Anomal - Silveer Niehaus - E-Book

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Silveer Niehaus

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Beschreibung

Stefan Ackerheim ist 16 Jahre alt und verbringt bereits zwei Jahre in der Nervenheilanstalt von Lucifer Madieu in Odense, Dänemark. Fernab von seiner Familie und abgeschottet von der Außenwelt durchlebt er jeden Tag den öden Therapiealltag bis sich die Anstalt dazu entschließt, Stefans Therapiemethoden zu den sogenannten "erweiterten Therapiemitteln" umzustellen. Nach bloß einem einzigen Tag in seiner neuen Therapie wird Stefan eines klar: "Ich muss hier weg." Und so bricht er mit seinen Freunden Claire und Luuk auf um den Wänden der Nervenheilanstalt zu entfliehen und sicher nachhause zu kommen, doch der Weg ist steinig. Stefan leidet an Decidophobie, der Angst Entscheidungen zu treffen, und verliert bei jeder Entscheidung, sei sie noch so klein, fast vollkommen die Nerven. Claire hingegen leidet an Photophobie, der Angst vor dem Licht. Auch wenn sie mit ihrer Angst zurecht kommt, ist ihr Leben fernab von Normalität. Luuk leidet an Panophobie, der Angst vor absolut allem, wodurch er regelrecht eine tickende Zeitbombe für die gesamte Gruppe ist. Jede Figur mit ihren eigenen starken Persönlichkeitsmerkmalen muss sich urplötzlich wieder den Ängsten aus dem Alltag stellen. Schaffen sie es wieder in das Leben von früher zurückzukehren oder sind ihre Phobien als auch der Druck der stetigen Verfolgung eine zu große Belastung für die Gruppe?

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Seitenzahl: 258

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Silveer Niehaus

Anomal

Die Flucht aus der Nervenklinik

© 2021 Silveer Niehaus

ISBN Softcover: 978-3-347-46873-3

ISBN Hardcover: 978-3-347-46885-6

ISBN E-Book: 978-3-347-46888-7

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Kapitel 1: Gekennzeichnet von der Angst

Ich. Ich, ganz allein, verbringe Stunden um Stunden, Tage um Tage, Monate um Monate hier, nur weil meine Eltern dachten, ich sei ein Problemkind. Mit sechzehn Jahren gefangen in einem anderen Land, fern von all jenen, die ich liebe. Ich gebe zwar die Hoffnung nicht auf, bald zurückzukehren, doch wann es endlich dazu kommt, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich gerne an die Zeit zurück, in der ich noch frei war und nicht umgeben von vier Wänden aus Stein. Das Leben genießen, vernünftig aufwachsen, befreit von jeglichen Problemen sein. Doch leider ist mir das seit meinem vierzehnten Lebensjahr verwehrt gewesen. Meine Eltern wussten nicht mehr weiter mit mir und jetzt fühle ich mich wie ein Insasse in einem Inselgefängnis, jedoch bin ich keine Person, die etwas anstellen würde. Ich bin kein Krimineller.

„Stefan, es ist Zeit fürs Mittagessen!“, ertönt es, als sich meine Zimmertür öffnet.

„Schon? Was gibt es denn heute?“, entgegne ich mit einem starren Blick zur Tür vom Bett aus.

„Ich war so frei und habe dir Pommes und das Schnitzel mit der Pilz-Soße bestellt“, sagt die Aufseherin. Eine reinweg gutherzige Haut. Ihr Name ist Leonie und sie kommt ebenfalls wie ich aus Deutschland. Sie gibt, anders als so manch andere, Rücksicht auf meine Probleme und sorgt sich um mich wie ihr eigenes Kind. Ihr Herz schlägt regelrecht für unsere Gesundheit und dafür, dass wir unsere Probleme überwinden.

„Kommst du dann?“, fragt Leonie. Ich schlüpfe in meine Pantoffeln und gehe mit ihr zum Speisesaal. Mein Zimmer sehe ich bis in den späten Abend nicht wieder. Der Gang zum Speisesaal ist schwer genug. Immer im Gedanken, dass danach der Tag richtig anstrengend wird und einfach nicht enden will. Die Mittagszeit ist die einzige Zeit, in der sich die Patienten aller drei Distrikte treffen, so ähnlich wie eine Verabredung. Viele soziale Kontakte hat man hier immerhin nicht, also nimmt so ziemlich jeder, was er kriegen kann und tauscht sich mit den Leuten dort aus. Viel Freiheit hat man dort jedoch nicht. Sicherheitspersonal überall und die riesigen Porträts, die einen förmlich nieder starren.

