Wüstes Hausen - Henrich Dörmer - E-Book

Wüstes Hausen E-Book

Henrich Dörmer

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Beschreibung

An einem Morgen des Jahres 1420 erwacht der junge Mönch Martinus am Ufer der Wetter mit einer Platzwunde am Kopf. Neben ihm liegt die Leiche eines Priesters. Bald kommen im nahegelegenen Dorf Hausen Zweifel auf, dass der Pfarrer eines natürlichen Todes gestorben und der Zisterzienser unschuldig ist. Um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, muss der Arnsburger Novize den Todesfall selbst aufklären. Zudem wird schnell klar, dass nicht jedem der Dorfbewohner an der Wahrheit gelegen ist. 600 Jahre später wird Oberkommissar Martin Benedikt Cervinus zu einem Knochenfund in den Wetterwiesen gerufen, in unmittelbarer Nähe zu der Kirchenruine eines im 15. Jahrhundert verlassenen Dorfes zwischen Lich und Nieder-Bessingen. Das mittelalterliche Skelett ist bemerkenswert gut erhalten. Grund genug für Cervinus, gemeinsam mit dem Pathologen Professor Wiesenholder die Ermittlungen aufzunehmen. Denn Mord verjährt bekanntlich nie. Schauplätze der Handlung sind neben dem historischen Dorf Hausen das mittelalterliche Lich, Braunfels, Bessingen und Eberstadt sowie die Klöster Arnsburg und Wirberg.

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Für Mama, Papa und Katharina

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

Über die Handlung

Mittelalter-Lexikon

Manisch Wörterbuch

Danke

Über den Autor

HE HEISST ZUR BESE HERBEG

HOETE DIG DAS DU NEIT HERIN KOEMT

KOEM DU HERIN DAS WERT DIG SUR GNYCT

WERREN DAS DU WIDER HERUD KOEMT

Prolog

A. D. 1420, den 24. April

Sollte dies sein letzter Vesperschmaus gewesen sein? Vor Schmerz stöhnte er immer wieder auf, während er in gebückter Haltung und so gut wie blind den schlammigen Weg hinunter stolperte. Nur dann und wann blitzte der fast volle Mond hinter den pechschwarzen und schnell dahin ziehenden Wolkenfetzen hervor. Doch mehr noch als die Bauchkrämpfe grämte ihn die Einsicht, dass er die Bitterkeit des Genusses hätte erkennen müssen. Für einen Moment blieb er stehen, um Luft zu holen, in dem Wissen, dass zum Verweilen keine Zeit mehr blieb. Ihm war es, als stülpten sich seine Eingeweide immer und immer wieder um. Jedes Mal, wenn er hustete, drang Schleim und Blut aus seinem Mund und tropfte auf seine dunkle Soutane und auf den Boden.

Wenn nur der Schatz verwahrt bliebe, dachte er und griff erneut zu dem Anhänger seiner ledernen Halskette.

«Heilige Walburga, stehe mir bei! Gib mir Kraft, den Verrat zumindest zu offenbaren!», ächzte er. Er hatte das gegenüberliegende Flussufer in der Nähe der Mühle erreicht, obwohl zwei seiner Schritte auf der schmalen, unbewehrten Brücke keinen festen Untergrund gefunden hatten und er jedes Mal drohte, in den Stromschnellen der derzeit so übermäßig viel Wasser führenden Wetter zu versinken. Er war gewiss, dass es nicht mehr lange dauern könnte, ehe er das Bewusstsein verlieren würde:

«Ave Marie, gratia plena; dominus tecum; benedicta tu in mulieribus …», keuchte er.

«Oh nein, der Müller wird dir sicherlich nicht helfen!», hörte er plötzlich eine Stimme. Aus welcher Richtung sie zu ihm drang, war allerdings nicht auszumachen. Plötzlich fühlte er einen Unterarm, der sich von hinterrücks kommend an seine Kehle presste. Das kleine Quentchen Luft, das er bisher noch atmen konnte, wurde ihm nun vollends entzogen, er röchelte und spuckte Blut auf den dunklen Ärmel des Mannes hinter ihm.

«Wo ist es? Wo hast du es versteckt? Sag' es!»

«Vade retro, Satana!» Mehr war ihm beim besten Willen nicht möglich zu antworten. Mit Schrecken stellte er fest, dass sich der ihn umklammernde Arm zwar für einen Augenblick löste, doch nur, um mit starken Fingern an seinem Hals entlang zu tasten. Im selben Moment, in dem der Priester merkte, dass sein Hintermann ihm die lederne Schnur vom Hals reißen wollte, das scharfkantige Band schnitt ihm bereits ins Fleisch, griff er selbst nach dem Anhänger und trennte ihn aus seiner silbernen Fassung. Mit letzter Kraft versuchte er, den ihn nun wieder einzwängenden Arm von seinem Hals fernzuhalten und gleichzeitig den allergrößten Schatz in seinem Mund verschwinden zu lassen. Doch plötzlich wurde alles ganz still. Der Druck des eisernen Armes hinter seinem Rücken entschwand, er fühlte sich wie befreit, geradezu erlöst von allem Schmerz und Pein. Es war ihm, als erblicke er Jesus Christus, wie er auf der Eselstute reitend durch das goldene Tor ins heilige Jerusalem einzöge.

Zur selben Zeit und weniger als eine Meile von der Mühle entfernt musste Martinus seine ganze Kraft aufwenden, um durch den tosenden Sturm nicht niedergerissen zu werden. Der junge Mönch stemmte sich gegen den schneidenden Wind und sank immer wieder in den morastigen Schlamm des Weges ein. Sein ehemals weißer Habit, das monastische Gewand, war mittlerweile über und über mit braunen Placken übersät. Doch noch viel schlimmer war, dass es sich durch den stundenlangen Regen mit Wasser vollgesogen hatte. Martinus war bis auf die Haut durchnässt und klamm. Selbst die sonst die Feuchtigkeit recht gut abwehrenden Schuhe waren vollends durchgeweicht, er wollte gar nicht daran denken, sie bald auszuziehen und damit die Blasen an seinen Füßen freigeben zu müssen.

