des Tages zu notieren:

Tee Time 6 ½ Uhr: Hektor Klar Jesper F. Matthies

Der Erstgenannte öffnete mit einem festen Druck auf das goldene Krönchen den Deckel seiner Taschenuhr. Kopfschüttelnd ließ er sie wieder in der Tasche seiner dunkelblauen Weste verschwinden, zum dritten Mal innerhalb der letzten drei Minuten. Mit angesäuerter Miene sah er zu McKinley hinüber und deutete auf die Tafel:

«Das "h"!»

«Pardon?», fragte der Starter nach.

«Mein Name schreibt sich mit "h". Wann merken Sie sich das endlich, McKinley?!», blaffte er ihn an. Der Mann in Knickerbockern und den farblich zu seiner Tam o'Shanter-Mütze abgestimmten Strümpfen hob die Augenbrauen, verzog betreten die Mundwinkel und korrigierte seinen Schreibfehler, indem er ein recht schmales h an seinen Platz zwängte. Dabei hätte er zu gerne so geantwortet, wie er es zu Hause in Glenrothes, Grafschaft Fife, getan hätte. Dort in den Lowlands, gleichsam Wiege des Golfsports, hätte er gewiss sein können, dass ein Landsmann seinen schottischen, auf Sparsamkeit bedachten Humor verstand:

«Well, in Ihrem Vornamen ist bereits ein "h" enthalten, ein weiteres wäre reine Verschwendung, zumal es in Ihrem Nachnamen völlig nutzlos ist, ist es nicht?», wäre sicherlich seine Begründung gewesen, die er hier, vor einem Clubmitglied, dem der Ruf vorauseilte, nur sehr bedingt für Ironie empfänglich zu sein, geflissentlich unterließ. Hektor Klahr, seine Kieferknochen zermahlten einen imaginären Kieselstein zu Brei, hatte gerade wieder seine Taschenuhr gezückt. Sie zeigte fünf nach halb sieben an, als sich in seinem Rücken wildes Geklapper näherte. Das Geräusch war eindeutig dem Inhalt einer schnellen Schrittes getragenen Golftasche zuzuordnen.

Nur Augenblicke später trat ein Mann in einem bequem geschnittenen Leinenanzug und locker gebundener Kragenschleife hinter dem Starterhäuschen hervor. Der Mann, der die röhrenförmige Tasche vor dem Abschlagsbereich absetzte, blies die Backen auf, bevor er durchschnaufte. Dann lüftete er seine Schiebermütze und wischte sich mit einem seidenen Taschentuch über das schmale Gesicht eines Endvierzigers.

«Guten Abend! Verzeihen Sie, meine Herren, aber ich hatte die Entfernung von der Straßenbahn-Haltestelle bis hierhin etwas unterschätzt!»

«Sie sind gelaufen? Von der Marburger Straße bis hierher? Respekt!», bekannte McKinley. Er hatte schon immer etwas für Leute übrig, die, bei all den stinkenden und dröhnenden Automobilen, Straßenbahnen und Dampfloks dieser Tage nicht vergessen hatten, dass man die Beine auch abseits des Golfplatzes sinnvoll nutzen konnte. Doch der Mann mit dem kleinen Schmiss am rechten Mundwinkel ergänzte:

«Ehrlich gesagt wäre mir ein bequemerer Transport auch lieber gewesen, aber mein Auto hätte schlechterdings in die Junkers gepasst.»

«Dann sind Sie mit dem Flugzeug nach Gießen gekommen?», staunte McKinley erneut. Der Neuankömmling nickte.

«Einen schmucken Flughafen haben Sie hier. Das Empfangsgebäude scheint brandneu, die Abfertigung ist vorzüglich, da kann sich unser Flugplatz in Fuhlsbüttel eine Scheibe abschneiden!» Hektor Klahr, dessen stämmiger Korpus verriet, dass er in jedem Falle die Anreise in seinem Mercedes-Benz 8/38 Modell Stuttgart bevorzugte, hatte lange genug gewartet.