„Deine Freunde kommen zu Tisch sieben. Ich habe es den Aufsehern dieses Mal gesagt“, sagt Leonie mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich kann nicht anders, als selbst zu grinsen und mich zu bedanken. Ich mache mich auf zu meinem Tisch und das kurze Gefühl der Geborgenheit wird sofort von der Überwachung erschlagen. Besonders erschütternd ist dabei ein Porträt. Lucifer Madieu, Gründer der Nervenheilanstalt Madieu in Odense, Dänemark. Diesen Mann kenne ich aber besser als den, der einen Hochsicherheitsknast für Psychos errichtet hat. In den Medien ist er immer der Ritter in schillernder Rüstung, doch hier mehr ein eiserner Führer, dessen Intention uns unbekannt ist. Er gibt sich als ein Held aus, der sich dafür einsetzt, Leute wie mich zu heilen, aber von dem, was wir mitbekommen, bleibt nicht viel übrig. Eher erfreut er sich an unserem Leidwesen. Eine widerliche Kreatur. Erzielt eine Therapie nicht den gewünschten Erfolg in einem gewissen Zeitraum, nehmen die Methoden ein Extremum an. So weit, dass sogar sogenannte „erweiterte Therapiemittel“ angewandt werden. Manche Patienten sah ich dann für mehrere Tage nicht zur Mittagszeit an ihrem Stammplatz und wenn sie zurückgekehrt sind, dann mit mindestens einem mittelschweren Trauma, sodass man meinen könnte, dass diese Leute in den dritten Distrikt gehören. Wie es zu diesen Methoden kommt, ist jedem Patienten unbekannt, ebenso um was es sich genau handelt und all die, die so etwas erfahren haben, teilen ihre Erlebnisse nicht.

Wie dem auch sei, nun sitze ich einmal mehr hier im Speisesaal und warte auf mein Essen. Kaum eine Minute später kommt auch schon Claire an meinen Tisch. Langes, schwarzes Haar, ein Auge verdeckt, schwarz gekleidet und kreidebleich. Eine wahrliche Schönheit, wenn man sie im richtigen Licht sieht und genau das ist ihr Problem. Photophobie, die Angst vor Licht oder um es sanfter auszudrücken: Sie ist lichtscheu. Deshalb sieht man sie nie ohne ihren schwarzen Schirm, den sie immer entgegen jeder Lichtquelle hält. So jemand wie sie wird sich in solch einer Räumlichkeit wie dieser, hell ausgeleuchtet mit weißen Wänden und großen Fenstern in Richtung Süden, niemals wohlfühlen können. Ich kenne sie, seitdem ich hier bin. Kaum zu glauben, dass ihre deutsch-französischen Eltern sie von Frankreich hier hingeschickt haben. Claire ist mittlerweile achtzehn und eine Patientin aus dem ersten Distrikt. Ihre Ängste machen ihr zwar mental zu schaffen, aber sie stellt keine Gefahr dar. Anders als Leute wie ich. Ich komme aus dem zweiten Distrikt und das allein heißt schon nichts Gutes. Patienten aus dem zweiten Distrikt können durch ihre Ängste vollkommen die Fassung verlieren und somit eine Gefahr für ihr Umfeld darstellen oder in anderen Worten: Patienten aus dem zweiten Distrikt könnten eine mittelschwere Gefahr darstellen. Ich landete hier nicht durch einen Mord, sondern durch vermehrten Gewaltausbrüchen, bis ich schließlich eines Tages meinen Vater ins Krankenhaus befördert habe. Sie mussten mich aber auch immer wieder vor Entscheidungen stellen. Mich, einen Jungen mit Decidophobie. Von Tag zu Tag merke ich, wie sehr mich der Aufenthalt hier mitnimmt. Gefühlt mache ich keine Fortschritte. Wundert mich schon etwas, dass ich selbst noch nie Kontakt mit diesen „erweiterten Therapiemitteln“ hatte. Doch beschweren kann ich mich nicht. Claire setzt sich mir, wie gewohnt, gegenüber.

„Was steht heute bei dir auf dem Plan?“, entgegne ich ihr.

„Das Übliche, aber ich darf heute endlich mal wieder mit meinen Eltern telefonieren. Ich denke, dafür kann man den Tag wohl überstehen“, antwortet sie. Immerhin schön zu wissen, dass ihre Eltern etwas von ihr wissen wollen. Bei manchen Patienten sieht die Sache anders aus.

„Klingt doch super!“, sage ich, „Ich würde auch gerne was von meinen Eltern hören, doch das ist ja leider nur Leuten aus dem ersten Distrikt gewährt.“ Claire wird etwas rot vor Scham.

„Sorry“, murmelt sie, „Ich wollte dich nicht an deine miese Lage erinnern.“

Ich fange an zu schmunzeln, lehne mich zu ihr rüber und flüstere: „Hey, meine Therapiemethoden werden ab heute umgestellt, vielleicht werde ich ja im Laufe der kommenden Wochen in den ersten Distrikt versetzt. Und wenn das nicht mal ein Ziel ist, dann weiß ich auch nicht.“ Claires Gesicht erstarrt.