«Wie war das noch: Wer barfuß geht, den drücken keine Schuhe?!», murmelte er vor sich hin. Doch zunächst war Eile geboten. Eben gerade war der letzte Funken Tageslicht hinter dem hohen Licher Wehrturm und der Stiftskirche erloschen, und er hatte sicherlich noch mindestens eine halbe Meile in völliger Dunkelheit zurückzulegen, ehe er an seinem Übernachtungsort angekommen wäre. Dabei kam Martinus bereits der gesamte Tag einer Prüfung gleich: Während der Vigil, der ersten der acht Horen des Tages, war er eingenickt. Bereits der heilige Benedikt von Nursia, der Begründer der monastischen Ordnung und damit auch von Martins Zisterzienserorden, hatte festgelegt: "Ich lobe dich des Tags siebenmal und mitten in der Nacht stehe ich auf, dir zu danken." Doch da er schlummerte, während der Abt den morgendlichen Segen sprach, hatte er davon nicht eine Silbe mitbekommen. Das Aufstehen lange vor Tagesanbruch gehörte zu den Dingen, an die sich der 17-Jährige seit seinem Eintritt in das Kloster vor elf Monaten am wenigsten gewöhnen konnte. Auch wenn die Einführungszeit in das Leben im Klerus, das Noviziat, in wenigen Tagen mit der Einkleidung und dem Ablegen des Gelübdes beendet sein würde, fragte sich Martinus immer noch, wie es seine Brüder schafften, nicht, oder zumindest nicht allzu oft, schnarchend in das Gloria einzustimmen. Und daher verwunderte es ihn nicht, dass Bruder Pius ihn nach Sonnenaufgang während des Hochamtes der Übertretung der Ordensregeln beschuldigte. Die darauf folgende Geißelung nahm er klaglos entgegen, gehörte die Beschuldigung durch die Ordensbrüder und die auf dem Fuße folgende Bestrafung doch zum festen Bestandteil der Prim-Hora. Allein, er ärgerte sich doch ein wenig über sich selbst, dass er dem als streng, aber gerecht geltenden Pius erneut einen Grund zur Klage gegeben hatte und rief daher das obligatorische: "mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa", mit einem leicht frustrierten Unterton durch den Kapitelsaal.

Das alles wäre noch kein Grund zu Klage gewesen, wenn er für den am heutigen Nachmittag anstehenden Umzug von der Arnsburger Abtei zum Wirtschaftshof in Eberstadt nicht Innozenz als Begleiter verordnet bekommen hätte. Das störrische Maultier war zwar dafür bekannt, dass, wenn es sich erst einmal bewegte, der ausdauerndste Lastenträger unter allen Kloster-Mulis war. Doch ihn zum ersten Schritt zu bemühen, war eine Kunst, zu der selbst die erfahrensten Laienbrüder an manchen Tagen nicht imstande waren. Martinus merkte schnell, dass er offensichtlich einen solchen Tag bei Innozenz erwischt hatte. Für die ersten dreihundert Fuß benötigten die beiden somit gut drei Stundengläser. So gab es nicht wenige Klosterbrüder, die Martinus am nächsten Morgen während der Prim zurecht der offenen Schadenfreude hätte beschuldigen dürfen. Laut lachend über die Klostermauer gebeugt, hatten sie sich über den jungen Novizen lustig gemacht. Sogar die ansonsten eher finster drein blickenden Landsknechte konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Die Berittenen und Fußsoldaten waren noch von dem letzten Falkensteiner zum Schutz gegen die brandschatzenden Truppen des Erzbischofs von Mainz aufgeboten worden. Über 400 Mann waren von Werner von Falkenstein, dem Erzbischof von Trier, bereits seit dem Jahre 1409 in der Umgegend stationiert, um die Besitzungen der Verbündeten gegen ihren gefährlichsten Gegner und angriffslustigsten Feind, den hohen Mainzer Würdenträger, zu verteidigen. Und so standen auch Kloster Arnsburg und seine altarbelehnten Güter unter dem schützenden Schild der Falkensteiner Soldknechte.

Bis er in dem rund drei Meilen vom Kloster entfernten Dorf angekommen war, wurde in Arnsburg schon die Glocke zur "Non" geläutet, was die Hälfte der Zeit zwischen Mittag und Sonnenuntergang signalisierte. Im Wirtschaftshof angekommen, wurde er sogleich von Bruder Jacob empfangen. Er war der einzige zum Priester geweihte Mönch in Eberstadt. Neben ihm lebten auf dem Hof noch zwölf Konversen, die als Laienbrüder nicht dem Kapitel angehörten und deren monastisches Dasein eher durch Arbeit denn durch Beten geprägt war. Doch anstatt Martinus eine kleine Pause und eine Vesper zu gönnen, hatte Jacob ihn sogleich zu einer Rundreise geschickt, auf der er die vom Kloster inkorporierten Kirchspiele in Muschenheim und Birklar kennenlernen sollte. Damit aber nicht genug, zum guten Schluss des Tages hatte der erfahrene und mit einer beträchtlichen Leibesfülle ausgestattete Vorsteher ihm aufgetragen, Wolle, die er in Muschenheim von einem Hirten entgegen nehmen sollte und die später zu Alben der Mönche verarbeitet werden sollten, zur Walkemühle nach Hausen zu bringen. Mit den Worten:

«Innozenz hat sich doch schließlich am heutigen Tage noch gar nicht bewegt!», wurde Martinus von ihm verabschiedet. Den Einwand des jungen Novizen, die Zeit würde nicht mehr ausreichen, um rechtzeitig vor Sonnenuntergang nach Eberstadt zurückzukehren, wehrte der feiste Vorsteher des Wirtschaftshofes mit den Worten ab:

«Dann wirst du Innozenz eben Beine machen müssen, Geschwindigkeit ist keine Hexerei!»

Doch genau darin lag hinsichtlich des Maultieres die Schwierigkeit. Während die Brüder im Kloster die "Komplet", die letzte der Horen, begingen und sich zur Ruhe auf ihre strohigen Nachtlager begaben, kämpfte sich Martinus den Steinweg östlich von Lich entlang. Zwischen der im letzten Jahrhundert aufgegebenen Burg Rodenscheit, eine knappe Meile von der Licher Stiftskirche entfernt, und dem halbwegs vor dem Starkregen schützenden Hausener Wald ging ein solches Gewitter auf Mönch und Tier hernieder, dass er nicht mehr wusste, was wohl nasser war: die Fluten des nahen Flusses oder die holprigen und schlammigen drei Meilen auf dem unterspülten Pfad bis zur Mühle des Hermann Hobischman bei Hausen. Nun aber schien das Ziel zum Greifen nah. Doch zu sehen war nicht einmal mehr der morastige Boden zu seinen Füßen. Martinus musste sich ganz auf Innozenz und dessen Erfahrung verlassen. Das Maultier kannte den Weg zur Mühle schon von dutzenden Woll- und Leinen-Lieferungen. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Hin und wieder beschien nun der Mond zwischen den dahinfliegenden Wolken das Tal und die in dessen Mitte dahinfließende Wetter. Martinus war es daher möglich, den Giebel der Walburgiskirche auf der südlichen Seite des Weges und auf der nördlichen das sich drehende Mühlrad des Tageszieles zu erspähen. Innozenz schien zu spüren, dass der nächtliche Rastplatz ganz nah war, ein Zittern ging durch seinen Vorderlauf. Plötzlich verfiel er, zum ersten Mal an diesem Tag, in leichten Trab. Bald hatte Martinus Mühe, seinem behuften Gefährten zu folgen:

«Nicht so schnell, alter Junge! Hättest du dich den Tag über so agil gezeigt, so hättest du schon längst wieder im Eberstädter Hof im warmen Stroh stehen können!» Der Blondschopf spürte, dass es Innozenz nicht nur so schnell zur Mühle drängte, weil die Nacht schon längst hereingebrochen war. Das Schnauben und Trensen verriet Martinus vielmehr, dass ihm noch etwas anderes nicht behagte. Und so war es plötzlich der junge Mönch, der hinter dem immer schneller werdenden Maultier her lief. Innozenz hatte Martinus schon fast abgehängt, als er unvermittelt stehen blieb, kurz vor der Brücke bei der Mühle. Jetzt erst erkannte der Zisterzienser, was das Tier wohl so getrieben hatte. Es beugte seinen Hals zu einer Gestalt hinunter, die in gekrümmter Haltung im Schlamm des Flussufers lag. Die Beine des Mannes befanden sich bereits im kalten Wasser. Schnell stürzte Martinus zu ihm hinunter.

«Heilige Maria, Mutter Gottes, steh' mir bei! Herr, was ist Euch? Könnt Ihr sprechen?» Dabei versuchte er, den Kopf des ältlichen Mannes so zu sich zu drehen, dass er ihn ansehen konnte, doch auch so, dass der bewusstlos Wirkende besser Luft bekam. Erst jetzt erkannte er, dass der Mann, dem er Linderung zu verschaffen versuchte, das schwarze Gewand eines Priesters trug. Die beiden obersten der 33 Knöpfe waren offen. Er röchelte, mit halb geschlossenen Augen versuchte er den Kopf zu heben. Sein Flüstern war fast nicht mehr zu verstehen.

«Go … ich …» Martinus spürte, dass es die letzten Worte dieses Mannes waren.

«Habt Dank, Vater. Gott schütze und behüte auch Euch. In seine Hände befehle ich Euren Geist …», weiter kam Martinus nicht, denn der dumpfe Schlag, der seinen Hinterkopf traf, ließ ihn sogleich in die Arme des Sterbenden sinken.

1. Kapitel

600 Jahre später

Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen. Er wusste, dass ihn die Holzdielen jederzeit verraten konnten, wenn er auch nur für einen Augenblick unaufmerksam sein würde. Die einen Spalt breit geöffnete Schlafzimmertür hatte er bereits passiert, offensichtlich unbemerkt. Jetzt waren es nicht einmal mehr zwei Meter bis zu den Badfliesen, die seine barfüßigen Schritte vollends verstummen lassen würden. Martin wunderte sich, wie laut doch die Umgebung erscheinen konnte, während er selbst versuchte, lautlos zu atmen. Auf der Nordseite des Häuserblocks war das scheppernde Leeren der Abfalltonnen durch die Gießener Müllabfuhr zu vernehmen. Er meinte sogar, das Duschwasser in der darunter liegenden Wohnung plätschern hören zu können. Dabei wusste er, dass sich das Badezimmer der Nachbarn auf der anderen Seite des Hauses befand. Da passierte es: Kurz bevor er die Türklinke herunterdrücken konnte, knarzte der gut einhundert Jahre alte Dielenboden. Martins Lippen formten ein lautloses «Mist!», verbunden mit der Hoffnung, dass er den Zielort irgendwie doch noch unbemerkt erreichen würde. Für einen Moment hörte er in die Morgendämmerung hinein: Außer dem Zwitschern der frühesten Vögel in den Bäumen der Lonystraße war nichts zu hören. Neue Zuversicht machte sich in ihm breit. Die Badezimmertür war so gut wie neu und würde sich daher hoffentlich geräuschlos öffnen lassen.

Martin Benedikt Cervinus wurde nicht enttäuscht. Schnell schlüpfte er ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Erleichtert atmete er auf, um im selben Augenblick in Schockstarre zu verfallen. Denn er war nicht allein. Er blickte in die gefährlich funkelnden Augen eines Tigers. Mit seinem weit aufgerissenen Maul und den riesigen Reißzähnen machte er den Anschein, als sei er bereits auf dem Sprung, um im nächsten Moment das Opfer vor sich zu erlegen. Martin schluckte hörbar.

«Du weißt doch, dass man Raubkatzen nicht in die Augen schauen soll, das macht sie nervös!», sagte die Trägerin des Wildtieres und fuhr sich mit dem Duschkopf durch die shampoonierten Haare. Durch Evas Armbewegungen erschien das mächtige Tigerkopf-Tattoo auf ihrem Schulterblatt jetzt erst richtig zum Leben erweckt, so, als ob sich das Tier langsam aber unaufhaltsam auf Martin zubewegen würde.

«Reichst du mir bitte ein Handtuch?», bat sie ihn, scheinbar ungerührt und ohne sich zu ihm umzudrehen.

«Wie konntest du mich kommen hören? Ich dachte, du schläfst noch?!», fragte Martin verdutzt. Jetzt erst realisierte er, dass er nicht nur einem Tigerkopf gegenüberstand, sondern auch dem splitternackten Körper einer jungen Frau. Einem bemerkenswert gut trainierten und wohl proportionierten Körper einer jungen Frau, dachte er, beeilte sich aber dann, ihr ein großes Badetuch zu reichen. Bevor er die Schriftzeichen entziffern konnte, die sich an Evas Wirbelsäule entlang bis hinunter zu ihrem Steißbein schmiegten, hatte sie sich das Frottee um die schmalen Hüften gebunden und drehte sich lächelnd zu ihm um:

«Weil du ein Mann bist! Es hat schon einen Grund, warum es die Elfe aber der Elefant heißt!», und verließ an Martin vorbei die Duschkabine.

Während sie ihre kurzen, strubbeligen Haare trocknete, presste er frustriert die Lippen aufeinander. Er hatte sich doch so viel Mühe gegeben. Zugleich bemerkte er, wie anregend sein weiblicher Übernachtungsgast duftete.

«Aber eigentlich muss ich mich ja entschuldigen. Ich dachte, ich wäre früh genug, um vor dir fertig zu sein», bekannte Eva. «Ich mache dir schon genug Umstände.»