«Ihr Name ist Matthies?», was der Mann mit der drahtigen Gestalt bestätigte, während Klahr ihm flüchtig die Hand gab.

«Ich würde vorschlagen, dass wir endlich anfangen, um halb neun ist es zappenduster. Welchen Ball spielen Sie? Hier ist mein Haskell 4», und hielt ihn seinem Mitspieler so hin, dass der gar nicht umhin kam, jedes Detail der beigefarbenen Kugel erkennen zu können.

«Oh, dann werden wir keine Probleme miteinander haben, mein Rubber Mesh 2 hat eckige Dimples, Ihrer ja runde. Verwechslungsgefahr besteht also nicht. Und bitte, Sie haben die Ehre. Aber wollen wir zuvor nicht auf die Runde anstoßen?», erinnerte er an eine Gepflogenheit, die auf den meisten Golfplätzen der Welt genauso ernst genommen wurde wie jede andere Etikette-Regel. Jesper Matthies holte aus dem Seitenfach seiner Golftasche einen großzügigen Flachmann hervor und goss daraus in zwei kleine Metallbecher ein, die zuvor über den Verschluss der Flasche gestülpt waren. Klahr winkte ab, vergaß aber nicht, seinem Mitspieler noch einmal die Hand zu geben, bevor er ein «Schönes Spiel» wünschte und gleich darauf die als "Tee" bezeichnete, quadratische Fläche betrat, von wo aus der Ball mit dem Abschlag ins Spiel gebracht wurde.

Jesper Matthies gesellte sich im Schatten der Starterhütte zu Paul McKinley und bot ihm lautlos den für Klahr vorgesehenen Becher an. Der nahm dankend an und ließ zunächst das Aroma des Whiskys in seine Nasenflügel strömen. Er schloss die Augen, dann lächelte er:

«to hell, is that true?» Er nahm einen winzigen Schluck, ließ ihn über die Zunge gleiten und wartete einen Moment lang auf den ersehnten torfigen Nachgeschmack, der diesen Brand von allen anderen unterschied: «No doubt, Auchtermuchty, 15 years old! Schmecken Sie die Note von Rhabarber, Heidekraut und gebrannten Mandeln?!» Er war selig. Klahr machte währenddessen am Rand des Abschlags ein paar wuchtige, abgehackte Probeschwünge.

«Wo haben Sie den nur her? Die Destille wurde vor zwei Jahren geschlossen!», flüsterte McKinley Matthies verwundert zu.

«Das schon, aber Gott sei Dank gibt es noch ein paar Flaschen der älteren Jahrgänge zu kaufen», gab er ebenso leise zurück und ergänzte: «Wobei ich zugeben muss, dass ich ihn sonst nicht auf Reisen mitnehme. Zwar habe ich immer ein gutes Lebenswasser dabei, aber den Auchtermuchty habe ich im Koffer gelassen. Wenn ich den im Hotelzimmer offen stehen ließe, wäre er abends leer!»

«Jetzt verstehe ich, wie Sie Klahr dazu gebracht haben, einen Mitspieler zu gestatten!»

«Tut er das sonst nicht?», fragte Matthies, «Abgesehen davon, dass er wohl gar nichts davon haben will.» Klahr fuchtelte einige Meter vor ihnen noch immer mit einem Schläger hin und her, dessen Kopf aus einer kartoffelförmigen Holzkugel mit metallener Schlagfläche bestand. Es wirkte, als wolle er eine der ersten Mücken des Jahres vertreiben. McKinley nahm einen weiteren Schluck, dann raunte er: «Dass er lieber alleine spielt, ist das eine. Warum sich ihm aber auch so gut wie niemand aufdrängt, ist … pardon, es steht mir nicht zu», und schluckte das Ende des Satzes mit einer weiteren kleinen, genussvollen Portion Auchtermuchty hinunter. «Sie werden es erleben – und mit etwas Glück auch überleben – wenn Sie sich an die Regeln halten», zischte er. Dabei zeigte McKinley seine beiden Goldzähne mit dem ihm eigenen, schelmischen Grinsen.