„Die stellen deine Therapiemethoden um?“, fragt sie zimperlich, „Stefan, die reden von den ‚erweiterten Therapiemitteln‘!“

Ein Teil von mir ist sich dessen bewusst, doch irgendwie bin ich davon überzeugt, dass es nicht so kommt. Die Osttür des Speisesaals öffnet sich. Automatisch wenden sich alle Blicke dorthin, weil jeder, der dort hindurch kommt, so was wie eine Berühmtheit in diesem Haus ist. Jeder, der dort hindurch kommt, ist ein Patient des dritten Distrikts. Diese Leute sind das absolute Ultimatum. Durchgehende Betreuung rund um die Uhr ist bei diesen Patienten gefordert, weil diese durchgehend eine Gefahr für sich selbst und andere darstellen. In anderen Worten: Patienten aus dem dritten Distrikt sind laufende Zeitbomben. Verwunderlich, dass sie zur gleichen Zeit wie die anderen essen dürfen. Zu jedem Patienten kommen in den Speisesaal ein Betreuer und ein Sicherheitsbeauftragter. Beide sind speziell ausgebildet für solche Patienten. Somit soll die totale Kontrolle über die Patienten gewährleistet werden. Würden ich oder Claire durchdrehen, dann würde uns einer der allgemeinen Sicherheitsleute aufhalten und uns aus dem Raum schaffen. Dreht hingegen jemand aus dem dritten Distrikt durch, wird dieser innerhalb von zwei Sekunden von dem Spezial-Sicherheitsbeauftragten bewegungsunfähig gemacht und die Betreuer verabreichen denen ein Beruhigungsmittel, das teils so stark ist, dass sie regelrecht ins Koma fallen. Damit wir uns nicht gegenseitig auf die Palme bringen, ist jeder mit einem Ausweisschild gekennzeichnet, auf dem der Name sowie psychische Störung in Fachsprache, Dänisch, Englisch und Deutsch stehen. Deutsch ist aber nur darauf, weil gut ein Drittel der Anwesenden deutsche Wurzeln haben. All meine Freunde sprechen Deutsch, aber ich habe hier auch nicht viele. Allerdings schreitet durch die Osttür Luuk, ein weiterer Freund von mir. Natürlich in Begleitung von einem Betreuer und einem Sicherheitsmann und die hat er echt nötig. Der kleine, gerade mal elf Jahre alte, Junge leidet an der Panophobie, auf Deutsch: die Angst vor allem. Keiner kann sich das Ausmaß an Furcht vorstellen, das er durchlebt. Es ist ein Wunder, dass er sich überhaupt mit mir und Claire abgibt. Zitternd mit seiner Begleitung geht er in unsere Richtung und setzt sich neben Claire. Sie legt ihren Arm um ihn und er schmiegt sich an sie. Nicht einmal bei den Betreuern macht er das. Sie muss echt jemand Besonderes für ihn sein.

„Na, Luuk?“, sage ich in der Hoffnung, ihn zu entspannen, „Läuft soweit alles gut bei dir?“ Luuk löst Claire ein wenig aus seinem festen Griff und nickt zimperlich.

Ganz unsicher zwängt er aus seinem Brustkorb eine Gegenfrage: „Konntest du dich für ein Essen entscheiden?“

Ich lasse mich daraufhin entspannt in den Stuhl sacken und sage: „Seh’ ich aus wie ’n Typ, der Entscheidungen trifft?“ Claire beginnt zu kichern.

„Leonie macht den Scheiß für mich“, versichere ich Luuk im Anschluss. Luuk sieht mich allerdings verunsichert an, einerseits da er sich den Namen meiner Betreuerin nicht merken kann und weil ich mich eines vulgären Vokabulars bediene.

Luuks Betreuerin, die neben ihm sitzt, schaut mich mit einem Todesblick an und sagt in einem unterschwellig aggressiven Ton: „Denke über deine Worte nach!“

Mein Blick schweift von der Betreuerin zu Claire. Sie lächelt zurück und streichelt Luuks Rücken. Luuk hingegen wirkt nach wie vor angespannt. Den Kleinen zu entspannen, schafft echt nur Claire und ehe ich mich dazu äußern kann, kommt schon die Küchenchefin mit dem Essen. Eins muss ich dem Haus lassen, das Essen ist angemessen und der Komfort reicht vollkommen aus. Immerhin bekommt nicht jeder sein Essen gebracht. Ein schönes Schnitzel mit Pilz-Soße, dazu Pommes und ein stilles Wasser. Zwar würde ich gerne mal einen halbtrockenen Wein dazu probieren, aber hier bekommt niemand Alkohol ausgehändigt und wenn dem so wäre, dann wäre dies bestimmt limitiert auf den ersten Distrikt. Diesen Leuten geht es nun mal am besten von uns. Mein Blick schweift von meinem Essen auf das von Claire. Es ist irgendwas Französisches. Ganz ehrlich, ich habe aufgegeben, diese Gerichte zu entziffern, als sie nämlich mal anfing, von Schnecken und Fröschen zu reden, blieb mir das Essen im Hals stecken. Sieht ziemlich grün aus, könnte auch einfach vegetarisch sein. Doch ehe ich nachfrage, genieße ich lieber mein eigenes Essen, denn sonst kriege ich es heute nicht mehr runter. Luuk hat sowieso wieder den Vogel abgeschossen. Einfach nur Nudeln. Noch nicht mal eine Soße oder so dazu und trotzdem bekommt er das Zeug nur mit äußerster Furcht runter. Doch er ist einfach ein Sonderling. Nudeln können ihn erwürgen, an Soßen und Suppen kann man ertrinken, an den Kanten einer Pizza kann man sich schneiden, wenn man die Kerne einer Wassermelone mitisst, wächst einem ’ne Melone im Bauch oder mein absoluter Favorit: durch die Kohlensäure eines Softdrinks könnte sich die Zunge auflösen. Der Kleine trifft die besten Aussagen, aber das kommentiere ich mal nicht weiter.