«Das sind doch keine Umstände», antwortete Martin und rieb sich unwillkürlich den Hals. Nach der mittlerweile dritten Nacht auf der eigentlich viel zu kleinen Wohnzimmercouch streikte Martins Nackenmuskulatur spürbar. Dabei war es für den Kriminal-Oberkommissar selbstverständlich, Eva Kieling bei sich aufzunehmen. Die Berliner Psychologin war wieder einmal von der Gießener Polizei-Hochschule zu einer Vortragsreihe, diesmal mit den Themen "Psychogramm-Entwicklung", "Traumabewältigung" und "Umgang mit Angstblockaden" eingeladen worden. Doch aufgrund einer Bau-Messe waren derzeit sämtliche Hotels in und um die mittelhessische Metropole ausgebucht. Die 29-Jährige war daher sehr froh, dass Martin, sofort nachdem er von Evas neuerlichem Aufenthalt in der Lahnstadt erfahren hatte, ihr anbot, mit ihm eine Kurzzeit-WG zu gründen. Für ihn war es die perfekte Gelegenheit, sich endlich einmal zu revanchieren und der Frau behilflich zu sein, die entscheidenden Anteil daran hatte, dass seine letzten beiden Mordfälle erfolgreich aufgeklärt werden konnten.

«Auch wenn ich zugeben muss, dass ich schon etwas über dein Angebot überrascht war! Ich meine, viele möchten ja erst einmal in Ruhe gelassen werden, wenn kurz zuvor eine Beziehung beendet wurde», bekannte Eva eine Viertelstunde später an dem kleinen Frühstückstisch.

«Zumal sich die allerwenigsten in so einer Situation auch noch eine Psychologin ins Haus holen!», ergänzte sie. Erst nachdem sie an ihrem Latte macchiato genippt hatte, grinste sie und sah ihn mit ihren eisgrauen Augen an. Martin schwieg, lächelte verschmitzt und reichte ihr eines der noch backwarmen Brötchen.

«Du warst schon beim Bäcker? Das war also der Grund dafür, dass du noch früher auf warst, als ich dachte?», erkannte sie. Cervinus lächelte noch immer, doch sah er dabei nachdenklich aus dem Fenster:

«Tja, vielleicht war ja genau das einer der Gründe, warum es mit meiner Ex nicht mehr geklappt hat: Sie war fast jeden Monat in einem anderen neuen Hotel ihrer Kette unterwegs und eröffnete eine Breakfast-Lounge nach der anderen. Dafür hatten wir in den letzten Monaten kein einziges Frühstück mehr miteinander. Und den Duft eines frischen Brötchens durchs Telefon zu simsen funktioniert immer noch nicht so richtig. Das muss mir mal einer erklären, dessen Fernbeziehung länger als ein Jahr hält, wie er das hinbekommt!» Eva nickte verständnisvoll. Dabei betrachtete sie Martin. Der 38-jährige Blondschopf hatte sich, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, nicht sonderlich verändert. Ein paar Kilo hatte er wohl zugenommen. Sein Bauch wurde zwar durch das für ihn obligatorische Manschettenknopfhemd kaschiert, doch die Pausbäckchen waren unübersehbar. Die erschienen Eva als sichtbarer Beleg dafür, dass er offensichtlich erst seine Freundin und dann sich selbst gehen gelassen hatte. Nichtsdestotrotz sah er immer noch recht sportlich aus. Für sie hatte seine Attraktivität nicht unter der Gewichtszunahme gelitten. Sie bemerkte, dass sie ihn vielleicht ein paar Sekunden zu lange angestarrt hatte und rührte zur Ablenkung schnell noch einmal in ihrer fast leeren Tasse.

«Was tust du derzeit so? Also neben dem Job?»

«Ich frühstücke gerne! Und vielleicht auch ein bisschen mehr als früher», antwortete Martin Cervinus und strich sich halb bekennend, halb entschuldigend über den Bauch. Eva lächelte verlegen, um dann beschämt unter sich zu blicken. Es war ihr selten so unangenehm gewesen, dass das, was sie zwar nicht ausgesprochen, aber gesagt hatte, offensichtlich so schnell von ihrem Gegenüber entschlüsselt wurde. Sie war daher geradezu erleichtert, als Martins Telefon klingelte, um diesen so peinlichen Moment endlich aufzulösen. Er hatte gerade den ersten Bissen von seinem zweiten Brötchen genommen, eine nicht eben kalorienarme Kombination von Butter, Erdbeermarmelade und Quark mit 40 Prozent Fettgehalt.

«Das ist ja so klar, das Präsidium …», schmatzte er und drückte die Gesprächsannahme-Taste.

Nicht mehr als zwei Minuten später eilte der Unfallermittler im Stakkato die Treppe hinunter. Auf dem ersten der drei Treppenabsätze blickte er noch einmal zu Eva zurück. Die lehnte, barfüßig und noch immer in ihrem weißen Bademantel, am obersten Geländer.

«Wollen wir's morgen nochmal probieren?», rief er zu ihr hinauf. Eva kräuselte fragend die Augenbrauen.

«Also … mit dem Frühstück natürlich?», ergänzte er. Nun grinste sie:

«Gerne! Übrigens, um die Brötchen brauchst du dich morgen nicht zu kümmern!» Er nickte nur, schmunzelte in sich hinein und wechselte die Gangart die restlichen Stufen hinunter von einem hastigen Trab zu einem beschwingten Dreiviertel-Takt.

Martin Benedikt Cervinus war zurück in seiner Nussschale. Monatelang hatte er dieses Fahrgefühl vermisst. Nachdem sich sein geliebtes schwedisches Cabriolet vom Abhang des Totenbergs mit einem dramatischen Feuerball in den tiefen Abgrund des Lumdatals verabschiedet hatte, noch dazu nur einen Tag vor Erlangung des Oldtimer-Kennzeichens, hatte er lange vergeblich nach einem adäquaten Ersatz gesucht. Da der Hersteller die Produktion vor einigen Jahren eingestellt hatte, fand er kein entsprechendes Modell, das ihm dieses gewohnte Gefühl der Geborgenheit, Sicherheit und Bequemlichkeit gab. Erneut musste er schmunzeln, als er daran dachte, was Eva ihm während ihres letzten gemeinsamen Falles bestätigt hatte, kurz bevor die Handbremse erst ihren Geist und infolge dessen den des Autos aufgegeben hatte: Das dreißig Jahre alte Modell spiegelte ziemlich gut Martins Charakter wieder. Beide seien konservativ, aber nicht spießig, kreativ und doch irgendwie schrullig, eigenwillig und dabei ziemlich … adrett. Und so hatte er die letzten Wochenenden damit zugebracht, quer durch die Republik von einer Youngtimer-Börse zur nächsten zu pendeln, immer auf der Suche nach einem automobilen Wiedergänger, diesmal jedoch mit einer funktionierenden Handbremse. Er hatte die Hoffnung auf eine Wiederauferstehung seines ferrariroten Gefährts bereits aufgegeben, als er auf einem Schrottplatz kurz vor der Grenze zu Dänemark, gerade noch der Presse zuvorkommend, die perfekte Karosserie fand. Die beinhaltete zwar keinen Motor mehr, dafür passte sie jedoch perfekt zu der Zwei-Liter-Turbomaschine, die ihm ein Landwirt im Allgäu zum Preis eines bayerischen Neuwagens angeboten hatte. Ein paar Tage später feierten die beiden Teile eine zweite Hochzeit bei einem ausgezeichneten Vogelsberger Zylinderkopfchirurgen. Und natürlich war es Cervinus als stolzer Brautvater, der die Kosten der Hochzeitsfeier tragen durfte. Diese hätten gewiss ausgereicht, um ein voll ausgestattetes Mittelklassecoupé zu erstehen, ohne Barzahlungsrabatt. Doch für Cervinus hatte es sich gelohnt. Für ihn war das Gefühl einer fahrenden Nussschale durch nichts zu ersetzen.