Klahr hatte zwischenzeitlich seinen Ball auf dem Holzstäbchen positioniert, das nur für den Abschlag genutzt werden durfte und sich dann in die Ansprechposition begeben. Noch einmal richtete er den dunklen Homburger auf seinem Kopf zurecht, visierte das Ziel in Form des hundertzwanzig Meter entfernten Grüns an und schlug ab. Der Ball flog kerzengerade davon. Allerdings weit nach rechts, sodass er schon nach neunzig Metern in einer Buche am Bahnrand einschlug, zwei, drei Mal in der Baumkrone hin und her sprang, um schließlich kurz hinter dem Stamm zu liegen zu kommen. Klahr strich unzufrieden über seinen spitz zulaufenden Vollbart und machte den Abschlag für seinen Mitspieler frei, den Paul McKinley mit einem aufrichtigen: «Good luck», verabschiedete, nicht ohne ihm zuvor den leeren Metallbecher zurückzugeben und das Trinkgeld entgegenzunehmen. Mit einem anerkennenden: «Hübsche Mütze!», verabschiedete sich Matthies von ihm. Der Starter feixte. Einmal mehr wurde er in seiner Entscheidung bestätigt, seine schottische Heimat zu verlassen und in diesem gerade einmal sechs Monate alten Club anzuheuern. Die Balmoral zog er dabei nur auf, weil sie hier ein höheres Trinkgeld garantierte. Demgegenüber trug daheim in Thornton jeder eine, allerdings wäre kein Schotte jemals auf die Idee gekommen für Folklore zu bezahlen.

Hektor Klahr würdigte seinen Mitspieler keines Blickes, als er an ihm vorbei rauschte und den Platz an der Seite von McKinley einnahm. Jesper Matthies betrat das Tee, dessen Abschlagsmarkierungen in Form eines kleinen Ankers gestaltet waren. Innerhalb des Ankersymbols schlängelte sich ein "L" für den Namen des den Golfplatz umsäumenden Flusses in Form eines stilisierten Taus, was ihm ein Lächeln abrang.

«Nu den man tau», räusperte er in sich hinein. Ein einziger Probeschwung genügte ihm, bevor er in einer eleganten Bewegung die Kugel aus dem neuartigen Balata-Gummi in einer weichen Links-Rechts-Kurve vom Tee beförderte. Dass er für ein paar Sekunden perfekt ausbalanciert in der Endposition verharrte, gab ihm sofort das Gefühl, dass er schon schlechtere Abschläge gemacht hatte. Schließlich landete der Ball auf der hellgrün schimmernden, Millimeter kurz gemähten Fläche.

Klahrs Befürchtung hatte sich bestätigt. Der direkte Weg zur Fahne war durch den Baumstamm versperrt. Er hatte keine andere Möglichkeit, als seinen aus dem althergebrachten Guttapercha gefertigten Ball aus dem fetten Gras heraus nur ein paar Meter weit auf die Spielbahn zurückzuspielen, bevor er ihn mit dem dritten Schlag auf das Grün befördern konnte. Zudem lag er noch immer weiter vom Loch entfernt als Matthies. Der nahm die Fahne aus dem Loch und wartete darauf, dass der zwar gut zehn Jahre jüngere, aber deutlich älter erscheinende Mitspieler seinen ersten Putt machen würde. Klahr schüttelte genervt den Kopf, während er sich über den Ball beugte:

«Sie stehen in meiner Puttlinie!»

«Tatsächlich? Aber verzeihen Sie, ich bin doch hinter Ihnen?»