Beim Essen stellt Claire wie aus dem Nichts eine Frage, jedoch nicht an mich, sondern an Luuks Betreuerin: „Wenn die Therapiemethoden umgestellt werden, heißt es dann, dass man mit den ‚erweiterten Therapiemitteln‘ zu tun hat?“ Meine Augen rollen nach oben, damit ich Claire sehen kann. Die Betreuerin wirkt deutlich überrascht. Als dies ersichtlich wurde, setzen auch noch Luuk und ich sie mit unseren neugierigen Blicken unter Druck. Ich weiß ganz genau, warum Claire diese Frage stellt.

„Nun ja …“, stottert die Betreuerin, „Es kommt immer ganz darauf an, wie lange die Therapie erfolglos war.“

Claire nickt und führt ihre Frage weiter aus: „Sagen wir, dieser Patient weist seit circa zwei Jahren keinen Fortschritt auf …“

Doch die Betreuerin unterbricht nervös: „Ich darf keine weiteren Auskünfte geben!“

Claire schaut mich daraufhin urteilend an. Ich möchte am liebsten jeden Augenkontakt meiden, doch als ich dann Luuks Gesicht sehe, wurde mir klar, dass jetzt auch er den Braten gerochen hat. Die Stimmung an unserem Tisch ist im Keller. Uns allen war klar, dass mir nach dem Essen irgendwas passieren wird. Ich stelle mir mit jedem Bissen schlimmere Szenarien vor. Als dann die Mittagszeit vorbei ist, holt mich Leonie aus dem Speisesaal ab und führt mich in den Therapieraum. Nicht einmal in ihrer Gegenwart kann ich mich entspannen. Was wohl Claire und Luuk in genau diesen Zeitraum denken. Claire macht sich vielleicht Gedanken, doch Luuk hat genug eigene Probleme, nehme ich mal an. Nun ja, alles ist für ihn ein Problem. Wir setzen uns in den Raum, doch statt der gängigen Routine zückt Leonie eine Spritze.

Sie sieht mich an, zeigt mir die Spritze und sagt: „Wenn du dich entscheiden könntest, dann wäre das die eine Entscheidung in deinem Leben, die dir leicht fallen würde.“ Ich neige bloß meinen Kopf wie ein verwunderter Hund und ehe ich bis „Drei“ zählen kann, hat Leonie meinen Arm fest im Griff und spritzt mir die volle Dosis.

Sie geht Richtung Tür und sagt mit Tränen in den Augen: „Ich komme zurück, wenn du es am wenigsten willst.“

Die Tür schließt sich und ich bin allein. Wenige Zeit später spüre ich die Wirkung des Medikamentes, wenn es denn eines war. Ich fühle mich wie ein Engel, der seine Freiheit wiedererlangt hat. Es ist unbeschreiblich, wie gut ich mich fühle, doch dann passiert das, was ich nie durchleben wollte. Nach diesem Höhepunkt der Gefühle kracht meine Laune auf ein absolutes Minimum. Es geht mir so dreckig, dass ich den Eindruck habe, ich wäre eine Leiche inmitten des Raumes. In diesem Moment öffnet sich die Tür und es steht Leonie darin, allerdings ist sie nicht allein. Sie wird von zwei Männern in schwarzen Kitteln und von Lucifer Madieu höchstpersönlich begleitet. Dieser setzt sich mit ihr an die Wand links von mir. Ich strecke meine Hand in Leonies Richtung, doch einer der Männer macht mich bewegungsunfähig. Lucifer Madieu schaut hochnäsig auf mich herab, als wäre er ein Gott.

„Also dann, Stefan Ackerheim“, sagt Madieu in einem nahezu königlichen Tonfall, „Hiermit stellen wir deine Therapiemethoden um.“ Ich kann der Ratte wegen der Wirkung des Medikaments nur schwer folgen.