Nun lenkte der Oberkommissar sein neues altes Cabriolet von Gießen aus über die Landstraße in Richtung der über 700 Jahre alten Festungs- und Residenzstadt Lich. Von dort ging es weiter über die Straße, die den Landstrich erschloss, der dem größten zusammenhängenden Basaltgebiet Europas, dem Vogelsberg, vorgelagert war und an einem Fluss namens Wetter entlangführte. Auf halbem Wege zwischen Lich und dem Dörfchen Nieder-Bessingen bog er auf einen Feldweg ab und überquerte auf einer schmalen Brücke den Flusslauf, der der hiesigen Region, der Wetterau, ihren Namen gab. Nach dreihundert Metern hatte er den südlichen Rand des Tales fast erreicht. An dieser Stelle ragte eine bewaldete, sanfte Anhöhe in den Verlauf des Talgrundes hinein. Eiszeitliche Wassermassen hatten sich ehedem durch die Ebene gewälzt und ihr die gegenwärtige reizvolle Gestaltung verliehen. Er hatte fast den angrenzenden Waldrand erreicht, als er die Handbremse festzog.

«Beißt zu wie ein Tiger», grinste Martin Cervinus und dachte noch einmal kurz an Eva zurück. Dann blickte er zu dem Peterwagen hinüber, der fünfzig Meter von dem Feldweg entfernt auf einer Wiese abgestellt worden war. Er schritt über das Gras, der Frühling war noch jung und hatte die Halme erst kürzlich zum Wachsen angeregt, um bald hinter dem blau-silbernen Einsatzwagen mit einem Traktor ein weiteres Fahrzeug zu erkennen. An dessen Frontgabel war eine Baggerschaufel befestigt, die offensichtlich schon im Einsatz gewesen war, neben der Zugmaschine befand sich ein Haufen frischen Erdaushubs. Gleich daneben tat sich die Grube auf, aus der der Aushub stammte. Nun sah er, dass zwei Männer interessiert auf das Erdloch hinunter blickten und sich dabei angeregt unterhielten:

«… Mensch, Christian, dass mir uns ausgerechnet hier wiedersehe', nach über zwanzig Jahren …», wunderte sich der eine und kratzte sich in seinem leuchtend roten Haarschopf. Der andere steckte seine großen, fleischigen Hände in die Hosentaschen seiner wasserfesten Arbeitshose und legte die Stirn in Falten:

«Ich wusst' gar net, dass du bei der Polizei schaffst, Egon! Ehrlich gesagt hätte ich das auch net gedacht. Ich mein', du als Beamter, das hätt' ich mir damals net vorstelle' könne …»

«… ich nehm' das ma' als Kompliment», antwortete der Mann, der zwar zwei Köpfe kleiner war als der andere, dafür jedoch genauso schwer schien, «Und, wieviele Morgen mächste insgesamt, außer der Wies' hier?»

«Ei, ich hab hier fünf Hektar, die gehen bis da vorne zum Naturschutzgebiet, vor allem hamm' mer aber zwischen Nieder- und Ober-Bessingen noch Stücker zwölf.»

«Na, haste der weinenden Frau ihren letzten Acker abgekauft?», feixte der Mann namens Egon. Christian rümpfte die Nase zum Zeichen dafür, dass ihm diese Bemerkung nicht sonderlich gefiel:

«Ach, komm, hör mir uff mit der Legende von der trauernden Bessingerin. Also ich hab' noch kei' Hexentochter um Mitternacht heule' gehört. Der einzige, dessen Tränen die Wetter haben anschwellen lassen, war ich, als ich den Kaufpreis für das Land überwiesen hatte! Eines hat sich aber scheinbar net geändert: Deine Schauermärchen waren schon alt, als wir damals während der Geschichtsstunde beim Müller Joints aus Bilsenkraut an die Mädels vertickt hamm'!»

«Nee, nee, nee, das warst du allein, ich hab' nur meinen ersten schwarz Gebrannten an de' Tobi verhökert. Der war ja dann drei Tage lang net in der Schul'!», grinste der Polizeibeamte. Der große Mann mit den grünen Gummistiefeln nickte zustimmend.

«Aber im Ernst, ich hab' letztens Wetter-aufwärts bei Münster noch drei Hektar dazu gekauft, du weißt ja: wachse oder …»

«… Weiche, schon klar!», ergänzte der Mann namens Egon. Er hielt bereits die ganze Zeit eine gut zwei Meter lange Aluminiumleiste mit schwarz-weißen Zentimetermarkierungen wie einen Schäferstab in seiner Hand. Immer noch sahen beide auf das Erdloch vor sich:

«Und, macht ihr aach noch was mit de' Landwirtschaft bei euch in Bettenhausen? Ein Hirschmann ohne Traktor unnerm Boppes war doch früher unvorstellbar!» Egon Hirschmann strich sich über seinen breiten Schnauzbart und zuckte beiläufig mit den Achseln:

«Na ja, damit die Melkmaschine net einrostet halt' ich noch zwei Küh'. In den letzten Jahren hab' ich mich auf mei' Destille konzentriert, am besten geht der Quittenschnaps, Heidelbeer und Haselnuss mach' ich aber auch.»

«Ach ja, stimmt, das hat mir einer beim letzten Klassentreffen erzählt, da warst du ja net da. Der hätt' schonema bei dir bestellt gehabt … war damals e bissi kleiner …», der Landwirt sah nachdenklich in den wolkenverhangenen Himmel.

«Bestimmt der, der mit der einen aus Grünberg gegangen ist?», fragte Egon.

«Nee, glaub' net, das war doch der, ei … sach' schon, wie hieß der andere?», antwortete Christian. Hirschmann stützte sich nachdenkend auf die Aluminiumlatte:

«Ach, jetzt weiß ich's: das war der … der … der Bruder von der, die in der Elf war und dann mit dem gegangen ist, der in die Zwölf kam, wobei … Mist, wie hieß der dann jetzt? Ich sehe ihn doch ganz genau vor mir?!»

«Bist du sicher? War die Freundin net' aus Hungen?»