«Sie schon, aber nicht Ihr Schatten!» Jesper Matthies blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zur Seite und veränderte seinen Standpunkt so, dass der Schatten aus Klahrs Sichtfeld wanderte. Es genügten dabei wenige Zentimeter. Allmählich begriff er, was der Starter angedeutet hatte. Hektor Klahr gehörte zu den Spielern, die das Golfspiel schon lange nicht mehr als das ansahen, zu was McKinleys Vorfahren es an den Steilküsten und in den Dünenlandschaften Schottlands ersonnen hatten: als Spiel. Klahr hatte offensichtlich schon lange aufgehört zu spielen und dafür irgendwann begonnen, es als juristische Auseinandersetzung zu betrachten, mit einer klaren Rollenverteilung, wer Richter und wer Delinquent war. Leute wie Klahr, dessen Fünf-Meter-Putt gerade einen halben Meter am Loch vorbeigelaufen war, wünschte er gerne in das Jahr 1457 zurück. Damals wurde das Golfspiel vom schottischen Parlament verboten und dafür das Üben des Bogenschießens angeordnet, um die Männer aus den High- und Lowlands auf den bevorstehenden Krieg mit England vorzubereiten. Für den Mann in dem dunkelblauen, viel zu eng wirkenden Anzug wäre es sicherlich die angemessenere Betätigung gewesen. Matthies selbst hätte sich eher in das Jahr 1502 zurückversetzen lassen wollen, in die Zeit nach dem schottisch-englischen Friedensschluss, als das Golf-Verbot wieder aufgehoben wurde. Dabei schätzte er durchaus die Einzigartigkeit des Golfspiels als Individualsport, bei der es keinen Platzrichter, keinen Netzrichter und keinen Ringrichter gab. Der Golfer spielte immer nur gegen die eigene Person und richtete sich ausschließlich selbst. Und Matthies hatte genug Runden erlebt, bei denen er sich selber zugrunde gerichtet hatte. Dabei gerecht und ehrlich zu bleiben, hielt er für eine unabdingbare Pflicht, ohne die jegliche Selbstachtung schon vor dem ersten Abschlag unweigerlich im Aus landen würde. Matthies hatte über die Jahre gelernt, dass einer Runde mit einem solchen Mitspieler nur etwas Erfreuliches abzugewinnen war, wenn man entspannt blieb, sich an der wundervollen grünen Umgebung und an den Sonnenstrahlen des Frühlingsabends wärmte. Und freundlich und respektvoll dem Mitspieler gegenüber blieb. Er wartete daher geduldig, bis Klahr mit dem fünften Schlag einlochte, er selbst versenkte den Ball mit dem zweiten zum Birdie und damit einen Schlag unter dem Standard eines professionellen Golfers, bevor er ihn auf dem Weg zum zweiten Abschlag ansprach:

«Herr Klahr, ich möchte mich noch einmal herzlich für die Möglichkeit bedanken mit Ihnen spielen zu dürfen. Der Platz steht dem Unsrigen in nichts nach, die Grasnarbe der Grüns ist so dicht wie die in Falkenstein. Außergewöhnlich für einen Platz, der gerade mal ein halbes Jahr alt ist!», lobte er ohne zu lügen.

«Was tut man nicht alles für einen Freund», gab der andere abwesend zurück. Er hatte nur Augen für die ihm vorschwebende Landezone seines Balles beim nächsten Schlag.

Die zweite Bahn war ein Par vier, was bedeutete, dass ein professioneller Spieler für gewöhnlich vier Schläge brauchte, um den Ball im Loch zu versenken. Links drohte die Ausgrenze, rechts neben hohen Bäumen ein ungünstiger Winkel, der das direkte Anspielen des Grüns mit dem folgenden Schlag nahezu unmöglich machte. Der einzig richtige Abschlag war hier der sogenannte Fade mit einer leichten Links-Rechts-Flugkurve. Matthies hatte die Ehre, zuerst abschlagen zu dürfen. Doch diesmal verlor er schon kurz nach dem Durchschwung die Balance und machte einen unbeholfenen Ausfallschritt nach vorn. Der Ball stand noch hoch in der Luft, als ihn schon das Gefühl beschlich, dass es diesmal knapp werden könnte, den Ball diesseits der Ausgrenze wiederzufinden. Auf der linken Seite befand sich ein grober Lattenzaun, der das Ende des Platzes bedeutete, die Ausgrenze wurde zusätzlich durch weiß gekalkte Stöcke entlang des Zauns markiert. Jesper Matthies spielte einen weiteren, provisorischen Abschlag, nachdem Klahr den seinen mit dem voluminösesten Schlägerkopf, dem "Holz 1", in der Mitte der Spielbahn platziert hatte, genau mit der Flugbahn, die Matthies sich für seine Kugel gewünscht hätte. Gemeinsam liefen sie über die Spielbahn, bis das Areal erreicht war, auf dessen Höhe der Hamburger seinen ersten Ball vermutete, seinen zweiten Abschlag hatte er schließlich wie geplant Mitte Bahn platziert, ganz in der Nähe von Klahrs'.

«Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob da noch etwas zu machen ist», begab sich Matthies auf den Weg zum Rand der Spielbahn. Wider Erwarten blieb Klahr stehen.

«Wollen Sie nicht mitkommen und nachsehen, ob der Ball im Aus liegt?», wunderte sich Matthies. Der andere verzog die Mundwinkel zu einer gleichgültigen Grimasse:

«Suchen Sie erstmal. Wenn Sie ihn gefunden haben, komme ich dazu.»

«Na schön, wie Sie meinen.» Er wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann, der bis hierher ihm gegenüber nichts anderes als Misstrauen übrig hatte. Dabei gehörten Diskussionen darüber, ob sich ein Ball im Aus befand oder nicht, oft zu den meist umstrittenen überhaupt. Schließlich galt ein Ball bereits dann als im Aus liegend, wenn er das Spielfeld nicht mehr berührte, selbst wenn er noch innerhalb der Innenseite der Begrenzungspfosten lag. Genau in dem Moment, in dem sich also eine solch strittige Regelfrage mit hoher Wahrscheinlichkeit stellen konnte, wollte Hektor Klahr nicht genau hinschauen. Mehr noch, eigentlich gehörte es sich, dass der Mitspieler bei der Ballsuche behilflich war. Doch selbst diese Etikette-Selbstverständlichkeit verwehrte ihm der groß gewachsene Mann. Unsicher blickte Matthies noch einmal zu ihm zurück, während er sich mit einem Schläger in der Hand zu dem Areal begab, wo er seinen Ball vermutete, einem nach dem Winter noch nicht wieder hochgewachsenen, schmalen Grasstreifen entlang der Ausgrenze. Aus der Entfernung sah er, wie Klahr sich über die Golftaschen beugte, er schien irgendetwas aus seiner eigenen herauszunehmen.

Jesper Matthies brauchte nicht lange, um seinen Ball auf einem Grasbüschel thronend zu entdecken. Und wie befürchtet befand er sich just in der Nähe der Ausgrenze, beim genauen Hinsehen wertete er ihn als jenseits der zwischen den Begrenzungspfosten gedachten Linie. Der Mann mit der Schiebermütze zögerte keine Sekunde und hob den Golfball auf. Kurz darauf stand er wieder neben seinem Mitspieler:

«Im Aus, knapp zwar, aber im Aus.»

«Sehen Sie», Klahr hatte sich zwischenzeitlich eine Zigarre angesteckt, «das dachte ich mir.»

«Tja, bei uns in Falkenstein sagen wir in so einer Lage: Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje inne See, myne Ball, de Ilsebill will nich so, as ik wol will!» Als Matthies das gesagt hatte, meinte er, in Klahrs Miene den Anflug eines Lächelns entdeckt zu haben. Und einen Funken Anerkennung, dass er offensichtlich nicht einmal darüber nachgedacht hatte zu schummeln. Bestätigt wurde seine Annahme dadurch, dass Klahr ihn beim Gang zum nächsten Abschlag zum ersten Mal ansprach. Das Loch zuvor hatte Matthies nach einem nahezu perfekten Schlag Klahrs zwei Meter an die Fahne verloren gegeben:

«Was führt Sie eigentlich nach Gießen?»