Er fährt fort: „Dies sind Ruben und Charles. Deine neuen Therapeuten. Diese zwei netten Herren sind Spezialisten meiner ‚erweiterten Therapiemittel‘. Mach mit und aus dir wird im Handumdrehen ein neuer Mensch. Danach wirst du zu deinen alten Therapiemethoden mit Betreuerin Leonie Mattberg zurückkehren.“

Ich kann aus Leonies Gesicht Angst lesen, Angst um mich. Dann folgte der wohl härteste Tag, den ich je in meinem Leben hatte. Nicht nur wurde ich einer zweistündigen Probetherapie unterzogen, die schon schlimm genug ist, mir wurde von einem speziellen Arzt auf dem Rücken ein kleiner Chip aufgenäht, welcher auf Befehl Elektroschocks aussenden kann. Meine Kleidung wurde verwanzt, sodass ich jederzeit auf meine Wortwahl achten muss. Diese Therapie darf durch die Klinik keine Kreise ziehen, sonst kommt noch irgendwie ein kleines Detail an die Öffentlichkeit. Ich wache auf. Schweiß bedeckt meinen ganzen Körper. Mein Rücken schmerzt. Dieser Chip ist echt unangenehm, doch kratzen war keine Option, sonst tut es nur noch mehr weh. An meinem Bett sitzt Leonie. Ihr Blick ist zum Boden gesenkt. In ihrer Hand hält sie eine Schüssel Haferbrei.

Sie bemerkt, dass ich wach bin und sagt: „Hier, iss. Fürs Erste wirst du nicht im Speisesaal essen. Du musst dich erst einmal an die neue Therapie gewöhnen.“

Ich schüttle empört mit dem Kopf und rufe: „Gewöhnen?! Daran kann man sich nicht gewöhnen!! Hast du ’nen Knall?! Ich lag am Boden und die sind regelrecht auf mich eingetreten mit dieser Therapie!!!“

„Ich weiß, Stefan.“

„Und die zwei Stunden gestern waren eine Probe, wie lang soll das heute gehen?“

„Acht Stunden.“

„ACHT STUNDEN?!?!“

„Ich weiß, das ist nicht leicht für dich, aber wenn du mitspielst, ist es schneller vorbei.“

„Mitspielen?! Was ist denn am Ende noch von mir übrig?!“ „Es gibt keine Alternative, Stefan!“

„DIE BRINGEN MICH INS GRAB!!!“, schreie ich abschließend mit aller Kraft, dass meine Lunge und mein Magen zu schmerzen beginnen. Leonie erstarrt. Ich merke sofort, dass ich irgendwas Falsches gesagt habe, denn Leonie bricht in Tränen aus. In diesem Moment schäme ich mich bis auf die Knochen.

Ich weiß auch nicht, wie man traurige Frauen tröstet, doch dann murmelt sie einen Namen: „David.“

Ganz verwundert frage ich, wer dieser David, den sie meint, sei.

Sie wendet sich wieder zu mir und erzählt: „Bevor du eingewiesen wurdest, habe ich schon mal einen Jungen betreut. Sein Name war David. Ich habe mit ihm den Therapieplan genauso wie mit dir jetzt durchgezogen, doch als entschieden wurde, dass er nicht die nötigen Fortschritte erzielt hat, wurde auch er den ‚erweiterten Therapiemitteln‘ unterzogen. Noch heute gebe ich mir die Schuld dafür, dass ich ihn scheinbar zu weichgekocht habe, denn er hielt das Programm bloß drei Tage durch. Den einen Tag nahm er seine ganzen Kleider, knotete sie aneinander fest … und …“ Sie bricht erneut in Tränen aus.

Ich hingegen bin ziemlich neugierig und frage: „Und? Und?! Was ist passiert?“

Leonie atmet tief ein und wieder aus, sieht mir in die Augen und sagt: „Stefan, David hat sich umgebracht. In diesem Zimmer, in dem du seit zwei Jahren lebst, hat er es geschafft, sich mit seinen Kleidern, dem Holzbalken an der Decke und einem Stuhl, den früher jeder Patient auf seinem Zimmer hatte, zu erhängen.“ Ab jetzt verstand ich die Welt nicht mehr. Mein Zimmer ist die ganze Zeit über ein Tatort gewesen. Doch dieses Wissen genügt mir noch nicht.

„Hat sich der Ruf dieser Klapse denn nicht verschlechtert?“, frage ich getränkt in meiner Empörung.

Leonie schüttelt den Kopf und antwortet: „Die Öffentlichkeit hat nicht das kleinste Bisschen mitbekommen. Den Patienten haben wir gesagt, dass David entlassen wurde, und Davids Mutter wurde so weit unter Druck gesetzt, dass sie nur noch Schweigen konnte. Sie war sehr arm und Lucifer Madieu hat ihr mit einem Gerichtsverfahren gedroht, wenn sie auch nur ein Wort darüber verliert. Er war sogar so frei und besuchte sie höchstpersönlich, um ihr von Davids Tod zu berichten. Die ‚erweiterten Therapiemittel‘ blieben unerwähnt, aber das hatte keine formellen Gründe. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass irgendwelche Details die Wände dieser Anstalt verlassen. Und das, mein Lieber Stefan, ist die Geschichte von David.“

Ich kann es nicht fassen. Diese Irrenanstalt hat schon mal jemanden umgebracht und scheut sich um keine Mittel, so gut wie möglich dazustehen. Für mich wurde eine Sache klar: Ich muss hier weg, koste es, was es wolle.