«Nee, kann net sein, eine Hungenerin hatten wir in Grünberg doch gar net. Mann, Kerle, der Name liegt mir doch uff der Zunge!», schnipste Egon mit den Fingern.

«Egon! Himmel, Arsch und Wolkenbruch!», tönte es aus dem Erdloch.

«Nee, der war's net'!», schüttelte Bauer Christian den Kopf. Die Stimme aus dem Untergrund tönte verärgert:

«Egon, entweder dou kimmst mit de Messlatte etz hej eronner owwer ich kimm dir huuch irn verbass dir mit dere Latte ei', dass dir vierzeje Dooch de' Därtz wackelt! Kerle, Kerle, Kerle, so kann ich net erwän'!» In diesem Moment erreichte Cervinus den künstlichen Schacht. Die beiden Männer am Rand des Aushubs kehrten ihm dabei den Rücken zu. Dabei meinte der Oberkommissar, einen schlohweißen Haarkranz und eine Nickelbrille aus dem Graben hervorlugen zu sehen:

«Ernst?»

«Nee, auch net'!», bemerkte Christian erneut. Martin Cervinus kräuselte die Augenbrauen.

«Martin?!», rief es nun aus dem Graben.

«Genau, der war's!», strahlte der Landwirt zufrieden und drehte sich gemeinsam mit Egon Hirschmann zu dem Mann mit dem gesuchten Namen um.

«Ach, ge' Moje' Chef, da bist du ja!», wurde Cervinus von Polizeiobermeister Hirschmann begrüßt. Der Ermittlungsleiter war mittlerweile direkt am Rand des circa einen Meter fünfzig tiefen Aushubs angekommen. Inmitten des wie ein Grab ausgekofferten Schachtes stand der Mann mit der Nickelbrille und machte ein säuerliches Gesicht:

«Gott sei Lob und Dank, endlich mal n' normale' Mensch. Bei so vejl Gebabbel so früh am Moje' kam ich schon uff' de' Gedanke, mich in dem Loch e'fach wirrer zouschütte zu lasse, hätt' dann wenigstens mei' Rouh gehot'!», räsonierte er in dem für ihn typischen Rabenauer Platt. Martin Cervinus grinste:

«Guten Morgen, Ernst. Tja, vielleicht bist du es auch einfach nicht mehr gewöhnt, unter den Lebenden zu weilen?!» Professor Doktor Ernst Wiesenholder, der Gerichtsmediziner des Gießener Polizeipräsidiums, winkte genervt ab und murmelte leise:

«… Auch du, mein Sohn Martinus!»

Nachdem Cervinus sich dem Landwirt Christian Köhler vorgestellt hatte, erläuterte ihm Egon Hirschmann den Grund des frühmorgendlichen Einsatzes: Köhler wäre dabei gewesen, einen Entwässerungsgraben auszuheben und sei dabei auf einen schrecklichen Fund gestoßen:

«Und auf einmal sehe ich da den Schädel aus der Erde ragen!», bestätigte der Eigentümer der Wiese. Martin Cervinus blickte nachdenklich auf das Erdloch vor sich:

«Tja, sieht ganz schön wüst aus hier!»

«Kein Wunder, Chef, das is' ja auch e' Wüstung!», antwortete Egon Hirschmann und kicherte in der ihm eigenen krächzenden Art.

«Wie bitte?», wunderte sich der Oberkommissar.

«Egon meint damit, dass sich dort hinten», Köhler deutete auf den Waldrand, «die Ruinen eines untergegangenen Dorfes befinden. Ein Ort namens Hausen. Ist wohl im fünfzehnten Jahrhundert aufgegeben worden. Historiker nennen so etwas "Wüstung".»

«Aha, soso …», murmelte Cervinus desinteressiert. Er nahm die Messlatte, die Egon bis jetzt getragen hatte, und hielt sie Wiesenholder so hin, dass der sich daran festhalten und über den rampenförmigen Grubenrand herausgezogen werden konnte. Der Pathologe streifte sich die mit feuchter Erde beschmierten Hände an seiner Kordhose ab und setzte sich seine karierte Schiebermütze auf:

«Bitte, Herr Oberkommissar, jetzt bist du dran!», und wies auf den Schacht. Wenig später stand der Oberkommissar selbst darin und betrachtete den Leichenfund. Er erkannte, dass die Bezeichnung "Leiche" übertrieben war. Wiesenholder hatte sich in die Hocke begeben und sah zu ihm hinunter. Neben dem Pathologen kniete Egon Hirschmann und grinste Martin an:

«Machste' eigentlich immer noch dei' Intervall-Diät?»

«Ja, aber heute hab ich mal einen Cheatday eingestreut.»

«Dann bass uff, dass du's net' mit dem Abnemme übertreibst, sonst siehste auch bald so aus!» Martin zwang sich zu einem gequälten Lächeln:

«Du solltest es mal mit einer Karriere als Komiker probieren, Egon, wirklich, deine Pointen sind noch schärfer als dein Kräuterschnaps», und schüttelte entgeistert den Kopf. Professor Wiesenholder hielt den Zeitpunkt für gekommen, eine erste Tatortanalyse vorzunehmen:

«Also, wie du siehst, handelt es sich um eine skelettierte Leiche in einem sehr, sehr späten Verwesungszustand. Bemerkenswert sind die Gewebereste, die wiederum partiell sehr gut konserviert erscheinen. Die pechschwarzen Substanzen, die Torso und Kopf in weiten Teilen bedecken, kann ich noch nicht näher definieren, das muss ich mir in der Pathologie erstmal genauer ansehen. Mehr ist dazu derzeit nicht zu sagen … also, meine Herren, ech sei soweid dursch!», schloss der erfahrene Mediziner aus Rabenau-Rüddingshausen und stellte sich etwas umständlich wieder auf:

«Scheiß Ischias!»

«Eine Frage hätte ich noch, Ernst, die nach dem ungefähren Todeszeitpunkt?», wollte Martin wissen.

«Tja, da ist alles drin …»

«Das heißt was? Ein Jahr oder dreißig Jahre?», setzte Cervinus nach. Wiesenholder rieb sich mit dem Zeigefinger ein Sandkorn aus dem Auge:

«Häng' mal an dreißig eine Null dran, dann kommst du in die richtige Richtung!»

«Wow!», bekannte der Kommissar erstaunt, «Das könnte also definitiv mein ältester Fall werden!»

«Tja, Martin, wie heißt es doch: Mord verjährt nie?!», lächelte Wiesenholder, schloss seinen Untersuchungskoffer und ging.