«Nun ja, das sind mehrere Dinge», antwortete Jesper Matthies, «zum einen natürlich dieser Platz, wir haben in Falkenstein schon gleich nach der Eröffnung Ihres Clubs im letzten Jahr davon gehört, dass es hier in Oberhessen einen Platz gibt, der mit einem Fluss ein ganz besonderes Wasserhindernis vorzuweisen hat. Natürlich sind Elbe und Lahn nicht miteinander zu vergleichen, aber die Qualität von Fairways und Grüns ist in der Tat beachtlich …» Hektor Klahr unterbrach ihn jäh:

«Und die weiteren Gründe?»

«Ich wurde von unserem gemeinsamen Freund eingeladen, einen Vortrag zu halten», Matthies hielt inne, Klahr konnte nur raten weshalb: Der Mann mit dem hanseatischen Einschlag schien sich einerseits gedanklich auf seinen Abschlag vorzubereiten, er kniff die Augen zusammen, als stellte er sich die Flugbahn des Balles vor, noch ehe er abgeschlagen hatte. Andererseits machte der hagere Mann den Eindruck, als dächte er noch über etwas anderes nach. Zunächst aber führte er seinen Abschlag aus, offenbar so, wie er ihn sich vorgestellt hatte, der Ball landete direkt neben der Fahne und rollte weniger als zwei Meter dahinter aus.

«Und natürlich werde ich mir "Leonce und Lena" nicht entgehen lassen», ergänzte er, nachdem er den Abschlagsbereich verlassen hatte. Klahrs Reaktion beschränkte sich auf ein langsames Nicken, verbunden mit dem Heben einer Augenbraue. Erst nachdem Klahr seinen Chip vom vorderen Grünrand ausgeführt hatte, der Ball zischte daraufhin quer über die kurz gemähte Fläche und verschwand im zehn Zentimeter hohen Gras dahinter, setzte er nach:

«Sie interessieren sich sicherlich für die außergewöhnliche Inszenierung?»

«Das auch, aber Mercedes d'Azur überstrahlt alles!», lächelte Matthies. Entspannt auf seinen Putter gelehnt sah er zu, wie Klahr nach dem Schlag aufs Grün noch zwei weitere Putts benötigte, um letztendlich das Loch aufzugeben.

Die nächsten beiden Löcher, Bahn vier war ein kurzes Par vier mit einem nach rechts abknickenden Fairway, Nummer fünf ein Par drei, gewann Matthies ebenfalls. Hektor Klahr schien zwischenzeitlich völlig den Faden verloren zu haben. Mal versenkte er seinen Annäherungsschlag in der Lahn hinter dem Grün, mal puttete er erst zu kurz und dann zu lang. Matthies hütete sich, in dieser Phase den Gesprächsfaden von sich aus wieder aufzunehmen. Klahrs purpurne Gesichtsfarbe und das mittlerweile deutlich vernehmbare Mahlgeräusch seiner Kiefer waren ihm Warnung genug. Erst das mit einem Zehn-Meter-Putt glücklich für sich entschiedene Loch Nummer sechs und einem von außerhalb des Grüns eingelochten Chip ließen Klahrs Zahnmühle verstummen.

Loch Nummer acht war dasjenige, das auf dem Platzplan als das schwierigste gekennzeichnet war, ein Par vier, das aufgrund seiner ganz besonderen Ausgestaltung als charakteristisch für den "Golf- und Landclub Lahnknie Giessen" galt: Wasser auf beiden Seiten, die Lahn links, auf der rechten Seite ein Teich, in dessen Mitte sich auf einer kleinen Halbinsel das Grün befand.

«Erinnert mich ein wenig an die fünf bei uns in Falkenstein. Allerdings verrate ich Ihnen jetzt etwas, das Sie gewiss nicht vermuten würden: Auch wenn der Platz nur fünfzig Meter von der Elbe entfernt ist, gibt es bei uns kein einziges Wasserhindernis.»

«Tja, wie sagt man so schön bei Ihnen: In Hamburg sieht man nie Alster und Elbe zusammen, was wohl bedeutet, dass man nicht alles haben kann!», war der erste Satz, den Klahr seit dem dritten Loch äußerte.