Leonie steht auf und sagt: „In zwei Minuten bin ich mit Ruben und Charles wieder da. Dann beginnt deine Therapie.“

Sie verlässt den Raum, aber schließt die Tür nicht und diese Gelegenheit nutze ich sofort aus. Von meinem Zimmer aus kann ich den Flur hindurch bis in den Speisesaal blicken. In der Tür sind zwei große Fenster und wie der Zufall es so will, macht sich Claire Sorgen um mich und schaut gerade durch. Kreuz und quer durch den Flur brüllen kann ich gerade nicht, da Leonie am anderen Ende ist und ich keine Strafe riskieren sollte. Stattdessen bediene ich mich am Fingeralphabet, was mir Claire mal beigebracht hat. In aller Schnelle schaffe ich es, „Hilfe“ zu sagen, doch Claire konnte mir keine vollständige Antwort geben, da sie nach „Ok, ich“ wieder an ihren Platz gebracht wurde. Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber lange nachdenken kann ich nicht, weil ehe ich mich umdrehe, sehe ich Männer in schwarzen Kitteln um die Ecke treten. Schnell eile ich in mein Zimmer, schaufle den Haferbrei leer und hoffe, dass niemand etwas gesehen hat. Als dann Leonie, Ruben und Charles in der Tür stehen, bitten sie mich, mit ihnen mitzukommen. Eine andere Wahl habe ich nicht, also verlasse ich mit Mühe mein Bett und gehe mit. Die Standardtherapie ist um ein Vielfaches schlimmer als die Prozedur gestern, doch ehe ich es mich versehe, liege ich wieder in meinem Bett. Gebadet im Schweiß und von der Furcht getauft. Ich wünsche niemanden, jemals das zu durchleben, was mir hier angetan wird. Ich schaue auf die Uhr. Meine Wahrnehmung ist zwar nicht vollständig zu mir zurückgekehrt, doch ich kann 23 Uhr erkennen. Meine Augen fallen zu und es wird alles leise, bis ich das Schloss an meiner Tür deutlich höre. Ich schrecke auf, möchte mich verstecken, doch bin wie versteinert. Die Tür öffnet sich und in ihr steht Claire. Zu meiner Überraschung trägt sie einen Rucksack und eine Jacke.

Sie blickt mich an und sagt: „Wir brechen aus. Heute Nacht.“ In mir macht sich ein Gefühl der Erleichterung breit, bestückt mit einem Hauch an Freude.

„Alles klar, dann los“, sage ich, stehe auf und gerate aus dem Gleichgewicht. Eine Nebenwirkung der Therapie.

„Wir warten bis 1 Uhr, Stefan“, sagt Claire, „Dann sollte es dir bessergehen und das Sicherheitspersonal ist dann vermutlich etwas neben der Spur.“ Ich nicke. Claire schließt die Tür, packt mit mir die nötigsten Sachen ein und macht sich bereit, mit mir die Flucht anzutreten.

Kapitel 2: Der Beginn einer langen Reise

Um Punkt 1 Uhr öffnet Claire die Tür und schaut, ob die Luft rein ist. Sie winkt mich zur Tür und sprintet mit mir leichtfüßig den Flur in Richtung des Treppenhauses hinunter. Ihr Haar flattert mir entgegen. Es sieht so schön aus, dass ich glatt in eine Trance fallen möchte. Doch dafür habe ich später Zeit, jetzt müssen wir erst mal hier raus. Wir öffnen die Tür zum Treppenhaus, gehen hinein und schließen die Tür wieder.

Claire packt mich am Arm und sagt dann in einem ernsten Ton: „Wir rennen jetzt ins Erdgeschoss und klauen aus der Mitarbeiterumkleide die erstbesten Autoschlüssel. Danach rennen wir hoch und seilen uns vom Dach ab. Hast du mich verstanden?“