Wenig später verabschiedete sich auch Christian Köhler mit dem Hinweis, das Vieh versorgen zu müssen. Bei Egon Hirschmann meldete sich das Funkgerät mit der Meldung über einen Raubüberfall in Laubach, er hatte es daher sehr eilig. Schnell rief er seinem Vorgesetzten noch zu, dass die Spurensicherung und die kriminaltechnische Untersuchung bereits unterwegs seien, um den Leichenfund zu sichern und in die Pathologie zu bringen, dann war er schon verschwunden. Martin Benedikt Cervinus hatte zwar wahrgenommen, dass sich seine Kollegen von ihm verabschiedet hatten, doch seine Aufmerksamkeit galt ab dem ersten Moment, in dem er sie gesehen hatte, der Leiche. Der Gedanke, wie lange wohl dieses Skelett hier, eineinhalb Meter unter der Erdoberfläche, schon gelegen haben mochte, ließ ihn nicht los. Vorsichtig strich er mit handschuhbewehrten Fingern über die Textilreste, die den Torso bedeckten: Es schien sich um einen schwarzen Stoff zu handeln, die Form glich der eines einfachen Kleides. Auf Höhe der Körpermitte trug die Leiche einen Gürtel, der eher einem Band ähnelte. Die Placken der teerartigen Substanz, die Ernst bereits erwähnt hatte, verteilten sich dabei nahezu auf dem gesamten Körper.

«… Wie auch immer, Mord verjährt nie», sagte er leise.

«Ganz recht, Herr Oberkommissar!», bestätigte eine Stimme außerhalb der grabähnlichen Grube. Nur Sekunden später fühlte der Mordkommissar einen Schlag am Hinterkopf und sackte wie leblos in sich zusammen.

2. Kapitel

A. D. 1420, am Morgen des 25. April

Der Stundenstab der Sonnenuhr an der Zehntscheune des Nieder-Bessinger Wirtschaftshofes hatte gerade den Strich zur zweiten Stunde nach Sonnenaufgang überschritten. Trotz der Frühe glich das geschäftige Treiben auf dem Außenposten des Wetzlarer Stifts Zur lieben Frau dem Verkehr in einem Bienenstock. Die ersten Bauern hatten bereits ihren Handel mit dem Zehntner abgeschlossen. Nachdem sie ihre Ladung, zu dieser Zeit vor allem die erste Schafschur und Kleinvieh wie Hühner oder Hasen, in der Scheune gelöscht hatten, waren sie schon wieder auf dem Rückweg nach Ittingeshusen, Ober-Beszungen oder Hausen. Gilbracht von Monstir jedoch wollte noch nicht gehen:

«Ich bleibe hier, bis Ihr mir den üblich' und angemessen' Preis gewährt!», rief der groß gewachsene Bauer. Seine Unzufriedenheit ob des neuen Kurses für sechs Hühner und einer Fuhre Wein hallte so laut von der steinernen Wand des zweithöchsten Gebäudes in dem Dorf an der Wetter wider, dass andere zu Gilbracht und dem ihm gegenüberstehenden Zehntmeister hinüber sahen. Der Hof-Bedienstete blieb gelassen:

«Nun, nach meinen Aufzeichnungen seid Ihr dem Stift zum Zehnten für Vieh und Wein dreimal im Jahr verpflichtet …»

«Ich weiß wohl selbst am besten, was ich meinem Stift schulde, seitdem ich meine Hände in die des Vogts gelegt habe!», Gilbrachts Halsschlagader trat immer deutlicher hervor.

«Dass Ihr wisst, was Ihr abgeben wollt, hinterfrag' ich auch nicht. Doch was Ihr uns schuldet, ist viel eher eine offene Frage! Dabei ist es so einfach …», sagte der weißhaarige Mann in dem schlichten, dunkelbraunen Habit eines Laienmönchs lächelnd.

«Ihr wollt mich wohl zum Narren halten! Doch seht Euch vor … und überhaupt, wer seid Ihr eigentlich, ich hab' Euch hier noch nie zuvor gesehen? So holt mir gleich Herrn Wack herbei, damit ich ordentlich behandelt werde!» Der Zehntner bedeutete dem Bauern mit einer Handbewegung, sich zu ihm herunterzubeugen, sodass er ihm flüsternd antworten konnte:

«Wohlan, mein Name ist Endres, ich bin der Neue und vertrete den wack'ren Wack, der's wohl mit dem Genuss Eures Weines übertrieben hatte. Vielleicht hatte er aber auch nur zu viele von Euren verdorbenen Eiern gekostet.» Dabei wusste Endres genau, dass die Unpässlichkeit des langjährigen Vorstehers des Wirtschaftshofes nichts mit Gilbrachts Waren zu tun hatte und dass es eher der übertriebene Konsum von Muskatnuss gewesen war, der Eckhart Wack nun bereits seit zwei Tagen zum unablässigen Stuhlgang zwang. Dabei war es alleine Endres, der wusste, wer Wack das edle Gewürz verabreicht und den Bärlauch durch Maiglöckchen ersetzt hatte. Darüber hinaus kannte er noch einige Geheimnisse mehr, vor allem über den Bauern aus Monstir. Er stand von seinem Schemel auf, stemmte seine Hände auf den Tisch und flüsterte in Gilbrachts Ohr:

«Und wir wissen beide nur zu genau, dass Ihr nicht ein, sondern zwei Fuder gekeltert und im Keller habt. Gewiss stehen dem Stift daher zwei Ohm mehr an Anteil zu. Wenn Ihr also den Vogt rufen wollt, weil Ihr Euch entweder nicht mehr erinnern könnt, welche Menge Ihr wirklich gekeltert habt oder wieviel Eurem Lehnsherren zusteht, so will ich Euch beileibe nicht aufhalten. Vogt Bruse wird es Euch sicherlich mehr als deutlich in Erinnerung rufen, ein geschlitztes Ohr am Kopf wirkt oftmals Wunder für das Gedächtnis nebenan!» Gilbracht von Monstir starrte Endres einen Moment lang fassungslos an. Dann flüsterte er:

«Woher wisst Ihr das? Wie konntet Ihr das in Erfahrung bringen?» Endres machte ein unschuldiges Gesicht und zuckte mit den Achseln:

«Seht, mein lieber Freund, Zehntmeister Wack kennt jeden unserer Belehnten ganz genau und schätzt die Waren von Euch allen noch viel mehr. Dazu redet er sehr gerne über die hervorragend' Güte und Menge der Erzeugnisse, erst recht, wenn Euer Wein seine Zunge fein gelockert hat …» Endres blickte Gilbracht für einen Moment in die Augen und wartete seine Reaktion ab. Auf die erhoffte Schlussfolgerung des Zehntpflichtigen musste der erst vorgestern aus Wetzlar angereiste Mann, der dem sechzigsten Lebensjahr näher war als dem fünfzigsten, nicht lange warten:

«Nun gut, sagt mir, Herr, was kann ich tun, um meine Schuld vollständig zu begleichen?» Genau auf ein solches Angebot hatte Endres gewartet. Er wendete den Blick von dem Bauern ab und schaute in Richtung des Holzkarrens, auf dem neben den Weinfässern noch fünf Schläuche bestens gekelterten Traubensaftes und weitere drei Hühner in einem Bastkäfig auf Umschlag warteten.