Ich schaue verblüfft aus der Wäsche, nicke ich in aller Eile und renne mit Claire, so schnell es geht ins untere Geschoss, doch dort taucht ein Hindernis auf. Um in die Mitarbeiterumkleide zu gelangen, müssen wir an der Rezeption vorbei und die ist vierundzwanzig Stunden am Stück besetzt. Zum Glück ist die Frau, die dort sitzt, allem Augenschein nach schon lange im Dienst, wenn sie nicht sogar eine Doppelschicht schiebt. Es gelingt uns dank der Architektur des Hauses, näher an den Tresen zu gelangen. So leise und dicht wie möglich schleichen wir vor dem Tresen her und schaffen es, in die Umkleide zu gelangen. Claire nimmt ihre Haarspange, öffnet das erstbeste Schließfach und nimmt die Autoschlüssel an sich. In der Zwischenzeit nehme ich Schritte und ein Gespräch von zwei Mitarbeiterinnen wahr. Diese werden immer lauter und ab da wird mir plötzlich klar, dass die Frau an der Rezeption jetzt Schichtende hat und die nächste Person übernimmt. In aller Nervosität schaue ich mich in der Umkleide nach einem Versteck um und erblicke einen offenen Spind. Als mir Claire das Signal gibt, dass sie die Schlüssel gesichert hat, packe ich sie und zerre sie mit mir in den Spind. Mit einer Hand halte ich die Tür zu und mit der anderen verdecke ich Claires Mund. Zuerst wehrt sie sich, aber als sich dann die Tür der Umkleide öffnet, merkt auch sie, was ich eigentlich mache. Das Licht geht an. Vor Angst kommt mir der Schweiß, mein Herz pumpt wie verrückt und mein Hals wird ganz trocken. Ein falscher Laut und alles ist aus. Der kurze Plausch der Mitarbeiterinnen beim Umziehen fühlt sich wie eine Ewigkeit an, doch das ist es uns wert. Zumal ist der Raum in diesem Moment voll ausgeleuchtet. Würde Claire jetzt ohne ihren entfalteten Schirm dort drinstehen, wäre sie komplett erledigt. Das Licht erlischt und die Mitarbeiterinnen verlassen den Raum. Wir treten wieder aus dem Spind und atmen einmal tief durch.

„Überfall mich das nächste Mal nicht so!“, wirft mir Claire vor. Doch das kümmert mich jetzt nicht. Eher besorgt mich, dass die Besetzung an der Rezeption nun putzmunter ist. Wie sollen wir zurück ins Treppenhaus und aufs Dach kommen? Zum Glück hat Claire darauf eine Antwort. Sie packt eine Murmel und ein Gummiband aus, spannt dieses zwischen ihren Fingern und schießt die Murmel in das in der Nähe befindliche Bistro für Gäste. Zuerst habe ich nicht kapiert, wie uns das helfen soll, aber als dann die Mitarbeiterin in das Bistro geht, verstehe ich, was Sache ist. Die Murmel knallte mit genug Tempo gegen die Glastür zur Außenterrasse, sodass ein Ton erzeugt wurde, der die Aufmerksamkeit der Mitarbeiterin auf sich zog. Ich spiele für kurze Zeit mit dem Gedanken, durch die Drehtür nach draußen abzuhauen, aber da diese elektrisch ist und man den Motor klar und deutlich bei dieser Stille hören würde, steht das komplett außer Frage. Ehe wir auch nur einen Fuß aus der Anstalt setzen könnten, würde man uns sofort in der Drehtür entdecken und erwischen. Zumal muss man nachts am Tresen, so wie es aussieht, einen Schalter betätigen, der die Tür zum Drehen bringt. Dieses Risiko können wir nicht eingehen. Die Mitarbeiterin müsste nur einen kleinen Ton hören und sich umdrehen, um uns zwei am Tresen zu erwischen. Es bleibt bei dem vereinbarten Plan, auch wenn ich am liebsten so schnell es geht von hier verschwinden würde. Wir sprinten zum Treppenhaus, so leise es geht, und rennen bis ganz nach oben. Vor der Tür, die uns freie Bahn zum Dach verschafft, stoppen wir, um sie aufzuschließen. Glücklicherweise genügt uns hier die Haarklammer ebenfalls. Auf dem Dach dachte ich, mich täuschen meine Sinne. Der wunderbare, süße Duft der Freiheit und die weite Sicht sind fast zu schön, um wahr zu sein. Ich fühle mich bereits jetzt frei, doch der eigentliche Weg liegt noch vor uns. Während ich in die Weite starre, hat Claire an einem Lüftungsschacht das Seil mit einem Dreifachknoten angebunden. Immerhin geht es gleich drei Stockwerke in die Tiefe. Einen Sturz würde man vielleicht mit ein paar Brüchen überleben, aber einen kaputten Arm oder dergleichen haben wir gerade echt nicht nötig.

„Erst Murmeln und ein Gummiband und jetzt ein Seil?“, merke ich verblüfft an, „Wo hast du das alles her?“

Claire beginnt zu grinsen und antwortet: „Über die Zeit sammelt man hier ein wenig Kleinkram zusammen und das Seil … ach, du kennst noch lange nicht alle Ecken dieser Anstalt.“

Daraufhin schmeißt sie das Seil runter und wir klettern die Wand entlang in die Tiefe. Ich kann die Freiheit schon förmlich schmecken, bis ich die Stimme von Claire wahrnehme.

„Stefan, warte mal“, flüstert sie, während sie durch ein Fenster in ein Zimmer hineinschaut.

„Claire!“, entgegne ich ihr, „Wir müssen los! Komm!“

„Stefan, hier ist Luuk!“

„Luuk?“

„Ja. Luuk. Er schaut mich gerade an.“

„Dann mach doch ein Foto! Los jetzt, bevor uns jemand erwischt!“

„Sollen wir ihn etwa zurücklassen?“

Eine Entscheidung und dann noch eine von der heftigen Sorte. Ich kann meine Gedanken nicht mehr sammeln. Entweder wir fliehen jetzt, sind frei und überlassen Luuk seinem Schicksal oder wir holen ihn und riskieren ins offene Messer zu laufen. Ich bin kurz davor Claire anzuschreien, doch zum Glück grätscht sie im richtigen Moment dazwischen.

„Sorry, Stefan. Wir nehmen ihn mit, verstanden?“, beschließt sie ohne Weiteres.

„Stell mich nie wieder in solchen Situationen vor solche Entscheidungen!“, motze ich daraufhin.

„Ich wollte wissen, ob du mich verstanden hast …“

„Ja, Claire … aber ich schwöre, wenn die uns erwischen …“

Claire klettert das Seil wieder hoch und hört mir nicht weiter zu. Jetzt zu streiten, hat keinen Sinn, also folge ich ihr, ohne etwas zu sagen. Wir schnappen uns Luuk und hauen ab, so schnell es geht. Claire rennt runter in den ersten Stock, dem dritten Distrikt entgegen. Ich versuche mich möglichst leise zu halten, doch Claire spielt etwas gegen die Regeln. Wir kommen nur durch den Speisesaal in den dritten Distrikt, also richten wir uns danach.

Als Claire jedoch die Tür zum Speisesaal förmlich in aller Eile auf schmettert, überkommt mich ein ganz ungutes Gefühl. Das Gemälde von Lucifer Madieu macht es nicht gerade besser. Bei dem ganzen Lärm muss man uns doch bemerken. Wie dem auch sei, Claire knallt die Türen zum dritten Distrikt auf und bleibt vor der Tür mit Luuks Namen stehen. Luuk Vermeulen heißt er also. Ich habe so im Gefühl, dass dieses Wissen nicht ganz unnütz ist. Claire knackt die Tür genauso wie alle anderen und huscht zu Luuk.

„Luuk, wir hauen ab. Stefan und ich haben schon alles vorbereitet“, sagt Claire und stopft ein paar Kleider von Luuk in ihren Rucksack.

Luuk schaut mich an und stottert: „Bringt ihr mich zu meiner Mutter?“

Ich kratze mich am Hinterkopf und zwänge ein verunsichertes „Ja“ heraus. Ich weiß nicht, ob diese Antwort richtig ist, aber er hat dasselbe Motiv wie ich. Luuk und ich wollen beide bloß zu unserer Familie zurück, immerhin können wir sie ja nicht anrufen.

Luuk wirkt immer noch verunsichert, doch Claire springt für mich ein: „Ja. Wir bringen dich zurück nach Hause.“ Er lächelt. Ein gutes Zeichen, nehme ich mal an.

„Dann kommt Jungs“, sagt Claire, „Rennt, als gäbe es keinen Morgen. Die Freiheit wartet.“

„Ähm …“, Luuk meldet sich zu Wort, „Ich … kann nicht so gut rennen. Ich könnte hinfallen und …“

Ich unterbreche: „Ok, wenn das so ist, trage ich dich.“ Claire schaut mich fragend an und Luuk scheint auch nicht ganz befriedigt mit dieser Methode zu sein.

„Kommt schon“, führe ich aus, „Zu irgendwas sollten die ganzen Liegestütze, Sit-ups, Hampelmänner und so weiter, der letzten zwei Jahre gut sein.“

Claire schüttelt den Kopf und fragt: „Sekunde, du hast in deiner Freizeit trainiert?“

Ich nehme Luuk wie eine Prinzessin in meine Arme und antworte: „Nur für alle Fälle und der Fall ist eingetreten.“ Claire kichert und wir machen uns gemeinsam auf den Weg in den Speisesaal. Als wir uns jedoch inmitten des Speisesaals befinden, passiert das Unvermeidliche. Die Tür zum zweiten Distrikt schlägt auf und ein Mitarbeiter betritt den Raum. Zu unserem Bedauern ist es kein gewöhnlicher Mitarbeiter. Schwarzer Kittel, starker Körperbau, es ist mein Therapeut Ruben. Von Charles fehlt jedoch jede Spur. Ruben erblickt uns und wir ihn. Es ist für drei lange Sekunden absolute Ruhe. Alle Beteiligten stehen angespannt an ihrem Fleck.

Ruben hebt die Hand zu seinem Ohr und sagt zuerst leise: „Ich hab’ sie.“

Dann laut: „ICH HAB’ SIE!!!“