«Wenn Ihr so gütig seid, die von Euch als dem Stift gehörig bezeichnete Ware in der Scheune abladet, den Hühnerkäfig und zwei Schläuche aber mir hier unter den Tisch fallen lasst, so werde ich dafür unseren Disput vor Meister Wack unter selbigem begraben!», säuselte Endres seinem Gegenüber ins Ohr.

Nur Augenblicke später gackerte das Federvieh unter des Zehntners Tisch und Gilbracht von Monstir lenkte das Ochsengespann zum Eingang der Scheune. Er war schon fast außer Hörweite, als der nächste Bauer den Innenbereich des Wirtschaftshofes durch das große Tor mit dem gotischen Spitzbogen erreichte. Johann Liebrich presste pustend seine Hand in die Seite, er schien bereits seit geraumer Zeit gerannt zu sein. Völlig außer Atem lief er an Gilbracht vorbei in Richtung des Zehntners und rief:

«Wo ist Meister Wack?» Gilbracht und Endres antworteten gleichzeitig:

«Auf'm Balken!», wobei der Bauer aus Monstir sein Gespann kopfschüttelnd in Richtung des Scheunentores bewegte, ohne noch einmal zu Johann Liebrich aus Ittingeshusen zurückzuschauen. Der steuerte im Laufschritt den Tisch an, hinter dem Endres saß. Die Hühner gackerten aufgeregt, die Hast des hereinstürmenden Mannes schien sie angesteckt zu haben.

«Wer ist sein Vertreter? Ihr vielleicht?»

«Da liegt Ihr richtig», antwortete Endres bestimmt, «doch was bringt Ihr mir? Ich sehe keine Ware?!»

«Schreckliche Nachrichten bedingen keinen Zehnten, Herr! Ich komm' von Hausen. Gott steh' mir bei, es ist so furchtbar … und das in der Gemeinde der heiligen Walburgis!», keuchte der Mann und rang schwitzend nach Luft. Endres wurde ungeduldig:

«Die wird Euch schon vor Unheil schützen, doch nicht vor meinem Zorn, wenn Ihr nicht bald zur Sache kommt!», drohte der Mann, dessen Tonsur durch ausgefallenes Haar ganz natürlich geschoren schien. Das Seitenstechen zwang den Mann in bäuerlich einfacher Hose und Wams, seine Hände auf den Knien abzustützen:

«Pfarrer Meyntzer …»

«Der Hausener Priester?», fragte Endres nach.

«Er ist … er ist …»

«Nun raus mit der Sprache!», zischte der Zehntner.

«Pfarrer Meyntzer liegt tot am Rand der Wetter!», und bekreuzigte sich. Schnell tat Endres ihm dies nach und quittierte die Neuigkeit mit einem nachdenklichen:

«Gott sei seiner Seele gnädig.»

«Ich war auf dem Weg von Lich nach Hause und bin zufällig an der Mühle vorbei gekommen, als sie ihn aus dem Wasser zogen, er war schon halb in den Fluten versunken! Kein Mensch weiß, was er dort unten des Nachts zu suchen hatte!»

«Das ist gewiss betrüblich», bestätigte Endres. Seine Blicke flogen über den Innenhof und die Scheune und wanderten zum trutzigen Kirchturm des kleinen Dorfes.

«Da dachte ich, ich laufe gleich zu Euch und unterrichte Vogt Bruse. Auch die Diözese muss doch informiert werden. Wisst Ihr, ob er zugegen ist?», fragte Liebrich noch immer aufgeregt.

«Gewiss, Vogt Bruse ist …», Endres dachte kurz nach, dann wechselte er den Tonfall ins Versöhnliche, «Nun, ich dank' Euch für die Übermittlung dieser schrecklichen Kunde, doch braucht Ihr Euch um Vogt Bruse keine Gedanken zu machen, ich werde ihm die Nachricht höchst selbst übermitteln. Geht Ihr nun schnell zu Weib und Kind und betet für den Entschlaf'nen, alles Weitere werde ich nun übernehmen!» Hastig griff er nach den Weinschläuchen und dem Hühner-Käfig. Wenige Augenblicke später hatte er den Wirtschaftshof verlassen, doch nicht in Richtung des Gebäudes, in dem Vogt Gompel Bruse residierte. Stattdessen schlug er den Weg nach Süden ein, zur Wetter und damit dorthin, von wo Liebrich zuvor angelaufen gekommen war.

Der Ittingeshusener Bauer stand indes noch immer vor dem geleerten Tisch, als Gilbracht von Monstir auf den Hof zurückkehrte:

«Dem werd' ich die Hammelbeine lang ziehen! Wo ist der Narr?», schnaubte er.

«Du meinst den Zehnter Endres?», fragte Johann Liebrich.

«Ja, wen denn sonst, oder sieht du hier einen zweiten Narren? Er hat mir einen Bären aufgebunden! Ich hab' Meister Wack zufällig dort hinten angetroffen. Er war grad' auf dem Weg zur Kräuterfrau, um Fenchel gegen die Krämpfe zu erhalten. Doch hat er gar keine Vertretung bestellt!» Liebrich weitete erstaunt die Augen.

«Dieser Endres war erst vorgestern von Wetzlar auf dem Hof angekommen und zunächst zu einfachen Arbeiten in der Scheune eingesetzt. Doch scheinbar hat er seine ganz eig'ne Rechnung aufgemacht!» Liebrich war verwirrt, die Nachricht vom Tode des Hausener Priesters und die von einem eigenmächtig handelnden Stiftsherrn auf dem Beszunger Hof schienen ihn zu überfordern.

«Nun sag', wo ist er hin?», bohrte Gilbracht nach.

«Ich weiß es nicht, um Himmels Willen! Er wollte Vogt Bruse von dem schrecklichen Ereignis in Kenntnis setzen!»

«Mit drei Hühnern und zwei Schläuchen Wein unterm Arm? Auf diesen wolltest du mich wohl grad' nehmen?!» Johann Liebrich beschlich das Gefühl, dass er nicht nur für den armen Pfarrer Meyntzer beten sollte, sondern auch für diesen Endres, auf dass der eigentümliche Stiftsbedienstete dem aufgebrachten Gilbracht besser nicht so schnell wieder begegnen würde.

Es war eine sonderbare Mischung, die Martinus in die Nase stieg. Es war der Geruch modriger, nasser Erde, von Rattenkot, Blut und … er überlegte einen Moment … ja, das musste